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Der Gegenstand meines
Vortrags ist Berlin. Berlin unter dem Aspekt Mitte
und ihrer Ideologie. Ich spreche von einer der
Hauptstädte der Moderne, wo die Lehren und Prinzipien
der Französischen Revolution spät, aber nachhaltig
wirksam wurden. Berlins geographisch exzentrische Lage,
seine kulturelle und ethnische Vielfalt, seine
teilungsbedingte politische Randständigkeit, sein
'exempter' Charakter (wovon die Rede sein wird), der
bundesrepublikanische Föderalismus schließlich,
müßten die Stadt eigentlich vor zentralistischen
Neigungen bewahren. Ist das der Fall? Wir werden es
prüfen. Ich spreche von
einer großen europäischen Stadt. Dabei ist der Gedanke
an andere große Städte, Hauptstädte und ihre Länder
und Nationen stets gegenwärtig. Vor allem der Gedanke an
den weit verbreiteten Hang, dem Mythos der Mitte zu
frönen.
Dieser Vorrede will ich noch einen
weiteren Gedanken anschließen. Der gegenwärtige
radikale Wertewandel setzt grosso modo mit der Großen
Revolution ein, ist also wenigstens 200 Jahre alt. Die
revolutionären Ideale hätten eigentlich zügig in
Lebenspraxis umgesetzt werden können, wenn, ja wenn die
Menschen hierzu in der Lage gewesen wären. Welche
Ideale? Nennen wir die wesentlichen: das
selbstverantwortliche Individuum; die Menschenrechte
(droits de l'homme); der Kosmopolitismus.
Die europäische Menschheit war zu
ihrer raschen Realisierung nicht in der Lage oder nicht
willens.
So sind die 200 Jahre, die wir als
die Epoche der Moderne bezeichnen, genau genommen eine
ausgedehnte Übergangsperiode, eine Interimsphase der
Geschichte. Das Englische kennt hierfür einen treffenden
Ausdruck: a hyphenated period - eine Bindestrich-Epoche.
Bei Licht besehen - und natürlich
in perspektivischer Verkürzung - besteht die Moderne aus
einer Folge von Konstruktionen, Aktionen und Manövern
mit dem Ziel, die - in den Augen ihrer Gegner
schreckliche - Perspektive einer offenen, demokratischen,
von aufgeklärten Individuen rational gelenkten Welt zu
unterlaufen, und möglichst auf Dauer unmöglich zu
machen. Soweit die Vorrede.
Unsere großen Städte sind
"Laboratorien der Zivilisation", "gelebte
Utopie und zugleich die erlittene Zerstörung von
Utopie", lesen wir bei Ulrich Beck (1). In unseren
Städten wird die Zukunft unserer Welt geplant, gebaut,
gelebt und nicht selten verloren. Oft im Widerspruch zu
ihrer steingewordenen Behauptung von ewiger Dauer sind
unsere Städte Phänomene ständigen Wandels, denn sie
sind Spiegel unserer sich stets verändernden
Gesellschaften. Mehr, unsere Städte sind und werden in
zunehmendem Maße die Arenen sein, wo sich die
gegenwärtigen Veränderungen vollziehen und sichtbar
werden, die in die Substanz unseres hergebrachten Welt-
und Selbstverständnisses eingreifen und die wir uns
angewöhnt haben, Paradigmenwechsel oder den Wandel
unseres kulturellen Kanons zu nennen.
Berlin ist in dieser Hinsicht ein
besonders ergiebiges Forschungsobjekt - eine Stadt, die
niemals ist, sondern stets wird, wie ein bekannter
Berlin-Slogan lautet und wofür die gegenwärtige
Entwicklung ein beredtes Beispiel ist. Berlin
repräsentiert in schöner Gleichzeitigkeit die großen
gegensätzlichen Bewegungen und Identitäten des 19. und
20.Jahrhunderts: Bourgeoisie und Proletariat;
Nationalismus, Internationalismus und Kosmopolitismus;
Monarchie und Demokratie; Kapitalismus und faschistischen
versus kommunistischen Absolutismus. Nicht zu vergessen:
Berlin war eine der Werkstätten der künstlerischen und
der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen
der Moderne. Und stets präsent der basso continuo von
Preussens 'Glorie', bewundert oder geschmäht. Berlin,
Stadt der Krise.
Blicken wir etwas genauer hin:
Spree-Athen versus Spree-Chicago, Reaktion versus
Fortschritt; Stadtmaschine der Dynamik und
apokalyptischer Moloch mit dem behäbigen
Kleinbürgergürtel; protzige Parvenüpolis der
Gründerzeit und Elend der Arbeiterquartiere; Stadt der
Jugendbewegung und der "Sozialaristokraten";
Stadt der Arbeiterbewegung und der
"Sozialistengesetze"; Magnet der
intellektuellen und künstlerischen Zuwanderung aus der
deutschen und europäischen Provinz und Ort der
Emanzipation des lokalen Judentums, seines
Verbürgerlichungsvorsprungs - hier konnte es zu der
historisch einmaligen deutsch-jüdischen Symbiose kommen,
jedoch im scharfen Gegensatz zum deutschnationalen
Junkertum... Und, da alles seine Ursache hat, noch die
gegenwärtige Blockade zweier gegensätzlicher
Mentalitäten in dieser Stadt ist ein müder Nachklang
der traditionellen Konfliktlage.
Jedenfalls ist Berlin aus seinem
Dornröschenschlaf aufgewacht, vom unwürdigen Zustand
seiner künstlichen Beatmung befreit und weist - wenn wir
von der Überforderung seiner politischen und der
Depression seiner kulturellen Klasse absehen - alle
Symptome einer kapitalistischen Boomtown auf. Damit
knüpft es an die eigene Tradition einer Stadt der
Veränderung an. Berlin gilt als eines der Zentren der
Moderne und ihrer Fortschrittsmanie. Berlin trägt auch
das Etikett einer Hauptstadt der Überraschung,
eines Markenzeichens europäischer Zivilisation seit dem
Ersten Weltkrieg, der seinerseits als die große
Überraschung etikettiert wurde. Berlin war stolz als
die Hauptstadt des Schocks zu gelten, auf seine
Fähigkeit des "épater le bourgeois", auf
seine "Umwertung aller Werte", auf seinen
unstillbaren Durst nach Neuheit, nach Innovation, darauf,
eine Kultur des Ereignisses, der Aktionen und
Sensationen, statt eine Kultur der Bedeutung und
moralischen Führerschaft zu pflegen (2)
Doch ich möchte zunächst über
einen stabilisierenden Faktor der Geschichte sprechen:
über Mythos und Mythologie. Und in diesem Kontext einige
Gedanken zur Debatte über Zentrum und Peripherie
beitragen.
Die Begriffe von Mythos und
vor allem vom Mythos der Mitte werden nützlich
sein für die Analyse der gegenwärtigen Lage
metropolitaner Agglomerationen im allgemeinen, und im
besonderen für das Verständnis des besonderen
Schicksals von Berlin und die Beantwortung der Frage, ob
die Stadt ihre verlorene Urbanität wiedergewinnen kann
und von welcher Art diese Urbanität sein könnte.
Hier einiges von dem Stoff, aus dem
der Mythos ist.
"Die Mauer in unseren
Köpfen" : ist das nicht eine schöne Metapher für
den gegenwärtigen psychischen Zustand Berlins, ein Beleg
dafür, daß die Menschen Bewohner ihrer Mythologien
sind? Der Kulturhistoriker Egon Friedell meinte, jegliche
Gegenwart sei "eine optische Täuschung".
Umberto Eco ist der Meinung, daß wir uns in einem
"Wald der Fiktionen" bewegen. Unseren Durst auf
Mythos, der uns erst zu Menschen mache, nennt Michel
Tournier den "Sauerstoff der Seele". Und in
Hinsicht auf jenes unglaubliche Jahr 1989, das Jahr
totaler Überraschung, des unerwarteten Wunders, spricht
Peter Handke von "Geschichte als dem großen
Märchen der Welt, der Menschheit..." (3).
Ich spreche vom Funktionieren
unserer Wahrnehmung im Konflikt mit dem Wahrnehmbaren,
woraus das entsteht, was wir 'Realität' nennen. Unter Mythos
verstehe ich all das, was wir als unser geistiges und
psychisches Gepäck mit uns herumtragen, als unser
anzestrales und genetisches Erbe, als die Erbschaft
unserer realen und legendären Vergangenheit, als die
Früchte unserer Einbildungen, unserer Zukunfsvisionen,
unserer Ängste und Hoffnungen. Unsere 'mythologische'
Konstitution erlaubt es uns, von der Gegenwart der
Vergangenheit zu sprechen. Wir sind so etwas wie
Zeittanks zur Speicherung von Geschichte in der Form
unserer persönlichen Legenden. Dies fordert die Frage
heraus, inwieweit unser Denken und Handeln, inwieweit das
Bewußtsein von uns selbst und von den anderen bestimmt
sind von dem, was wir wahrnehmen oder nicht, fordert die
Frage nach der Qualität von Wirklichkeit. Es verhält
sich offenbar so, daß unser Leben beherrscht wird von
unseren Ideen, Erinnerungen und Erwartungen, nicht
zuletzt von unserem Bedürfnis nach Dauer und
Kontinuität. Unsere Mythen erweisen sich jedenfalls als
ebenso real wie die Bedingungen unserer 'realen'
Existenz. Platos Höhle scheint konkrete Bedeutung für
uns zu haben, wie könnten wir sonst in der Lage sein,
mit einer fiktionalen Welt klar zu kommen, die offenbar
zunehmend unter das Gesetz der Relativität,
Immaterialität und Virtualität gerät.
Ich will Beispiele für die
Beobachtungen nennen.
Der Fall der Mauer und des Eisernen
Vorhangs hat uns mit jener geistigen Grenze konfrontiert,
die wir als Zeitmauer bezeichnen, Grenze zwischen
zwei mythischen Zonen hüben und drüben. Jahrzehnte der
Verwicklung in die unterschiedlichen Mythen Ost- und
Westeuropas haben mentale Abweichungen selbst bei
Individuen gleicher Herkunft zur Folge und resultieren im
divergierenden Habitus des Denkens, Erinnerns, Empfindens
und Handelns.
Ein anderes relevantes Beispiel ist
der berühmte Mythos Berlin, die Legende der
Berliner Moderne mit ihrem Höhepunkt in den zwanziger
Jahren, worin jene einzigartige und unwiederbringliche
deutsch-jüdische Symbiose, die Essenz der urbanen Kultur
der Stadt kulminierte.
Es ist der Mythos der
Stadt-Maschine, der von den romantischen Expressionisten,
den Dichtern und den Malern als ein Dschungel gesehen
wurde - als Moloch Berlin. Der Mythos dieser
merkwürdigen Jahre am Rande des Abgrunds beherrscht,
obwohl zerstört und für immer passé, noch immer unsere
Einbildung und Sehnsucht. Vor allem beherrscht er die
Einbildung und Sehnsucht jener, die in der einen oder
anderen Weise mit der Gestaltung der neuen Hauptstadt
befasst sind, als ginge es nur darum, seine verstreuten
Elemente von neuem zusammen zu fügen um die einstige
Urbanität und Modernität Berlins wiederherzustellen.
Wir haben es hier mit dem Mythos
der Mitte zu tun.
Der Mythos der Berliner zwanziger
Jahre ist nichts anderes als der Traum einer
vielgestaltigen Metropole, die dennoch den inneren
Zusammenhalt und die Einheit der heiligen Polis besäße,
und deren hervorragende Qualitäten - der Mythos liebt
die Simplifikation - die Erlesenheit ihrer herrschenden
Klasse und Intelligenzija, der Reichtum ihres
Handelsstandes, die Überlegenheit ihrer Industrie und
ihres Handwerks, das Prestige ihrer Institutionen, die
Raffinesse ihrer Kultur, die Exzellenz ihrer Künstler,
der Glamour und die Verruchtheit ihres Nachtlebens, die
Perfektion ihrer Verbrecher und die Schlagkraft ihrer
Ordnungshüter, der Mutterwitz ihrer Bewohner und der
Reiz ihrer Frauen, die Größe ihrer Gebäude und der
Zauber ihrer Stadtlandschaft sind - mit einem Wort die
Lebenslust und -intensität, die Berlin verspricht. Es
ist der betagte Traum einer 'Weltstadt' als Zentrum
gegenüber ihren unbedeutenden Schwestern an der
Peripherie oder in der Provinz. Das Klischee kann nicht
banal genug sein auf seinem Weg zur kollektiven Legende.
Der Begriff von Mitte oder Zentrum
hat seinen Ursprung in den theo-geo-zentrischen
Kosmologien, die in den Naturwissenschaften und sogar in
der Theologie seit sehr langer Zeit ausgedient haben.
Dennoch widersetzt sich die uralte Vorstellung
erfolgreich ihrer Aufkündigung, da sie offenbar einer
chronischen Sehnsucht der Menschheit entspricht. Der
Mythos Mitte setzt Zentrum mit Bedeutung oder Wert
gleich. Vom Sonnenkönig zu seinen zahlreichen
Nachfolgern und Nachahmern, von der Inquisition zum
Stalinismus, vom bürgerlichen Milieu und juste
milieu zum Tausendjährigen Reich und zum
Eurozentrismus : wir zählen unendlich viele Versuche,
die einstige Theokratie wiederherzustellen, Versuche, ein
verbindliches Maß vorzugeben, eine Wahrheit für alle,
und zugleich alles das zu verbannen oder zu vernichten,
was sich dieser Weltsicht nicht fügt. Wir haben es hier
mit einer Ideologie des Entweder - Oder zu tun, wie sie
sich zum Beispiel im Gegensatz von Zentrum und
Peripherie, Metropole- Provinz, Erster und Dritter Welt,
Mainstream und Randständigkeit, Kultur und Subkultur,
Mittelmaß und Exzentrik, von 'Szene' und Obszönität
usw. zeigt.
Der französische Philosoph Gilles
Deleuze hat uns eine schön polemische Illustration
dessen geliefert, was der westliche Code als
verbindliches Maß behauptet :"Mensch, weiß,
westlich, männlich, erwachsen, vernünftig,
heterosexuell, Stadtbewohner, eine Standardsprache
sprechend" und er stellt dieser zentralen Position
die periphere gegenüber von "Moskitos, Kindern,
Frauen, Schwarzen, Bauern, Homosexuellen usw." (4).
Minder ironisch behauptet Jean Baudrillard das Ende der
Obszönität, da es keine 'Szene' mehr gäbe, die das
'Obszöne' einst ermöglicht habe. (Ein Wortspiel, da im
Original besser funktioniert: La scène et l'ob-scène).
(5)
Die Signale häufen sich, daß
diese Welt des Entweder - Oder ihrem Ende nahe ist.
Ich möchte hier an einen der
ausgefeilteren Schwanengesänge erinnern.
Die wohlbekannte Studie
"Verlust der Mitte" von Hans Sedlmayr erschien
vor rund 50 Jahren.
Der Autor untersucht, was er als
das Szenario einer "ungeheueren inneren
Katastrophe" Europas seit circa 1760 bezeichnet,
wobei er sich des "symbolischen" Charakters der
Kunst von 200 Jahren Moderne bedient, um die
"Krankheit" dieser Epoche aufzudecken. Als
deren Symptome bezeichnet der Autor den modernen Purismus
und seine Polarisierungen, die Neigung für das
Anorganische, das gestörte Verhältnis des Menschen zur
Natur und, vor allem, sein Zug zur Deshumanisierung.
"Die verlorene Mitte des Menschen", sagt
Sedlmayr, "ist eben Gott : der innerste Kern der
Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis". (6)
Das Buch ist zweifellos ein
sensibles Echo der transzendentalen Moderne und ihrer
Inszenierung, ihrer Projektion eines neuen Goldenen
Zeitalters und zugleich ihres nahen Endes : der
künstlichen Paradiese der modernen Menschheit, einer
Welt, die dank der Rationalität und geistigen
Überlegenheit des westlichen Menschen in ein totales
Artefakt, ein Kunstwerk verwandelt wäre, worin
Geschichte und auch die Kunst selbst zu ihrem Ende
gekommen und die Natur - der Hegelschen Vision zufolge -
endgültig und vollkommen im absoluten Geist aufgegangen
wären.
Stichwort Hegel. Ich will an
dieser Stelle von einer speziellen und besonders
aussagekräftigen Spielart des Mythos Mitte
berichten: von der Erfindung des Kunstmuseums und der
Museumskunst der Moderne. Beispiel: das Alte Museum in
Berlin.
Hegel war 1818 auf den Lehrstuhl
für Philosophie nach Berlin berufen worden und hielt in
der Zeit von 1823 bis 1829 an der Berliner Universität
seine berühmten Vorlesungen über Ästhetik. Just in
jenen Jahren entwarf und baute Friedrich Schinkel sein
Museum und der Königliche Baudirektor gehörte zu Hegels
Berliner Freunden.
Eine gegnerische Fraktion hatte
für das Berliner Museum eine pragmatische Lösung
vorgeschlagen: als Erweiterungsbau der Akademie der
Wissenschaften zum Zweck der Sammlung von Kunst, die
Experten zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen
sollte. Schinkels romantischer Gegenvorschlag fand die
Gunst des Königs, Friedrich Wilhelms III: sein Museum
sollte Teil seiner städtebaulichen Umgestaltung von
Berlins Mitte in ein Athen an der Spree sein und darin
natürlich einen zentralen Platz einnehmen. Wie stellte
er sich sein Museum vor? Unter dem Einfluß von Hegel
sollte es einer dialektischen Idee folgen, nämlich die
Antithese von Kunst und Architektur in einer erhabenen
Einheit beider zusammen zu führen und aufzuheben. Er
wollte ein "Sanktuarium" errichten, worin das
Gemüt des Besuchers empfänglich gemacht würde für die
Ahnung eines absoluten Geistes, den Hegel entdeckt
oder erfunden hatte. In seinem Museum sollte der Besucher
der Aura innewerden, die vollkommene Kunstwerke beseele.
Das Vorbild des Alten Museums - und in seiner Nachfolge
so vieler anderer Museumsbauten weltweit - ist der
griechische Tempel, ein Modell, das im 19. Jahrhundert
auch für profanere Zwecke, zum Beispiel für
Bankgebäude, sehr beliebt war...
In unserem romantischen Fall jedoch
wird der Tempel in seiner ursprünglichen spirituellen
Bedeutung verstanden: als Kirche.
Wir schreiben das frühe 19.
Jahrhundert. Napoleons Militärmonarchie und die
anschließende Restauration des Königtums der Bourbonen
hatte im Land der Revolution die Uhren auf
vorrevolutionäre Zeit zurückgestellt. Die
retardierenden Stichworte in Deutschland lauten Romantik,
Idealismus und Nationalismus. Ein Opfer der Aufklärung
und des Zeitalters der Vernunft, war Gott tot und durfte
es doch nicht sein. In diesem Kontext wird der Kunst die
Rolle einer neuen Religion zugedacht, dem Kunstmuseum die
ihres neuen Tempels. Wir haben es mit nichts anderem als
der Rekonstruktion von verlorener Tradition, von
verlorener Mitte zu tun. Mehr: unter dem Aspekt
des Nationalismus - einer anderen der vielen menschlichen
Erfindungen - dient die Museumsgründung dem Versuch, die
sinngebende Symbolik von Kunst und Kultur zu nutzen, um
eine kohärente soziale und nationale Einheit - es wäre
polemisch zu sagen: vorzutäuschen, also sagen wir:
herzustellen. Die konfliktfreie Repräsentation
nationaler Kunst- und Kulturgeschichte , ihrer
vorgeblichen Dauer und Ewigkeit wird jedenfalls zur
zentralen Aufgabe des Museums.
Die Erfindung des modernen Museums
ist bekanntermaßen eine Erfolgsstory. Bis in unsere
postmoderne Gegenwart fehlt es der säkularen Religion im
Zeichen der Kunst weder an Priestern noch an
Kirchgängern und die Tempelbauer haben alle Hände voll
zu tun.
Man darf Hegel ein wenig
respektlos, aber ohne Übertreibung als den
'Chefideologen' der euroamerikanischen künstlerischen
Moderne, vor allem ihrer abstrakten Spielart, bezeichnen,
denn in den Metasprachen der Abstraktion kam es zur
reinsten Interpretation seiner Gechichtsphilosophie und
seiner Ästhetik. Auch andere Denker und Dichter haben
ihren Beitrag geleistet : Kants Philosophie des Erhabenen
und des Genies; Schillers Vergöttlichung des Künstlers;
und nicht zuletzt die neuere, konservative amerikanische
Kunstkritik z.B eines Clement Greenberg (dessen, ich
zitiere, "formalistische Theologie" Thomas
McEvilley bloßgestellt hat). Auf dieser mentalen
Flugbahn mußte die Westkunst zu jener
metaphysischen Manifestation der Verwandlung von Materie
in Geist werden, mußte Kunstgeschichte zu einer Art von
Heilsgeschichte werden (7) und ihren Anspruch auf die
Weltherrschaft behaupten.
Gute Beispiele sind hierfür das
Streben nach immaterieller Reinheit in den Kunstwerken
eines Mark Rothko, Ad Reinhardt oder Yves Klein. Doch in
den innersten Kreis des Erhabenen und Heiligen sind eine
Reihe von herausragenden Werken der amerikanischen
Land-Art vorgestossen. Ich denke hier an die
"Earthworks", die Erdwerke, von Robert Morris,
an sein "Observatorium"; an Robert Smithsons
"Spiral Hill" oder "Spiral Jetty"; an
Nancy Holts"Sonnentunnel"; an Walter de Marias
"Lightning Field" (Feld der Blitze) oder an
James Turrells "Spaces of the Light"
(Lichträume). Turrell behauptete: "Meine Kunst
besteht aus nichts anderem als reinem Licht. Sie ist
nicht Trägerin der Offenbarung, sondern sie ist die
Offenbarung" (Schwerelos. Katalog der Ausstellung in
Berlin 1991/92, Stuttgart 1991, S. 224) Hier stellt Kunst
den Anspruch, das Ewige und Kosmische einzuholen, in
göttliche Gefilde vorzustoßen und nicht mehr zu unserer
Welt hinieden zu gehören. Im Rückblick auf Kandinskys
berühmtes Manifest von 1912, "Über das Geistige in
der Kunst" und seine Berufung auf die
"kosmischen Gesetze", denen er in seiner Kunst
gehorche (man schreibt das erste bewußt abstrakte Bild
Kandinsky zu) - rückblickend schließt sich der Kreis.
Die Moderne gipfelt und endet in einer transzendentalen
Behauptung von Mitte. Beim Rückzug in den engen
Kreis des euro-amerikanischen Mainstream hatte der Mythos
Mitte in einen ätherischen Aggregatzustand mutiert.
Kehren wir in unsere urbanen
Niederungen zurück, in die Sphäre des hier und jetzt.
Beispiel : Berlin. Erstaunlich ist, daß unser Mythos
auch hier sein Wesen treibt und nicht zuletzt die
Stadtplaner begeistert, die mit nichts geringerem als der
Rekonstruktion des alten Stadtzentrums befasst sind, oder
die vielen anderen, die sich ohne planerische Kompetenz
und ohne Auftrag in die Stadtplanung einmischen.
Geben wir zu, es fällt uns
Europäern schwer, uns eine Stadt ohne Zentrum
vorzustellen. Seit unsere mitteleuropäischen Städte im
13.Jahrhundert die Form annahmen, die noch immer unsere
Vorstellung beherrscht, entwickelten sie sich von ihrer
spirituellen christlichen Mitte her, wo unübersehbar
materialisiert die Kirche - Dom, Münster oder Kathedrale
- dominierte, doch bald ergänzt um Stadthalle oder
Rathaus und umgeben vom Marktplatz, dem öffentlichen
Forum der Städte. Ein Bild, das dem Zahn der Zeit
widersteht. Dazu ein beredtes Beispiel. Der
Schriftsteller Amos Oz wurde in Israel als Kind aus
Zentraleuropa eingewanderter Eltern geboren, die dem
Jungen ihre Erwartung weitergaben, Jerusalem möge eines
Tages doch noch eine 'echte Stadt' werden, worunter sie
eine Stadt verstanden, die mit ihrer Kathedrale an einem
von Brücken überquerten Fluß liege und von dichten
Wäldern umgeben sei (8). Der Mythos ist zäh.
Andererseits müssen wir uns den
hohen Symbolgehalt vor Augen führen, der in folgenden
Tatsachen liegt : in den systematischen Zerstörungen
Berlins, der Hauptstadt des Dritten Reiches, zunächst
durch Albert Speers Planung des neuen Super-Zentrums Germania;
dann durch die Bomben der alliierten Mächte; durch
Ulbrichts Sprengung des Stadtschlosses der Hohenzollern
und weiteren massiven Abriß noch erhaltener Bausubstanz
nach dem Zweiten Weltkrieg. Und symbolträchtig ist nicht
minder und ganz allgemein die Verwandlung erhaltener
historischer Innenstädte in Museen zur Erbauung und
Ausbeutung anschwellender Touristenschwärme. Wäre der
von einer konservativen Lobby geplante Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses mehr als "eine gigantische
Mogelpackung... Außen barock, innen big business"
(Rüdiger Schaper, SZ), mehr als eine "optische
Täuschung", um dieses Wort wieder aufzunehmen? Wer
möchte hier dagegenhalten und behaupten, die Mitte sei nicht
verloren?
Hier müssen wir auf die Besonderheit
Berlins zu sprechen kommen. In kritischer Distanz zur
boomenden preussisch-deutschen Hauptstadt urteilte der
süddeutsche Schriftsteller, Katholik und homme de lettre
mit der Neigung zur französischen Kultur, Wilhelm
Hausenstein, in den zwanziger Jahren : "Paris ist
eine Blume der Natur; Brüssel blüht; Antwerpen wuchert.
Berlin ist konstruiert; es hat sich selbst fabriziert,
nicht geboren ..." - "Es ist, als ob Berlin auf
nichts stünde ... (es) existiert gleichsam in keiner
Herkunft" ... "Es ist eine hoffnungslos
antikathedralische Stadt" ... "uns entsetzt die
trotz aller Urbanität immer wieder fühlbare
Unmenschlichkeit dieser Stadt - und mit dem
Unmenschlichen immer wieder das Gottlose"(9). Mit
diesen wenigen Auszügen aus seinem Berlin-Essay tue ich
dem Autor natürlich unrecht, denn unter seinen
scharfsinnigen Beobachtungen findet sich auch das eine
und das andere positive Urteil.
Allerdings dürfen wir Hausenstein
recht geben, wenn er Berlin als eine "exempte"
Stadt bezeichnet, die im Unterschied zu ihren
europäischen Schwester-Hauptstädten nicht unter dem
Einfluß der Kirche und im Schatten einer Kathedrale
groß geworden ist. Es ist alles eine Frage der
Perspektive. Setzen wir bloß ein positives Vorzeichen,
wo Hausenstein das negative wählt:
"Großberlin" ist erst 192o aus sieben
städtischen und 59 ländlichen, unabhängigen
Gemeinwesen entstanden und zwar als ein rationaler Akt,
der 20 Verwaltungen unter der Verantwortung je eines
Bürgermeisters und Parlaments schuf : ein
selbstbestimmtes polyzentrisches Ballungsgebiet. Mit
anderen Worten, die Voraussetzung, Weltstadt zu
werden, wenn man darunter eine urbane Struktur versteht,
die ohne ideologische Vorbehalte offen ist für die
Aufnahme und das Gedeihen der unterschiedlichsten
Identitäten, Qualitäten oder Kulturen in einem
selbstverständlichen Neben- und Miteinander. Kurzum :
das Potential einer modernen Stadt.
Die Realität sieht, wir wissen es,
ein wenig anders aus. Dennoch weist Berlin in seiner
Entwicklung eine außergewöhnliche Vielfalt
unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Rollen auf :
sozialer Schmelztiegel und multikulturelle preussische
Hauptstadt; Kaiserstadt und Rotes Berlin; führende Stadt
der Künste und Wissenschaften und größte deutsche
Arbeiter- und Industriestadt; Hauptstadt von
Nazideutschland und Stadt unterm Vier-Mächte-Status;
Frontstadt, Stadt der Mauer und Schaufenster des Westens;
Hauptstadt der DDR und der Studentenbewegung usw.
Mit der knappen, vehement in Frage
gestellten und noch immer nicht unumstrittenen
Entscheidung, Berlin wieder zur deutschen Hauptstadt zu
machen, steht es wiederum vor der Wende zu einer neuen
Identität.
Was immer Berlin ist und sein wird
: es war - wie schon gesagt - eine Stadt der Moderne.
Vielleicht ihre exemplarischste Stadt. Nicht zuletzt in
der Schärfe der Gegensätze, die es erzeugt, gelebt,
ertragen hat. Die Moderne ist eine zerrissene, im
Konflikt mit sich selbst befangene Epoche. Hier die
Verzweiflung über den Verfall uralter Traditionen,
Gewißheiten und Geborgenheiten. Dort ein Fest
permanenter Neuerung, das die Aufkündigung
überlieferter Werte zum Programm erhob. Die Moderne ist
eine Epoche der Gegensätze und Brüche, eine zweihundert
Jahre andauernde Krise. Eine Krise auch im Umfeld der
Bürger, ihrer Psychosen und Therapeuten - wir sprechen
von der Epoche des Dr. Freud. Die duale Teilung der Welt
erscheint geradezu als eine Erfindung (oder doch
Wiederentdeckung) der Moderne. In Berlin, so scheint es,
standen die Gegensätze einander unversöhnlicher
gegenüber als andernorts.
Ihr Potential an Offenheit,
Toleranz, Vielschichtigkeit, Zukunftsorientierung und
Progressivität prädestinierten die Stadt dazu, ein
Zentrum der aufgeklärten Moderne zu werden, doch eben
dies rief starke reaktionäre Kräfte auf den Plan. Ein
bezeichnendes Beispiel hierfür ist die Errichtung des
Berliner Doms durch Kaiser Wilhelm von 1884 an, dieser
obrigkeitliche Akt der Gleichsetzung der Preussischen
Krone mit den himmlischen Mächten, diese rein politische
Demonstration von Zentralgewalt mittels der bloßen
Behauptung einer spirituellen Mitte. Sie wurde vom
modernen Berlin in seiner erklärten Abneigung gegen die
Hohenzollern sofort als Kriegserklärung verstanden und
gekontert. Zum Beispiel vom Kunsthistoriker und
Museumsmann Alfred Lichtwark, der den Bau als
"Triumph des Dagewesenen - eine bösartige
Architektur" verurteilte. Es ist nicht zu
übersehen: der inzwischen restaurierte Dom erscheint als
ein fataler Vorläufer von Albert Speers Großer Halle,
worin die geplante Umwandlung Berlins in das
faschistische Zentrum der Welt gipfeln sollte.
Mit dem Eintritt in die Post- und
Post-Postmoderne sind wir uns endlich der radikalen, wenn
auch schleichenden Veränderung unserer geistigen
Landschaft bewußt geworden. Schon in den frühen
siebziger Jahren hatte Octavio Paz mit dem Tod der
Avantgarde auch das Ende der Utopien der Moderne
verkündet (10). Zwanzig Jahre später äußerte sich der
amerikanische Kunst- und Kulturkritiker Thomas McEvilley
fogendermaßen : "... der Globalismus der neunziger
Jahre beruht auf der Erkenntnis, daß Kunstgeschichte,
wie sie bislang gelehrt wurde, nicht mehr mit der Welt
übereinstimmt, in der wir leben. Um den Schock zu
überwinden, bedarf es eines grundlegenden Wandels der
westlichen Erkenntnismodi. Ihr Paradigma von den
Wissenschaften borgend, hatte westliche Kultur das
universale Ich zu sein : nicht-westliche Kultur hatte das
ganz Andere zu sein. Die Vorstellung, seine eigene Kultur
mit anthropologischem Blick zu betrachten - seine eigene
Kultur wie eine fremde zu behandeln - wäre als subversiv
erschienen. Heute jedoch sehen westliche Anthropologen
ihre Aufgabe darin, ihre eigene Kultur eben so wie andere
zu beleuchten und zwar mit Licht, das wenigstens
teilweise von außen kommen muß... Der Sinn dieser
Übung ist die Relativierung jedweder Kultur, die
Einsicht, daß sie nicht ein Absolutes darstellt, sondern
nur eine von vielen Annäherungen an das allen Menschen
gemeinsame Projekt der Zivilisation" (11).
Der Umbau der Bühne ist in vollem
Gange. Immer häufiger lassen sich die Totenglocken des
Mythos der Mitte vernehmen, und nicht minder oft die
Willkommensgrüße für die neuen Denkmuster von
Offenheit und Differenz, der Wiederentdeckung einer Welt
zahlreicher Kulturen, Zentren, Wahrheiten. Es zeichnet
sich immer klarer ab, daß die Herstellung von Werten und
Bedeutung sich auf die Seite periphärer Autoritäten,
kreativer Individuen und von Randgruppen verlagert hat,
wo sie vielleicht schon immer zu finden war.
"Niemals zuvor",
beobachtet der französische Anthropologe Marc Augé,
"wurde individuelle Geschichte in solchem Ausmaß
von kollektiver Geschichte beeinflußt, niemals zuvor
jedoch waren die Mittel der Orientierung für die
kollektive Identität so flüssig wie heute. Folglich ist
die individuelle Herstellung von Bedeutung so
unerläßlich wie nie zuvor" (12).
Der englische Philosoph Michael
Dummet geht so weit, die Annahme eines Zentrums
überhaupt in Frage zu stellen. Er illustriert seine
Wahrheitssuche mit dem Bild des Labyrinths und seinen
vielen Sackgassen und als die Chance, darin vielleicht
neue unerwartete Wege zu entdecken (13).
Diese Einsichten sind natürlich
keineswegs neu oder überraschend. In seinem berühmten
Buch über die Aborigines, die australischen Ureinwohner
und Nomaden, erinnert Bruce Chatwin daran, daß die
großen monotheistischen Religionen ihren Ursprung im
Milieu der nomadisierenden Hirten haben ("The
Songlines"...) Im Blick auf diese Tatsache und jene,
daß das Christentum in der römischen, der
Protestantismus in der deutschen Provinz entstanden sind,
spricht der Historiker Egon Friedell von der
"schöpferischen Peripherie". Und so weiter.
Hier können wir den Bogen wiederum
nach Berlin schlagen. Die Berliner Moderne vor allem des
späten 19. und 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch
ihre Opposition gegen geliehene und behauptete Werte,
gegen eine Gesellschaft, die sich in der Nachahmung
historischer Stile und Lebensformen gefiel, deren
Wahrheitsgehalt sich längst verflüchtigt hatte. Sie
stand einmütig an jenem anderen Ufer, das aus der
Perspektive des Zentrums als Peripherie disqualifiziert
wurde - so z.B. auch das exzentrisch situierte deutsche
Parlamentsgebäude, der Reichstag, das der Kaiser gerne
als "Reichsaffenhaus" verunglimpfte.
Die Sezessionisten und Aussteiger
bekannten sich zur Negation des bösen Bestehenden. Doch
zugleich stehen sie in einer Tradition positiver
'preußischer' Eigenschaften, denen Berlin nicht zuletzt
seine Einzigartigkeit verdankt: z.B. einen Großen
Kurfürsten, der keine Meinungsführerschaft in
religiösen Dingen beanspruchte - jeder sollte bei ihm
"nach seiner Facon selich" werden - und der die
Stadt aus klugem Eigennutz den tüchtigen Holländern,
Hugenotten, Juden und Böhmen öffnete und so im 17.
Jahrhundert schon die Voraussetzung für die moderne
Großstadt schuf: ihre Assimilationskraft und ihre
multizentrische Struktur.
Es ist dieses Freisein von Mitte,
das Berlin zu einer der Hauptstädte der Moderne, vor
allem der künstlerischen Moderne gemacht hat. Sie setzte
sich ab von der konservativen Museumskunst und ging einen
alternativen, einen revolutionären Weg in jene kritische
oder skeptische Richtung, die sich auf Marcel Duchamp
beruft und zu deren Stationen z.B. DADA, Fluxus,
Performance Art und Situative Kunst gehören. Seit den
siebziger Jahren werden ihre noch immer aktiven
Spielarten der Postmoderne zugeordnet.
Natürlich handelt es sich hier um
ein Berlin von Minderheiten. Die gesellschaftliche
Mehrheit der Hauptstadt hingegen war vom Bewußtsein,
kulturell und überhaupt im Zentrum der Welt zu sein,
zutiefst erfüllt. Hierzu eine kleine, bezeichnende
Momentaufnahme vom 3. Februar 1895. Im Berliner Theater
wird ein "schlechtes Stück" von
Kammergerichtsrat Wichert gegeben, der sich für einen
'deutschen Dichter' hält. Der Kritiker Alfred Kerr
(damals noch ein junger Mann und nicht die gefürchtete
Berühmtheit der 20er Jahre) schrieb: "...alles sah
nach der linken Proszeniumsloge, ob der Kaiser anwesend
sei. Denn der Kaiser hat den Verfasser einmal
ausgezeichnet... in Wirklichkeit liegen die Dinge in
Deutschland jetzt so, daß das ganze Schicksal eines
Kunstwerks und eines Künstlers wesentlich beeinflußt
werden kann von dem Maß der Teilnahme, das ihm der
Kaiser bekundet". (14). Könnte man geliehenen Wert,
vorgetäuschte Bedeutung, könnte man Schein-Mitte
treffender beschreiben als Alfred Kerr?
Die Jahrhundertchance und -aufgabe
der Berliner Stadtplaner sind in Frage gestellt durch
ihre Desorientierung, die aus der bedeutungsleeren Mitte
einerseits, aus deren beharrlichem Mythos andererseits
und ganz allgemein aus der ungewissen Zukunft der großen
Städte resultiert.
Dieser Grenzbereich zwischen
gestern und morgen könnte eine Phase großer
Kreativität sein - jedenfalls wenn man dem
mexikanisch-indianischen Volk der Nahuatl folgen will,
die das Wort 'Nepantla' prägten für jene Zwischenphase,
eine Welt hinter sich gelassen und eine andere noch nicht
betreten zu haben. Wie nutzt Berlin seine kreative Phase?
Neben einem nach dem Fall der Mauer
mit heißer Nadel fortgeschiebenen Flächennutzungsplan
sucht man vergeblich nach einem umfassenden Konzept,
geschweige einer Philosophie für die Erneuerung der
Stadt. Die Szene wird vielmehr beherrscht vom Richtungs-
und Parteienstreit, von Eitelkeiten und
Profilierungssucht. Soweit das nicht schlicht in der
menschlichen Natur und am System liegt, gibt es einige
objektive Gründe: Trotz einiger unübersehbarer
Anzeichen hat niemand ernsthaft mit dem Zusammenbruch der
DDR und dem Fall der Mauer gerechnet. So gab es für den
Tag X der Wiedervereinigung und der Restitution der
Hauptstadt keinerlei Pläne und Szenarios in Bonner
Schubladen - eigentlich erstaunlich angesichts des
dichten West-Agentennetzes und der Frequenz des
Austauschs mit der DDR. Hier haben wir es wieder mit der
Beharrlichkeit in unserem Land zu tun, mit dem fehlenden
"Ruck", selbst wenn es um historische
Provisorien geht. Man hatte sich offenbar mit dem
Provisorium des geteilten Berlin ebenso abgefunden wie
mit dem Provisorium Bonn. Als das Unerwartete geschehen
war, verschwanden alle Sonntagsreden und
Lippenbekenntnisse zur alten und kommenden Hauptstadt
Berlin sofort in der Versenkung und eine breite Front aus
Bundespolitikern und -verwaltungsbeamten entdeckte in
abgründigem Erschrecken über den drohenden Umzug alle
für einen verwöhnten Wessi nicht akzeptablen Nachteile
der großen, verwahrlosten Stadt. Viele waren
vorgeschützt, um die eigentliche Befürchtung zu
verbergen, nämlich das bequeme Leben im sympathischen
Dreieck Bonn - Paris - Brüssel aufgeben zu müssen. Und
dahinter steckte eine weitere : Berlin bedeutete nicht
nur ein anderes Deutschland, es bedeutete auch eine
andere deutsche und europäische Politik, eine Politik,
die das weite, zurückgebliebene Europa jenseits des
bisherigen Eisernen Vorhangs in den Blick und ernst
nehmen mußte. Und das macht Angst. So wenig mir diese
Argumente sympathisch sind, ich habe ein gewisses
Verständnis für jene Parteigänger Bonns, die in
Verteidigung der soliden Bonner Republik und ihrer
demokratischen Internationalität mit Berlin die Gefahr
eines neuen großdeutschen Nationalismus und teutonischer
Überheblichkeit heraufdämmern sahen. Monsieur Mitterand
und Mrs. Thatcher teilten diese Befürchtung, doch nur
aus Sorge um ihre eigenen hegemonialen Ansprüche. Es
zeigte sich, daß die deutschen Sorgen nicht unbegründet
waren. Als sich nach peinlichen Grabenkämpfen die
Entscheidung für Berlin unwiderruflich bestätigt hatte,
entwickelten unsere demokratischen Staatsdiener ohne
Umschweife einen barocken Appetit auf autoritäre
Selbstdarstellung. Berlins historisches Zentrum ist das
Objekt und der Ort der Begierde, hierhin drängt es alle
für Berlin bestimmten Ministerien als ob die Hauptstadt
noch immer der Krone, dem Staat und nicht dem Volk
gehöre; als ob es sich nicht längst herumgesprochen
hätte, daß nationale politische Instanzen und Ihre
Institute bei fortschreitender europäischer Integration
und in einer globalisierenden Welt rasch an Bedeutung und
Macht verlieren. Handelt es sich also um ein letztes
Auftrumpfen vor dem Ende?
Man spricht von einer "zweiten
Gründerzeit", von "kritischer
Rekonstruktion" historischer Pläne und kritisiert
die Manöver der Stadtplaner als einen Weg "zurück
in die Zukunft". Es ist schon mehr als eine kuriose
Anekdote, daß der Bundesaußenminister zumindest
zeitweise mit dem Ort des einstigen Schlüterschen
Stadtschlosses für sein Ministerium geliebäugelt hat.
Mitte 1995 sah sich die Akademie
der Künste Berlin-Brandenburg veranlaßt, in einem
offenen Brief den "Wilhelminismus" der
Bundesplanungen zu verurteilen. Bauten der obersten
Bundesinstanzen dürften nicht autoritär wirken;
Bundesinstitutionen dürften sich nicht über ihren
verfassungsmäßig festgelegten Rang hinaus im Sinne
überhöhter Repräsentanz darstellen; die Entwürfe für
das Bundeskanzleramt entsprächen den überzogenen
Forderungen des Bauherrn; die Forderung der
Reichstagskuppel verriete die Vorliebe für Pathosformeln
usw. In der Tat, die Berliner Republik scheint sich auf
den Weg in die Kaiserzeit gemacht zu haben, der Mythos
Mitte feiert fröhliche Urständ. Noch ist die Gefahr
keineswegs gebannt, daß sich Berlin-Mitte in eine
gigantische Hochsicherheitszone verwandeln wird, wo die
Entfaltung ungehemmten städtischen Lebens und urbaner
Kommunikation keine reale Chance mehr hätte.
Auf ins Zentrum - doch was trifft
man dort an? Hohlräume, die bestenfalls der Simulation
von Mitte und Wert und Bedeutung dienen können. Über
den unseligen Dom und das Alte Museum sprachen wir. Das
verlorene Stadtschloss alias Palast der Republik, die
wechselnden Begehrlichkeiten auf diesen zentralsten Ort,
die ziellose Diskussion um erneuten Abriß, Wiederaufbau
und Zweckbestimmung - der ganze schwelende Konflikt zeigt
überdeutlich, daß man die Mitte eines komplexen
Gemeinwesens und ihrer weitgefächerten, diffusen
Identität nicht mit antiquierten Parametern definieren
und in Besitz nehmen kann. Daß Mitte, kurz gesagt, nicht
mehr Mitte ist. Wir erinnern uns der Stadtschlossfassade,
die eine französische Künstlerin im Auftrag der
konservativen Lobby auf kaisergelbe Plastikbahnen gemalt
und für einige Monate vor den Palast der Republik
gehängt hatte : auch ein wiedererrichtetes Schloss wäre
nicht mehr als eine solche Augentäuschung, eine
Vorspiegelung falscher Tatsachen, was immer der Inhalt
des Gebäudes wäre.
Stadtplanung unter der Direktive
der ausgedienten Paradigmen von Hierarchie und
hegemonialer Sinngebung kann in nichts anderem
resultieren als in der Herstellung solitärer und
isolierter Baumassen, von Gebäuden und Gebilden ohne
echtes Leben und wahre Bedeutung, und umgeben von leeren
ungastlichen Räumen, von "espaces courant
d'air", Räumen für Zugluft, wie es der
französische Architekt Gagès einmal im Blick auf La
Défense in Paris beklagt hat. Das Gegenteil hiervon
wären etwa Räume für den Flâneur, eine dichte,
abwechslungsreiche Stadtlandschaft für den Bummler, der
seine Welt aus reiner Freude am Schauen und Erleben
absichtslos und ohne eindeutiges Ziel durchstreifen und
genießen will. Es muß nicht betont werden, daß unsere
derzeitigen Städte zur Flânerie nicht gerade einladen.
Nun ist es allerdings leichter, zu
sagen, was und wie unsere Städte nicht sein
sollen, als sich eine mehr denn vage Vorstellung davon zu
machen, welche Gestalt und Qualität sie in Zukunft haben
sollen. Versuchen wir, uns der Frage zu nähern, ob und
wie Urbanität sich künftig herstellen ließe.
Im Blick auf seine Besonderheit,
seine spezifische Geschichte und seine Hauptstadt- und
somit Vorbildfunktion steht Berlin vor der
Herausforderung, eine offene, demokratische, tolerante
und kosmopolitische Gesellschaft zu entwickeln und zu
stabilisieren.
Demokratische Stadtplanung muß
also von analogen Prinzipien geleitet sein : von
Offenheit der Strukturen und Freiheit der Formensprache,
von Pluralismus und Dezentralität.
In der Einführung eines seiner
Bücher (15) beruft sich der Soziologe Ulrich Beck, den
ich eingangs zitiert habe, auf Wassily Kandinsky.
Kandinsky hat 1927 einen kleinen Aufsatz mit dem
schlichten Titel "und" veröffentlicht.
Während das 19. Jahrhundert, sagt der Künstler, vom Entweder-Oder
beherrscht gewesen sei, werde das 2o. Jahrhundert daran
arbeiten, das Und an seine Stelle zu setzen.
Dort also das Gesetz der Teilung,
Spezialisierung, von Ordnung, Klarheit, Kontrolle und
eines linearen, berechenbaren Weltbildes - hier hingegen
eine Welt im Zeichen von Globalität und Vielfalt, von
Ungewißheit, Austausch, Synthese und Ambivalenz. Die
Welt des Entweder-Oder, in der wir noch immer
denken, handeln und leben, meint Beck, stelle sich als
falsch heraus.
In einem seiner Artikel (16) in der
Süddeutschen Zeitung wendet Beck diese Einsicht unter
dem Titel "Die Offene Stadt" auf die Analyse
des gegenwärtigen Zustands und der Entwicklung unserer
urbanen Ballungsräume an. Hier einige seiner
Überlegungen :
Der Autor plädiert für eine
alternative Architektur des öffentlichen Bereichs,
der Zwischenräume, um eine neue Identität des
Gesellschaftlichen zu schaffen. Aufgabe sei es, die Idee
von Gemeinschaft im öffentlichen Raum und gegen
dessen Verlust zu erneuern. Um die toten Zentren unserer
Städte wiederzubeleben, müsse die Stadt des Und
"gastliche Räume" (Renate Schütz) schaffen,
die ermöglichen sollen, was heute ausgeschlossen ist :
Intimität und Anonymität, Gemeinschaft und
Freiheit. Die Stadt des Und mache sich daran, eine
neue, radikale Moderne zu entwickeln, was eine
Neudefinition des Sozialen bedeute in einer Welt, die
sich zugleich globalisiere und individualisiere. Die
Stadt des Und werde die Mittel anbieten müssen,
um 'Gemeinschaft' in einer Stadt der Individuen und
individueller Lebensentwürfe herzustellen, um urbane
Demokratie zu schaffen. Sie wird "open-minded
spaces" - geistig aufgeschlossene Räume -
bereitstellen müssen, wie es der amerikanische Autor
Michael Walzer auf den Begriff gebracht hat. Und
schließlich habe sie die Aufgabe, die Technologie mit
der Ökologie zu versöhnen, um künftige Urbanität zu
ermöglichen.
Wenn Berlin und sein geistig
aufgeschlossenes Potential die Oberhand gewinnen sollten
in der Auseinandersetzung mit den Tendenzen zu
Exklusivität und nationalem Pomp, zu
Apartheid-Mentalität, zu einer
Hochsicherheits-Architektur und einer des Personenkults
mit dem Hang zur Mitte usw., wenn dies gelingen sollte,
hätte Berlin in der Tat alle Chancen, zu einer Werkstatt
für die Erneuerung von Urbanität zu werden, für die
Entdeckung der Elemente eines künftigen Mythos, mit dem
wir uns gerne identifizieren werden.
Doch das ist eine andere, die
nächste Story...
Literaturhinweise
1) Ulrich Beck, "Die offene
Stadt", Süddeutsche Zeitung, 2./3. Juli 1994
2) Modris Ecksteins "Der
Große Krieg", im Katalog "Die letzten Tage der
Menschheit", Berlin 1994
3) Peter Handke, "Versuch
über die Jukebox", 1990
4) Gilles Deleuze,
"Philosophie et minorité", in
"Critique" 369, 1978
5) Jean Baudrillard, "La
scène et l'ob-scène"
6) Hans Sedlmayer, "Verlust
der Mitte - Die bildende Kunst des 19. und 20.
Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit",
Salzburg 1948, 17. Auflage 1991
7) Thomas McEvilley, in "Art
and Discontent" - Theory at the Millenium", New
York 1991
8) Amos Oz, "Brief aus
Arad", in "Bericht zur Lage des Staates
Israel", Frankfurt/Main 1992
9) "Eine Stadt, auf nichts
gebaut...", Wilhelm Hausenstein über Berlin, Berlin
1984
10) Octavio Paz, "Der Tod der
Avantgarde", 1972, in "Die andere Zeit der
Dichtung", Frankfurt/Main 1992
11) Thomas McEvilley, "Art
& Otherness - Crisis in Cultural Identity", New
York 1992
12) Marc Augé, "Orte und
Nicht-Orte - Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit", Frankfurt/Main 1994
13) "Un entretien avec Michael
Dummet", Roger-Pol Droit, "Le Monde", 11.
Oktober 1994
14) Alfred Kerr, "Wo liegt
Berlin? - Briefe aus der Reichshauptstadt", Berlin
1997
15) Ulrich Beck, "Die
Erfindung des Politischen", Frankfurt/Main 1993
16) Ulrich Beck, "Die offene
Stadt", s.o.
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