Positionen
1998_1

Michael Haerdter

Mythos Mitte

  Der Gegenstand meines Vortrags ist Berlin. Berlin unter dem Aspekt Mitte und ihrer Ideologie. Ich spreche von einer der Hauptstädte der Moderne, wo die Lehren und Prinzipien der Französischen Revolution spät, aber nachhaltig wirksam wurden. Berlins geographisch exzentrische Lage, seine kulturelle und ethnische Vielfalt, seine teilungsbedingte politische Randständigkeit, sein 'exempter' Charakter (wovon die Rede sein wird), der bundesrepublikanische Föderalismus schließlich, müßten die Stadt eigentlich vor zentralistischen Neigungen bewahren. Ist das der Fall? Wir werden es prüfen.

Ich spreche von einer großen europäischen Stadt. Dabei ist der Gedanke an andere große Städte, Hauptstädte und ihre Länder und Nationen stets gegenwärtig. Vor allem der Gedanke an den weit verbreiteten Hang, dem Mythos der Mitte zu frönen.

Dieser Vorrede will ich noch einen weiteren Gedanken anschließen. Der gegenwärtige radikale Wertewandel setzt grosso modo mit der Großen Revolution ein, ist also wenigstens 200 Jahre alt. Die revolutionären Ideale hätten eigentlich zügig in Lebenspraxis umgesetzt werden können, wenn, ja wenn die Menschen hierzu in der Lage gewesen wären. Welche Ideale? Nennen wir die wesentlichen: das selbstverantwortliche Individuum; die Menschenrechte (droits de l'homme); der Kosmopolitismus.

Die europäische Menschheit war zu ihrer raschen Realisierung nicht in der Lage oder nicht willens.

So sind die 200 Jahre, die wir als die Epoche der Moderne bezeichnen, genau genommen eine ausgedehnte Übergangsperiode, eine Interimsphase der Geschichte. Das Englische kennt hierfür einen treffenden Ausdruck: a hyphenated period - eine Bindestrich-Epoche.

Bei Licht besehen - und natürlich in perspektivischer Verkürzung - besteht die Moderne aus einer Folge von Konstruktionen, Aktionen und Manövern mit dem Ziel, die - in den Augen ihrer Gegner schreckliche - Perspektive einer offenen, demokratischen, von aufgeklärten Individuen rational gelenkten Welt zu unterlaufen, und möglichst auf Dauer unmöglich zu machen. Soweit die Vorrede.

Unsere großen Städte sind "Laboratorien der Zivilisation", "gelebte Utopie und zugleich die erlittene Zerstörung von Utopie", lesen wir bei Ulrich Beck (1). In unseren Städten wird die Zukunft unserer Welt geplant, gebaut, gelebt und nicht selten verloren. Oft im Widerspruch zu ihrer steingewordenen Behauptung von ewiger Dauer sind unsere Städte Phänomene ständigen Wandels, denn sie sind Spiegel unserer sich stets verändernden Gesellschaften. Mehr, unsere Städte sind und werden in zunehmendem Maße die Arenen sein, wo sich die gegenwärtigen Veränderungen vollziehen und sichtbar werden, die in die Substanz unseres hergebrachten Welt- und Selbstverständnisses eingreifen und die wir uns angewöhnt haben, Paradigmenwechsel oder den Wandel unseres kulturellen Kanons zu nennen.

Berlin ist in dieser Hinsicht ein besonders ergiebiges Forschungsobjekt - eine Stadt, die niemals ist, sondern stets wird, wie ein bekannter Berlin-Slogan lautet und wofür die gegenwärtige Entwicklung ein beredtes Beispiel ist. Berlin repräsentiert in schöner Gleichzeitigkeit die großen gegensätzlichen Bewegungen und Identitäten des 19. und 20.Jahrhunderts: Bourgeoisie und Proletariat; Nationalismus, Internationalismus und Kosmopolitismus; Monarchie und Demokratie; Kapitalismus und faschistischen versus kommunistischen Absolutismus. Nicht zu vergessen: Berlin war eine der Werkstätten der künstlerischen und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen der Moderne. Und stets präsent der basso continuo von Preussens 'Glorie', bewundert oder geschmäht. Berlin, Stadt der Krise.

Blicken wir etwas genauer hin: Spree-Athen versus Spree-Chicago, Reaktion versus Fortschritt; Stadtmaschine der Dynamik und apokalyptischer Moloch mit dem behäbigen Kleinbürgergürtel; protzige Parvenüpolis der Gründerzeit und Elend der Arbeiterquartiere; Stadt der Jugendbewegung und der "Sozialaristokraten"; Stadt der Arbeiterbewegung und der "Sozialistengesetze"; Magnet der intellektuellen und künstlerischen Zuwanderung aus der deutschen und europäischen Provinz und Ort der Emanzipation des lokalen Judentums, seines Verbürgerlichungsvorsprungs - hier konnte es zu der historisch einmaligen deutsch-jüdischen Symbiose kommen, jedoch im scharfen Gegensatz zum deutschnationalen Junkertum... Und, da alles seine Ursache hat, noch die gegenwärtige Blockade zweier gegensätzlicher Mentalitäten in dieser Stadt ist ein müder Nachklang der traditionellen Konfliktlage.

Jedenfalls ist Berlin aus seinem Dornröschenschlaf aufgewacht, vom unwürdigen Zustand seiner künstlichen Beatmung befreit und weist - wenn wir von der Überforderung seiner politischen und der Depression seiner kulturellen Klasse absehen - alle Symptome einer kapitalistischen Boomtown auf. Damit knüpft es an die eigene Tradition einer Stadt der Veränderung an. Berlin gilt als eines der Zentren der Moderne und ihrer Fortschrittsmanie. Berlin trägt auch das Etikett einer Hauptstadt der Überraschung, eines Markenzeichens europäischer Zivilisation seit dem Ersten Weltkrieg, der seinerseits als die große Überraschung etikettiert wurde. Berlin war stolz als die Hauptstadt des Schocks zu gelten, auf seine Fähigkeit des "épater le bourgeois", auf seine "Umwertung aller Werte", auf seinen unstillbaren Durst nach Neuheit, nach Innovation, darauf, eine Kultur des Ereignisses, der Aktionen und Sensationen, statt eine Kultur der Bedeutung und moralischen Führerschaft zu pflegen (2)

Doch ich möchte zunächst über einen stabilisierenden Faktor der Geschichte sprechen: über Mythos und Mythologie. Und in diesem Kontext einige Gedanken zur Debatte über Zentrum und Peripherie beitragen.

Die Begriffe von Mythos und vor allem vom Mythos der Mitte werden nützlich sein für die Analyse der gegenwärtigen Lage metropolitaner Agglomerationen im allgemeinen, und im besonderen für das Verständnis des besonderen Schicksals von Berlin und die Beantwortung der Frage, ob die Stadt ihre verlorene Urbanität wiedergewinnen kann und von welcher Art diese Urbanität sein könnte.

Hier einiges von dem Stoff, aus dem der Mythos ist.

"Die Mauer in unseren Köpfen" : ist das nicht eine schöne Metapher für den gegenwärtigen psychischen Zustand Berlins, ein Beleg dafür, daß die Menschen Bewohner ihrer Mythologien sind? Der Kulturhistoriker Egon Friedell meinte, jegliche Gegenwart sei "eine optische Täuschung". Umberto Eco ist der Meinung, daß wir uns in einem "Wald der Fiktionen" bewegen. Unseren Durst auf Mythos, der uns erst zu Menschen mache, nennt Michel Tournier den "Sauerstoff der Seele". Und in Hinsicht auf jenes unglaubliche Jahr 1989, das Jahr totaler Überraschung, des unerwarteten Wunders, spricht Peter Handke von "Geschichte als dem großen Märchen der Welt, der Menschheit..." (3).

Ich spreche vom Funktionieren unserer Wahrnehmung im Konflikt mit dem Wahrnehmbaren, woraus das entsteht, was wir 'Realität' nennen. Unter Mythos verstehe ich all das, was wir als unser geistiges und psychisches Gepäck mit uns herumtragen, als unser anzestrales und genetisches Erbe, als die Erbschaft unserer realen und legendären Vergangenheit, als die Früchte unserer Einbildungen, unserer Zukunfsvisionen, unserer Ängste und Hoffnungen. Unsere 'mythologische' Konstitution erlaubt es uns, von der Gegenwart der Vergangenheit zu sprechen. Wir sind so etwas wie Zeittanks zur Speicherung von Geschichte in der Form unserer persönlichen Legenden. Dies fordert die Frage heraus, inwieweit unser Denken und Handeln, inwieweit das Bewußtsein von uns selbst und von den anderen bestimmt sind von dem, was wir wahrnehmen oder nicht, fordert die Frage nach der Qualität von Wirklichkeit. Es verhält sich offenbar so, daß unser Leben beherrscht wird von unseren Ideen, Erinnerungen und Erwartungen, nicht zuletzt von unserem Bedürfnis nach Dauer und Kontinuität. Unsere Mythen erweisen sich jedenfalls als ebenso real wie die Bedingungen unserer 'realen' Existenz. Platos Höhle scheint konkrete Bedeutung für uns zu haben, wie könnten wir sonst in der Lage sein, mit einer fiktionalen Welt klar zu kommen, die offenbar zunehmend unter das Gesetz der Relativität, Immaterialität und Virtualität gerät.

Ich will Beispiele für die Beobachtungen nennen.

Der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs hat uns mit jener geistigen Grenze konfrontiert, die wir als Zeitmauer bezeichnen, Grenze zwischen zwei mythischen Zonen hüben und drüben. Jahrzehnte der Verwicklung in die unterschiedlichen Mythen Ost- und Westeuropas haben mentale Abweichungen selbst bei Individuen gleicher Herkunft zur Folge und resultieren im divergierenden Habitus des Denkens, Erinnerns, Empfindens und Handelns.

Ein anderes relevantes Beispiel ist der berühmte Mythos Berlin, die Legende der Berliner Moderne mit ihrem Höhepunkt in den zwanziger Jahren, worin jene einzigartige und unwiederbringliche deutsch-jüdische Symbiose, die Essenz der urbanen Kultur der Stadt kulminierte.

Es ist der Mythos der Stadt-Maschine, der von den romantischen Expressionisten, den Dichtern und den Malern als ein Dschungel gesehen wurde - als Moloch Berlin. Der Mythos dieser merkwürdigen Jahre am Rande des Abgrunds beherrscht, obwohl zerstört und für immer passé, noch immer unsere Einbildung und Sehnsucht. Vor allem beherrscht er die Einbildung und Sehnsucht jener, die in der einen oder anderen Weise mit der Gestaltung der neuen Hauptstadt befasst sind, als ginge es nur darum, seine verstreuten Elemente von neuem zusammen zu fügen um die einstige Urbanität und Modernität Berlins wiederherzustellen.

Wir haben es hier mit dem Mythos der Mitte zu tun.

Der Mythos der Berliner zwanziger Jahre ist nichts anderes als der Traum einer vielgestaltigen Metropole, die dennoch den inneren Zusammenhalt und die Einheit der heiligen Polis besäße, und deren hervorragende Qualitäten - der Mythos liebt die Simplifikation - die Erlesenheit ihrer herrschenden Klasse und Intelligenzija, der Reichtum ihres Handelsstandes, die Überlegenheit ihrer Industrie und ihres Handwerks, das Prestige ihrer Institutionen, die Raffinesse ihrer Kultur, die Exzellenz ihrer Künstler, der Glamour und die Verruchtheit ihres Nachtlebens, die Perfektion ihrer Verbrecher und die Schlagkraft ihrer Ordnungshüter, der Mutterwitz ihrer Bewohner und der Reiz ihrer Frauen, die Größe ihrer Gebäude und der Zauber ihrer Stadtlandschaft sind - mit einem Wort die Lebenslust und -intensität, die Berlin verspricht. Es ist der betagte Traum einer 'Weltstadt' als Zentrum gegenüber ihren unbedeutenden Schwestern an der Peripherie oder in der Provinz. Das Klischee kann nicht banal genug sein auf seinem Weg zur kollektiven Legende.

Der Begriff von Mitte oder Zentrum hat seinen Ursprung in den theo-geo-zentrischen Kosmologien, die in den Naturwissenschaften und sogar in der Theologie seit sehr langer Zeit ausgedient haben. Dennoch widersetzt sich die uralte Vorstellung erfolgreich ihrer Aufkündigung, da sie offenbar einer chronischen Sehnsucht der Menschheit entspricht. Der Mythos Mitte setzt Zentrum mit Bedeutung oder Wert gleich. Vom Sonnenkönig zu seinen zahlreichen Nachfolgern und Nachahmern, von der Inquisition zum Stalinismus, vom bürgerlichen Milieu und juste milieu zum Tausendjährigen Reich und zum Eurozentrismus : wir zählen unendlich viele Versuche, die einstige Theokratie wiederherzustellen, Versuche, ein verbindliches Maß vorzugeben, eine Wahrheit für alle, und zugleich alles das zu verbannen oder zu vernichten, was sich dieser Weltsicht nicht fügt. Wir haben es hier mit einer Ideologie des Entweder - Oder zu tun, wie sie sich zum Beispiel im Gegensatz von Zentrum und Peripherie, Metropole- Provinz, Erster und Dritter Welt, Mainstream und Randständigkeit, Kultur und Subkultur, Mittelmaß und Exzentrik, von 'Szene' und Obszönität usw. zeigt.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat uns eine schön polemische Illustration dessen geliefert, was der westliche Code als verbindliches Maß behauptet :"Mensch, weiß, westlich, männlich, erwachsen, vernünftig, heterosexuell, Stadtbewohner, eine Standardsprache sprechend" und er stellt dieser zentralen Position die periphere gegenüber von "Moskitos, Kindern, Frauen, Schwarzen, Bauern, Homosexuellen usw." (4). Minder ironisch behauptet Jean Baudrillard das Ende der Obszönität, da es keine 'Szene' mehr gäbe, die das 'Obszöne' einst ermöglicht habe. (Ein Wortspiel, da im Original besser funktioniert: La scène et l'ob-scène). (5)

Die Signale häufen sich, daß diese Welt des Entweder - Oder ihrem Ende nahe ist.

Ich möchte hier an einen der ausgefeilteren Schwanengesänge erinnern.

Die wohlbekannte Studie "Verlust der Mitte" von Hans Sedlmayr erschien vor rund 50 Jahren.

Der Autor untersucht, was er als das Szenario einer "ungeheueren inneren Katastrophe" Europas seit circa 1760 bezeichnet, wobei er sich des "symbolischen" Charakters der Kunst von 200 Jahren Moderne bedient, um die "Krankheit" dieser Epoche aufzudecken. Als deren Symptome bezeichnet der Autor den modernen Purismus und seine Polarisierungen, die Neigung für das Anorganische, das gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur und, vor allem, sein Zug zur Deshumanisierung. "Die verlorene Mitte des Menschen", sagt Sedlmayr, "ist eben Gott : der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis". (6)

Das Buch ist zweifellos ein sensibles Echo der transzendentalen Moderne und ihrer Inszenierung, ihrer Projektion eines neuen Goldenen Zeitalters und zugleich ihres nahen Endes : der künstlichen Paradiese der modernen Menschheit, einer Welt, die dank der Rationalität und geistigen Überlegenheit des westlichen Menschen in ein totales Artefakt, ein Kunstwerk verwandelt wäre, worin Geschichte und auch die Kunst selbst zu ihrem Ende gekommen und die Natur - der Hegelschen Vision zufolge - endgültig und vollkommen im absoluten Geist aufgegangen wären.

Stichwort Hegel. Ich will an dieser Stelle von einer speziellen und besonders aussagekräftigen Spielart des Mythos Mitte berichten: von der Erfindung des Kunstmuseums und der Museumskunst der Moderne. Beispiel: das Alte Museum in Berlin.

Hegel war 1818 auf den Lehrstuhl für Philosophie nach Berlin berufen worden und hielt in der Zeit von 1823 bis 1829 an der Berliner Universität seine berühmten Vorlesungen über Ästhetik. Just in jenen Jahren entwarf und baute Friedrich Schinkel sein Museum und der Königliche Baudirektor gehörte zu Hegels Berliner Freunden.

Eine gegnerische Fraktion hatte für das Berliner Museum eine pragmatische Lösung vorgeschlagen: als Erweiterungsbau der Akademie der Wissenschaften zum Zweck der Sammlung von Kunst, die Experten zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen sollte. Schinkels romantischer Gegenvorschlag fand die Gunst des Königs, Friedrich Wilhelms III: sein Museum sollte Teil seiner städtebaulichen Umgestaltung von Berlins Mitte in ein Athen an der Spree sein und darin natürlich einen zentralen Platz einnehmen. Wie stellte er sich sein Museum vor? Unter dem Einfluß von Hegel sollte es einer dialektischen Idee folgen, nämlich die Antithese von Kunst und Architektur in einer erhabenen Einheit beider zusammen zu führen und aufzuheben. Er wollte ein "Sanktuarium" errichten, worin das Gemüt des Besuchers empfänglich gemacht würde für die Ahnung eines absoluten Geistes, den Hegel entdeckt oder erfunden hatte. In seinem Museum sollte der Besucher der Aura innewerden, die vollkommene Kunstwerke beseele. Das Vorbild des Alten Museums - und in seiner Nachfolge so vieler anderer Museumsbauten weltweit - ist der griechische Tempel, ein Modell, das im 19. Jahrhundert auch für profanere Zwecke, zum Beispiel für Bankgebäude, sehr beliebt war...

In unserem romantischen Fall jedoch wird der Tempel in seiner ursprünglichen spirituellen Bedeutung verstanden: als Kirche.

Wir schreiben das frühe 19. Jahrhundert. Napoleons Militärmonarchie und die anschließende Restauration des Königtums der Bourbonen hatte im Land der Revolution die Uhren auf vorrevolutionäre Zeit zurückgestellt. Die retardierenden Stichworte in Deutschland lauten Romantik, Idealismus und Nationalismus. Ein Opfer der Aufklärung und des Zeitalters der Vernunft, war Gott tot und durfte es doch nicht sein. In diesem Kontext wird der Kunst die Rolle einer neuen Religion zugedacht, dem Kunstmuseum die ihres neuen Tempels. Wir haben es mit nichts anderem als der Rekonstruktion von verlorener Tradition, von verlorener Mitte zu tun. Mehr: unter dem Aspekt des Nationalismus - einer anderen der vielen menschlichen Erfindungen - dient die Museumsgründung dem Versuch, die sinngebende Symbolik von Kunst und Kultur zu nutzen, um eine kohärente soziale und nationale Einheit - es wäre polemisch zu sagen: vorzutäuschen, also sagen wir: herzustellen. Die konfliktfreie Repräsentation nationaler Kunst- und Kulturgeschichte , ihrer vorgeblichen Dauer und Ewigkeit wird jedenfalls zur zentralen Aufgabe des Museums.

Die Erfindung des modernen Museums ist bekanntermaßen eine Erfolgsstory. Bis in unsere postmoderne Gegenwart fehlt es der säkularen Religion im Zeichen der Kunst weder an Priestern noch an Kirchgängern und die Tempelbauer haben alle Hände voll zu tun.

Man darf Hegel ein wenig respektlos, aber ohne Übertreibung als den 'Chefideologen' der euroamerikanischen künstlerischen Moderne, vor allem ihrer abstrakten Spielart, bezeichnen, denn in den Metasprachen der Abstraktion kam es zur reinsten Interpretation seiner Gechichtsphilosophie und seiner Ästhetik. Auch andere Denker und Dichter haben ihren Beitrag geleistet : Kants Philosophie des Erhabenen und des Genies; Schillers Vergöttlichung des Künstlers; und nicht zuletzt die neuere, konservative amerikanische Kunstkritik z.B eines Clement Greenberg (dessen, ich zitiere, "formalistische Theologie" Thomas McEvilley bloßgestellt hat). Auf dieser mentalen Flugbahn mußte die Westkunst zu jener metaphysischen Manifestation der Verwandlung von Materie in Geist werden, mußte Kunstgeschichte zu einer Art von Heilsgeschichte werden (7) und ihren Anspruch auf die Weltherrschaft behaupten.

Gute Beispiele sind hierfür das Streben nach immaterieller Reinheit in den Kunstwerken eines Mark Rothko, Ad Reinhardt oder Yves Klein. Doch in den innersten Kreis des Erhabenen und Heiligen sind eine Reihe von herausragenden Werken der amerikanischen Land-Art vorgestossen. Ich denke hier an die "Earthworks", die Erdwerke, von Robert Morris, an sein "Observatorium"; an Robert Smithsons "Spiral Hill" oder "Spiral Jetty"; an Nancy Holts"Sonnentunnel"; an Walter de Marias "Lightning Field" (Feld der Blitze) oder an James Turrells "Spaces of the Light" (Lichträume). Turrell behauptete: "Meine Kunst besteht aus nichts anderem als reinem Licht. Sie ist nicht Trägerin der Offenbarung, sondern sie ist die Offenbarung" (Schwerelos. Katalog der Ausstellung in Berlin 1991/92, Stuttgart 1991, S. 224) Hier stellt Kunst den Anspruch, das Ewige und Kosmische einzuholen, in göttliche Gefilde vorzustoßen und nicht mehr zu unserer Welt hinieden zu gehören. Im Rückblick auf Kandinskys berühmtes Manifest von 1912, "Über das Geistige in der Kunst" und seine Berufung auf die "kosmischen Gesetze", denen er in seiner Kunst gehorche (man schreibt das erste bewußt abstrakte Bild Kandinsky zu) - rückblickend schließt sich der Kreis. Die Moderne gipfelt und endet in einer transzendentalen Behauptung von Mitte. Beim Rückzug in den engen Kreis des euro-amerikanischen Mainstream hatte der Mythos Mitte in einen ätherischen Aggregatzustand mutiert.

Kehren wir in unsere urbanen Niederungen zurück, in die Sphäre des hier und jetzt. Beispiel : Berlin. Erstaunlich ist, daß unser Mythos auch hier sein Wesen treibt und nicht zuletzt die Stadtplaner begeistert, die mit nichts geringerem als der Rekonstruktion des alten Stadtzentrums befasst sind, oder die vielen anderen, die sich ohne planerische Kompetenz und ohne Auftrag in die Stadtplanung einmischen.

Geben wir zu, es fällt uns Europäern schwer, uns eine Stadt ohne Zentrum vorzustellen. Seit unsere mitteleuropäischen Städte im 13.Jahrhundert die Form annahmen, die noch immer unsere Vorstellung beherrscht, entwickelten sie sich von ihrer spirituellen christlichen Mitte her, wo unübersehbar materialisiert die Kirche - Dom, Münster oder Kathedrale - dominierte, doch bald ergänzt um Stadthalle oder Rathaus und umgeben vom Marktplatz, dem öffentlichen Forum der Städte. Ein Bild, das dem Zahn der Zeit widersteht. Dazu ein beredtes Beispiel. Der Schriftsteller Amos Oz wurde in Israel als Kind aus Zentraleuropa eingewanderter Eltern geboren, die dem Jungen ihre Erwartung weitergaben, Jerusalem möge eines Tages doch noch eine 'echte Stadt' werden, worunter sie eine Stadt verstanden, die mit ihrer Kathedrale an einem von Brücken überquerten Fluß liege und von dichten Wäldern umgeben sei (8). Der Mythos ist zäh.

Andererseits müssen wir uns den hohen Symbolgehalt vor Augen führen, der in folgenden Tatsachen liegt : in den systematischen Zerstörungen Berlins, der Hauptstadt des Dritten Reiches, zunächst durch Albert Speers Planung des neuen Super-Zentrums Germania; dann durch die Bomben der alliierten Mächte; durch Ulbrichts Sprengung des Stadtschlosses der Hohenzollern und weiteren massiven Abriß noch erhaltener Bausubstanz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und symbolträchtig ist nicht minder und ganz allgemein die Verwandlung erhaltener historischer Innenstädte in Museen zur Erbauung und Ausbeutung anschwellender Touristenschwärme. Wäre der von einer konservativen Lobby geplante Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses mehr als "eine gigantische Mogelpackung... Außen barock, innen big business" (Rüdiger Schaper, SZ), mehr als eine "optische Täuschung", um dieses Wort wieder aufzunehmen? Wer möchte hier dagegenhalten und behaupten, die Mitte sei nicht verloren?

Hier müssen wir auf die Besonderheit Berlins zu sprechen kommen. In kritischer Distanz zur boomenden preussisch-deutschen Hauptstadt urteilte der süddeutsche Schriftsteller, Katholik und homme de lettre mit der Neigung zur französischen Kultur, Wilhelm Hausenstein, in den zwanziger Jahren : "Paris ist eine Blume der Natur; Brüssel blüht; Antwerpen wuchert. Berlin ist konstruiert; es hat sich selbst fabriziert, nicht geboren ..." - "Es ist, als ob Berlin auf nichts stünde ... (es) existiert gleichsam in keiner Herkunft" ... "Es ist eine hoffnungslos antikathedralische Stadt" ... "uns entsetzt die trotz aller Urbanität immer wieder fühlbare Unmenschlichkeit dieser Stadt - und mit dem Unmenschlichen immer wieder das Gottlose"(9). Mit diesen wenigen Auszügen aus seinem Berlin-Essay tue ich dem Autor natürlich unrecht, denn unter seinen scharfsinnigen Beobachtungen findet sich auch das eine und das andere positive Urteil.

Allerdings dürfen wir Hausenstein recht geben, wenn er Berlin als eine "exempte" Stadt bezeichnet, die im Unterschied zu ihren europäischen Schwester-Hauptstädten nicht unter dem Einfluß der Kirche und im Schatten einer Kathedrale groß geworden ist. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Setzen wir bloß ein positives Vorzeichen, wo Hausenstein das negative wählt: "Großberlin" ist erst 192o aus sieben städtischen und 59 ländlichen, unabhängigen Gemeinwesen entstanden und zwar als ein rationaler Akt, der 20 Verwaltungen unter der Verantwortung je eines Bürgermeisters und Parlaments schuf : ein selbstbestimmtes polyzentrisches Ballungsgebiet. Mit anderen Worten, die Voraussetzung, Weltstadt zu werden, wenn man darunter eine urbane Struktur versteht, die ohne ideologische Vorbehalte offen ist für die Aufnahme und das Gedeihen der unterschiedlichsten Identitäten, Qualitäten oder Kulturen in einem selbstverständlichen Neben- und Miteinander. Kurzum : das Potential einer modernen Stadt.

Die Realität sieht, wir wissen es, ein wenig anders aus. Dennoch weist Berlin in seiner Entwicklung eine außergewöhnliche Vielfalt unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Rollen auf : sozialer Schmelztiegel und multikulturelle preussische Hauptstadt; Kaiserstadt und Rotes Berlin; führende Stadt der Künste und Wissenschaften und größte deutsche Arbeiter- und Industriestadt; Hauptstadt von Nazideutschland und Stadt unterm Vier-Mächte-Status; Frontstadt, Stadt der Mauer und Schaufenster des Westens; Hauptstadt der DDR und der Studentenbewegung usw.

Mit der knappen, vehement in Frage gestellten und noch immer nicht unumstrittenen Entscheidung, Berlin wieder zur deutschen Hauptstadt zu machen, steht es wiederum vor der Wende zu einer neuen Identität.

Was immer Berlin ist und sein wird : es war - wie schon gesagt - eine Stadt der Moderne. Vielleicht ihre exemplarischste Stadt. Nicht zuletzt in der Schärfe der Gegensätze, die es erzeugt, gelebt, ertragen hat. Die Moderne ist eine zerrissene, im Konflikt mit sich selbst befangene Epoche. Hier die Verzweiflung über den Verfall uralter Traditionen, Gewißheiten und Geborgenheiten. Dort ein Fest permanenter Neuerung, das die Aufkündigung überlieferter Werte zum Programm erhob. Die Moderne ist eine Epoche der Gegensätze und Brüche, eine zweihundert Jahre andauernde Krise. Eine Krise auch im Umfeld der Bürger, ihrer Psychosen und Therapeuten - wir sprechen von der Epoche des Dr. Freud. Die duale Teilung der Welt erscheint geradezu als eine Erfindung (oder doch Wiederentdeckung) der Moderne. In Berlin, so scheint es, standen die Gegensätze einander unversöhnlicher gegenüber als andernorts.

Ihr Potential an Offenheit, Toleranz, Vielschichtigkeit, Zukunftsorientierung und Progressivität prädestinierten die Stadt dazu, ein Zentrum der aufgeklärten Moderne zu werden, doch eben dies rief starke reaktionäre Kräfte auf den Plan. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist die Errichtung des Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm von 1884 an, dieser obrigkeitliche Akt der Gleichsetzung der Preussischen Krone mit den himmlischen Mächten, diese rein politische Demonstration von Zentralgewalt mittels der bloßen Behauptung einer spirituellen Mitte. Sie wurde vom modernen Berlin in seiner erklärten Abneigung gegen die Hohenzollern sofort als Kriegserklärung verstanden und gekontert. Zum Beispiel vom Kunsthistoriker und Museumsmann Alfred Lichtwark, der den Bau als "Triumph des Dagewesenen - eine bösartige Architektur" verurteilte. Es ist nicht zu übersehen: der inzwischen restaurierte Dom erscheint als ein fataler Vorläufer von Albert Speers Großer Halle, worin die geplante Umwandlung Berlins in das faschistische Zentrum der Welt gipfeln sollte.

Mit dem Eintritt in die Post- und Post-Postmoderne sind wir uns endlich der radikalen, wenn auch schleichenden Veränderung unserer geistigen Landschaft bewußt geworden. Schon in den frühen siebziger Jahren hatte Octavio Paz mit dem Tod der Avantgarde auch das Ende der Utopien der Moderne verkündet (10). Zwanzig Jahre später äußerte sich der amerikanische Kunst- und Kulturkritiker Thomas McEvilley fogendermaßen : "... der Globalismus der neunziger Jahre beruht auf der Erkenntnis, daß Kunstgeschichte, wie sie bislang gelehrt wurde, nicht mehr mit der Welt übereinstimmt, in der wir leben. Um den Schock zu überwinden, bedarf es eines grundlegenden Wandels der westlichen Erkenntnismodi. Ihr Paradigma von den Wissenschaften borgend, hatte westliche Kultur das universale Ich zu sein : nicht-westliche Kultur hatte das ganz Andere zu sein. Die Vorstellung, seine eigene Kultur mit anthropologischem Blick zu betrachten - seine eigene Kultur wie eine fremde zu behandeln - wäre als subversiv erschienen. Heute jedoch sehen westliche Anthropologen ihre Aufgabe darin, ihre eigene Kultur eben so wie andere zu beleuchten und zwar mit Licht, das wenigstens teilweise von außen kommen muß... Der Sinn dieser Übung ist die Relativierung jedweder Kultur, die Einsicht, daß sie nicht ein Absolutes darstellt, sondern nur eine von vielen Annäherungen an das allen Menschen gemeinsame Projekt der Zivilisation" (11).

Der Umbau der Bühne ist in vollem Gange. Immer häufiger lassen sich die Totenglocken des Mythos der Mitte vernehmen, und nicht minder oft die Willkommensgrüße für die neuen Denkmuster von Offenheit und Differenz, der Wiederentdeckung einer Welt zahlreicher Kulturen, Zentren, Wahrheiten. Es zeichnet sich immer klarer ab, daß die Herstellung von Werten und Bedeutung sich auf die Seite periphärer Autoritäten, kreativer Individuen und von Randgruppen verlagert hat, wo sie vielleicht schon immer zu finden war.

"Niemals zuvor", beobachtet der französische Anthropologe Marc Augé, "wurde individuelle Geschichte in solchem Ausmaß von kollektiver Geschichte beeinflußt, niemals zuvor jedoch waren die Mittel der Orientierung für die kollektive Identität so flüssig wie heute. Folglich ist die individuelle Herstellung von Bedeutung so unerläßlich wie nie zuvor" (12).

Der englische Philosoph Michael Dummet geht so weit, die Annahme eines Zentrums überhaupt in Frage zu stellen. Er illustriert seine Wahrheitssuche mit dem Bild des Labyrinths und seinen vielen Sackgassen und als die Chance, darin vielleicht neue unerwartete Wege zu entdecken (13).

Diese Einsichten sind natürlich keineswegs neu oder überraschend. In seinem berühmten Buch über die Aborigines, die australischen Ureinwohner und Nomaden, erinnert Bruce Chatwin daran, daß die großen monotheistischen Religionen ihren Ursprung im Milieu der nomadisierenden Hirten haben ("The Songlines"...) Im Blick auf diese Tatsache und jene, daß das Christentum in der römischen, der Protestantismus in der deutschen Provinz entstanden sind, spricht der Historiker Egon Friedell von der "schöpferischen Peripherie". Und so weiter.

Hier können wir den Bogen wiederum nach Berlin schlagen. Die Berliner Moderne vor allem des späten 19. und 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch ihre Opposition gegen geliehene und behauptete Werte, gegen eine Gesellschaft, die sich in der Nachahmung historischer Stile und Lebensformen gefiel, deren Wahrheitsgehalt sich längst verflüchtigt hatte. Sie stand einmütig an jenem anderen Ufer, das aus der Perspektive des Zentrums als Peripherie disqualifiziert wurde - so z.B. auch das exzentrisch situierte deutsche Parlamentsgebäude, der Reichstag, das der Kaiser gerne als "Reichsaffenhaus" verunglimpfte.

Die Sezessionisten und Aussteiger bekannten sich zur Negation des bösen Bestehenden. Doch zugleich stehen sie in einer Tradition positiver 'preußischer' Eigenschaften, denen Berlin nicht zuletzt seine Einzigartigkeit verdankt: z.B. einen Großen Kurfürsten, der keine Meinungsführerschaft in religiösen Dingen beanspruchte - jeder sollte bei ihm "nach seiner Facon selich" werden - und der die Stadt aus klugem Eigennutz den tüchtigen Holländern, Hugenotten, Juden und Böhmen öffnete und so im 17. Jahrhundert schon die Voraussetzung für die moderne Großstadt schuf: ihre Assimilationskraft und ihre multizentrische Struktur.

Es ist dieses Freisein von Mitte, das Berlin zu einer der Hauptstädte der Moderne, vor allem der künstlerischen Moderne gemacht hat. Sie setzte sich ab von der konservativen Museumskunst und ging einen alternativen, einen revolutionären Weg in jene kritische oder skeptische Richtung, die sich auf Marcel Duchamp beruft und zu deren Stationen z.B. DADA, Fluxus, Performance Art und Situative Kunst gehören. Seit den siebziger Jahren werden ihre noch immer aktiven Spielarten der Postmoderne zugeordnet.

Natürlich handelt es sich hier um ein Berlin von Minderheiten. Die gesellschaftliche Mehrheit der Hauptstadt hingegen war vom Bewußtsein, kulturell und überhaupt im Zentrum der Welt zu sein, zutiefst erfüllt. Hierzu eine kleine, bezeichnende Momentaufnahme vom 3. Februar 1895. Im Berliner Theater wird ein "schlechtes Stück" von Kammergerichtsrat Wichert gegeben, der sich für einen 'deutschen Dichter' hält. Der Kritiker Alfred Kerr (damals noch ein junger Mann und nicht die gefürchtete Berühmtheit der 20er Jahre) schrieb: "...alles sah nach der linken Proszeniumsloge, ob der Kaiser anwesend sei. Denn der Kaiser hat den Verfasser einmal ausgezeichnet... in Wirklichkeit liegen die Dinge in Deutschland jetzt so, daß das ganze Schicksal eines Kunstwerks und eines Künstlers wesentlich beeinflußt werden kann von dem Maß der Teilnahme, das ihm der Kaiser bekundet". (14). Könnte man geliehenen Wert, vorgetäuschte Bedeutung, könnte man Schein-Mitte treffender beschreiben als Alfred Kerr?

Die Jahrhundertchance und -aufgabe der Berliner Stadtplaner sind in Frage gestellt durch ihre Desorientierung, die aus der bedeutungsleeren Mitte einerseits, aus deren beharrlichem Mythos andererseits und ganz allgemein aus der ungewissen Zukunft der großen Städte resultiert.

Dieser Grenzbereich zwischen gestern und morgen könnte eine Phase großer Kreativität sein - jedenfalls wenn man dem mexikanisch-indianischen Volk der Nahuatl folgen will, die das Wort 'Nepantla' prägten für jene Zwischenphase, eine Welt hinter sich gelassen und eine andere noch nicht betreten zu haben. Wie nutzt Berlin seine kreative Phase?

Neben einem nach dem Fall der Mauer mit heißer Nadel fortgeschiebenen Flächennutzungsplan sucht man vergeblich nach einem umfassenden Konzept, geschweige einer Philosophie für die Erneuerung der Stadt. Die Szene wird vielmehr beherrscht vom Richtungs- und Parteienstreit, von Eitelkeiten und Profilierungssucht. Soweit das nicht schlicht in der menschlichen Natur und am System liegt, gibt es einige objektive Gründe: Trotz einiger unübersehbarer Anzeichen hat niemand ernsthaft mit dem Zusammenbruch der DDR und dem Fall der Mauer gerechnet. So gab es für den Tag X der Wiedervereinigung und der Restitution der Hauptstadt keinerlei Pläne und Szenarios in Bonner Schubladen - eigentlich erstaunlich angesichts des dichten West-Agentennetzes und der Frequenz des Austauschs mit der DDR. Hier haben wir es wieder mit der Beharrlichkeit in unserem Land zu tun, mit dem fehlenden "Ruck", selbst wenn es um historische Provisorien geht. Man hatte sich offenbar mit dem Provisorium des geteilten Berlin ebenso abgefunden wie mit dem Provisorium Bonn. Als das Unerwartete geschehen war, verschwanden alle Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse zur alten und kommenden Hauptstadt Berlin sofort in der Versenkung und eine breite Front aus Bundespolitikern und -verwaltungsbeamten entdeckte in abgründigem Erschrecken über den drohenden Umzug alle für einen verwöhnten Wessi nicht akzeptablen Nachteile der großen, verwahrlosten Stadt. Viele waren vorgeschützt, um die eigentliche Befürchtung zu verbergen, nämlich das bequeme Leben im sympathischen Dreieck Bonn - Paris - Brüssel aufgeben zu müssen. Und dahinter steckte eine weitere : Berlin bedeutete nicht nur ein anderes Deutschland, es bedeutete auch eine andere deutsche und europäische Politik, eine Politik, die das weite, zurückgebliebene Europa jenseits des bisherigen Eisernen Vorhangs in den Blick und ernst nehmen mußte. Und das macht Angst. So wenig mir diese Argumente sympathisch sind, ich habe ein gewisses Verständnis für jene Parteigänger Bonns, die in Verteidigung der soliden Bonner Republik und ihrer demokratischen Internationalität mit Berlin die Gefahr eines neuen großdeutschen Nationalismus und teutonischer Überheblichkeit heraufdämmern sahen. Monsieur Mitterand und Mrs. Thatcher teilten diese Befürchtung, doch nur aus Sorge um ihre eigenen hegemonialen Ansprüche. Es zeigte sich, daß die deutschen Sorgen nicht unbegründet waren. Als sich nach peinlichen Grabenkämpfen die Entscheidung für Berlin unwiderruflich bestätigt hatte, entwickelten unsere demokratischen Staatsdiener ohne Umschweife einen barocken Appetit auf autoritäre Selbstdarstellung. Berlins historisches Zentrum ist das Objekt und der Ort der Begierde, hierhin drängt es alle für Berlin bestimmten Ministerien als ob die Hauptstadt noch immer der Krone, dem Staat und nicht dem Volk gehöre; als ob es sich nicht längst herumgesprochen hätte, daß nationale politische Instanzen und Ihre Institute bei fortschreitender europäischer Integration und in einer globalisierenden Welt rasch an Bedeutung und Macht verlieren. Handelt es sich also um ein letztes Auftrumpfen vor dem Ende?

Man spricht von einer "zweiten Gründerzeit", von "kritischer Rekonstruktion" historischer Pläne und kritisiert die Manöver der Stadtplaner als einen Weg "zurück in die Zukunft". Es ist schon mehr als eine kuriose Anekdote, daß der Bundesaußenminister zumindest zeitweise mit dem Ort des einstigen Schlüterschen Stadtschlosses für sein Ministerium geliebäugelt hat.

Mitte 1995 sah sich die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg veranlaßt, in einem offenen Brief den "Wilhelminismus" der Bundesplanungen zu verurteilen. Bauten der obersten Bundesinstanzen dürften nicht autoritär wirken; Bundesinstitutionen dürften sich nicht über ihren verfassungsmäßig festgelegten Rang hinaus im Sinne überhöhter Repräsentanz darstellen; die Entwürfe für das Bundeskanzleramt entsprächen den überzogenen Forderungen des Bauherrn; die Forderung der Reichstagskuppel verriete die Vorliebe für Pathosformeln usw. In der Tat, die Berliner Republik scheint sich auf den Weg in die Kaiserzeit gemacht zu haben, der Mythos Mitte feiert fröhliche Urständ. Noch ist die Gefahr keineswegs gebannt, daß sich Berlin-Mitte in eine gigantische Hochsicherheitszone verwandeln wird, wo die Entfaltung ungehemmten städtischen Lebens und urbaner Kommunikation keine reale Chance mehr hätte.

Auf ins Zentrum - doch was trifft man dort an? Hohlräume, die bestenfalls der Simulation von Mitte und Wert und Bedeutung dienen können. Über den unseligen Dom und das Alte Museum sprachen wir. Das verlorene Stadtschloss alias Palast der Republik, die wechselnden Begehrlichkeiten auf diesen zentralsten Ort, die ziellose Diskussion um erneuten Abriß, Wiederaufbau und Zweckbestimmung - der ganze schwelende Konflikt zeigt überdeutlich, daß man die Mitte eines komplexen Gemeinwesens und ihrer weitgefächerten, diffusen Identität nicht mit antiquierten Parametern definieren und in Besitz nehmen kann. Daß Mitte, kurz gesagt, nicht mehr Mitte ist. Wir erinnern uns der Stadtschlossfassade, die eine französische Künstlerin im Auftrag der konservativen Lobby auf kaisergelbe Plastikbahnen gemalt und für einige Monate vor den Palast der Republik gehängt hatte : auch ein wiedererrichtetes Schloss wäre nicht mehr als eine solche Augentäuschung, eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, was immer der Inhalt des Gebäudes wäre.

Stadtplanung unter der Direktive der ausgedienten Paradigmen von Hierarchie und hegemonialer Sinngebung kann in nichts anderem resultieren als in der Herstellung solitärer und isolierter Baumassen, von Gebäuden und Gebilden ohne echtes Leben und wahre Bedeutung, und umgeben von leeren ungastlichen Räumen, von "espaces courant d'air", Räumen für Zugluft, wie es der französische Architekt Gagès einmal im Blick auf La Défense in Paris beklagt hat. Das Gegenteil hiervon wären etwa Räume für den Flâneur, eine dichte, abwechslungsreiche Stadtlandschaft für den Bummler, der seine Welt aus reiner Freude am Schauen und Erleben absichtslos und ohne eindeutiges Ziel durchstreifen und genießen will. Es muß nicht betont werden, daß unsere derzeitigen Städte zur Flânerie nicht gerade einladen.

Nun ist es allerdings leichter, zu sagen, was und wie unsere Städte nicht sein sollen, als sich eine mehr denn vage Vorstellung davon zu machen, welche Gestalt und Qualität sie in Zukunft haben sollen. Versuchen wir, uns der Frage zu nähern, ob und wie Urbanität sich künftig herstellen ließe.

Im Blick auf seine Besonderheit, seine spezifische Geschichte und seine Hauptstadt- und somit Vorbildfunktion steht Berlin vor der Herausforderung, eine offene, demokratische, tolerante und kosmopolitische Gesellschaft zu entwickeln und zu stabilisieren.

Demokratische Stadtplanung muß also von analogen Prinzipien geleitet sein : von Offenheit der Strukturen und Freiheit der Formensprache, von Pluralismus und Dezentralität.

In der Einführung eines seiner Bücher (15) beruft sich der Soziologe Ulrich Beck, den ich eingangs zitiert habe, auf Wassily Kandinsky. Kandinsky hat 1927 einen kleinen Aufsatz mit dem schlichten Titel "und" veröffentlicht. Während das 19. Jahrhundert, sagt der Künstler, vom Entweder-Oder beherrscht gewesen sei, werde das 2o. Jahrhundert daran arbeiten, das Und an seine Stelle zu setzen.

Dort also das Gesetz der Teilung, Spezialisierung, von Ordnung, Klarheit, Kontrolle und eines linearen, berechenbaren Weltbildes - hier hingegen eine Welt im Zeichen von Globalität und Vielfalt, von Ungewißheit, Austausch, Synthese und Ambivalenz. Die Welt des Entweder-Oder, in der wir noch immer denken, handeln und leben, meint Beck, stelle sich als falsch heraus.

In einem seiner Artikel (16) in der Süddeutschen Zeitung wendet Beck diese Einsicht unter dem Titel "Die Offene Stadt" auf die Analyse des gegenwärtigen Zustands und der Entwicklung unserer urbanen Ballungsräume an. Hier einige seiner Überlegungen :

Der Autor plädiert für eine alternative Architektur des öffentlichen Bereichs, der Zwischenräume, um eine neue Identität des Gesellschaftlichen zu schaffen. Aufgabe sei es, die Idee von Gemeinschaft im öffentlichen Raum und gegen dessen Verlust zu erneuern. Um die toten Zentren unserer Städte wiederzubeleben, müsse die Stadt des Und "gastliche Räume" (Renate Schütz) schaffen, die ermöglichen sollen, was heute ausgeschlossen ist : Intimität und Anonymität, Gemeinschaft und Freiheit. Die Stadt des Und mache sich daran, eine neue, radikale Moderne zu entwickeln, was eine Neudefinition des Sozialen bedeute in einer Welt, die sich zugleich globalisiere und individualisiere. Die Stadt des Und werde die Mittel anbieten müssen, um 'Gemeinschaft' in einer Stadt der Individuen und individueller Lebensentwürfe herzustellen, um urbane Demokratie zu schaffen. Sie wird "open-minded spaces" - geistig aufgeschlossene Räume - bereitstellen müssen, wie es der amerikanische Autor Michael Walzer auf den Begriff gebracht hat. Und schließlich habe sie die Aufgabe, die Technologie mit der Ökologie zu versöhnen, um künftige Urbanität zu ermöglichen.

Wenn Berlin und sein geistig aufgeschlossenes Potential die Oberhand gewinnen sollten in der Auseinandersetzung mit den Tendenzen zu Exklusivität und nationalem Pomp, zu Apartheid-Mentalität, zu einer Hochsicherheits-Architektur und einer des Personenkults mit dem Hang zur Mitte usw., wenn dies gelingen sollte, hätte Berlin in der Tat alle Chancen, zu einer Werkstatt für die Erneuerung von Urbanität zu werden, für die Entdeckung der Elemente eines künftigen Mythos, mit dem wir uns gerne identifizieren werden.

Doch das ist eine andere, die nächste Story...

Literaturhinweise

1) Ulrich Beck, "Die offene Stadt", Süddeutsche Zeitung, 2./3. Juli 1994

2) Modris Ecksteins "Der Große Krieg", im Katalog "Die letzten Tage der Menschheit", Berlin 1994

3) Peter Handke, "Versuch über die Jukebox", 1990

4) Gilles Deleuze, "Philosophie et minorité", in "Critique" 369, 1978

5) Jean Baudrillard, "La scène et l'ob-scène"

6) Hans Sedlmayer, "Verlust der Mitte - Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit", Salzburg 1948, 17. Auflage 1991

7) Thomas McEvilley, in "Art and Discontent" - Theory at the Millenium", New York 1991

8) Amos Oz, "Brief aus Arad", in "Bericht zur Lage des Staates Israel", Frankfurt/Main 1992

9) "Eine Stadt, auf nichts gebaut...", Wilhelm Hausenstein über Berlin, Berlin 1984

10) Octavio Paz, "Der Tod der Avantgarde", 1972, in "Die andere Zeit der Dichtung", Frankfurt/Main 1992

11) Thomas McEvilley, "Art & Otherness - Crisis in Cultural Identity", New York 1992

12) Marc Augé, "Orte und Nicht-Orte - Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit", Frankfurt/Main 1994

13) "Un entretien avec Michael Dummet", Roger-Pol Droit, "Le Monde", 11. Oktober 1994

14) Alfred Kerr, "Wo liegt Berlin? - Briefe aus der Reichshauptstadt", Berlin 1997

15) Ulrich Beck, "Die Erfindung des Politischen", Frankfurt/Main 1993

16) Ulrich Beck, "Die offene Stadt", s.o.

 

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