1997_2 |
Hans Friesen
Von der Moderne zur
Postmoderne
Zur Genealogie der
Architektur im 20. Jahrhundert
Postmoderne" ist ein
relationaler" Begriff. Nach den Bedingungen
der postmodernen Konstellation in der Architektur zu
fragen, erfordert somit in besonderem Maße, mit einem
Blick auf die Moderne zu beginnen. Manches von dem, was
in der postmodernen Konstellation in den Vordergrund
tritt, läßt sich angemessen nur verstehen vor dem
Hintergrund der Moderne. Die Gründe für diese Absetzung
sind sehr unterschiedlich; auf jeden Fall ist der
Eindruck, die ästhetischen Entwürfe der Postmoderne
würden einem regellosen Spiel folgen, häufig darauf
zurückzuführen, daß man die angesprochene
Absetzbewegung nicht berücksichtigt.
Abb.
1: Krier, Visionäre Landschaft
Abb.
2: Krier, Visionäre Architektur, Atlantis
Im Kontrast mit der modernen
Konstellation zeichnet sich die postmoderne insbesondere
durch veränderte Grenzziehungen aus, mitunter auch durch
signifikante Grenzüberschreitungen", so daß
sowohl zwischen den Kunstgattungen als auch zwischen dem
theoretischen und dem ästhetischen Diskurs die
spannungsvollen Beziehungen ihre überzogene Strenge
verlieren: Die Architektur nähert sich mit der
visionären Architekturzeichnung der Malerei an und
läßt sich auf eine Semiologie ein, die sie Texten
vergleichbar macht. Texte versuchen, die Grenze zum Bild
zu überschreiten, so wie Bilder umgekehrt textuelle
Bezüge benutzen oder ermöglichen. Die Texte wiederum
öffnen sich nicht allein unterschiedlichen Diskursen und
Wahrnehmungsformen, sie stellen mitunter ihren eigenen
Status infrage und entziehen sich dem Gesetz der
mimetischen wie jenem der logischen Repräsentation. Alle
Kunstformen zusammen jedoch antworten auf eine
Erfahrungswirklichkeit, welche die Rolle des handelnden
wie auch des wahrnehmenden Ich problematisch werden
läßt, zugleich entwerfen sie dessen mögliche
Reaktionen neu." (R. G. Renner, Die postmoderne
Konstellation, Freiburg 1988, S. 52.)
Diese veränderte Konstellation im
Bereich des Ästhetischen möchte ich im folgenden am
Beispiel der Architektur skizzieren. Hier verwendet und
versteht man den Begriff der Postmoderne", wie
ihn der Architektur-Theoretiker Charles Jencks in seinem
Buch Die Sprache der postmodernen Architektur
eingeführt hat. Den Beginn der Moderne" in
der Architektur siedelt man gewöhnlich um 1900 an. Davon
zu unterscheiden ist der Zeitraum um 1930, den man
häufig als die klassische Moderne, die
Moderne der Avantgarde, bezeichnet, von der der
sogenannte International Style" ausgegangen
ist, der gegen Mitte des 20. Jahrhunderts die gesamte
Architektur beherrschte. Das Ende dieses Zeitraums
markiert für Jencks den Tod der modernen
Architektur".
Abb.
3: Pruitt-Igoe, St. Louis
Abb.
4: Pruitt-Igoe, Sprengung
Er setzt ihn mit der Sprengung
einer nach den Prinzipien der Moderne gebauten
Hochhaussiedlung in St. Louis am Anfang der 70er
Jahre. Diese Sprengung erscheint ihm als Eingeständnis
eines monumentalen Irrtums, der alle menschlichen
Wohnbedürfnisse sträflich vernachlässigt hatte. Danach
entsteht für ihn die Postmoderne in der Architektur.
Selbstverständlich darf man diesen
Bruch nicht als absoluten betrachten. Was wir heute in
der architekturalen Welt beobachten können, ist ein
Nebeneinander moderner, spätmoderner, postmoderner,
neomoderner und dekonstruktiver Stilrichtungen, wobei im
klassischen Sinne modern" kaum noch gebaut
wird. Die klassische Moderne in der Architektur kann
dennoch nicht als abgeschlossen betrachtet werden, weil
alle Richtungen nach der Moderne in positiver oder
negativer Weise auf diese bezogen bleiben. Damit ergibt
sich für das 20. Jahrhundert insgesamt folgendes Bild:
Abb.
5: Schema der Architekturentwicklung des 20.
Jahrhunderts
Aus heutiger Sicht betrachtet, ist
die klassische Moderne weit mehr als eine Destruktion der
Tradition des 19. Jahrhunderts, in der die Architektur
noch von der von Vitruv stammenden Dreieinigkeit von
Zweckmäßigkeit, Festigkeit und Schönheit geleitet
worden war. Über diese Suspendierung der herrschenden
Grundsätze hinaus ist die moderne Architektur
gekennzeichnet von der Vorstellung einer Gesellschaft im
Übergang und der Idee gesellschaftlicher Veränderungen
mithilfe des sozialen Wohnungs- und Siedlungsbaus:
Avantgardistische Architektur wird in Planungen,
wie denen in Frankfurt nach 1925, zum vorausgreifenden
Gesellschaftsentwurf. In ihm vermischen sich solche
Erfahrungen wie die einer proletarischen Massenbewegung,
der nivellierenden Organisationsstrukturen der Industrie-
und Büroarbeit und der äußerlichen Angleichung der
großen Städte durch Modernisierungen mit den
Erfahrungen in den Bereichen massenkultureller
Zerstreuung (Sport, Kino etc.) und der Erfahrung, daß
sich die tradierten bürgerlichen Ansprüche an autonome
Kulturformen immer unzeitgemäßer ausnehmen." (M.
Müller, Die Versöhnung der theoretischen Kultur mit der
praktischen Kultur - eine Vision der Moderne, in: Vision
der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, hrsg. v. H. Klotz,
München 1986, S. 44.)
Die Avantgarde verbindet ihre
Vision einer modernen Architektur mit einem
sozialkritischen Anspruch; die Erfahrung der sozialen
Ungleichheit als Ungerechtigkeit und der Entschluß, ihr
durch Architektur entgegenzutreten, widersetzt sich einer
Tradition, in der Architektur zur Repräsentation der
herrschenden Macht benutzt wurde. Der revolutionäre
Anspruch der Avantgarde in der modernen Architektur
beschränkt sich nicht auf die Gebäude und die Städte,
sondern weitet sich aus auf eine Veränderung der ganzen
Gesellschaft; er entwickelt sich immer mehr zu einer
grundsätzlichen Absage an die Tradition. Das Gebäude
soll sich als ein sich selbst genügender Zweckbau
darstellen.
Abb.
6: Bauhausgebäude Dessau
Im 1925-26 gebauten Bauhausgebäude
in Dessau ist dieser Ansatz streng befolgt und
verwirklicht worden. Der gesamte Komplex ist nach
Funktionen geordnet und umfaßt ein Gebäude mit
Klassenräumen, ein Werkstattgebäude, ein
Studentenwohnheim, ein Gebäude mit
Gemeinschaftseinrichtungen und eine überdachte
Verbindungsbrücke zwischen dem Werkstattgebäude und dem
Unterrichtsgebäude, in der sich außer Büros und
Clubräumen auch ein Privatatelier für Gropius befindet.
Abb.
7: Die pilzförmigen Stützen des
Werkstattgebäudes
Die bedeutsamste Neuerung des
Werkstattgebäudes besteht darin, daß die Betondecken
auf weit zurückgesetzten pilzförmigen Stützen ruhen.
Durch diese Konstruktion ist eine tragende Außenwand
nicht mehr erforderlich.
Abb.
8: Glasfassade des Werkstattgebäudes
Damit konnte eine über alle drei
Geschosse ununterbrochen hinweggezogene, dünne, leicht
und transparent wirkende Fassadenhaut aus Glas angebracht
werden, die Jahre später zum Vorbild für viele
ähnliche Konstruktionen in Europa und Amerika werden
konnte. Der ganze Baukomplex kann als Musterbeispiel
eines rational und funktional perfekt ausbalancierten,
letztlich vom rechten Winkel beherrschten Systems
betrachtet werden, das in historischer Hinsicht sozusagen
beispiellos ist.
Walter Gropius hat seine Forderung
nach einem Stil, der frei von jeder Tradition ist, in
einem 1935 veröffentlichten Buch mit folgenden Worten
beschrieben: Wir haben genug von der willkürlichen
Nachahmung historischer Stile. In fortschreitender
Entwicklung, weg von architektonischen Launen und
Verspieltheiten zum Diktat konstruktiver Logik haben wir
gelernt, das Leben unserer Epoche in reinen,
vereinfachten Formen auszudrücken." (W. Gropius,
Die neue Architektur und das Bauhaus, Mainz und Berlin
1965, S. 18.)
Der Architekt hat sich nach Gropius
lediglich auf die Konstruktionen und Materialien der
Bauten zu konzentrieren. Die Form eines Gebäudes soll
sich ausschließlich aus seinen natürlichen
Funktionen ergeben. Dieser Forderung sind die neuen
Baumaterialien Glas, Stahl und Beton sehr
entgegengekommen. Ornamente, die konstruktiv nicht
erforderlich sind, wollten die modernen Architekten
gänzlich vermeiden, weil sie eine Vergeudung von
Arbeitskraft und Gesundheit, von Material und Kapital
darstellen. Diese Forderung vertrat Adolf Loos bereits
1908 in seinem berühmten Manifest Ornament und
Verbrechen. Er hielt den Drang zur Ornamentierung von
Gebrauchsgegenständen sowie von Architektur für eine
Degenerationserscheinung des modernen Menschen und sprach
von einer staatlich anerkannten" und mit
staatsgeldern" subventionierten
ornament-seuche", deren Funktion es sei,
die völker in ihrer kulturellen entwicklung
aufzuhalten". Seine These lautet, daß die
Evolution der Kultur gleichbedeutend sei mit
dem Entfernen des Ornaments aus dem
Gebrauchsgegenstand. Deshalb kritisiert er jede
Wiederaufnahme des Ornaments als Verbrechen und erhebt
die Ornamentlosigkeit" an den
Gebrauchsgegenständen und in der Architektur zum Stil
der Zeit.
Für die Architektur wird der
weiße Würfel" mit seinen geraden
Linien" zur Idealform erklärt. Die Ablehnung des
Ornamentalen führt zur Bestimmung der Architektur aus
der Idee der Funktionalität. Was Funktionalismus
heißen soll, darüber gibt es unter den verschiedenen
Architekten aber keine einheitliche Meinung. Lediglich
über die allgemeine Definition, daß Zweck und Form in
ganz bestimmter, rationaler Weise aufeinander bezogen
sein sollen, ließe sich beispielsweise zwischen Sullivan
und Gropius Konsens erzielen. Die Regel, die in dieser
allgemeinen Definition steckt und von der sich die
Architektur seit den 20er Jahren leiten ließ, heißt:
form follows function". Die Form eines Raumes,
eines Gebäudes oder auch eines Gebrauchsgegenstandes
sollte nicht erfunden, sondern lediglich gefunden
werden; sie sei nämlich durch die Funktion vorbestimmt,
wie Julius Posener es einmal formuliert hat. Die von der
modernen Architektur geformten Objekte haben jedoch
gezeigt, daß es sich nicht immer so verhält, daß einer
Funktion nicht immer eine bestimmte Form folgt, sondern
daß die Verknüpfung von Form und Funktion sehr oft von
außen erfolgte, von einem gesellschaftlich vorgeprägten
Bild des technischen Fortschritts bestimmt wurde.
Abb.
9: Ruhr-Universität in Bochum
Ein signifikantes Beispiel einer
solchen Vereinigung von Form und Funktion ist die
Ruhr-Universität in Bochum, die an einen
Entwurf von Mies van der Rohe aus den 20er Jahren
erinnert, in dem die funktionale Formgebung sich die
damals gebauten Ozeandampfer zum Vorbild für die
Lebensordnung der in einem solchen Gebäude Arbeitenden
genommen hat. Die Verherrlichung des technischen
Fortschritts, die in diesem architektonischen Werk einen
deutlichen Ausdruck hat, wird man heute allerdings als
übertrieben und einseitig ansehen. Durch die vielen
Unfälle des technischen Fortschritts ist die
Bereitschaft, dessen Verherrlichung mitzumachen, auf den
Nullpunkt gesunken. Offensichtlich ist heute auch, daß
die Architektur nach dem zweiten Weltkrieg einen
eindimensionalen, vorwiegend an technisch ökonomischen
Vorgaben orientierten Bauwirtschaftsfunktionalismus
hervorgebracht hat, der die ästhetischen und sozialen
Wertvorstellungen der Avantgarde der Moderne
nachträglich in Frage stellen muß. Die neue
Architektur des Bauhauses, die Gropius und Mies van
der Rohe nach ihrer Emigration in Amerika fortsetzten,
demaskiert heute ihren sozialen Impuls als Strategie der
Gleichmachung von Gebäuden und Gebrauchsgegenständen.
Was sich seit den 20er Jahren im sozialen Wohnungsbau
niederschlug und das Bild der modernen Städte in aller
Welt prägte, wurde von den ersten Postmodernen in den
70er Jahren als das Elend der modernen Architektur
empfunden. Der amerikanische Architektur-Kritiker Peter
Blake nahm diese Empfindung zum Anlaß, die zynische
Dialektik in der Befolgung der funktionalistischen Regel
unter dem Titel Form follows Fiasco"
aufzudecken. Andere Architekten folgten mit kritischen
Einschätzungen und richteten ihr Interesse, wie Robert
Venturi beispielsweise, auf die Volksarchitektur in
Amerika, die, wie er gezeigt hat, eine beredte
Zeichenhaftigkeit hervorzubringen vermag.
Wenn man davon ausgeht, daß das
Bauwerk kein sich selbst genügendes Kunstwerk ist,
sondern im urbanen Zusammenhang wahrgenommen werden muß,
kann das Bildhafte und Plakative eines Baukörpers auf
eine andere Art und Weise in den Vordergrund treten. Der
Wert eines Bauwerks ergibt sich dann in erster Linie
nicht aus der gelungenen Einheit von Form und Funktion,
wie es im Verständnis der Moderne der Fall ist, sondern
aus seiner fiktionalen Beziehung zu den ihn umgebenden
Gebäuden in der Stadt. Die reine, nicht ornamentierte,
bilderlose und rationale Architektur der Moderne wird der
unaufhebbar chaotischen Vielfalt städtischer
Organisation nicht gerecht.
Die Ablehnung des industriell
gefertigten Ornaments und die Betonung der reinen
Zweckform, wie sie von Loos ausgehend gefordert wird, ist
aber nur eine Variante in dem Bemühen, nach der
Ablösung der traditionellen Stileinheit ein neues
verpflichtendes Zentrum der Stilorientierung zu
suchen." (Renner, a.a.O., S. 58.) Eine andere
Variante findet man in dem 1923 begonnenen Versuch von
Gropius, eine neue Einheit von Technik und Kunst
hervorzubringen.
Abb.
10: AEG-Turbinenfabrik in Berlin
Ein markantes Beispiel hierfür
lieferte die von seinem Lehrer, Peter Behrens, 1909
erbaute AEG-Turbinenfabrik in Berlin. Mit
diesem Bauwerk hat Behrens, um es mit Nikolaus Pevsner zu
sagen, die architektonische Würde des
Industriebaus" proklamiert. Die monumentale
Giebelfront des Gebäudes, die in ihrem gesamten
Erscheinungsbild an einen griechischen Tempel erinnert,
wird von zwei sich nach oben verjüngenden Eckpylonen
flankiert. Das vieleckige Giebelfeld mit dem Firmensignet
scheint dem Mittelfenster aufzusitzen; tatsächlich
jedoch handelt es sich bei dem Dach um ein Tragsystem aus
mit Zugbändern versehenen Dreigelenkbögen, die auf den
seitlichen Stützen aufliegen.
Abb.
11: Zeichnung mit Dreigelenkbogen
An der Seitenfront zwischen den
Stützen neigen sich die großen Glasfenster leicht
zurück. Die Stützen von außen betrachtet erscheinen
als Vollwandprofile. In Wirklichkeit aber bestehen die
mächtig und massiv wirkenden Fassadenelemente nur aus
einer dünnen Betonhaut, die von einem dahinterliegenden
Stahlgitterwerk gehalten wird. Da sie keine tragenden,
sondern lediglich raumabschließende Teile sind,
verweisen diese Elemente nicht auf ihre konstruktive
Funktion, sondern auf die Künstlichkeit der eingesetzten
Mittel. Für Behrens mußte die Formgebung über die rein
konstruktiven Erfordernisse hinausgehen. Der künstlich
erzeugte Ausdruck einer geschlossenen Körperlichkeit aus
Glas, Eisen und Beton, die Hervorhebung der Funktionen
des Tragens und Lastens, die Gestaltung der Fassade, die
an einen modernen Tempel denken läßt all diese
Punkte verweisen auf eine Vereinigung von Kunst und
Technik, die vom Betrachter eine ästhetische
Rezeption verlangt. Behrens interessierte sich jedoch
nicht nur für Baumaterialien und ihre ästhetische
Wahrnehmung durch den Betrachter; was ihn besonders
beschäftigte, waren die Bedingungen einer solchen
Wahrnehmung in der modernen Welt, Bedingungen, die in
erster Linie mit der Schnelligkeit der Zeit zu tun haben.
In einer programmatischen Schrift hat er das vortrefflich
zum Ausdruck gebracht: Eine Eile hat sich unserer
bemächtigt, die keine Muße gewährt, sich in
Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen
Gefährt durch die Straßen unserer Großstadt jagen,
können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren.
Ebensowenig wie vom Schnellzug aus Städtebilder, die wir
im schnellen Tempo des Vorbeifahrens streifen, anders
wirken können als nur durch ihre Silhouette. Die
einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer
solchen Betrachtungsweise unserer Außenwelt, die uns
bereits zur steten Gewohnheit geworden ist, kommt nur
eine Architektur entgegen, die möglichst geschlossene,
ruhige Flächen zeigt, die durch die Bündigkeit keine
Hindernisse bietet." (Zitiert nach Renner, a.a.O.,
S. 60.)
Während die traditionelle
Architektur von einem stehend wahrnehmenden Betrachter
ausgeht, rechnet die moderne Architektur bereits mit
einem aus der Bewegung erfolgten Betrachten.
Abb.
12: Venturi, Straßenarchitektur, Philadelphia
Abb.
13: Venturi, Straßenarchitektur, Philadelphia
Hiermit nimmt die Moderne einen Zug
vorweg, der in der postmodernen Architektur von Las Vegas
zentrale Bedeutung gewinnt, d. h. einen neuen Typus
städtischer Formung hervorgebracht hat: die Autostadt,
die auf den Autofahrer abgestimmte Architektursymbolik.
Die Verbindung, die Moderne und Postmoderne in diesem
Punkt eingehen, wird, was die Fortschrittsgläubigkeit
der Moderne betrifft, wieder aufgelöst. Insofern ist es
nicht richtig anzunehmen, die Postmoderne entstehe gradlinig
aus der Moderne, oder, die Moderne enthalte bereits den
Samen, der heute in der Postmoderne aufgehe; auch nicht
richtig ist es anzunehmen, daß die Postmoderne radikal
neu sei. Es bleiben vielfältige Bezüge zwischen
Moderne und Postmoderne, so daß eine genealogische
Betrachtungsweise sachdienlich erscheinen muß. Auch auf
der Ebene des Begriffs findet man Unterstützung für
eine solche Einschätzung, denn nicht ohne Grund hat man
für die kulturellen Veränderungen der letzten zwanzig
oder dreißig Jahre den relationalen Begriff
Postmoderne" gewählt.
Hierbei tritt Altes und Neues in
eine Konstellation, die gegenüber der der Moderne relativ
neu ist aber nicht absolut. Beispielsweise neu
an dieser Konstellation ist die mögliche
Präsenz vielfältiger und historisch
unterschiedlicher Stilrichtungen in einer Fassade. Etwas
ähnliches hätte es unter den
Vereinheitlichungstendenzen und der durchgreifenden
Normierung des International Style nicht
geben können.
Insgesamt betrachtet sind die
Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne in der
Architektur dennoch nicht so deutlich, daß sie eine
sichere Grenzziehung zulassen und damit eine eindeutige
Definition von Moderne und Postmoderne erlauben würden.
Außerdem wird eine Definition der Postmoderne erschwert
durch die Vielfältigkeit ihrer Erscheinung. Insofern ist
es ausschließlich möglich, die Bewertung eines
Bauwerkes als postmodern" nach dem Verfahren
der Prüfung anhand einer Liste verschiedener Fragen
vorzunehmen. In seinem grundlegenden Aufsatz
Post-Modern und Spät-Modern" entwickelt
Jencks im Vollzuge des Unterscheidens verschiedener
Gebäude eine Liste von Fragen, mit denen er sie
nachträglich als spätmodern oder postmodern bezeichnen
kann. Im folgenden möchte ich die Liste dieser Fragen
einmal aufzählen: 1. Ist das Gebäude kontextuell? Das
heißt: Hat es einen Bezug zu den ihn umgebenden
Gebäuden? Hat es einen Bezug zur alltäglichen
Zeichensprache der Gegend? 2. Ist das Gebäude mit den
Geschmackskulturen seiner Einwohner oder Benutzer
vermittelt? 3. Verkörpert es ein symbolisches Programm
oder eine Zusammenstellung konsistenter Metaphern? 4.
Vermittelt das Gebäude eine hermetische, auf sich selbst
bezogene, oder eine offene und historische Welt von
Bedeutungen?
Mit Hilfe dieses Fragenkatalogs
könnte man ein Gebäude als postmodern bezeichnen und es
somit sowohl von einem modernen als auch von einem
spätmodernen Bauwerk unterscheiden. Es handelt sich
dabei aber nicht um ein bestimmendes Urteil, das nach
Maßgabe eines definierten Begriffs einen Fall sucht,
sondern um eine Bestimmung, der ein reflektierendes
Urteil zugrundeliegen muß, d. h. ein Verfahren der
Beurteilung, das die Bedeutung auf dem Wege einer
Unterscheidung ermittelt: Um das postmoderne
Konzept ganz zu verstehen, muß man es in Kontrast setzen
zu der anderen großen Richtung der Gegenwart, mit der es
häufig verwechselt wird: der spätmodernen Architektur.
(...) In der Tat scheint es mir, daß die Bedeutung der
postmodernen Architektur unmittelbar durch die
Unterscheidung von der spätmodernen gewinnt. Während
letztere eine primäre Verpflichtung zu den
Wertvorstellungen der Moderne wie dem Ausdruck der
Technik, des Verkehrs, der Funktion aufrechterhält,
betont erstere den städtischen Kontext, die
Wertvorstellungen der Nutzer und die anhaltende Bedeutung
jener architektonischen Ausdrucksform, die das Ornament
darstellt. Während die spätmoderne Architektur
pragmatisch ist, versteht sich die postmoderne als
pluralistisch. Während erstere die Moderne überbetont,
um sie am Leben zu erhalten, verändert letztere sie und
erschafft den nächsten transitorischen Stil." (Ch.
Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur,
Stuttgart 1988, S. 6.)
Als entscheidendes Merkmal einer
solchen Unterscheidung ergibt sich für Jencks, daß
Moderne und Spätmoderne stets einfach
codiert" sind, Postmoderne aber durch eine
Doppelkodierung" bestimmt ist, wodurch sie
sich den Architekten ebenso wie den Benutzern mitteilt:
Die postmoderne Architektur ist doppelkodiert, zur
Hälfte modern, zur Hälfte der Konvention verpflichtet,
weil sie versucht, sowohl mit der Mehrzahl der
Bevölkerung als auch mit einer beteiligten Minderheit,
gewöhnlich Architekten, zu kommunizieren. Es ist eine
Tatsache, daß die führenden postmodernen Architekten in
moderner Architektur ausgebildet wurden und einen Teil
ihres Studiums und ihrer Sprache bewahrt haben,
wenngleich sie sich einem anderen Formenkanon zuwenden.
Das zwitterhafte Werk von Robert Venturi, Michael Graves,
Aldo Rossi, Hans Hollein und Arata Isozaki zeigt, daß
diese Verallgemeinerung zutrifft." (Jencks, a.a.O.,
S. 6.)
Abb.
14: AT&T-Building, Zeichnung
Abb.
15: AT&T-Building, Modell
Als markantestes Beispiel dieser
doppelkodierten Postmoderne könnte man das
AT&T-Building in New York anführen, das
von Philip Johnson entworfen worden ist. Johnson, ein
Schüler von Mies van der Rohe, ist bekannt geworden
durch ein Manifest über den International
Style, das er zusammen mit Henry-Russel Hitchcock
bereits vor über 50 Jahren formulierte. Als postmoderner
Architekt hat er sich Ende der 70er Jahre mit seinem
Entwurf des AT&T-Gebäudes einen Namen gemacht.
Dieses Gebäude ist vielfach als das wichtigste Monument
der Postmoderne bezeichnet worden.
Die aus rosafarbenem Granit
bestehende Fassade, sowohl durch eine strenge
Achsialsymmetrie im paladianischen Stil des 19.
Jahrhunderts gekennzeichnet, als auch an eine klassische
Säule erinnernd, widerspricht der technologischen
Sprache der spätmodernen Architektur ganz entschieden.
Sowohl der obere als auch der untere Teil sind
eindruckvolle Beispiele divergierender symbolischer
Referenzen, wie Jencks gezeigt hat: Der untere Teil
erinnert an Brunelleschis Pazzi-Kapelle ebenso wie an
Albertis S. Andrea in Mantua.
Abb.
16: Alberti, S. Andrea in Mantua
Der obere Teil, besonders der
gesprengte Giebel, nimmt Bezug auf den Klassizismus von
Claude Nicolas Ledoux, aber auch auf Venturis
Chestnut-Hill-House.
Abb.
17: Venturi, Chestnut-Hill-House
Diese Reihe symbolischer Referenzen
ließe sich fortsetzen. Man hat es hier mit einer
Zeichenordnung zu tun, die aus einer Verdichtung
historischer und kontextueller Bezugnahmen
hergeleitet werden muß.
Abb.
18: Mies van der Rohe, Seagram Building in New
York
Zwar reiht sich das
AT&T-Gebäude in die Hochhausbauweise der Umgebung
ein, durchkreuzt aber die stereometrischen Raster der
modernen skyscrapers, die, wie am Beispiel
von Mies van der Rohes Segram Building zu sehen ist,
durch die horizontale Hervorhebung der Fensterreihen die
alleinige Dominanz der Vertikalen zurücknehmen und
dadurch den Eindruck strenger geometrischer Eleganz
vermitteln.
Im Mittelteil des
AT&T-Gebäudes stellt die vertikale Hervorhebung der
Fensterreihen eine Verbindung zum Unterteil und Oberteil
her, wodurch der Eindruck klassischer Schönheit
vermittelt werden kann.
Im Gegensatz zum Seagram Building
betrachtet behält das AT&T-Gebäude die Physiognomie
eines Hauses. Besonders die Dachkonstruktion verstärkt
diesen Eindruck und verhindert dadurch, daß man sich an
eine Schachtel erinnert fühlt, wie das der
Fall ist bei den Hochhäusern, die Mies van der Rohe in
den 50er und 60er Jahren in New York und anderswo
errichtete und in die er, wie der Architektur-Kritiker
Tom Wolf ironisch bemerkt hat, halb Amerika
hineingesteckt haben soll.
|