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1997_2

Hans Friesen

Von der Moderne zur Postmoderne

Zur Genealogie der Architektur im 20. Jahrhundert

 

„Postmoderne" ist ein „relationaler" Begriff. Nach den Bedingungen der postmodernen Konstellation in der Architektur zu fragen, erfordert somit in besonderem Maße, mit einem Blick auf die Moderne zu beginnen. Manches von dem, was in der postmodernen Konstellation in den Vordergrund tritt, läßt sich angemessen nur verstehen vor dem Hintergrund der Moderne. Die Gründe für diese Absetzung sind sehr unterschiedlich; auf jeden Fall ist der Eindruck, die ästhetischen Entwürfe der Postmoderne würden einem regellosen Spiel folgen, häufig darauf zurückzuführen, daß man die angesprochene Absetzbewegung nicht berücksichtigt.

Abb. 1: Krier, Visionäre Landschaft

Abb. 2: Krier, Visionäre Architektur, Atlantis

Im Kontrast mit der modernen Konstellation zeichnet sich die postmoderne insbesondere durch veränderte Grenzziehungen aus, mitunter auch durch „signifikante Grenzüberschreitungen", so daß sowohl zwischen den Kunstgattungen als auch zwischen dem theoretischen und dem ästhetischen Diskurs die spannungsvollen Beziehungen ihre überzogene Strenge verlieren: „Die Architektur nähert sich mit der visionären Architekturzeichnung der Malerei an und läßt sich auf eine Semiologie ein, die sie Texten vergleichbar macht. Texte versuchen, die Grenze zum Bild zu überschreiten, so wie Bilder umgekehrt textuelle Bezüge benutzen oder ermöglichen. Die Texte wiederum öffnen sich nicht allein unterschiedlichen Diskursen und Wahrnehmungsformen, sie stellen mitunter ihren eigenen Status infrage und entziehen sich dem Gesetz der mimetischen wie jenem der logischen Repräsentation. Alle Kunstformen zusammen jedoch antworten auf eine Erfahrungswirklichkeit, welche die Rolle des handelnden wie auch des wahrnehmenden Ich problematisch werden läßt, zugleich entwerfen sie dessen mögliche Reaktionen neu." (R. G. Renner, Die postmoderne Konstellation, Freiburg 1988, S. 52.)

Diese veränderte Konstellation im Bereich des Ästhetischen möchte ich im folgenden am Beispiel der Architektur skizzieren. Hier verwendet und versteht man den Begriff der „Postmoderne", wie ihn der Architektur-Theoretiker Charles Jencks in seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur eingeführt hat. Den Beginn der „Moderne" in der Architektur siedelt man gewöhnlich um 1900 an. Davon zu unterscheiden ist der Zeitraum um 1930, den man häufig als die ‘klassische Moderne’, die Moderne der Avantgarde, bezeichnet, von der der sogenannte „International Style" ausgegangen ist, der gegen Mitte des 20. Jahrhunderts die gesamte Architektur beherrschte. Das Ende dieses Zeitraums markiert für Jencks den „Tod der modernen Architektur".

Abb. 3: Pruitt-Igoe, St. Louis

Abb. 4: Pruitt-Igoe, Sprengung

Er setzt ihn mit der Sprengung einer nach den Prinzipien der Moderne gebauten Hochhaussiedlung in St. Louis am Anfang der 70er Jahre. Diese Sprengung erscheint ihm als Eingeständnis eines monumentalen Irrtums, der alle menschlichen Wohnbedürfnisse sträflich vernachlässigt hatte. Danach entsteht für ihn die Postmoderne in der Architektur.

Selbstverständlich darf man diesen Bruch nicht als absoluten betrachten. Was wir heute in der architekturalen Welt beobachten können, ist ein Nebeneinander moderner, spätmoderner, postmoderner, neomoderner und dekonstruktiver Stilrichtungen, wobei im klassischen Sinne „modern" kaum noch gebaut wird. Die klassische Moderne in der Architektur kann dennoch nicht als abgeschlossen betrachtet werden, weil alle Richtungen nach der Moderne in positiver oder negativer Weise auf diese bezogen bleiben. Damit ergibt sich für das 20. Jahrhundert insgesamt folgendes Bild:

Abb. 5: Schema der Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts

Aus heutiger Sicht betrachtet, ist die klassische Moderne weit mehr als eine Destruktion der Tradition des 19. Jahrhunderts, in der die Architektur noch von der von Vitruv stammenden Dreieinigkeit von Zweckmäßigkeit, Festigkeit und Schönheit geleitet worden war. Über diese Suspendierung der herrschenden Grundsätze hinaus ist die moderne Architektur gekennzeichnet von der Vorstellung einer Gesellschaft im Übergang und der Idee gesellschaftlicher Veränderungen mithilfe des sozialen Wohnungs- und Siedlungsbaus: „Avantgardistische Architektur wird in Planungen, wie denen in Frankfurt nach 1925, zum vorausgreifenden Gesellschaftsentwurf. In ihm vermischen sich solche Erfahrungen wie die einer proletarischen Massenbewegung, der nivellierenden Organisationsstrukturen der Industrie- und Büroarbeit und der äußerlichen Angleichung der großen Städte durch Modernisierungen mit den Erfahrungen in den Bereichen massenkultureller Zerstreuung (Sport, Kino etc.) und der Erfahrung, daß sich die tradierten bürgerlichen Ansprüche an autonome Kulturformen immer unzeitgemäßer ausnehmen." (M. Müller, Die Versöhnung der theoretischen Kultur mit der praktischen Kultur - eine Vision der Moderne, in: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion, hrsg. v. H. Klotz, München 1986, S. 44.)

Die Avantgarde verbindet ihre Vision einer modernen Architektur mit einem sozialkritischen Anspruch; die Erfahrung der sozialen Ungleichheit als Ungerechtigkeit und der Entschluß, ihr durch Architektur entgegenzutreten, widersetzt sich einer Tradition, in der Architektur zur Repräsentation der herrschenden Macht benutzt wurde. Der revolutionäre Anspruch der Avantgarde in der modernen Architektur beschränkt sich nicht auf die Gebäude und die Städte, sondern weitet sich aus auf eine Veränderung der ganzen Gesellschaft; er entwickelt sich immer mehr zu einer grundsätzlichen Absage an die Tradition. Das Gebäude soll sich als ein sich selbst genügender Zweckbau darstellen.

Abb. 6: Bauhausgebäude Dessau

Im 1925-26 gebauten Bauhausgebäude in Dessau ist dieser Ansatz streng befolgt und verwirklicht worden. Der gesamte Komplex ist nach Funktionen geordnet und umfaßt ein Gebäude mit Klassenräumen, ein Werkstattgebäude, ein Studentenwohnheim, ein Gebäude mit Gemeinschaftseinrichtungen und eine überdachte Verbindungsbrücke zwischen dem Werkstattgebäude und dem Unterrichtsgebäude, in der sich außer Büros und Clubräumen auch ein Privatatelier für Gropius befindet.

Abb. 7: Die pilzförmigen Stützen des Werkstattgebäudes

Die bedeutsamste Neuerung des Werkstattgebäudes besteht darin, daß die Betondecken auf weit zurückgesetzten pilzförmigen Stützen ruhen. Durch diese Konstruktion ist eine tragende Außenwand nicht mehr erforderlich.

Abb. 8: Glasfassade des Werkstattgebäudes

Damit konnte eine über alle drei Geschosse ununterbrochen hinweggezogene, dünne, leicht und transparent wirkende Fassadenhaut aus Glas angebracht werden, die Jahre später zum Vorbild für viele ähnliche Konstruktionen in Europa und Amerika werden konnte. Der ganze Baukomplex kann als Musterbeispiel eines rational und funktional perfekt ausbalancierten, letztlich vom rechten Winkel beherrschten Systems betrachtet werden, das in historischer Hinsicht sozusagen beispiellos ist.

Walter Gropius hat seine Forderung nach einem Stil, der frei von jeder Tradition ist, in einem 1935 veröffentlichten Buch mit folgenden Worten beschrieben: „Wir haben genug von der willkürlichen Nachahmung historischer Stile. In fortschreitender Entwicklung, weg von architektonischen Launen und Verspieltheiten zum Diktat konstruktiver Logik haben wir gelernt, das Leben unserer Epoche in reinen, vereinfachten Formen auszudrücken." (W. Gropius, Die neue Architektur und das Bauhaus, Mainz und Berlin 1965, S. 18.)

Der Architekt hat sich nach Gropius lediglich auf die Konstruktionen und Materialien der Bauten zu konzentrieren. Die Form eines Gebäudes soll sich ausschließlich aus seinen ‘natürlichen Funktionen’ ergeben. Dieser Forderung sind die neuen Baumaterialien Glas, Stahl und Beton sehr entgegengekommen. Ornamente, die konstruktiv nicht erforderlich sind, wollten die modernen Architekten gänzlich vermeiden, weil sie eine Vergeudung von Arbeitskraft und Gesundheit, von Material und Kapital darstellen. Diese Forderung vertrat Adolf Loos bereits 1908 in seinem berühmten Manifest Ornament und Verbrechen. Er hielt den Drang zur Ornamentierung von Gebrauchsgegenständen sowie von Architektur für eine Degenerationserscheinung des modernen Menschen und sprach von einer „staatlich anerkannten" und „mit staatsgeldern" subventionierten „ornament-seuche", deren Funktion es sei, „die völker in ihrer kulturellen entwicklung aufzuhalten". Seine These lautet, daß die ‘Evolution der Kultur’ gleichbedeutend sei mit dem ‘Entfernen des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstand’. Deshalb kritisiert er jede Wiederaufnahme des Ornaments als Verbrechen und erhebt die „Ornamentlosigkeit" an den Gebrauchsgegenständen und in der Architektur zum Stil der Zeit.

Für die Architektur wird der „weiße Würfel" mit seinen „geraden Linien" zur Idealform erklärt. Die Ablehnung des Ornamentalen führt zur Bestimmung der Architektur aus der Idee der Funktionalität. Was Funktionalismus heißen soll, darüber gibt es unter den verschiedenen Architekten aber keine einheitliche Meinung. Lediglich über die allgemeine Definition, daß Zweck und Form in ganz bestimmter, rationaler Weise aufeinander bezogen sein sollen, ließe sich beispielsweise zwischen Sullivan und Gropius Konsens erzielen. Die Regel, die in dieser allgemeinen Definition steckt und von der sich die Architektur seit den 20er Jahren leiten ließ, heißt: „form follows function". Die Form eines Raumes, eines Gebäudes oder auch eines Gebrauchsgegenstandes sollte nicht erfunden, sondern lediglich gefunden werden; sie sei nämlich durch die Funktion vorbestimmt, wie Julius Posener es einmal formuliert hat. Die von der modernen Architektur geformten Objekte haben jedoch gezeigt, daß es sich nicht immer so verhält, daß einer Funktion nicht immer eine bestimmte Form folgt, sondern daß die Verknüpfung von Form und Funktion sehr oft von außen erfolgte, von einem gesellschaftlich vorgeprägten Bild des technischen Fortschritts bestimmt wurde.

Abb. 9: Ruhr-Universität in Bochum

Ein signifikantes Beispiel einer solchen Vereinigung von Form und Funktion ist die ‘Ruhr-Universität’ in Bochum, die an einen Entwurf von Mies van der Rohe aus den 20er Jahren erinnert, in dem die funktionale Formgebung sich die damals gebauten Ozeandampfer zum Vorbild für die Lebensordnung der in einem solchen Gebäude Arbeitenden genommen hat. Die Verherrlichung des technischen Fortschritts, die in diesem architektonischen Werk einen deutlichen Ausdruck hat, wird man heute allerdings als übertrieben und einseitig ansehen. Durch die vielen ‘Unfälle’ des technischen Fortschritts ist die Bereitschaft, dessen Verherrlichung mitzumachen, auf den Nullpunkt gesunken. Offensichtlich ist heute auch, daß die Architektur nach dem zweiten Weltkrieg einen eindimensionalen, vorwiegend an technisch ökonomischen Vorgaben orientierten Bauwirtschaftsfunktionalismus hervorgebracht hat, der die ästhetischen und sozialen Wertvorstellungen der Avantgarde der Moderne nachträglich in Frage stellen muß. Die neue Architektur des Bauhauses, die Gropius und Mies van der Rohe nach ihrer Emigration in Amerika fortsetzten, demaskiert heute ihren sozialen Impuls als Strategie der Gleichmachung von Gebäuden und Gebrauchsgegenständen. Was sich seit den 20er Jahren im sozialen Wohnungsbau niederschlug und das Bild der modernen Städte in aller Welt prägte, wurde von den ersten Postmodernen in den 70er Jahren als das Elend der modernen Architektur empfunden. Der amerikanische Architektur-Kritiker Peter Blake nahm diese Empfindung zum Anlaß, die zynische Dialektik in der Befolgung der funktionalistischen Regel unter dem Titel „Form follows Fiasco" aufzudecken. Andere Architekten folgten mit kritischen Einschätzungen und richteten ihr Interesse, wie Robert Venturi beispielsweise, auf die Volksarchitektur in Amerika, die, wie er gezeigt hat, eine beredte Zeichenhaftigkeit hervorzubringen vermag.

Wenn man davon ausgeht, daß das Bauwerk kein sich selbst genügendes Kunstwerk ist, sondern im urbanen Zusammenhang wahrgenommen werden muß, kann das Bildhafte und Plakative eines Baukörpers auf eine andere Art und Weise in den Vordergrund treten. Der Wert eines Bauwerks ergibt sich dann in erster Linie nicht aus der gelungenen Einheit von Form und Funktion, wie es im Verständnis der Moderne der Fall ist, sondern aus seiner fiktionalen Beziehung zu den ihn umgebenden Gebäuden in der Stadt. Die reine, nicht ornamentierte, bilderlose und rationale Architektur der Moderne wird der unaufhebbar chaotischen Vielfalt städtischer Organisation nicht gerecht.

Die Ablehnung des industriell gefertigten Ornaments und die Betonung der reinen Zweckform, wie sie von Loos ausgehend gefordert wird, ist aber nur eine Variante in dem Bemühen, „nach der Ablösung der traditionellen Stileinheit ein neues verpflichtendes Zentrum der Stilorientierung zu suchen." (Renner, a.a.O., S. 58.) Eine andere Variante findet man in dem 1923 begonnenen Versuch von Gropius, eine neue Einheit von Technik und Kunst hervorzubringen.

Abb. 10: AEG-Turbinenfabrik in Berlin

Ein markantes Beispiel hierfür lieferte die von seinem Lehrer, Peter Behrens, 1909 erbaute ‘AEG-Turbinenfabrik’ in Berlin. Mit diesem Bauwerk hat Behrens, um es mit Nikolaus Pevsner zu sagen, die „architektonische Würde des Industriebaus" proklamiert. Die monumentale Giebelfront des Gebäudes, die in ihrem gesamten Erscheinungsbild an einen griechischen Tempel erinnert, wird von zwei sich nach oben verjüngenden Eckpylonen flankiert. Das vieleckige Giebelfeld mit dem Firmensignet scheint dem Mittelfenster aufzusitzen; tatsächlich jedoch handelt es sich bei dem Dach um ein Tragsystem aus mit Zugbändern versehenen Dreigelenkbögen, die auf den seitlichen Stützen aufliegen.

Abb. 11: Zeichnung mit Dreigelenkbogen

An der Seitenfront zwischen den Stützen neigen sich die großen Glasfenster leicht zurück. Die Stützen von außen betrachtet erscheinen als Vollwandprofile. In Wirklichkeit aber bestehen die mächtig und massiv wirkenden Fassadenelemente nur aus einer dünnen Betonhaut, die von einem dahinterliegenden Stahlgitterwerk gehalten wird. Da sie keine tragenden, sondern lediglich raumabschließende Teile sind, verweisen diese Elemente nicht auf ihre konstruktive Funktion, sondern auf die Künstlichkeit der eingesetzten Mittel. Für Behrens mußte die Formgebung über die rein konstruktiven Erfordernisse hinausgehen. Der künstlich erzeugte Ausdruck einer geschlossenen Körperlichkeit aus Glas, Eisen und Beton, die Hervorhebung der Funktionen des Tragens und Lastens, die Gestaltung der Fassade, die an einen modernen Tempel denken läßt – all diese Punkte verweisen auf eine Vereinigung von Kunst und Technik, die vom Betrachter eine ästhetische Rezeption verlangt. Behrens interessierte sich jedoch nicht nur für Baumaterialien und ihre ästhetische Wahrnehmung durch den Betrachter; was ihn besonders beschäftigte, waren die Bedingungen einer solchen Wahrnehmung in der modernen Welt, Bedingungen, die in erster Linie mit der Schnelligkeit der Zeit zu tun haben. In einer programmatischen Schrift hat er das vortrefflich zum Ausdruck gebracht: „Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Muße gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen unserer Großstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren. Ebensowenig wie vom Schnellzug aus Städtebilder, die wir im schnellen Tempo des Vorbeifahrens streifen, anders wirken können als nur durch ihre Silhouette. Die einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer solchen Betrachtungsweise unserer Außenwelt, die uns bereits zur steten Gewohnheit geworden ist, kommt nur eine Architektur entgegen, die möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt, die durch die Bündigkeit keine Hindernisse bietet." (Zitiert nach Renner, a.a.O., S. 60.)

Während die traditionelle Architektur von einem stehend wahrnehmenden Betrachter ausgeht, rechnet die moderne Architektur bereits mit einem aus der Bewegung erfolgten Betrachten.

Abb. 12: Venturi, Straßenarchitektur, Philadelphia

Abb. 13: Venturi, Straßenarchitektur, Philadelphia

Hiermit nimmt die Moderne einen Zug vorweg, der in der postmodernen Architektur von Las Vegas zentrale Bedeutung gewinnt, d. h. einen neuen Typus städtischer Formung hervorgebracht hat: die Autostadt, die auf den Autofahrer abgestimmte Architektursymbolik. Die Verbindung, die Moderne und Postmoderne in diesem Punkt eingehen, wird, was die Fortschrittsgläubigkeit der Moderne betrifft, wieder aufgelöst. Insofern ist es nicht richtig anzunehmen, die Postmoderne entstehe gradlinig aus der Moderne, oder, die Moderne enthalte bereits den Samen, der heute in der Postmoderne aufgehe; auch nicht richtig ist es anzunehmen, daß die Postmoderne radikal neu sei. Es bleiben vielfältige Bezüge zwischen Moderne und Postmoderne, so daß eine genealogische Betrachtungsweise sachdienlich erscheinen muß. Auch auf der Ebene des Begriffs findet man Unterstützung für eine solche Einschätzung, denn nicht ohne Grund hat man für die kulturellen Veränderungen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre den relationalen Begriff „Postmoderne" gewählt.

Hierbei tritt Altes und Neues in eine Konstellation, die gegenüber der der Moderne relativ neu ist – aber nicht absolut. Beispielsweise neu an dieser Konstellation ist die mögliche ‘Präsenz’ vielfältiger und historisch unterschiedlicher Stilrichtungen in einer Fassade. Etwas ähnliches hätte es unter den Vereinheitlichungstendenzen und der durchgreifenden Normierung des ‘International Style’ nicht geben können.

Insgesamt betrachtet sind die Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne in der Architektur dennoch nicht so deutlich, daß sie eine sichere Grenzziehung zulassen und damit eine eindeutige Definition von Moderne und Postmoderne erlauben würden. Außerdem wird eine Definition der Postmoderne erschwert durch die Vielfältigkeit ihrer Erscheinung. Insofern ist es ausschließlich möglich, die Bewertung eines Bauwerkes als „postmodern" nach dem Verfahren der Prüfung anhand einer Liste verschiedener Fragen vorzunehmen. In seinem grundlegenden Aufsatz „Post-Modern und Spät-Modern" entwickelt Jencks im Vollzuge des Unterscheidens verschiedener Gebäude eine Liste von Fragen, mit denen er sie nachträglich als spätmodern oder postmodern bezeichnen kann. Im folgenden möchte ich die Liste dieser Fragen einmal aufzählen: 1. Ist das Gebäude kontextuell? Das heißt: Hat es einen Bezug zu den ihn umgebenden Gebäuden? Hat es einen Bezug zur alltäglichen Zeichensprache der Gegend? 2. Ist das Gebäude mit den Geschmackskulturen seiner Einwohner oder Benutzer vermittelt? 3. Verkörpert es ein symbolisches Programm oder eine Zusammenstellung konsistenter Metaphern? 4. Vermittelt das Gebäude eine hermetische, auf sich selbst bezogene, oder eine offene und historische Welt von Bedeutungen?

Mit Hilfe dieses Fragenkatalogs könnte man ein Gebäude als postmodern bezeichnen und es somit sowohl von einem modernen als auch von einem spätmodernen Bauwerk unterscheiden. Es handelt sich dabei aber nicht um ein bestimmendes Urteil, das nach Maßgabe eines definierten Begriffs einen Fall sucht, sondern um eine Bestimmung, der ein reflektierendes Urteil zugrundeliegen muß, d. h. ein Verfahren der Beurteilung, das die Bedeutung auf dem Wege einer Unterscheidung ermittelt: „Um das postmoderne Konzept ganz zu verstehen, muß man es in Kontrast setzen zu der anderen großen Richtung der Gegenwart, mit der es häufig verwechselt wird: der spätmodernen Architektur. (...) In der Tat scheint es mir, daß die Bedeutung der postmodernen Architektur unmittelbar durch die Unterscheidung von der spätmodernen gewinnt. Während letztere eine primäre Verpflichtung zu den Wertvorstellungen der Moderne wie dem Ausdruck der Technik, des Verkehrs, der Funktion aufrechterhält, betont erstere den städtischen Kontext, die Wertvorstellungen der Nutzer und die anhaltende Bedeutung jener architektonischen Ausdrucksform, die das Ornament darstellt. Während die spätmoderne Architektur pragmatisch ist, versteht sich die postmoderne als pluralistisch. Während erstere die Moderne überbetont, um sie am Leben zu erhalten, verändert letztere sie und erschafft den nächsten transitorischen Stil." (Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1988, S. 6.)

Als entscheidendes Merkmal einer solchen Unterscheidung ergibt sich für Jencks, daß Moderne und Spätmoderne stets „einfach codiert" sind, Postmoderne aber durch eine „Doppelkodierung" bestimmt ist, wodurch sie sich den Architekten ebenso wie den Benutzern mitteilt: „Die postmoderne Architektur ist doppelkodiert, zur Hälfte modern, zur Hälfte der Konvention verpflichtet, weil sie versucht, sowohl mit der Mehrzahl der Bevölkerung als auch mit einer beteiligten Minderheit, gewöhnlich Architekten, zu kommunizieren. Es ist eine Tatsache, daß die führenden postmodernen Architekten in moderner Architektur ausgebildet wurden und einen Teil ihres Studiums und ihrer Sprache bewahrt haben, wenngleich sie sich einem anderen Formenkanon zuwenden. Das zwitterhafte Werk von Robert Venturi, Michael Graves, Aldo Rossi, Hans Hollein und Arata Isozaki zeigt, daß diese Verallgemeinerung zutrifft." (Jencks, a.a.O., S. 6.)

Abb. 14: AT&T-Building, Zeichnung

Abb. 15: AT&T-Building, Modell

Als markantestes Beispiel dieser doppelkodierten Postmoderne könnte man das ‘AT&T-Building’ in New York anführen, das von Philip Johnson entworfen worden ist. Johnson, ein Schüler von Mies van der Rohe, ist bekannt geworden durch ein Manifest über den ‘International Style’, das er zusammen mit Henry-Russel Hitchcock bereits vor über 50 Jahren formulierte. Als postmoderner Architekt hat er sich Ende der 70er Jahre mit seinem Entwurf des AT&T-Gebäudes einen Namen gemacht. Dieses Gebäude ist vielfach als das wichtigste Monument der Postmoderne bezeichnet worden.

Die aus rosafarbenem Granit bestehende Fassade, sowohl durch eine strenge Achsialsymmetrie im paladianischen Stil des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet, als auch an eine klassische Säule erinnernd, widerspricht der technologischen Sprache der spätmodernen Architektur ganz entschieden. Sowohl der obere als auch der untere Teil sind eindruckvolle Beispiele divergierender symbolischer Referenzen, wie Jencks gezeigt hat: Der untere Teil erinnert an Brunelleschis Pazzi-Kapelle ebenso wie an Albertis S. Andrea in Mantua.

Abb. 16: Alberti, S. Andrea in Mantua

Der obere Teil, besonders der gesprengte Giebel, nimmt Bezug auf den Klassizismus von Claude Nicolas Ledoux, aber auch auf Venturis Chestnut-Hill-House.

Abb. 17: Venturi, Chestnut-Hill-House

Diese Reihe symbolischer Referenzen ließe sich fortsetzen. Man hat es hier mit einer Zeichenordnung zu tun, die aus einer Verdichtung historischer und kontextueller Bezugnahmen hergeleitet werden muß.

Abb. 18: Mies van der Rohe, Seagram Building in New York

Zwar reiht sich das AT&T-Gebäude in die Hochhausbauweise der Umgebung ein, durchkreuzt aber die stereometrischen Raster der modernen ‘skyscrapers’, die, wie am Beispiel von Mies van der Rohes Segram Building zu sehen ist, durch die horizontale Hervorhebung der Fensterreihen die alleinige Dominanz der Vertikalen zurücknehmen und dadurch den Eindruck strenger geometrischer Eleganz vermitteln.

Im Mittelteil des AT&T-Gebäudes stellt die vertikale Hervorhebung der Fensterreihen eine Verbindung zum Unterteil und Oberteil her, wodurch der Eindruck klassischer Schönheit vermittelt werden kann.

Im Gegensatz zum Seagram Building betrachtet behält das AT&T-Gebäude die Physiognomie eines Hauses. Besonders die Dachkonstruktion verstärkt diesen Eindruck und verhindert dadurch, daß man sich an eine ‘Schachtel’ erinnert fühlt, wie das der Fall ist bei den Hochhäusern, die Mies van der Rohe in den 50er und 60er Jahren in New York und anderswo errichtete und in die er, wie der Architektur-Kritiker Tom Wolf ironisch bemerkt hat, halb Amerika hineingesteckt haben soll.

 

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