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Autor: unbekannt
In: Wiener Bauindustrie-Zeitung - 14 (1897); 25. - S. 281 - 282; Wiener Bauindustrie-Zeitung - 14 (1897); 26. - S. 293 - 295
 
Moderne Architektur
 
I.

Unter diesem Titel ist vor Kurzem ein Buch* erschienen, das sowohl durch seinen Inhalt, wie durch den Namen seines Verfassers in allen der Kunst näher stehenden Kreisen grosses und berechtigtes Aufsehen hervorgerufen hat. Und lebhafte Zustimmung fand dies Werk auf der einen Seite, noch lebhafteren Widerspruch erweckte es auf der anderen; einen Widerspruch, der auch in einer Gegenschrift offen zum Ausdrucke kam, welche zwar anonym erschienen ist, von der es jedoch allgemein verlautet, dass sie ein Architekt von nicht geringerem Rufe als Professor  W a g n e r  wenn auch nicht verfasst, so doch inspirirt haben soll. Wir kommen im zweiten Theile unserer Besprechung auf diese Gegenschrift noch zurück.
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* "Moderne Architektur." Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete von Otto Wagner, Architekt (C. M.), k. k. Oberbaurath, Professor an der k. k. Akademie der bildenden Künste, Ehren- und correspondirendes Mitglied des königl. Institutes britischer Architekten in London etc. Wien 1896, Verlag von Anton  S c h r o l l  & C o.


Professor  W a g n e r  wendet sich in seiner Schrift wohl in erster Linie an seine Schüler; doch wäre es weit gefehlt, wenn man hier etwa an eine Art "Lehrbuch" denken würde. Denn, wenn der Autor auch "das Sein und Schaffen des werdenden Baukünstlers beleuchten, das Höhe und Hehre seines Berufes ihm vor die Augen führen will", so finden wir aber auch, wie schon aus dem Vorwort hervorgeht, in dem Werke ein künstlerisches Glaubensbekenntniss des Meisters. - Daher diese Schrift denn auch für die Allgemeinheit von höchstem Interesse ist:
"Ich war bemüht," sagt Wagner, "in gedrängter Kürze all das in diese Schrift einzubeziehen, was ich im Laufe der Jahre an künstlerischer Erfahrung gesammelt, an Kunstpraxis erworben habe." Der Gedanke, der die ganze Schrift beseelt, wird ebenfalls gleich im Vorwort klar ausgesprochen, nämlich der,  "d a s s  d i e  B a s i s  d e r  h e u t e  v o r h e r r s c h e n d e n  A n s c h a u u n g e n  ü b e r  d i e  B a u k u n s t  v e r s c h o b e n  w e r d e n  u n d  d i e  E r k e n n t n i s s  d u r c h g r e i f e n  m u s s,  d a s s  d e r  e i n z i g e  A u s g a n g s p u n k t  u n s e r e s  k ü n s t l e r i s c h e n  S c h a f f e n s  d a s  m o d e r n e  L e b e n  s e i n  s o l l". Die Ausführung seines Themas bringt der Autor in einer zwanglosen Reihe von Capiteln, die "Der Architekt", "Der Stil", "Die Composition", "Die Construktion" und "Die Kunstpraxis" überschrieben sind. Wir wollen nun im Nachstehenden versuchen, dem Gedankengang dieser einzelnen Capitel zu folgen, und einige der markantesten Stellen aus denselben hervorheben.


DER ARCHITEKT

Angeborenes Können und erlerntes und erdachtes Wissen sind die zwei Eigenschaften, aus denen sich jede künstlerische Fähigkeit zusammensetzt; einen Erfolg ohne bewusstes erlerntes Wissen - bei Malern und Bildhauern denkbar - hält  W a g n e r  beim Architekten für sicher ausgeschlossen. Und durch die Fülle des aufzunehmenden Wissens, durch die Erfahrung, durch das successive Werden und Ausreifen jugendlich frischer Ideen schiebt sich der Zeitpunkt der vollen Reife des Architekten weit hinaus, so dass seine erfolgreichste Thätigkeit sicher über das vierzigste Lebensjahr verlegt werden kann. Vollkommen muss dem zugestimmt werden, was der Autor über den Schutz und die Förderung der Baukunst durch den Staat sagt, seinem Verlangen nach möglichst häufigen Concurrenzen, dem Schaffen zahlreicher Monumentalbauten etc. Zur Hebung seiner Stellung und seines Standes empfiehlt  W a g n e r  dem Architekten unter Anderem, einen Wettkampf mit der unlauteren Concurrenz zu vermeiden, ferner Einhalten der gestellten Aufträge, eine unermüdliche Beschickung der Ausstellungen, sowie rege Betheiligung an Concurrenzen trotz der ihnen noch heute anhaftenden Mängel. Zur vollständigen Ausbildung des Architekten gehört als wichtigste Eigenschaft die Fähigkeit des Wahrnehmens der Bedürfnisse; denn die Mitwelt stellt die Aufgaben, und dem Künstler obliegt es, diese zu lösen. Bei diesen Wahrnehmungen spielen Reisen eine Hauptrolle, und hier hält Wagner das traditionelle Vorgehen, eine Studienreise nach Italien, deren Dauer auf ein bis zwei Jahre bemessen ist, für verfehlt. Denn die modernen Publicationsverfahren haben auf Alles dort Schauenswerthe in bester Weise vorbereitet, und da Aufnahmen von Bauwerken nur als "Zeichenübungen" angesehen werden können, das Anlegen einer Sammlung von Architekturmotiven, deren Inhalt nach der Rückkehr bei jeder Gelegenheit verwendet werden soll, sicher als Fehler zu bezeichnen ist, so genüge für eine Reise nach Italien eine Zeit von 3-5 Monaten.  "D a n n  a b e r  m ö g e n  v o m  K u n s t j ü n g e r  d i e  G r o s s s t ä d t e  u n d  j e n e  O r t e,  w o  m o d e r n e r  L u x u s  z u  H a u s e  i s t,  a u f g e s u c h t  w e r d e n,  d o r t  m ö g e  e r  s i c h  i m  S c h a u e n  u n d  W a h r n e h m e n  d e r  B e d ü r f n i s s e  d e r  m o d e r n e n  M e n s c h h e i t  g r ü n d l i c h  e i n ü b e n."  In so prägnanter Form dürfte diese Ansicht wohl noch nie öffentlich ausgesprochen worden sein, wenn auch mancher Architekt die Wahrheit dieses Satzes schon empfunden und gefühlt hat. Auf das im selben Capitel über die Titelfrage des Architekten Gesagte werden wir bei Besprechung der Gegenschrift zu reden kommen.


DER STIL

Eingangs dieses Capitels weist der Verfasser auf die Bedeutung der geraden Linie bei unserem modernen Schaffen hin, und auch darauf, dass der Putzbau die Tafel und das Tafelförmige geradezu erfordert. Der Verfasser verwahrt sich nun trotz der von ihm beliebten häufigen Anwendung dieser Motive, die ja auch für die Empirezeit charakteristisch waren, bei seinen Bauten und Entwürfen gegen den Vorwurf, dass auch er den "Empirestil" verwende, da es ein grosser Fehler wäre, die oben erwähnten Thatsachen zu übersehen. "Stets war die Kunst und ihr sogenannter Stil der ganz apodiktische Ausdruck des Schönheitsideals einer bestimmten Zeitperiode. Es ist wohl als erwiesen anzunehmen, dass Kunst und Künstler stets ihre Epoche repräsentirten.  Die Aufgabe der Kunst, also auch der modernen, ist aber dieselbe geblieben, welche sie zu allen Zeiten war.  D i e  m o d e r n e  K u n s t  m u s s  u n s  M o d e r n e,  u n s e r  K ö n n e n,  u n s e r  T h u n  u n d  L a s s e n  d u r c h  v o n  u n s  g e s c h a f f e n e  F o r m e n  r e p r ä s e n t i r e n."  - Und betrachte man von diesem Standpunkt aus die Kunstströmungen der vergangenen Jahrzehnte,  "s o  k a n n  m a n  n u r  m i t  m i t l e i d i g e m  L ä c h e l n  d i e  g e w a l t i g e n  I r r t h ü m e r  d i e s e r  S t i l a p o s t e l  c o n s t a t i r e n".  - "Künstlerische Bestrebungen, welche trachten, Neues an Bestehendes anzuschmiegen, ohne auf andere Verhältnisse Rücksicht zu nehmen, müssen, abgesehen von einer gewissen Geistesarmuth und Mangel von Selbstbewusstsein, die sie bergen, daher immer den Eindruck machen, als ob Jemand im Costüm eines vergangenen Jahrhunderts einen modernen Ball besuchen würde. Alle modernen Anforderungen müssen dem neuen Material, den neuen Anforderungen unserer Zeit entsprechen, wenn sie zur modernen Menschheit passen sollen." Zum Schluss dieses Capitels hebt der Verfasser hervor, dass wir uns mitten in der Bewegung nach einem neuen Stile befinden, "einer völligen Neugeburt, einer Naissance", die aber zu ihrer Entfaltung der Zeit bedarf. Ueberblickt man aber das heute schon Gewordene, "so wird man überzeugt werden müssen, dass zwischen der Moderne und der Renaissance heute schon eine grössere Kluft liegt, als zwischen der Renaissance und der Antike".


DIE COMPOSITION

Aus diesem unstreitig einwandfreiesten Capitel des ganzen  W a g n e r'schen Werkes mögen nur eine Reihe einzelner Stellen hier Platz finden, denn auf alle Einzelheiten eingehen, hiesse die ganze Abhandlung wiederholen: "Der Beginn alles baukünstlerischen Schaffens ist die Composition. Ein Recept für eine baukünstlerische Composition gibt es bekanntlich nicht. - Ein guter, grosser Gedanke ist noch, bevor der Stift in Tätigkeit tritt, zu fassen und reiflich zu erwägen. Ob sich derselbe blitzartig zeigt oder langsam klärt, ob er des Durchdenkens und des Ausfeilens im Geiste werth ist, ob er bei der ersten Fixirung als Treffer oder Niete erscheint, ob er wieder und immer wieder neu gefasst werden muss, ist gleichviel. - Das praktische Element, mit welchem die Menschheit heute durchtränkt ist, lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und jeder Künstler wird sich endlich zu dem Satze bequemen müssen: Etwas  U n p r a k t i s c h e s  k a n n  n i e  s c h ö n  s e i n."  Das ganze Capitel über die Composition enthält eine solche Fülle beherzigenswerther Winke und Rathschläge, dass sein eingehendstes Studium dem jungen Architekten nicht warm genug empfohlen werden kann. Wenn auch zugegeben werden muss - was die Gegenschrift hier vorwirft - dass dergleichen auch ältere Architekturlehrer, wie  S c h i n k e l,  S e m p e r,  H a n s e n,  ihre Schüler bereits gelehrt haben, so ist doch das hier Gebotene ganz und gar den Anschauungen und Erfordernissen der modernsten Zeit angepasst und eben darum von doppeltem Werthe.

DIE CONSTRUCTION
Als die Urkeime des künstlerischen Lebens stellt der Verfasser Bedürfniss und Zweck, Construction und Idealismus auf; beide vereint bilden die "Nothwendigkeit" und erklären so den Sinn des Satzes: "Artis sola domina necessitas" (Der Kunst einzige Herrin ist die Nothwendigkeit). Und zur Bekräftigung dieser Behauptung beruft sich unser Autor auf Gottfried  S e m p e r  ("wenn er auch später leider von dieser Wahrheit abging"). Diesen Gedanken ausbildend und verfolgend, kommt  W a g n e r  zu dem Schlusse:  "J e d e  B a u f o r m  i s t  a u s  d e r  C o n s t r u c t i o n  e n t s t a n d e n  u n d  s u c c e s s i v e  z u r  K u n s t f o r m  g e w o r d e n."  Wenn der Verfasser nun auch behauptet, dass dieser Grundsatz unerschütterlich ist, allen Analysen Stand hält und uns jede Kunstform erklärt, so dürfte dies doch durch alle Zeit- und Stil-Epochen hindurch schwer zu beweisen sein. Und wir werden im Verlaufe unserer Ausführungen sehen, wie sich gerade gegen diesen materialistischen Standpunkt  W a g n e r's  die Gegenschrift in erster Linie wendet und ihn heftig bekämpft. Verweilen wir aber vorerst beim Gedankengang  W a g n e r's,  den er an die vorhin erwähnte These anknüpft: Es ist also "immer ein constructiver Grund, der die Formen beeinflusst, und es kann daher mit Sicherheit gefolgert werden, dass neue Constructionen auch neue Formen gebären müssen". Aus den vielen völlig neuen Constructionen, welche unsere moderne Epoche aufzuweisen hat, folgert nun eine neue Formengebung und allmälig ein neuer Stil, wenn diese Entwicklung auch nur langsam und unmerklich vor sich geht. Der Architekt hat daher die Aufgabe, "immer aus der Construction die Kunstform zu entwickeln." Der grosse Werth der Construction für die Jetztzeit führte aber zur Trennung und Theilung der einzelnen Arbeiten auf diesem Gebiete, und der Ingenieur nimmt nur auf die statische Berechnung, auf den Kostenpunkt, nicht aber auch auf die werdende Kunstform Rücksicht. Das ist nun nach unserem Autor ebenso verfehlt, wie wenn der Architekt bei Schaffung der Kunstform nicht von der Construction ausgeht: die Sprache des Ersteren werde unsympathisch, die des Letzteren unverständlich. Daher fordert  W a g n e r,  dass es dem Baukünstler mit der Zeit gelinge, seinen Einfluss auf das heute vom Ingenieur occupirte Gebiet zu erweitern. Dem werdenden Architekten wird aber das Studium der Construction auf das Eindringlichste an's Herz gelegt.


MODERNE ARCHITEKTUR
II.

DIE KUNSTPRAXIS

Den Begriff "Kunstpraxis", der im Verlaufe der früheren Capitel bereits des Oefteren erwähnt war, definirt Professor   W a g n e r  als  "e i n e  e r l e r n t e  U e b u n g  i n  d e r  F o r m e n g e b u n g".  "Sie wird sich bei Jedem, der eine lange Reihe von Jahren dem künstlerischen Berufe obliegt, einstellen." Ehe der Autor jedoch die diesbezüglichen Erfahrungssätze angibt, folgt eine Beantwortung der Frage: "Wie sind baukünstlerische Aufgaben graphisch darzustellen?" Das geringe Interesse, welches architektonischen Schöpfungen, so lange sie am Papiere stehen, entgegengebracht wird, kommt nach Wagners Ansicht nicht nur daher, dass es dem Beschauer an Lust fehlt, sich in das Project zu vertiefen, sondern auch daher, dass der Entwurf häufig in nüchterner, den Anforderungen modernen Geschmackes nicht entsprechender Weise dargestellt wird. Professor Wagner findet dabei jede sogenannte flotte Manier für ganz verwerflich, da es immer Aufgabe des Baukünstlers bleiben muss, seine Gedanken möglichst klar, scharf, rein, zielbewusst und überzeugungsvoll zu Papier zu bringen. Da nun durch die Zeichnung Künftiges, nicht Bestehendes dargestellt werden soll, sei die Anfertigung eines möglichst täuschenden Zukunftsbildes als Fehler zu bezeichnen. "Näher liegend, richtiger und daher natürlicher ist es, durch eine, sagen wir secessionistische, mit Symbolen geschmückte Darstellung das Werk, Interesse erweckend und mit Gedanken erfüllt, dem Beschauer vor das Auge zu führen. Der Künstler hat dabei Gelegenheit, immer bei der Wahrheit bleibend, Phantasie, Geschmack und sein Wollen zu zeigen, den Beschauer anzuregen und zu fesseln." Nachdem Wagner noch auf die Anregungen hingewiesen, welche englische, deutsche und französische Kunstzeitschriften in dieser Richtung geben, kann er aber nicht umhin, vor dem Zuviel dieser "Arznei" zu warnen. "Natürlich wird er (der Architekt) sich nur solcher Darstellungsweisen zu bedienen haben, von welchen bei geringem Zeitaufwande die grösste Wirkung erhofft werden kann, und welche eine leichte und schöne Reproduction nicht ausschliessen. Durch Anwendung beigezeichneter Randleisten, Aufschriften, einzelner Details etc. kann selbst die harmloseste orthogonale Projection in ein sehenswerthes Kunstwerk verwandelt werden." -  W a g n e r's  Schule hat sich diese Lehren wohl auch sehr zu Herzen genommen, und thatsächlich ist die glänzende zeichnerische Vortragskunst einer der bemerkenswerthesten Erfolge dieser Schule. Vom eigentlichen Thema der Kunstpraxis will der Autor nun einzelne wichtige Momente hervorheben, welche besonders die moderne Architektur tangiren. Und da verweilt er vorerst bei der modernsten der modernen Aufgaben der Baukunst, beim  S t ä d t e b a u,  der Frage der Städteregulirung. Es kann nun aber nicht behauptet werden, dass der Verfasser hier besonders Neues bringt. Wir erinnern uns, die meisten der hier vorgetragenen Ansichten sowohl in den Werken  S i t t e's  und  S t ü b b e n's,  sowie zum Theile auch in dem Erläuterungsberichte  W a g n e r's  zu seinem Concurrenzprojecte für die Regulirung Wiens ("Artis sola domina necessitas") gelesen zu haben. Auf alle die Punkte des interessanten Themas, die der Verfasser hier berührt, einzugehen, verbietet die beabsichtigte Gedrängtheit dieser Besprechung, manchen könnte wohl widersprochen werden, manche aber werden immer den vollen Beifall des kunstliebenden Lesers finden. So, um nur ein Beispiel hervorzuheben, die Anregung, auf unseren modern dimensionirten Strassen und Plätzen Monumentalbrunnen anzubringen, welche sich in Form und Grösse leichter dem Platzbilde anpassen lassen als ein Denkmal, wobei auch das erfrischende und belebende Moment, welches durch sie dem Stadtbilde verliehen wird, nicht übersehen werden darf. Sehr beherzigenswerth sind Wagner's Ansichten und Worte über den  ö k o n o m i s c h e n  E i n f l u s s  a u f  d i e  K u n s t :  Es habe den Anschein, dass das Wirken der Kunst erst dort beginne, wo Ueberfluss und Reichthum vorhanden sind. Dies ist gewiss unrichtig, denn selbst das Einfachste kann ohne Kostenerhöhung künstlerisch durchgebildet werden. -  "E s  d a r f  n i e  v e r g e s s e n  w e r d e n,  d a s s  d i e  K u n s t  e i n e s  L a n d e s  n i c h t  a l l e i n  d e r  W e r t h m e s s e r  s e i n e s  W o h l s t a n d e s,  s o n d e r n  v o r  A l l e m  a u c h  s e i n e r  I n t e l l i g e n z  i s t."

Im weiteren Verlaufe dieses Capitels führt der Autor aus, dass in der Aussenerscheinung unserer Bauten sich vielfach noch Unsicherheit zeigt, während die Innenarchitektur und die Kunstindustrie bereits ein weit vorgeschritteneres Können zeigen, welches den modernen Tendenzen weit mehr Rechnung trägt. - "Langsam und ernst schreitet die Kunst fort und gebärt schöpferisch und beständig, bis sie jenes Schönheitsideal erreicht haben wird, das ganz der Epoche entspricht." Mit einem warmen Appell an die Künstler, nie von der Kunst abzulassen, sie stets zu begleiten, wenn der Pfad auch dornig sei, schliesst das Capitel ab: "Wurzelt die Baukunst nicht im Leben, in den Bedürfnissen der Menschheit, so wird sie das Unmittelbare, Belebende, Erfrischende verlieren und auf das Niveau des mühseligen Abwägens herabsinken, sie wird eben aufhören, eine Kunst zu sein.  S t e t s  m u s s  s i c h  d e r  K ü n s t l er  v o r  A u g e n  h a l t e n,  d a s s  d i e  K u n s t  f ü r  d i e  M e n s c h e n  z u  w i r k e n  b e r u f e n  i s t  u n d  n i c h t  d i e  M e n s c h h e i t  d e r  K u n s t  h a l b e r  d a  i s t." Im "Schlusswort" fasst Professor Wagner das in der ganzen Schrift Gesagte noch einmal kurz zusammen; er sagt, dass die Baukünstler, welche dem in seiner Schrift angedeuteten Ziele zustreben, das sein werden, was die Architekten aller Epochen waren, Kinder ihrer Zeit; er wünscht, dass die Schrift wirken möge zum Heile der Kunst und der Künstler, "damit wir in nicht zu ferner Zeit unser Schönheitsideal verkörpert sehen - das Erahnte, Erhoffte - DIE MODERNE ARCHITEKTUR." Mit vollem kräftigen Tone setzt die  G e g e n s c h r i f t*)  ein. Der Standpunkt der unbekannten Autoren erhellt sofort aus dem Motto, das aus Semper's Stil (I. Band) gewählt ist, gleichsam um Wagner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen:  "V e r n i c h t u n g  der Realität, des  S t o f f l i c h e n,  ist nöthig, wo die Form als bedeutungsvolles Symbol, als selbständige Schöpfung des Menschen hervortreten soll . . . Dahin leitete das unverdorbene Gefühl bei allen früheren Kunstversuchen die Naturmenschen, dahin kehrten die grossen  w a h r e n  M e i s t e r  der Kunst in allen Fächern derselben zurück."
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*)  "M o d e r n e  A r c h i t e k t u r  -  P r o f e s s o r  O t t o  W a g n e r  -  u n d  d i e  W a h r h e i t  ü b e r  B e i d e."  Wien 1897, Verlagsbuchhandlung  S p i e l h a g  e n  &  S c h u r i c h.


Es wird nicht verkannt, dass "gegenwärtig viel junges, manches versprechendes Talent sich um die Fahne der "Moderne" schaart; der Moderne in allen Gebieten, auch in der Architektur. - Es darf und soll aber auch nicht verkannt werden, dass gegenwärtig in Wien nur ein solcher Sammelpunkt für die Baukunst besteht, und das ist die Schule Professor Otto Wagner's. Wie viel zu diesem vorläufigen Erfolge die Neuheit der Lehre beiträgt, mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben; genug daran: An Talenten fehlt es nicht, die dereinst berufen sein könnten, den verblassenden Glanz der Wiener Baukunst wieder aufleuchten zu lassen." Doch sehen die Autoren in  W a g n e r's  Schrift eine "nicht ungefährliche Tendenzschrift, die geeignet scheint, Verwirrung in den ruhigen Fortschritt moderner Kunstentwicklung zu tragen und um eben deswillen bekämpft werden muss. Die Gefahr derartiger Producte besteht immer darin, dass die unreife Jugend sich ihnen auf Gnad' und Ungnad' gefangen gibt, ihre beste Zeit und Kraft an ihre Realisirung verwendet und verschwendet und leider nur zu spät erst einsieht, dass der Liebe Müh' vergeblich war. Wenn dergleichen dann noch obendrein von sozusagen autoritativer Stelle aus in die Welt gesetzt wird, wenn, durch die Gunst der äusserlichen Verhältnisse bedungen, ein jugendlicher Kreis sich um die Fahne des falschen Propheten schaart, dann ist natürlich die Gefahr  d o p p e l t  drohend." Und um diese "drohende Gefahr" abzuwenden, wendet sich die Schrift in erster Linie gegen die Hauptlehre Wagner's im Capitel über die Construction. Zuerst wird der Nachweis erbracht, dass die Berufung  S e m p e r  auf bei Wagner eine sehr unglückliche ist, da Semper immer mit der ganzen Macht des ihm zu Gebote stehenden Wissens gegen die Doctrin des architektonischen Materialismus angekämpft hat; so sagt er von den Materialisten, dass sie "die Idee zu sehr an den Stoff geschmiedet haben durch Annahme des  u n r i c h t i g e n  Grundsatzes, es sei die architektonische Formenwelt ausschliesslich aus  s t o f f l i c h e n,  c o n s t r u c t i v e n  B e d i n g u n g e n  hervorgegangen und liesse sich nur aus diesen weiterbilden; da doch vielmehr der Stoff der Idee dienstbar und keineswegs für das sinnliche Hervortreten der letzteren in der Erscheinungswelt allein massgebend ist". (Der Stil I.) Des Weiteren legt die Schrift dar, wie gerade das specifische Kennzeichen der allerjüngsten Kunstbewegung die kräftige Reaction gegen den Materialismus ist. "Durch ein volles halbes Jahrhundert lag die Geisteswelt in den Fesseln dieser Weltauffassung. Heute, in unseren Tagen endlich, schickt sie sich an, diese unwürdige Knechtschaft abzuschütteln. Auf allen Geistesgebieten regt sich's in diesem Sinne. Wissenschaft, Kunst und praktische Lebensführung reichen sich einig die Hände. In der Wissenschaft gelangt wieder die Philosophie zum Worte, nachdem die Naturwissenschaft als trockene Empirie ihren Primat allmälig einzubüssen beginnt. Die praktische Lebensführung, die sich nur zu behaglich in der Richtung des wirthschaftlichen Materialismus, des sogenannten Manchesterthums, bewegte, ist in Umkehr zu Besserem begriffen. Ethische Lebenswerthe gelangen auch im Wirthschaftsleben allgemach wieder zu Ansehen oder doch Anerkennung. Die Kunst endlich vollends hat die Phase des sogenannten Realismus, der nichts anderes als Materialismus ist, fast überwunden, und wenn, was uns an seinerstatt heute geboten wird, auch vielfach noch von den Schlaken des Unfertigen, des Werdenden entstellt ist; wenn auf dramatischem Gebiete nicht minder als auf malerischem uns die Schaar der Mystiker, Symboliker und Secessionisten aller Art auch mit manchem Befremdlichen, ja Verfehlten entgegentritt: Eines kennzeichnet doch diese ganze neue Richtung, adelt sie und erhebt sie über das Niveau der ihr voraufgehenden Kunstweise, d. i. ihr Streben nach intellectuellem Werthe, ihre antimaterialistische, antirealistische Tendenz. - Und in eben dieser Zeit schickt sich nun ein angeblich berufener Verfechter der "modernen Architektur" an, diese Kunst aufs Neue und - wenn es nach seinem Sinne ginge - für alle Zukunft ins Joch des Materialismus zu spannen! Aber dazu kommt noch ein Anderes: Dasjenige, was man in der Baukunst unter Construction versteht und was besonders der Fachmann darunter in ästhetischem Sinne zu denken pflegt, ist in einem einzigen Kunststile zum "Principe" gemacht worden - in der Gothik. Aber auch die Gothik hat die Construktion lediglich im Gewölbebau in consequenter Weise ausgebildet. Dagegen hat die gesammte antike Baukunst, in ihren ursprünglichen Stilarten nicht minder als in ihren Abzweigungen und letzten Ausläufern bis in die Barocke, die Construction als ästhetisches Princip nicht anerkannt, ja nicht einmal gekannt. Ihr ist die Construction wohl nebst dem Zweck formbedingendes Element, nicht mehr und nicht minder, als dies aus dem stofflichen Wesen der Construction folgt; aber ihr ästhetisches Gehaben drängt so ganz und gar danach, dieses Element formal zu bezwingen, das eben hierin der eigentliche und scharfe Gegensatz zwischen antiker und gothischer Kunstweise erblickt werden muss."

Im Anschlusse hieran unterlassen es die Gegner Wagner's nicht, auf den Gegensatz hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, dass  W a g n e r  einerseits erklärter Feind der Gothik, anderseits Anhänger der "Construction" sei; ebenso wird auf den Widerspruch hingewiesen zwischen Wagner's theoretischen Ansichten und seiner eigenen künstlerischen Praxis: "Diese fusst nämlich - an sich gewiss kein Nachtheil - gänzlich auf antiker Basis, ist also im innersten Wesen nichts weniger als "constructiv" empfunden." Weist man daher der Construction die ihr gebührende coordinirte Stellung neben der ästhetisch-formellen Gestaltungskraft der Baukunst an, so kommt man zu dem Resultate, "dass die Construction weder bisher die Fesseln des historisch Gewordenen, dessen, was man recht eigentlich Stil nennt, zu sprengen vermochte, und noch viel weniger vermag sie für sich allein jemals ein erschöpfendes Gestaltungsprincip, das noch ein künstlerisches wäre, abzugeben. Ja, unsere gesammten Ingenieurconstructionen, unsere Eisenbrücken und Tunnels, selbst vielleicht die "Maschine an sich" sind kraft dieses Gestaltungsprincips allein entstanden; aber sie sind um eben deswillen alles, nur keine Kunstwerke. Und eben weil solcherart gerade in unseren Tagen, mit ihrem hochentwickelten absolut-technischen Bauwesen, eine sozusagen absolut-constructive Formensprache sich bis zur Vollkommenheit entwickelt hat, eben deswegen sind wir auch im Stande, mit grösserer Sicherheit als irgend eine Zeit vor uns, weil a posteriori, zu erkennen, dass dergleichen mit der Kunst unmittelbar gar nichts gemein hat, dass die Kunst nach wie vor auf das allmälig Gewordene als auf einen unveräusserlichen Schatz, gleichsam eine lange Ahnenreihe, zurückzublicken hat, dass sie mit nichten "demokratischer", sondern so recht eigentlich und im guten Sinne "aristokratischer" Gesinnung ist." All den anderen Entgegnungen auf die im Werke Wagner's aufgestellten Theorien zu folgen, würde - so interessant es auch wäre - viel zu weit führen. Die Einwände gegen Wagner's Ansichten des "modernen Lebens", gegen seine Ansichten über den Werth der vorangegangenen Kunstepochen, sowie die mitunter scharfen Ausfälle gegen Wagners Individualität zeichnen sich nicht nur durch glänzenden Stil aus, sondern lassen auch nebst dem Einflusse eines künstlerisch empfindenden Architekten die Feder eines scharf denkenden Schriftstellers vermuthen, der mit Kunstgeschichte und moderner Philosophie - bis herab zu Nietzsche - gleichmässig gründlich vertraut ist. Hervorheben wollen wir nur noch aus der Gegenschrift die Darlegung, "dass  W a g n e r  die moderne Baukunst in ihrem Werden und nicht als Gewordenes, dass er sie  p r o s p e c t i v e  und nicht retrospective (was eben zur Zeit noch ganz unmöglich ist) betrachtet und eben deswegen das ihr eigenthümliche, sie einstmals noch charakterisirende Wesen völlig verkennt oder vielmehr gar nicht erkennt, und so a priori sich ein übereiltes Urtheil anmasst, statt ruhig der Zeit zu überlassen, dereinst herauszufinden, was denn im Grunde der springende Punkt im Charakter der Baukunst des XIX. Jahrhunderts gewesen ist." Zum Schlusse sei noch kurz der Stellung erwähnt, die einerseits Wagner, anderseits die  G e g e n s c h r i f t  zur Titelfrage der Architekten einnehmen. Von der unleugbaren Thatsache ausgehend, dass man ein bedeutender Techniker sein kann, ohne auf den Titel Künstler Anspruch machen zu können, gelangt  W a g n e r  zu dem Schlusse, dass Staatsprüfungen nur dazu geeignet sind, festzustellen, ob der Candidat im Stande sei, technisch vollkommene Bauwerke herzustellen. "Ob diese Bauwerke aber auch Kunstwerke sind, darüber haben allein Künstler zu entscheiden." Daher empfiehlt Wagner den aus der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens hervorgegangenen Architektenclub als baukünstlerische Instanz; und er befürwortet auf das Wärmste, dass die massgebenden Factoren sich seiner Mithilfe bei Lösung aller wichtigen einschlägigen Fragen bedienen.

D i e  G e g e n s c h r i f t  nun wendet sich - die Staatsaufsicht in dieser Hinsicht ebenfalls als unzulänglich erkennend - gegen diese "Errichtung einer Art genossenschaftlicher Vehme, deren ganz besondere Aufgabe es wäre, über die Collegen zu Gericht zu sitzen, darüber zu entscheiden, ob deren Werke künstlerisch vollwerthig sind oder nicht." Sie verweist darauf, wie der Architektenclub unter Bevormundung Professor Wagner's ins Leben gerufen wurde, und hält den Vorschlag auf Verzünftelung eines der höchsten und wichtigsten Berufszweige für einen Anachronismus, für unmodern. Zugegeben - aber wir finden mit Ausnahme dieser Negirung der Wagner'schen Idee keinen positiven Vorschlag zur Lösung dieser Frage in der Gegenschrift. Das Forum, welches den Künstler richtet, ist die Nachwelt; seine echten Werke bleiben, wie die Natur selbst, ewig ,jung und kräftig. Denn sie gehören keiner Zeitepoche, sondern der Menschheit an: und nimmt das gerade herrschende Zeitalter auch Werke, die nur äusserlich den Stempel des führenden Geistes tragen, mit lautem Beifall auf, so werden diese, sowie die herrschenden Begriffe, auf denen sie wurzeln, sich geändert haben, in die ihnen gebührende Linie zurückgestellt. Und zu ,jeder Zeit und in ,jeder Kunst vertritt Manier nur zu oft die Stelle des ursprünglichen Geistes, der stets nur bei Auserwählten ist: die Manier aber ist das alte abgelegte Kleid der zuletzt dagewesenen und erkannten Erscheinung des Geistes. Und wer will nun vortreten und Richter sein über die Begriffe seines Zeitalters und über seine Zeitgenossen?