Positionen
1998_1

Jurij Nikitin

Von Leningrad nach Sankt Petersburg.

Stadtentwicklung und Architektur in den letzten 30 Jahren

 

„Auch du frohlocke, Petersburg
Und steh wie Rußland ohne Schwanken;
Du zwingst die Elemente durch
Den Newakai in ihre Schranken!"

A. S. Puschkin, 1833

1Einleitung

St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Rußlands, ist die nördlichste Millionenstadt der Welt. Sie wurde 1703 von Peter I. auf den zahlreichen Inseln des Newa-Deltas am Finnischen Meerbusen gegründet. Über die Flüsse und Kanäle mit einer Länge von 160 km führen etwa 600 Brücken. Diese Stadt ist ein Gesamtkunstwerk, ein Museum unter freiem Himmel, oft das „Venedig des Nordens" und das „Nördliche Palmyra" genannt. Sie ist eine Stadt der Gegenwart und der Vergangenheit. Als St.Petersburg hat sie das Land in die europäische Geschichte eingeführt. Über 200 Jahre lang (1712-1918) war unsere Stadt die Metropole Rußlands. Als Petrograd (1914-1924) war sie der Schauplatz von Ereignissen der Oktoberrevolution. Eben hier, im Smolny, wurde im Oktober 1917 die erste sowjetische Regierung mit W.I.Lenin an der Spitze proklamiert. Seit Oktober 1991 trägt die Stadt wieder ihren ursprüngliche Namen Sankt Petersburg.
Das alte Petersburg, das historische Zentrum der modernen Stadt, wurde von Anfang an nach einem Plan gebaut. Zum Stadtkern wurde die Peter-Pauls-Festung auf der Haseninsel. Auf dem linken Ufer der Newa laufen die drei Hauptstraßen bei der Admiralität zusammen, und Flüsse und Kanäle bilden um sie herum konzentrische Halbkreise. Die bedeutendsten russischen und europäischen Baumeister, unter ihnen waren auch deutschen Architekten, schufen die herrlichen Ensembles der Stadt und der Vororte.
Die „Spitze der Admiralität" mit dem Schiffchen und das Denkmal Peters des Großen wurden zum Symbol unserer Stadt. Weltberühmte Bauten schmücken die Hauptstraße der Stadt- den Newski Prospekt, ihre weiten Plätze und das Newaufer: z.B. der Winterpalast und die Isaak-Kathedrale, die Rostralsäulen und das Gebäude des Generalstabs, die Akademie der Künste und das Ingenieurschloß usw. Die Eremitage und das Russische Museum zählen zu den schönsten und vielseitigsten Kunstmuseen der Welt. Zwei Baustile herrschen hauptsächlich in der Architektur des alten Petersburg vor- der Barock und der Klassizismus. St. Petersburg war stets durch Hochwasser gefährdet. Rund 250 mal stand die Stadt unter Wasser. Einige Überschwemmungen waren schlimme Naturkatastrophen.Die Stadt ging unter, aber tauchte jedesmal aus der Flut wieder auf.. Die Stadt ist wie ein Gespenst. Die Stadt ist ein Mythos.
In der Sowjetzeit wurden an den Stadträndern viele interessante Gebäude errichtet. Es handelte sich um einen neuen Baustil, den russischen Avantgardismus. Er bekam den Namen „Konstruktivismus". Die totalitäre Zeit blieb auch an so manchem Denkmal in Leningrad haften. Petersburg heute ist eine moderne 5-Millionen-Stadt mit Leuchtreklame und lärmendem Verkehr, ein großes Industrie- und Kulturzentrum, der Knotenpunkt von 5 Bahnlinien. Es ist die größte Hafenstadt Rußlands.

2Der Generalplan von Leningrad (1966)

Lassen Sie uns in Gedanken 30 Jahre zurückgehen. Das Jahr 1967 war eine sehr wichtige Etappe im Leben unserer Stadt und seiner Architektur. Aus Anlaß der 50-Jahre-Feier der Oktoberrevolution wurde der ordentliche Stadtentwicklungsplan von Leningrad bestätigt und viele große öffentliche Gebäude errichtet. Zu dieser Zeit wurden innerhalb der Stadtgrenzen zwei verschiedene Städte entgültig gestaltet: der historische Stadtkern mit seinem einzigartigen Ensemble und neuen riesigen Wohnstadtteilen ringsherum und zwischen ihnen ein breiter Industriegürtel, der sich noch vor dem Oktoberumschwung formiert hatte. Jede dieser beiden „Städte" hatte ihr eigenes Image, ihren Maßstab und Baustil. Stadterweiterungsgebiete sind in Leningrad noch in den 20er und 30er Jahren in den ehemaligen Randzonen entstanden. Der Bau kostenloser Wohnungen für Arbeiter war ein erster Schritt. Diese kleine Siedlungen hatten hauptsächlich die Zeilenbebaung und waren in einer grünen Umgebung errichtet. Diese städtebauliche Lösung ist so ähnlich wie einige Beispiele in jener Zeit in Deutschland.

Die Entwicklung der Industrie in unserer Stadt in der Nachkriegszeit hat zu einem raschen Bevölkerungszuwachs beigetragen, zumeist durch Zuzug von außen. Er erforderte Sofortbaumaßnahmen. Die Realisierung dieses großen Sozialprogramms war nur möglich dank der Einführung der Bauindustriemethoden.

Im Jahre 1959 wurde in Leningrad das erste sogenannte Wohnungsbaukombinat der Sowjetunion errichtet, das typisierte Bauelemente für unsere Plattenbauten produzierte.
Der Sowjetstaat hat die städtebauliche Politik vollständig bestimmt, weil er Grundbesitzer, Bauherr und Bauunternemer gleichzeitig war. Diese Besonderheiten haben die Voraussetzungen für die Stadterweiterung geschaffen. So wurden gewaltige Stadtviertel mit eintönigen, im wesentlichen 5-geschossigen Plattenbauten, mit unbegründet breiten Straßen und landschaftlicher Gestaltung geschaffen.
Nichtsdestoweniger wurde das Sozialprogramm der Wohnungsversorgung allmählich realisiert.

3Der neue Stadtentwicklungsplan von Leningrad, oder wie man bei uns sagt - der Generalplan - beinhaltet folgende Hauptaspekte:
- behutsame Erhaltung und Erweiterung der herausgebildeten Stadtplanungsstruktur
- konzentrische Stadterweiterung in alle Richtungen vom Stadtkern ausgehend, vor allem die Urbarmachung der niedrigen und versumpften Territorien am Nord- und Südufer des Finnischen Meerbusens und auch im Westteil der Basiliusinsel
- Erhaltung des historischen Stadtkerns als Zentrum des Geschäfts- und Kulturlebens und zugleich seine weitere Entwicklung entlang des Newa-Flusses nach Süd-Osten und nach Westen mit Ausgang zur Küste des Finnischen Meerbusens
-weitere Bildung der Radiushauptstraßen, die die neuen Wohngebiete mit der Stadtmitte verbinden
- weitere Entwicklung der zentralen Bogenmagistrale, die die Stadtrandgebiete von Süd-West bis Nord-West vereinigt.

4Man muß sagen, daß alle Maßnahmen zur Entwicklung aller Arten des Verkehrswesens (Stadt & Region betreffend) in hoher Qualität durchgeführt wurden, besonders die Metroerweiterung. Es wurde ein Straßennetz mit ununterbrochener Bewegung geschaffen - die Stadtautobahnen, die einige Untertage- und Unterwasserabschnitte haben. Es wurde auch die Trasse für die große Ringautobahn bestimmt, einschließlich der Abschnitte des Schutzdamms von Kronstadt. Erfahrene Städtebauplaner, Architekten, Ingenieure und Gelehrten haben an der Vorbereitung des Generalplans teilgenommmen. Das war ein richtungsweisendes Dokument, laut dessen die Stadt bis Ende der 80er Jahre entwickelt werden sollte. Der Generalplan war Gesetz nicht nur für die Stadtverwaltung und die Architekten, sondern auch für die Bauherren und die Bauunternehmer, nämlich für die staatlichen Betriebe.
Dieser Plan war eine der Hauptunterlagen bei der Erstellung der Wirtschafts- und Sozialentwicklungspläne unserer Stadt. Er war Grundlage für die Erarbeitung nachfolgender Planungsstufen, z.B. für die Detailplanung der Stadtteilzentren, Wohngebiete, öffentlichen Verkehrssysteme und die Infrastruktur sowie für die Lösung von Fragen der Bodennutzung und Bodenordnung innerhalb der Stadtgrenzen.

5Der neue Generalplan beinhaltete und setzte insgesamt grundsätzliche Tendenzen der Stadterweiterung fort, die schon in der Vergangenheit begründet wurden. Bereits sechs Wohnungsbaukombinate produzierten typisierte Bauelemente auf der Basis des Einheitskatalogs. Und dieser Katalog galt nicht nur in Leningrad, sondern auch in anderen Städten. Die Mikro-Wohngebiete in den meisten unserer Städte ähneln sich sehr: eine schablonenhafte Bebauungsstruktur, Typenhäuser, ähnliche Namen der neuen Straßen und in den meisten Fällen eine niedrige Qualität des Wohnumfelds. Grau in Grau. Woran liegt das?
Einerseites war es so verführerisch, auf diese Art die Wohnungsversorgungsprobleme schnell und billig zu lösen. Das war ein sehr wichtiges soziales und politisches Problem für Partei und Regierung. Andererseits war unsere Bauindustrie mit ihrem Fließbandsystem wenig kreativ und schwerfällig und übte großen Einfluß auf Stadtplaner und Architekten aus.
Das Problem war so ernst, daß im Jahre 1969 das ZK der Partei und die Regierung folgende spezielle Verordnung angenommen hat: „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der Wohn- und Gesellschaftsbauten". Dieses Vorgehen war typisch. Das Land lebte von einer Verordnung zur anderen, von einem Parteitag zum anderen.

6Zu Beginn der 70er Jahre wurde eine neue Serie verbesserter Typenentwürfe für Wohnhäuser und für neue infrastukturelle Einrichtungen eingeführt. Hauptsächlich bestanden diese Typenprojekte aus verschiedenen Wohnsektionen oder Blocksektionen, z.B. Mitte-, Stirn-, Winkel- und Drehsektionen. Diese Methodik erlaubte, neue Wohnhäuser mit beliebigem Umriß, Dimension und Silhouette zu schaffen. Es wurden 10 Wohnungstypen von 1bis 5 Zimmer bestimmt. Gebaut wurden die Typen entsprechend der demographischen Statistik.
Wohnhäuser aus Ziegel nach individuellen Projekten baute man ziemlich wenig in jener Zeit. Solche Häuser waren ein Leckerbissen für Architekten. Man mußte kämpfen, um diese Aufträge zu bekommen. Diese Häuser wurden an besonderen Stadtorten gebaut, z.B. als architektonische Akzente bei der Bebauung der Stadtplätze und Hauptstraßen. Aber sogar in diesen Fällen waren die Architekten unter den strengen Zwängen der Baunormen. Sie konnten die Projekte nur im Rahmen der 10 Wohnunsgtypen schaffen, ohne die Grenzfläche zu überschreiten und ohne die Verhältnisse zwischen Wohnräumen und Nebenräumen zu brechen. Die Palette der schöpferischen Möglichkeiten für Architekten war sowieso arm.
7Mit der Zeit hat die Öffentlichkeit Alarm geschlagen. Es erschienen kritische Einschätzungen in unserer Presse, im Radio und Fernsehen.
Der Spielfilm „Ironie des Schicksals" von Regisseur E.Rjasanov war eine hervorragende Satire in jener Zeit:
Drei junge Moskauer besuchten traditionell am 31. Dezember das öffentliche Dampfbad. Die alten Freunde feierten so Abschied vom alten Jahr. Gewohnheit ist Gewohnheit. Einer von ihnen sollte zu Silvester nach Leningrad fliegen. Aber weil man zu viel getrunken hatte, wurde aus Versehen ein anderer von den Freunden in das Flugzeug gesetzt. In Leningrad angekommen, gab er noch im Rausch dem Taxifahrer seine Moskauer Adresse an. Der Chauffeur fuhr ihn in das gleiche Schlafstadtteil zur gleichen Plattenscheibe. Natürlich paßte sein Schlüssel zur Tür mit der selben Nummer. Selbstverständlich merkte unserer Held nichts, weil die Wohnung die gleiche Struktur und die gleiche Möbeleinrichtung wie in seiner Moskauer Wohnung hatte. Können Sie sich vorstellen, was die junge nette Frau, die dort wohnte, erlebte, als sie am Silvesterabend in ihrem Schlafzimmer einen unbekannten betrunkenen Mann mit dem Birkenbesen vom Dampfbad vorfand. Entsprechend dem Genre endete natürlich alles gut. Die junge Leute hatten Glück im Unglück. Diese Groteske verdeutlichte das Problem hervorragend.
Aber das Problem der völligen Gleichheit bzw. Ähnlichkeit unserer Städte blieb. Das klingt im Russischen noch dramatischer: Entpersönlichung.

8Die Stadt kommt zum Meer

Die spannendeste Idee des Generalplans war, Leningrad in eine echte Stadt direkt am Meer zu verwandeln. Die Schaffung der „Meeresfassade", die Bildung der neuen Wohnviertel, die zum Finnischen Meerbusen hin errichtet wurden, war die Hauptaufgabe des Bebauungsplans im westlichen Teil der Basiliusinsel. Das war eine metaphorische Idee: Die Stadt sollte dem Meer näher kommen. Aber die Basiliusinsel hatte keine freien Flächen mehr für den Massenwohnungbau. Diese neuen Flächen wurden nun geschaffen. Vom Boden des Golfes wurden mehr als 7 Mio. Kubikmeter des Grundes angespült. Es wurden fast 200 ha von der See und von dem Moor zurückerobert. Diese riesigen vorbereitenden Arbeiten gestatteten, ca. 800.000 Quadratmeter Wohnfläche zu bebauen. Der besondere Wert des Baugebiets zwang zu neuer Baudichte, die fast anderthalb Mal größer ist als es in den 60er Jahren üblich war. Aber sogar in diesem Fall war die Geschoßflächenzahl nicht mehr als 0,9.

9Die breite grüne Esplanade mit der Granituferwand und zahlreichen Treppen zum Wasser sollte die Hauptachse in der Komposition der Bebauung der Uferstraße werden. Die Architektur der „Meeresfassade" hat einen großen Maßstab, vergrößerte Module und einen anderen Rhythmus der Formgliederung. Der Blick vom Meer verlangte das. Eine große Beachtung wurde auch der Silhouette geschenkt.
Das Ensemble der „Meeresfassade" wurde nur teilweise realisiert. Anfang der 80er Jahre wurden die neuen Mikro-Wohngebiete mit den vielgeschossigen Wohnhäusern, dem Hotel „Pribaltijskaja" und dem Hafenbahnhof gebaut. Ein bißchen später wurden die neuen Ausstellungspavillons vom Messegelände „Lenexpo" errichtet. Die Architektur dieses Gebäudes spiegelte die formalistische Suche unserer Architekten in jener Zeit wider. Nicht verwirklicht wurde der Bau von allen vier Hochdominanten, die im Entwurf vorgesehen waren. Die Paradeuferstraße mit Grün- und Freianlage wurde nur vor dem Hotel „Pribaltijskaja" ausgeführt. Der restliche Teil des Ufers ist leer, und hier und da wird er als wilder Müllhaufen benutzt.
Die Architekten haben ökologische Besonderheiten nicht berücksichtigt, deshalb leiden die Einwohner ständig wegen des starken Westwindes, besonders im Herbst und im Winter. Und so etwas kam häufig bei uns vor, da man wegen politischer Ambitionen und städtebaulicher Metaphern die realen Bedürfnisse der Menschen vergaß.
Der Bau verschiedener gesellschaftlicher Gebäude war vielleicht das bedeutendeste Ereignis in der Architektur unserer Stadt in jener Zeit. Die meisten dieser Gebäude wurden nach individuellen Entwürfen errichtet. Einige von ihnen haben eine sehr interessante und einzigartige Konstruktion.

10Die Sporteinrichtungen

  1. Sporthalle „Jubileynyj" für 10 000 Zuschauer. 1967.
    Das runde Gebäude hat eine Spannweite von 90 m und das Wantendach in Fahrradform.


  2. Jachtklub auf der Insel Petrovskij mit Eisenbetonstangenstruktur


  3. Zwei Schwimmhallen als Beispiel: Wantendach und Stahlrohrstruktur


  4. Die große Mehrzwecksporthalle für 25 000 Zuschauer
    Das runde Gebäude hat eine Spannweite von 160 m und das Hängedach besteht aus dünnen Stahlblättern- einer sogennanten konkaven Membrane, mit einer Dicke von nur 6 mm.

11Der Flughafen „Pulkovo 1"

Der Bau des Flughafens war ein großes Ereignis in der Architektur von Leningrad in den 70er Jahren. Dieser Komplex hat folgende Besonderheiten:
- den Bau der zwei einzeln stehenden Pavillone (sogenannte Satelliten), die mit dem Hauptgebäude durch zwei unterirdische Tunnel mit Rolltrottoir verknüpft sind. Der eine Satellit wird für den Abflug benutzt, der andere für die Ankunft.
- die klare funktionelle Lösung mit horizontaler und vertikaler Einteilung der Passagierströme
- eine moderne Technologie und eine moderne Bedienung für jene Zeit

- eine originelle Konstruktionslösung. Das ist ein Skelettgebäude. Die Hauptrolle spielen die fünf Stützen - sogenannte tragende Pilze -, an denen das Dach aufgehängt wird. Diese Bauart hat eine gute Tagesbeleuchtung und eine ausdrucksvolle Silhouette geschaffen.

12Die Hotels

Zwei mißlungene Beispiele des Baus neuer Hotels gibt es im Stadtkern: das Hotel „Leningrad" am Newa-Ufer und das Hotel „Sowjetskaja" am Fontanka-Ufer. In beiden Fällen war das mit dem Abriß von mehreren alten Gebäuden Ende der 60er Jahre verbunden. Die Architektur dieser Gebäude harmoniert nicht mit der Bebauungsumgebung.

13Die Fachschulen

In den 70er Jahren wurden laut Verordnung der Stadtverwaltung der Massenbau verschiedener Fachschulen oder Colleges in den neuen Wohngebieten begonnen. Die Architektur dieser Gebäude spiegelt die formalistische Suche unserer Architekten in jene Zeit wider. Es gibt einige beachtenswerte Beispiele.
Anfang der 80er Jahre wurde offensichtlich, daß eine Stadterweiterung wegen fehlender Freiflächen unmöglich ist. Der historische Stadtkern hatte eine Menge von Verkehrs-, Nutzungs-, Bebaungs- und Ökoproblemen. Man muß sagen, daß in allen diesen Jahren einige kleine Sanierungmaßnahmen im Stadtzentrum durchgeführt wurden. Aber das war nur eine Grundüberholung einzelner alter Wohnhäuser. Es gab einige Beispiele des Neubaus und der Baulückenschließung.
Die Stadt brauchte neue Verfahren der Rekonstruktion, sie brauchte eine Stadtsanierung.
Im Jahre 1985 wurde der Generalplan unter Berücksichtigung der neuen Stadtbedürfnisse korrigiert. Dieses Konzept schenkte schon eine große Beachtung den Sanierungsmaßnahmen sowohl im Stadtkern als auch in den neuen Wohngebieten. Leningrad sollte sich „von den Stadträndern zum Zentrum" hin entwickeln, das heißt, umgekehrt im Gegensatz zum alten Generalplan.
Die Jahre der Umgestaltung bzw. „Perestrojka" (1985-1991) kann man auch als Periode einer hohen Beachtung des Stadtzentrums charakterisieren.
Die Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens in dieser Zeit berührte die architektonische Tätigkeit. Seit 1990 wurde in Leningrad und in anderen Städten der SU die private Architekturpraxis gestattet. Manche Architekten bekamen eine Lizenz und schufen eigene Büros und wurden Konkurrenten für die staatlichen Projektinstitute. In dieser Zeit entstanden einige interessante Entwürfe der Wohnumfeldverbesserung in der Stadtmitte, z.B. die Verwandlung einiger Straßen in Fußgängerzonen mit Handelseinrichtungen, die Sanierung und der Umbau einiger Stadtviertel und Häuserblocks usw.

14Das Neu-Holland-Projekt

Eines der größten und interessantesten Stadtprojekte ist das„Neu-Holland-Projekt."
Das Ensemble „Neu-Holland" befindet sich im Stadtkern in der Nähe von wichtigen historischen und kulturellen Denkmälern von St. Petersburg.
Es ist eine Insel, die von drei Seiten von Wasser umgeben ist. Die Fläche der Insel beträgt fast 8 ha, einschließlich des Innensees. Die grundlegenden Gebäude wurden in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts nach einem Entwurf des Architekten de la Motte errichtet und dienten als Schiffholzlager. Heute gibt es hier 26 verschiedene Steinhäuser und Bauwerke, und 5 von ihnen stehen unter föderalem Denkmalschutz.
Neu-Holland mit seinem bekanntenTorbögen ist eine sehr romantische Gegend von St. Petersburg. Zur Zeit sind dort verschiedene Militärobjekte untergebracht.
Einige Jahre lang führte man eine Diskussion über die Zukunft dieses Komplexes. Fazit dieser Diskussion: Hier kann ein internationales Kultur- und Geschäftszentrum entstehen. Zu Beginn der 90er Jahre wurde ein Wettbewerb durchgeführt und später auch einige Vorentwürfe entwickelt. Diese Projektvorschläge präzisierten das optimale Verhältnis zwischen „Alt und Neu", was sich in dem Image des zukünftigen Zentrums widerspiegeln wird. Es wurden die verschiedenen Varianten der Nutzung des Komplexes durch- gespielt. Die Unterbringung des Zentralen Kriegsmarinemuseums war eine der interessanten Ideen. Das Kulturministerium von Rußland äußerte auch das Vorhaben, hier das Museum für moderne Kunst zu schaffen.
Im Jahre 1995 wurde die AG „Neu-Holland" gegründet, die einen ausführlichen Businessplan ausarbeitete. Dieser Plan war marktorientiert und berücksichtigte zugleich das Interesse der Stadt . Der Plan der Sanierungsmaßnahmen beabsichtigt die Etappenerschließung des Gebiets und einzelner Gebäude. Die Nutzung der Gebäude wird im Verlaufe der Zusammenarbeit mit den Investoren präzisiert. Die Nutzungsstruktur sieht heute so aus: Offices, Appartements, Hotels, Handelseinrichtungen, das Kriegsmarinemuseum, Verwaltungs- und Geschäftszentrum mit Hilfsdiensten und unterirdische Parkplätze. Der Maßnahmeplan sieht den folgenden Ablauf vor:
1. Kompensationsbau und Umsiedlung der Militärobjekte
2. Abriß der minderwertigen Häuser und Anlagen laut des Entwurfs
3. Neubau, Sanierung, Restauration
4. Nutzung.
Leider waren die meisten dieser Projekte nicht mit Investitionen verbunden. Ausländische Investoren haben anfänglich Interesse für diese Projekte gezeigt, aber wegen Fehlens einer Staatsgarantie nichts riskiert.

15Die Nutzung des unterirdischen Raumes

Die Erschließung und Nutzung des Raumes untertage ist eine der aktuellsten Probleme des modernen Städtebaus. Das ist sehr wichtig auch für unsere Stadt. Trotz ökonomischen Niedergangs und trotz geringer Staatsinvestitionen wurden im Herbst 1997 noch zwei U-Bahn-Stationen auf der neuen vierten Linie gebaut. Im Moment hat unser Metronetz 54 Stationen und eine Länge von 100 km. Die Station „Sportivnaja" hat zwei Gleisebenen, die übereinander liegen. Unter dem Sennaja-Platz gibt es heute drei Stationen. Das ist ein komplizierter Umsteigeknotenpunkt.
Heute existieren bei uns 5 Autoverkehrs-, 30 Fußgänger- und 1 Unterwassertunnel. Weitere Tunnel sind schon in den Projekten geplant; z.B. werden noch zwei Verkehrstunnel unter dem Newa-Fluß und seinen Nebenarmen und ein Eisenbahn-Tunnel gebaut. Es gibt dabei Vorhaben, den Über- und Nebentunnelraum zu erschließen und zu nutzen.
Es wurden auch einige Projektvorschläge vorbereitet, in denen vorgesehen ist, eine Promenade unter dem Nevskij-Prospekt anzulegen.
Es gibt auch das Vorhaben, unter dem Vosstanije -Platz vor dem Moskovskij- Bahnhof, einen mehrgeschossigen Mehrzweckkomplex zu bauen. Dort ist der am dichtesten bevölkerte und verkehrsreichste Ort der Stadt. Es ist eine Kreuzung des Ligovskij- und Nevskij -Prospekts in zwei Ebenen vorgesehen. In zwei Obergeschossen sind verschiedene Handelseinrichtungen und Dienstleistungen untergebracht. In den unteren Etagen sollen Parkplätze für 700 Autos entstehen.
Die Ausführung dieser Projekte ist wegen fehlender Investitionen schwierig.

16Die kurze Periode der politischen Euphorie und Erwartungen bezüglich rascher Reformergebnisse ist durch die langwierige Wirtschaftskrise abgelöst worden. Die staatlichen Subventionen für neue Bauten und Rekonstruktion wurden von Jahr zu Jahr gekürzt. Der Staat hat aufgehört, „Haupt-Bauherr" und Arbeitgeber für Architekten zu sein. Das Fehlen einer juristischen Basis ist auch bis jetzt ein großes Hindernis für die Architektur in St. Petersburg und in Rußland. Es gibt keine vollwertigen Grund-, Immobilien-, Bau- und Architektengesetze. Aus diesem Grund existieren nur wenige Beispiele der Verwirklichung bedeutender Entwurfsvorschläge. Zu Beginn der 90er Jahre wurden einige Luxus-Hotels saniert, z.B. das „Palast-Hotel", „Europa-Hotel" und das „Astoria". Das wurde mit Hilfe ausländischer Investoren und Baufirmen gemacht.

Vor einigen Jahren wurde das Zielprogramm der russischen Föderation für die Entwicklung und Erhaltung der historischen Stadtmitte von St. Petersburg angenommen. Es wurde der Ablauf von Sanierungsmaßnahmen bestimmt. Das ist eine riesige und sehr mühselige Arbeit. Das alte St. Petersburg hat eine Fläche von 4800 ha. Hier befinden sich 8000 Parzellen,und davon stehen 3000 unter Denkmalschutz. Hier gibt es 900 öffentliche Kulturgebäude. Im Stadtkern wohnen ständig fast 1Mio. Menschen. Außerdem kommen noch mehr als 2.5 Mio. Menschen täglich hierher.
Natürlich geht es um eine behutsame Stadterneuerung!
Vor einigen Jahren wurde die Privatisierung bzw. der Verkauf der Wohnungen begonnen. Es gibt heute einen realen Wohnungsmarkt. Aber auf ihm ist es sehr teuer. 800 000 Menschen stehen Schlange, um eine neue Wohnung zu bekommen.Jedoch gibt es schon heute neureiche Bauherren: verschiedene private Banken, AG’s, Gmbh’s etc. Diese Unternehmen pachten in der Regel Grundstücke im Stadtkern und bebauen sie. Die Baulückenschließung und der Umbau der alten Gebäude ist heute die Hauptart der Bautätigkeit. Es gibt erste Eigentumswohnanlagen und Häuser zum Vermieten.

17Beispiele der Baulückenschließung

Wohnhaus auf der Basiliusinsel

6-geschossiges Wohnhaus mit einem Geschäft im Erdgeschoß

Hier gibt es 2- bis 6-Zimmer-Eigentumswohnungen, und einige von ihnen sind Mesanetts. Im Hof befinden sich Garagen.
Andere Beispiele der Baulückenschließung sind:
- das Wohnhaus am Karpovka-Ufer
- das Hotel am Karpovka-Ufer
- Eigentumswohnungen
- eine private Bank
- Bebauungsverdichtung in neuen Wohngebieten.

18Eigentumswohnanlagen - Condominium

In diesem Fall ist der Bauherr gleichzeitig der Bauunternehmer. Der ehemalige Staatsbaubetrieb ist jetzt eine private AG. Das Wohnhaus wird zum Vermieten und im wesentlichen zum Verkauf gebaut. Das ist das erste Beispiel bei uns, wo dieVerglasung der Loggia realisiert wurde.
Warum lenke ich Ihre Aufmerksamkeit darauf?
Bei uns existierten Befehlsmethoden in der städtebaulichen Planung und Architektur.Die Bürger hatten keine Möglichkeiten, an diesem Prozeß teilzunehmen oder auch nur ein bißchen auf ihn einzuwirken. Durch diese Methoden im Städtebau zusammen mit einem bürokratischen System der Wohnungsverteilung wurde eine unerwartete Bautätigkeit der Bürger ausgelöst. Das Eigenheim ist gefragt. Und das Verglasen der Loggia und des Balkons vorhandener Wohnungen ist sehr verbreitet. Jeder Besitzer hat alle Kraft darangesetzt, um das auf eigene Art und entsprechend dem eigenen Geldbeutel zu machen. Die lokalen Behörden und Architekten versuchten anfangs zu protestieren, haben es aber später aufgegeben. Diese privaten Bemühungen wurden später in Berufskreisen folgendermaßen benannt: „nicht vorhergesagtes Design von Spießbürgern".

19Der Kirchenbau

Während der Sowjetmacht wurden in Leningrad mehr als 50 Kirchen abgerissen. Die Stadt hat viele wichtige vertikale Dominanten verloren, die die visuelle Verbindung zwischen den Stadtteilen geschaffen haben, z.B. die Kirche auf dem Sennaja-Platz. Heute baut man bei uns relativ viele neue Kirchen. Zwei Beispiele:

20Die Handelseinrichtungen

Anstelle von Kiosken wurden relativ große private Geschäfte errichtet, z.B. Gaststätten in der Nähe von Metro-Stationen vom Typ "Mac Donalds" und "a la russie".

21Die Einfamilienhäuser

Anfang der 90ger Jahre war bei uns ein eigenartiger „Cottage-boom". Die neue Schicht der reichen Menschen - sogenannte „neue Russen"- begannen sehr intensiv, Einfamilienhäuser zu bauen. Die Baustile dieser kleinen Paläste sind ganz verschiedenartig: von nationaler Romantik und Jugendstil bis Postmoderne. Ziemlich oft ist diese Architektur eklektisch und geschmacklos. Aber man kann auch interessante Beispiele finden.

22Die Wettbewerbstätigkeit

In all diesen Jahren wurde in unserer Stadt eine ziemlich aktive Wettbewerbstätigkeit verwirklicht. Der im Jahre 1933 gegründete Architektenverband veranstaltete nicht nur Wettbewerbe, sondern auch verschiedene Diskussionen und Ausstellungen. Bis Ende der 80er Jahre hat der Architetektenverband die Monatszeitschrift „Architektur und Bau in Leningrad" herausgegeben.
Im Sommer des voriges Jahres wurde der letzte derartige Wettbewerb veranstaltet. Er kann Ihnen zeigen, welche Veränderung im sozialen Leben, im Bauwesen und in der Architektur sich in St. Petersburg vollzogen. Eine private Firma beabsichtigte, eine Parzelle in der Stadtmitte zu pachten, um sie zu bebauen. Es handelt sich um ein sehr wichtiges und unbebautes Eckgrundstück am Kronverkskij Prospekt in der Nähe der Peter-Pauls-Festung. Dieser Wettbewerb hatte das Ziel, interessante Vorschläge der Bebauung in städtebaulicher Tradition des alten Petersburg zu sammeln. Inwieweit das gelungen ist, werden wir gleich sehen.
Alle Entwürfe kann man in zwei Gruppen teilen. Die erste haben die geschlossene Bebaung des Blocks angeboten. Die anderen haben die halboffenen Höfe vorgeschlagen, sogenannte „cour d’honneur". Aber fast alle Teilnehmer haben Eckakzente oder Türme vorgesehen. Die stilistische Palette ist sehr verschiedenartig.
Dieses Projekt hat den ersten Preis gewonnen.

23Der Schutzdamm

70 Jahre haben wir nach dem Motto des bekannten Gelehrten Mitschurin gelebt: „Wir sollten von der Natur keine Gunst beziehungsweise Gnade erwarten. Wir selbst sollten ihr alles entnehmen!" Und diese Worte des Botanikers waren zum Hauptmotto der Planökonomie und der Volkswirtschaft der Bolschewiki geworden. Aber heute gebrauchen wir diese Aussage in einer abgewandelten Fassung mit bitterer Ironie:"Wir sollten von der Natur keine Gnade erwarten, nachdem wir mit ihr so unbarmherzig umgegangen sind."
In der Architektur von St. Petersburg gab es hin und wieder Perioden, die trotz ökonomischen Niedergangs und trotz fehlender Bautätigkeit interessante Ergebnisse in der Entwurfstätigkeit brachten. Das war so während des 1. Weltkriegs und Anfang der 20er Jahre. So sind heute die alten Methoden der Stadtentwicklungsplanung überlebt, und Hauptprinzip unseres Städtebaus wurde die Stadterweiterung. Zur Zeit läuft die Vorbereitung eines neuen städtebaulichen Planungskonzepts. Detaillierte Pläne für die Bebauung einzelner Stadtbezirke wurden entworfen. Besondere Beachtung wurde den Sanierungsmaßnahmen der historischen Stadtmitte geschenkt. Einige Projektvorschläge werden allmählich realisiert. Natürlich geht es um eine behutsame Stadterneuerung. Den heutigen Zustand der Architektur von St. Petersburg kann man mit folgenden Worten kennzeichnen: "von Unruhe zur Hoffnung"oder"von Besorgnis zur Hoffnung".

 

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