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Autor: Weber, Max
In: Die Stadt - Erstabdruck im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), (1921) - 47. Band, S. 621 ff.
 
Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte)
 
§ 1.     BEGRIFF UND KATEGORIEN DER STADT

Eine "Stadt" kann man in sehr verschiedener Art zu definieren versuchen. Allen [Definitionen] gemeinsam ist nur: daß sie jedenfalls eine (mindestens relativ) geschlossene Siedlung, eine "Ortschaft" ist, nicht eine oder mehrere einzeln liegende Behausungen. Im Gegenteil pflegen in den Städten (aber freilich nicht nur in ihnen) die Häuser besonders dicht, heute in der Regel Wand an Wand zu stehen. Die übliche Vorstellung verbindet nun mit dem Wort "Stadt" darüber hinaus rein  q u a n t i t a t i v e  Merkmale: sie ist eine  g r o ß e  Ortschaft. Das Merkmal ist nicht an sich unpräzis. Es würde, soziologisch angesehen, bedeuten: eine Ortschaft, also eine Siedlung in dicht aneinandergrenzenden Häusern, welche eine so umfangreiche zusammenhängende Ansiedlung darstellen, daß sie sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander  f e h l t . Dann wären nur ziemlich große Ortschaften Städte, und es hängt von den allgemeinen Kulturbedingungen ab, bei welcher Größe etwa dies Merkmal beginnt. Für diejenigen Ortschaften, welche in der Vergangenheit den  R e c h t s charakter von Städten hatten, traf dieses Merkmal bei weitem nicht immer zu. Und es gibt im heutigen Rußland "Dörfer", welche, mit vielen Tausenden von Einwohnern, weit größer sind als manche alten "Städte" (z. B. im polnischen Siedlungsgebiet des deutschen Ostens), welche etwa nur einige Hundert zählten. Die Größe allein kann jedenfalls nicht entscheiden. Versucht man, die Stadt rein ökonomisch zu definieren, so wäre sie eine Ansiedlung, deren Insassen zum überwiegenden Teil von dem Ertrag nicht landwirtschaftlichen, sondern gewerblichen oder händlerischen Erwerbs leben. Aber es wäre nicht zweckmäßig, alle Ortschaften dieser Art "Städte" zu nennen. Jene Art von Ansiedlungen, welche aus Sippenangehörigen mit einem einzelnen faktisch erblichen Gewerbebetrieb bestehen - die "Gewerbedörfer" Asiens und Rußlands -, wird man nicht unter den Begriff "Stadt" bringen wollen. Als weiteres Merkmal wäre das einer gewissen "Vielseitigkeit" der betriebenen Gewerbe hinzuzufügen. Aber auch dieses an sich scheint nicht geeignet, für sich allein ein entscheidendes Merkmal zu bilden. Die [Stadt] kann grundsätzlich in zweierlei Art begründet sein. Nämlich a) in dem Vorhandensein eines grundherrlichen, vor allem eines Fürstensitzes als Mittelpunkt, für dessen ökonomischen oder politischen Bedarf unter Produktionsspezialisierung gewerblich gearbeitet [wird] und Güter eingehandelt werden. Einen grundherrlichen oder fürstlichen Oikos aber mit einer noch so großen Ansiedlung fron- und abgabenpflichtiger Handwerker und Kleinhändler pflegt man nicht "Stadt" zu nennen, obwohl historisch ein sehr großer Bruchteil der wichtigsten "Städte" aus solchen Siedlungen hervorgegangen ist und die Produktion für einen Fürstenhof für sehr viele von ihnen (die "F ü r s t e n s t ä d t e") eine höchst wichtige, oft die vorzugsweise Erwerbsquelle der Ansiedler blieb. Das weitere Merkmal, welches hinzutreten muß, damit wir von "Stadt" sprechen, ist: [b)] das Bestehen eines nicht nur gelegentlichen, sondern regelmäßigen  G ü t e r a u s t a u s c h e s  am Ort der Siedlung als ein  w e s e n t l i c h e r  Bestandteil des Erwerbs und der Bedarfsdeckung der Siedler: eines  M a r k t e s. Nicht jeder "Markt" aber macht den Ort, wo er stattfindet, schon zur "Stadt". Die periodischen Messen und  F e r n handelsmärkte (Jahrmärkte), auf welchen sich zu festen Zeiten zureisende Händler zusammenfinden, um ihre Waren im großen oder im einzelnen untereinander oder an Konsumenten abzusetzen, hatten sehr oft in Orten ihre Stätte, welche wir "Dörfer" nennen. Wir wollen von "Stadt" im  ö k o n o m i s c h e n  Sinn erst da sprechen, wo die  o r t s a n s ä s s i g e  Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die  o r t s a n s ä s s i g e  und die Bevölkerung des nächsten Umlandes  f ü r  d e n  A b s a t z  auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat. Jede Stadt im hier gebrauchten Sinn des Wortes ist "Marktort", d. h. hat einen Lokal m a r k t  als ökonomischen Mittelpunkt der Ansiedlung, auf welchem, infolge einer bestehenden ökonomischen Produktionsspezialisierung, auch die nicht städtische Bevölkerung ihren Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen oder Handelsartikeln oder an beiden deckt, und auf welchem natürlich auch die Städter selbst die Spezialprodukte und den Konsumbedarf ihrer Wirtschaften gegenseitig aus- und eintauschen. Es ist ursprünglich durchaus das Normale, daß die Stadt, wo sie überhaupt als ein vom Lande unterschiedenes Gebilde auftritt, sowohl Grundherren- oder Fürstensitz wie Marktort ist, ökonomische Mittelpunkte beider Art - Oikos und Markt - nebeneinander besitzt, und es ist häufig, daß neben dem regelmäßigen Lokalmarkt Fernmärkte zureisender Händler im Ort periodisch stattfinden. Aber die Stadt (im hier gebrauchten Sinn des Worts) ist Markt a n s i e d l u n g.

Die Existenz des Markts beruht sehr oft auf einer Konzession und Schutzzusage des Grundherrn oder Fürsten, welcher einerseits an dem regelmäßigen Angebot fremder Handelsartikel und Gewerbeprodukte des Fernmarkts und an den Zöllen, Geleits- und anderen Schutzgeldern, Marktgebühren, Prozeßgefällen, die er einbringt; ein Interesse hat, außerdem aber an der lokalen Ansiedlung von steuerfähigen Gewerbetreibenden und Händlern und, sobald an dem Markt eine Marktansiedlung entsteht, auch an den dadurch erwachsenden Grundrenten zu verdienen hoffen darf, - Chancen, welche für ihn um so größere Bedeutung haben, als es sich hier um geldwirtschaftliche, seinen Edelmetallschatz vermehrende Einnahmen handelt. Daß einer Stadt die Anlehnung, auch die räumliche, an einen Grundherren- oder Fürstensitz völlig fehlt, daß sie entweder an einem geeigneten Umschlagsplatz kraft Konzession nicht ortsansässiger Grundherren oder Fürsten oder auch kraft eigener Usurpation der Interessenten als reine Marktansiedlung entsteht, kommt vor. Entweder so, daß einem Unternehmer eine Konzession gegeben wird, einen Markt anzulegen und Siedler zu gewinnen. Dies war im mittelalterlichen, und zwar speziell im ost-, nord- und mitteleuropäischen Städtegründungsgebiet etwas besonders häufiges und kam in der ganzen Welt und Geschichte vor, wenn es auch nicht das Normale war. Dagegen konnte die Stadt auch ohne alle Anlehnung an Fürstenhöfe oder Fürstenkonzessionen durch Zusammenschluß von fremden Eindringlingen, Seekriegsfahrern oder kaufmännischen Siedlern oder endlich auch von einheimischen Zwischenhandelsinteressenten entstehen, und dies ist an den Mittelmeerküsten im frühen Altertum und gelegentlich im frühen Mittelalter ziemlich häufig gewesen. Eine solche Stadt konnte dann reiner Marktort sein. Aber immerhin war noch häufiger: das Miteinander großer fürstlicher oder grundherrlicher Patrimonialhaushaltungen einerseits und eines Marktes andererseits. Der grundherrliche oder fürstliche Hofhalt als der eine Anlehnungspunkt der Stadt konnte dann seinen Bedarf entweder vornehmlich naturalwirtschaftlich, durch Fronden oder Naturaldienste oder Naturalabgaben der von ihm abhängenden ansässigen Handwerker oder Händler decken, oder er konnte auch seinerseits mehr oder minder vorwiegend durch Eintausch auf dem städtischen Markt, als dessen kaufkräftigster Kunde, sich versorgen. Je mehr das letztere geschieht, desto stärker trat die Marktbasis der Stadt in den Vordergrund, hörte die Stadt auf, ein bloßes Anhängsel, eine bloße Marktansiedlung neben dem Oikos zu sein, wurde sie also trotz der Anlehnung an die Großhaushalte eine Marktstadt: In aller Regel ist die quantitative Ausdehnung ursprünglicher Fürstenstädte und ihre ökonomische Bedeutsamkeit Hand in Hand gegangen mit einer Zunahme der Marktbedarfsdeckung des fürstlichen und der an ihn, als Höfe der Vasallen oder Großbeamten, angegliederten anderen städtischen Großhaushalte.

Dem Typus der Fürstenstadt, also einer solchen, deren Einwohner in ihren Erwerbschancen vorwiegend direkt oder indirekt von der Kaufkraft des fürstlichen und der anderen Großhaushalte abhängen, stehen solche Städte nahe, in welchen die Kaufkraft anderer Großkonsumenten, also: Rentner, ausschlaggebend die Erwerbschancen der ansässigen Gewerbetreibenden und Händler bestimmt. Diese Großkonsumenten können aber sehr verschiedenen Typus haben, je nach Art und Herkunft ihrer Einnahmen. Sie können 1. Beamte sein, die ihre legalen oder illegalen Einkünfte, oder 2. Grundherren und politische Machthaber, welche ihre außerstädtischen Grundrenten oder andere, speziell politisch bedingte, Einnahmen dort verausgaben. Beide Male steht die Stadt dem Typus der Fürstenstadt sehr nahe: sie ruht auf patrimonialen und politischen Einnahmen als Basis der Kaufkraft der Großkonsumenten (Beispiel: für die Beamtenstadt: Peking, für die Grundrentnerstadt: Moskau vor Aufhebung der Leibeigenschaft). Von diesen Fällen ist der scheinbar ähnliche Fall prinzipiell zu scheiden, daß  s t ä d t i s c h e   Grundrenten, die durch monopolistische "Verkehrslage" von Stadtgrundstücken bedingt sind, ihre Quelle also indirekt gerade in städtischem Gewerbe und Handel haben, in der Hand einer Stadtaristokratie zusammenfließen (zu allen Zeiten, speziell auch in der Antike, von der Frühzeit bis zu Byzanz und ebenso im Mittelalter verbreitet). Die Stadt ist dann ökonomisch nicht Rentnerstadt, sondern, je nachdem, Händler- oder Gewerbestadt, jene Renten [sind] Tribut der Erwerbenden an den Hausbesitz. Die begriffliche Scheidung dieses Falles von den nicht durch Tributpflicht des städtischen Erwerbs, sondern außerstädtisch bedingten Renten kann nicht hindern, daß in der Realität beides in der Vergangenheit sehr stark ineinander überging. Oder die Großkonsumenten können Rentner sein, welche geschäftliche Einnahmen, heute vor allem Wertpapierzinsen und Dividenden oder Tantiemen, dort verzehren: die Kaufkraft ruht dann hauptsächlich auf geldwirtschaftlich, vornehmlich kapitalistisch bedingten Rentenquellen (Beispiel: Arnhem). Oder sie ruht auf staatlichen Geldpensionen oder anderen Staatsrenten (etwa ein "Pensionopolis" wie Wiesbaden). In all diesen und zahlreichen ähnlichen Fällen ist die Stadt, je nachdem, mehr oder weniger,  K o n s u m e n t e n s t a d t. Denn für die Erwerbschancen ihrer Gewerbetreibenden und Händler ist die Ansässigkeit jener, untereinander ökonomisch verschieden gearteter, Großkonsumenten an Ort und Stelle ausschlaggebend.

Oder gerade umgekehrt: die Stadt ist  P r o d u z e n t e n s t a d t , das Anschwellen ihrer Bevölkerung und deren Kaufkraft beruht also darauf, daß - wie etwa in Essen oder Bochum - Fabriken, Manufakturen oder Heimarbeitsindustrien in ihnen ansässig sind, welche auswärtige Gebiete versorgen: der moderne Typus, oder daß in Form des Handwerks Gewerbe am Ort bestehen, deren Waren nach auswärts versandt werden: der asiatische, antike und mittelalterliche Typus. Die Konsumenten für den örtlichen Markt stellen teils, als Großkonsumenten, die Unternehmer - wenn sie, was nicht immer der Fall [ist], ortsansässig sind -, teils und namentlich, als Massenkonsumenten, die Arbeiter und Handwerker und, teilweise als Großkonsumenten, die durch sie indirekt gespeisten Händler und Grundrentenbezieher. Wie diese  G e w e r b e s t a d t , so stellt sich schließlich der Konsumentenstadt auch die  H ä n d l e r s t a d t  gegenüber, eine Stadt also, bei welcher die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf beruht, daß sie entweder fremde Produkte am örtlichen Markt mit Gewinn detaillieren (wie die Gewandschneider im Mittelalter) oder heimische oder doch (wie bei den Heringen der Hansa) von heimischen Produzenten gewonnene Waren mit Gewinn nach außen absetzen, oder fremde Produkte erwerben und mit oder ohne Stapelung am Orte selbst nach auswärts absetzen  (Zwischenhandelsstädte). Oder - und das ist natürlich sehr oft der Fall - daß sie alles dies kombinieren: die "Commenda" und "Societas maris" der Mittelmeerländer bedeuteten zum erheblichen Teil, daß ein "tractator" (reisender Kaufmann) mit dem von ortsansässigen Kapitalisten ganz oder teilweise ihm kommanditierten Kapital einheimische oder auf dem einheimischen Markt gekaufte Produkte nach den Märkten der Levante fuhr - oft genug dürfte er auch ganz in Ballast dorthin gefahren sein -, jene dort verkaufte, mit dem Erlös orientalische Waren kaufte und auf den heimischen Markt brachte, wo sie verkauft, der Erlös aber nach vereinbartem Schlüssel zwischen dem tractator und dem Kapitalisten geteilt wurde. Auch die Kaufkraft und Steuerkraft der Handelsstadt beruht also jedenfalls, wie bei der Produzentenstadt, und im Gegensatz zur Konsumentenstadt, auf ortsansässigen  E r w e r b s betrieben. An diejenigen der Händler lehnen sich die Speditions- und Transportgewerbe- und die zahlreichen sekundären Groß- und Kleinerwerbschancen an. Jedoch vollziehen sich bei ihr die Erwerbsgeschäfte, welche diese Betriebe konstituieren, nur beim örtlichen Detaillieren gänzlich am örtlichen Markt, beim Fernhandel dagegen zum erheblichen oder größeren Teil auswärts. Etwas prinzipiell Aehnliches bedeutet es, wenn eine moderne Stadt (London, Paris, Berlin) Sitz der nationalen oder internationalen Geldgeber und Großbanken oder (Düsseldorf) Sitz großer Aktiengesellschaften oder Kartellzentralen ist. Ueberwiegende Teile der Gewinne aus Betrieben fließen ja heute überhaupt, mehr denn je, an andere Orte als die, in denen der sie abwerfende Betrieb liegt. Und andererseits wieder werden stetig wachsende Teile von Gewinnen von den Bezugsberechtigten nicht an dem großstädtischen Ort ihres geschäftlichen Sitzes konsumiert, sondern auswärts, teils in Villenvororten, teils aber und noch mehr in ländlichen Villeggiaturen, internationalen Hotels usw. verzehrt. Parallel damit entstehen die nur oder doch fast nur aus Geschäftshäusern bestehenden "Citystädte" oder (und meist) Stadtbezirke. Es ist hier nicht die Absicht, eine weitere Spezialisierung und Kasuistik, wie sie eine streng ökonomische Städtetheorie zu leisten hätte, vorzuführen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die empirischen Städte fast durchweg Mischtypen darstellen und daher nur nach ihren jeweils vorwiegenden ökonomischen Komponenten klassifiziert werden können.

Die Beziehung der Städte zur  L a n d w i r t s c h a f t  war keineswegs eindeutig. Es gab und gibt "Ackerbürgerstädte", d. h. Orte, welche als Stätten des Marktverkehrs und Sitz der typischen städtischen Gewerbe sich von dem Durchschnitt der Dörfer weit entfernen, in denen aber eine breite Schicht ansässiger Bürger ihren Bedarf an Nahrungsmitteln eigenwirtschaftlich decken und sogar auch für den Absatz produzieren. Gewiß ist das Normale, daß die Stadteinwohner, je größer die Stadt ist, um so weniger über eins irgendwie im Verhältnis zu ihrem Nahrungsbedarf stehende und ihnen zur Nahrungsmittelproduktion vorbehaltene Ackerflur, meist auch: daß sie über keine hinlängliche, ihnen vorbehaltene Weide- und Waldnutzung zu verfügen pflegen, in der Art, wie ein "Dorf" sie besitzt. Der größten deutschen Stadt des Mittelalters: Köln, fehlte z. B. auch die bei keinem normalen damaligen Dorf fehlende "Allmende" fast gänzlich und offenbar von Anfang an. Allein andere deutsche und ausländische mittelalterliche Städte hatten zum mindesten beträchtliche Viehweiden und Waldungen, die ihren Bürgern als solchen zu Gebote standen. Und sehr große Ackerfluren als Zubehör des städtischen Weichbildes sind, und zwar in der Vergangenheit, je mehr wir nach Süden und rückwärts in die Antike gehen, desto mehr, vorgekommen. Wenn wir heute den typischen "Städter" im ganzen mit Recht als einen Menschen ansehen, der seinen eigenen Nahrungsmittelbedarf  n i c h t  auf eigenem Ackerboden deckt, so gilt für die Masse der typischen Städte (Pðleis) des Altertums ursprünglich geradezu das Gegenteil. Wir werden sehen, daß der antike Stadt b ü r g e r  vollen Rechts, im Gegensatz zum mittelalterlichen, ursprünglich geradezu dadurch charakterisiert war: daß er einen Kleros, fundus (in Israel: chelek), ein volles Ackerlos, welches ihn ernährte, sein eigen nannte: der antike Vollbürger ist "Ackerbürger".

Und erst recht fand sich landwirtschaftlicher Besitz in den Händen der Großhandelsschichten der Städte, sowohl des Mittelalters - auch hier freilich im Süden weit mehr als im Norden - wie der Antike. Landbesitz von  gelegentlich ganz exorbitanter Größe findet sich weithin zerstreut in den mittelalterlichen oder antiken Stadtstaaten, entweder von der Stadtobrigkeit mächtiger Städte als solcher politisch oder auch grundherrlich beherrscht oder im grundherrlichen Besitz einzelner vornehmer Stadtbürger: die chersonesische Herrschaft des Miltiades oder die politischen und grundherrlichen Besitzungen mittelalterlicher Stadtadelsfamilien, wie der genuesischen Grimaldi in der Provence und über See, sind Beispiele dafür. Indessen diese interlokalen Besitzungen und Herrschaftsrechte einzelner Stadt b ü r g e r  waren in aller Regel kein Gegenstand der städtischen Wirtschaftspolitik als solcher, obwohl ein eigentümliches Mischverhältnis überall da entsteht, wo der Sache nach jener Besitz den Einzelnen von der Stadt, zu deren mächtigsten Honoratioren sie gehörten, garantiert wird, er mit indirekter Hilfe der Stadtmacht erworben und behauptet, die Stadtherrschaft an seiner ökonomischen oder politischen Nutzung beteiligt ist, - wie dies in der Vergangenheit häufig war.

Die Art der Beziehung der Stadt als Träger des Gewerbes und Handels zum platten Land als Lieferanten der Nahrungsmittel bildet nur einen Teil eines Komplexes von Erscheinungen, welche man "Stadtwirtschaft" genannt und als eine besondere "Wirtschaftsstufe" der "Eigenwirtschaft" einerseits, der "Volkswirtschaft" andererseits (oder einer Mehrheit von in ähnlicher Art gebildeten Stufen) entgegengestellt hat. Bei diesem Begriff sind aber wirtschafts p o l i t i s c h e  Maßregeln mit rein wirtschaftlichen Kategorien in eins gedacht. Der Grund liegt darin, daß die bloße Tatsache des zusammengedrängten Wohnens von Händlern und Gewerbetreibenden und die regelmäßige Deckung von Alltagsbedürfnissen auf dem Markt  a l l e i n  den Begriff der "Stadt" nicht erschöpfen. Wo dies der Fall ist, wo also innerhalb der geschlossenen Siedlungen  n u r  das Maß der landwirtschaftlichen Eigenbedarfsdeckung oder - was damit nicht identisch ist - der landwirtschaftlichen Produktion im Verhältnis zum nicht landwirtschaftlichen Erwerb und das Fehlen und Bestehen von Märkten Unterschiede konstituiert, da werden wir von Gewerbe- und Händlerortschaften und von "Marktflecken" reden, aber nicht von einer "Stadt". Daß die Stadt nicht nur eine Anhäufung von Wohnstätten, sondern außerdem ein  W i r t s c h a f t s v e r b a n d  ist, mit eigenem Grundbesitz, Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft, unterscheidet sie ebenfalls noch nicht vom Dorf, welches das gleiche kennt, so groß der qualitative Unterschied sein kann. Endlich war es auch an sich nicht der Stadt eigentümlich, daß sie, in der Vergangenheit wenigstens, nicht nur Wirtschaftsverband, sondern auch wirtschafts r e g u l i e r e n d e r  Verband war. Denn auch das Dorf kennt Flurzwang, Weideregulierung, Verbot des Exports von Holz und Streu und ähnliche Wirtschaftsregulierungen: eine Wirtschafts p o l i t i k  des Verbandes als solche also. Eigentümlich war nur die in den Städten der Vergangenheit vorkommende Art und vor allem: die Gegenstände dieser wirtschaftspolitischen Regulierung von Verbands wegen und der Umfang von charakteristischen Maßregeln, welche sie umschloß. Diese "Stadtwirtschaftspolitik" nun rechnete allerdings in einem erheblichen Teil ihrer Maßnahmen mit der Tatsache, daß unter den Verkehrsbedingungen der Vergangenheit die Mehrzahl aller  B i n n e n städte - denn von den Seestädten galt das gleiche nicht, wie die Getreidepolitik von Athen und Rom beweisen - auf die Versorgung der Stadt durch die Landwirtschaft des unmittelbaren Umlandes angewiesen war, daß eben dies Gebiet der naturgemäße Absatzspielraum der Mehrzahl der städtischen Gewerbe - nicht etwa: aller - darstellte und daß der dadurch als naturgemäß gegebene lokale Austauschprozeß auf dem städtischen  M a r k t  nicht die einzige, aber eine seiner normalen Stätten fand, insbesondere für den Einkauf der Nahrungsmittel. Sie rechnete ferner damit, daß der weit überwiegende Teil der gewerblichen Produktion technisch als Handwerk, organisatorisch als spezialisierter kapitalloser oder kapitalschwacher Kleinbetrieb mit eng begrenzter Zahl der in längerer Lehrzeit geschulten Gehilfen, ökonomisch endlich entweder als Lohnwerk oder als preiswerkliche Kundenproduktion verlief und daß auch der Absatz der ortsansässigen Detaillisten in hohem Maße Kundenabsatz war. Die im spezifischen Sinn sogenannte "Stadtwirtschaftspolitik" nun war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sie im Interesse der Sicherung der Stetigkeit und Billigkeit der Massenernährung und der Stabilität der Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler diese damals in weitgehendem Maß naturgegebenen Bedingungen der stadtsässigen Wirtschaft durch Wirtschaftsregulierung zu fixieren suchte. Aber weder hat, wie wir sehen werden, diese Wirtschaftsregulierung den einzigen Gegenstand und Sinn städtischer Wirtschaftspolitik gebildet, noch hat sie da, wo wir sie geschichtlich finden, zu  a l l e n  Zeiten, sondern wenigstens in ihrer vollen Ausprägung nur in bestimmten Epochen: unter der politischen Zunftherrschaft, bestanden, noch endlich läßt sie sich schlechthin allgemein als Durchgangsstadium aller Städte nachweisen. In jedem Fall aber repräsentiert nicht diese Wirtschafts p o l i t i k  eine universelle Stufe der   W i r t s c h a f t. Sondern es läßt sich nur sagen: daß der städtische lokale   M a r k t  mit seinem Austausch zwischen landwirtschaftlichen und nicht landwirtschaftlichen Produzenten und ansässigen Händlern auf der Grundlage der Kundenbeziehung und des kapitallosen spezialisierten Kleinbetriebs eine Art von tauschwirtschaftlichem Gegenbild darstellt, gegen die auf planmäßig umgelegten Arbeits- und Abgabenleistungen spezialisierten abhängigen Wirtschaften, in Verbindung mit dem auf Kumulation und Kooperation von Arbeit im Herrenhof ruhenden, im Inneren tauschlosen   O i k o s , und daß die  R e g u l i e r u n g  der Tausch- und Produktionsverhältnisse in der Stadt das Gegenbild darstellt für die  O r g a n i s a t i o n  der Leistungen der im Oikos vereinigten Wirtschaften.

Dadurch, daß wir bei diesen Betrachtungen von einer "städtischen Wirtschaftspolitik", einem "Stadtgebiet", einer "Stadtobrigkeit" sprechen mußten, zeigt sich schon, daß der Begriff der "Stadt" noch in eine andere Reihe von Begriffen eingegliedert werden kann und muß, als in die bisher allein besprochenen ökonomischen Kategorien: in die  p o l i t i s c h e n. Träger der städtischen Wirtschaftspolitik kann zwar auch ein Fürst sein, zu dessen politischem Herrschaftsgebiet die Stadt mit ihren Einwohnern als Objekt gehört. Dann wird Stadtwirtschafts p o l i t i k , wenn überhaupt, nur  f ü r  die Stadt und ihre Einwohner, nicht  v o n  ihr getrieben. Aber das muß nicht der Fall sein. Und auch wenn es der Fall ist, muß dabei dennoch die Stadt als ein in irgendeinem Umfang autonomer Verband: eine "Gemeinde" mit besonderen politischen und Verwaltungseinrichtungen in Betracht kommen.

Festzuhalten ist jedenfalls: daß man den bisher erörterten  ö k o n o m i s c h e n  von dem  p o l i t i s c h - a d m i n i s t r a t i v e n  Begriff der Stadt durchaus scheiden muß. Nur im letzteren Sinn gehört zu ihr ein besonderes Stadt g e b i e t. - Im politisch-administrativen Sinn kann dabei eine Ortschaft als Stadt gelten, welche diesen Namen ökonomisch nicht beanspruchen könnte. Es gab im Mittelalter im Rechtssinn "Städte", deren Insassen zu 9/10 oder mehr, jedenfalls aber zu einem weit größeren Bruchteile als sehr viele im Rechtssinn als "Dörfer" geltende Orte" nur von eigener Landwirtschaft lebten. Der Uebergang von einer solchen "Ackerbürgerstadt" zur Konsumenten-, Produzenten- oder Handelsstadt ist natürlich völlig flüssig. Nur pflegt allerdings in jeder, vom Dorf administrativ unterschiedenen und als "Stadt" behandelten Ansiedlung ein Punkt: die Art der Regelung der Grundbesitzverhältnisse, sich von der ländlichen Grundbesitzverfassung zu unterscheiden. Bei den Städten im ökonomischen Sinn des Worts ist dies durch die besondere Art von Rentabilitätsgrundlage bedingt, welche städtischer Grundbesitz darbietet: Hausbesitz also, bei dem das sonstige Land nur Zubehör ist. Administrativ aber hängt die Sonderstellung des städtischen Grundbesitzes vor allem mit abweichenden  B e s t e u e r u n g s grundsätzen, meist aber zugleich mit einem für den politisch-administrativen Begriff der Stadt entscheidenden Merkmal zusammen, welches ganz jenseits einer rein ökonomischen Analyse steht: daß die Stadt im Sinn der Vergangenheit, der Antike wie des Mittelalters, innerhalb wie außerhalb Europas, eine besondere Art von  F e s t u n g  und  G a r n i s o n o r t  war. Der Gegenwart ist dieses Merkmal der Stadt gänzlich abhanden gekommen. Aber auch in der Vergangenheit bestand es nicht überall. In Japan z. B. in aller Regel nicht. Administrativ gesprochen kann man infolgedessen aber auch mit Rathgen bezweifeln, ob es dort überhaupt "Städte" gab. In China umgekehrt war jede Stadt mit riesigen Mauergürteln umgeben. Aber dort scheinen auch sehr viele ökonomisch rein ländliche Ortschaften, die auch administrativ nicht Stadt, d. h. (wie später zu erwähnen) in China: nicht Sitz staatlicher Behörden sind, von jeher Mauern besessen zu haben. In manchen Mittelmeergebieten, z. B. Sizilien, ist ein außerhalb der städtischen Mauern wohnender Mensch, also auch ein landsässiger Landarbeiter, so gut wie unbekannt gewesen: eine Folge von jahrhundertelanger Unsicherheit. In Althellas glänzte umgekehrt die Polis Sparta durch ihre Mauerlosigkeit" für welche aber andererseits das Merkmal: "Garnisonort" zu sein, in spezifischem Sinn zutraf: deshalb gerade, weil sie das ständige offene Kriegslager der Spartiaten war, verschmähte sie die Mauern. Wenn man noch immer streitet, wie lange Athen mauerlos gewesen sei, so enthielt es doch in der Akropolis, wie außer Sparta wohl alle Hellenenstädte, eine Felsenburg, ganz ebenso wie die Orte Ekbatana und Persepolis königliche Burgen mit sich daran anlehnenden Ansiedlungen waren. Normalerweise gehört jedenfalls zur orientalischen wie zur antik-mittelländischen Stadt und ebenso zum normalen mittelalterlichen Stadtbegriff die Burg oder Mauer.

Die Stadt war weder die einzige noch die älteste Festung. Im umstrittenen Grenzgebiet oder bei chronischem Kriegszustand befestigt sich jedes Dorf. So haben die Slavensiedlungen, deren nationale Form schon früh das Straßendorf gewesen zu sein scheint, offenbar unter dem Druck der ständigen Kriegsgefahr im Elbe- und Odergebiet die Form des heckenumzogenen Rundlings mit nur einem verschließbaren Eingang angenommen, durch welchen nachts das Vieh in die Mitte getrieben wurde. Oder man hat jene überall in der Welt, im israelitischen Ostjordanland wie in Deutschland, verbreiteten Höhenumwallungen angelegt, in welche Waffenlose sich und das Vieh flüchteten. Die sog. "Städte" Heinrichs I. im deutschen Osten waren lediglich systematische Befestigungen dieser Art. In England gehörte zu jeder Grafschaft in angelsächsischer Zeit eine "burh" (borough), nach der sie ihren Namen führte und hafteten die Wacht- und Garnisondienste als älteste spezifisch "bürgerliche" Last an bestimmten Personen und Grundstücken. Falls sie nicht in normalen Zeiten ganz leer lagen, sondern Wächter oder Burgmannen als ständige Garnison gegen Lohn oder Land erhielten, führen von diesem Zustand gleitende Uebergänge zur angelsächsischen burh, einer "Garnisonstadt" im Sinne der Maitlandschen Theorie, mit "burgenses" als Einwohnern, deren Name hier wie sonst davon herrührt, daß ihre politische Rechtsstellung, ebenso wie die damit zusammenhängende rechtliche Natur ihres - also des spezifisch bürgerlichen - Grund- und Hausbesitzes durch die Pflicht der Erhaltung und Bewachung der Befestigung determiniert war. Historisch sind aber in aller Regel nicht pallisadierte Dörfer oder Notbefestigungen die wichtigsten Vorläufer der Stadtfestung, sondern etwas anderes. Nämlich : die  h e r r s c h a f t l i c h e  B u r g , eine Festung, die von einem Herrn mit den entweder ihm als Beamten unterstellten oder ihm persönlich als Gefolge zugehörenden Kriegern, zusammen mit seiner und deren Familien und dem zugehörigen Gesinde, bewohnt wurde.

Der militärische Burgenbau ist sehr alt, zweifellos älter als der Kriegswagen und auch als die militärische Benutzung des Pferdes. Wie der Kriegswagen überall einmal, im Altchina der klassischen Lieder, im Indien der Veden, in Aegypten und Mesopotamien, in dem Kanaan, dem Israel des Deboralieds, in der Zeit der homerischen Epen, bei den Etruskern und Kelten und bei den Iren die Entwicklung der ritterlichen und königlichen Kriegführung bestimmt hat, so ist auch der Burgenbau und das Burgfürstentum universell verbreitet gewesen. Die altägyptischen Quellen kennen die Burg und den Burgkommandanten, und es darf als sicher gelten, daß die Burgen ursprünglich ebensoviele Kleinfürsten beherbergten. In Mesopotamien geht der Entwicklung der späteren Landeskönigtümer, nach den ältesten Urkunden zu schließen, ein burgsässiges Fürstentum voraus, wie es im westlichen Indien in der Zeit der Veden bestand, in Iran in der Zeit der ältesten Gâthâs wahrscheinlich ist, während der politischen Zersplitterung in Nordindien, am Ganges, offenbar universell herrschte: - der alte Kshatriya, den die Quellen als eine eigentümliche Mittelfigur zwischen König und Adligen zeigen, ist offenbar ein Burgfürst. In der Zeit der Christianisierung bestand es in Rußland, in Syrien in der Zeit der Thutmosedynastie und in der israelitischen Bundeszeit (Abimelech), und auch die altchinesische Literatur läßt es als ursprünglich sehr sicher vermuten. Die hellenischen und kleinasiatischen Seeburgen bestanden sicherlich universell, soweit der Seeraub reichte: es muß eine zwischenzeit besonders tiefer Befriedung gewesen sein, welche die kretischen befestigungslosen Paläste an Stelle der Burgen erstehen ließ. Burgen wie das im peloponnesischen Kriege wichtige Dekéleia waren einst Festungen adliger Geschlechter. Nicht minder beginnt die mittelalterliche Entwicklung des politisch selbständigen Herrenstandes mit den "castelli" in Italien, die Selbständigkeit der Vasallen in Nordeuropa mit ihren massenhaften Burgenbauten, deren grundlegende Wichtigkeit durch die Feststellung von Belows erläutert wird: noch in der Neuzeit hing die individuelle Landstandschaft in Deutschland daran, daß die Familie eine Burg besaß, sei es auch eine noch so dürftige Ruine einer solchen. Die Verfügung über die Burg bedeutete eben militärische Beherrschung des Landes, und es fragte sich nur: wer sie in der Hand hatte, ob der einzelne Burgherr für sich selbst, oder eine Konföderation von Rittern, oder ein Herrscher, der sich auf die Zuverlässigkeit seines darin sitzenden Lehensmannes oder Ministerialen oder Offiziers verlassen durfte.

Die Festungsstadt nun, in dem ersten Stadium ihrer Entwicklung zu einem  p o l i t i s c h e n  Sondergebilde, war oder enthielt in sich oder lehnte sich an eine Burg, die Festung eines Königs oder adligen Herrn oder eines Verbandes von solchen, der oder die entweder selbst dort residierten oder eine Garnison von Söldnern oder Vasallen oder Dienstleuten dort hielten. Im angelsächsischen England war das Recht, ein "haw", ein befestigtes Haus, in einer "burh" zu besitzen, ein Recht, welches durch Privileg bestimmten Grundbesitzern des Umlandes verliehen war, wie in der Antike und im mittelalterlichen Italien das Stadthaus des Adligen neben seiner ländlichen Burg stand. Dem militärischen Stadtherrn sind die Inwohner oder Anwohner der Burg, seien es alle oder bestimmte Schichten, als Bürger (burgenses) zu bestimmt militärischen Leistungen, vor allem zu Bau und Reparatur der Mauern, Wachtdienst und Verteidigung, zuweilen auch noch zu anderen militärisch wichtigen Diensten (Botendienst z. B.) oder Lieferungen verpflichtet. Weil und soweit er am Wehrverband der Stadt teilnimmt, ist in diesem letzteren Fall der Bürger Mitglied seines Standes. Besonders deutlich hat dies Maitland für England herausgearbeitet: die Häuser der "burh" sind - das bildet den Gegensatz gegen das Dorf - im Besitz von Leuten, denen vor allem andern die Pflicht obliegt, die Befestigung zu unterhalten. Neben dem königlich oder herrschaftlich garantierten Marktfrieden, der dem Markt der Stadt zukommt, steht der militärische Burgfrieden. Die befriedete Burg und der militärisch-politische Markt der Stadt: Exerzierplatz und Versammlungsort des Heeres und deshalb der Bürgerversammlung auf der einen Seite, und andererseits der befriedete ökonomische Markt der Stadt, stehen oft in plastischem Dualismus nebeneinander. Nicht überall örtlich geschieden. So war die attische "pnyx" weit jünger als die "agorá", welche ursprünglich sowohl dem ökonomischen Verkehr wie den politischen und religiösen Akten diente. Aber in Rom stehen seit alters comitium und campus Martius neben den ökonomischen fora, im Mittelalter die Piazza del Campo in Siena (Turnierplatz und heute noch Stätte des Wettrennens der Stadtviertel) auf der vorderen, neben dem Mercato auf der hinteren Seite des Munizipalpalastes, und analog in islâmischen Städten die Kasba, das befestigte Lager der Kriegerschaft, örtlich gesondert neben dem Bazar, im südlichen Indien die (politische) Notabelnstadt neben der ökonomischen Stadt. Die Frage der Beziehung zwischen der Garnison, der politischen Festungsbürgerschaft einerseits, und der ökonomischen, bürgerlich erwerbenden Bevölkerung andererseits, ist nun eine oft höchst komplizierte, immer aber  e n t s c h e i d e n d  wichtige Grundfrage der städtischen Verfassungsgeschichte. Daß, wo eine Burg ist, auch Handwerker für die Deckung der Bedürfnisse des Herrenhaushalts und der Kriegerschaft sich ansiedeln oder angesiedelt werden, daß die Konsumkraft eines kriegerischen Hofhalts und der Schutz, den er gewährt, die Händler anlockt, daß andererseits der Herr selbst ein Interesse an der Heranziehung dieser Klassen hat, weil er dann in der Lage ist, sich Geldeinnahmen zu verschaffen, entweder indem er den Handel und das Gewerbe besteuert oder indem er durch Kapitalvorschuß daran teilnimmt oder den Handel auf eigene Rechnung betreibt oder gar monopolisiert, daß er ferner von Küstenburgen aus als Schiffsbesitzer oder als Beherrscher des Hafens am gewaltsamen und friedlichen Seegewinn sich Anteil schaffen kann, ist klar. Ebenso sind seine im Ort ansässigen Gefolgen und Vasallen dazu in der Lage, wenn er es ihnen freiwillig oder, weil er auf ihre Gutwilligkeit angewiesen ist, gezwungen gestattet. In althellenischen Städten, wie in Kyréne, finden wir auf Vasen den König dem Abwägen von Waren (Silphion) assistieren; in Aegypten steht am Beginn der historischen Nachrichten die Handelsflotte des unterägyptischen Pharao. Weit über die Erde verbreitet, namentlich, wenn auch nicht ganz ausschließlich, in Küstenorten (nicht nur: in "Städten"), wo der Zwischenhandel besonders leicht kontrolliert werden konnte, war nun der Vorgang: daß neben dem Monopol des Häuptlings oder Burgfürsten das Interesse der am Ort ansässigen Kriegergeschlechter an eigener Teilnahme am Handelsgewinn und ihre Macht, sich eine solche zu sichern, wuchs und das Monopol des Fürsten (wenn es bestanden hatte) sprengte. Geschah dies, dann pflegte überall der Fürst nur noch als primus inter pares zu gelten oder schließlich gänzlich in den gleichberechtigten Kreis der in irgendeiner Form, sei es nur mit Kapital, im Mittelalter besonders mit Kommendakapital, am friedlichen Handel, sei es mit ihrer Person am Seeraub und Seekrieg sich beteiligenden, mit Grundbesitz ansässigen Stadtsippen eingegliedert, oft nur kurzfristig gewählt, jedenfalls in seiner Macht einschneidend beschränkt zu werden. Ein Vorgang, der sich ganz ebenso in den antiken Küstenstädten seit der homerischen Zeit, bei dem bekannten allmählichen Uebergang zur Jahresmagistratur, wie ganz ähnlich mehrfach im frühen Mittelalter vollzogen hat: so namentlich in Venedig gegenüber dem Dogentum und - nur mit sehr verschiedenen Frontstellungen, je nachdem ein königlicher Graf oder Vicomte oder ein Bischof oder wer sonst Stadtherr war - auch in anderen typischen Handelsstädten. Dabei sind nun die städtischen kapitalistischen Handelsinteressenten, die Geldgeber des Handels, die spezifischen Honoratioren der Stadt in der Frühzeit der Antike wie des Mittelalters, prinzipiell von den ansässigen oder ansässig gewordenen Trägern des Handels-"Betriebs", den eigentlichen Händlern, zu sondern, so oft natürlich beide Schichten ineinander übergingen. Doch greifen wir damit schon späteren Erörterungen vor.

Im Binnenlande können Anfangs- oder End- oder Kreuzungspunkte von Fluß- oder Karawanenstraßen (wie z. B. Babylon) Standorte ähnlicher Entwicklungen werden. Eine Konkurrenz macht dem weltlichen Burg- und Stadtfürsten dabei zuweilen der Tempelpriester und der priesterliche Stadtherr. Denn die Tempelbezirke weithin bekannter Götter bieten dem interethnischen, also politisch ungeschützten Handel sakralen Schutz, und an sie kann sich daher eine stadtartige Ansiedlung anlehnen, welche ökonomisch durch die Tempeleinnahmen ähnlich gespeist wird wie die Fürstenstadt durch die Tribute an den Fürsten. Ob und wieweit nun das Interesse des Fürsten an Geldeinnahmen durch die Erteilung von Privilegien für Gewerbetreibende und Händler, welche einem vom Herrenhof  u n a b h ä n g i g e n , vom Herrn besteuerten, Erwerbe nachgingen, überwog, oder ob umgekehrt sein Interesse an der Deckung seines Bedarfs durch möglichst  e i g e n e   Arbeitskräfte und an der Monopolisierung des Handels in eigener Hand stärker war und welcher Art im ersten Fall jene Privilegien waren, lag im Einzelfall sehr verschieden: bei der Heranziehung Fremder durch solche Privilegien hatte der Herr ja auch auf die Interessen und die für ihn selbst wichtige ökonomische Prästationsfähigkeit der schon ansässigen, von ihm politisch oder grundherrlich Abhängigen in sehr verschiedenem Sinn und Grade Rücksicht zu nehmen. Zu allen diesen Verschiedenheiten der möglichen Entwicklung trat aber noch die sehr verschiedene  p o l i t i s c h - m i l i t ä r i s c h e  Struktur desjenigen Herrschaftsverbandes, innerhalb dessen die Stadtgründung oder Stadtentwicklung sich vollzog. Wir müssen die daraus folgenden Hauptgegensätze der Städteentwicklung betrachten.

Nicht jede "Stadt" im ökonomischen und nicht jede, im politisch-administrativen Sinn einem Sonderrecht der Einwohner unterstellte, Festung war eine "G e m e i n d e ". Eine Stadtgemeinde im vollen Sinn des Wortes hat als Massenerscheinung vielmehr nur der Okzident gekannt. Daneben ein Teil des vorderasiatischen Orients (Syrien und Phönizien, vielleicht Mesopotamien) und dieser nur zeitweise und sonst in Ansätzen. Denn dazu gehörte, daß es sich um Siedlungen mindestens relativ stark gewerblich-händlerischen Charakters handelte, auf welche folgende Merkmale zutrafen: 1. die Befestigung, - 2. der Markt, - 3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht, - 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren. Solche Rechte pflegten sich in der Vergangenheit durchweg in die Form von  s t ä n d i s c h e n  P r i v i l e g i e n  zu kleiden. Ein gesonderter Bürger  s t a n d  als ihr Träger war daher das Charakteristikum der Stadt im politischen Sinn. An diesem Maßstab in seinem vollen Umfang gemessen waren freilich auch die Städte des okzidentalen Mittelalters nur teilweise und diejenigen des 18. Jahrhunderts sogar nur zum ganz geringen Teil wirklich "Stadtgemeinden". Aber diejenigen Asiens waren es, vereinzelte mögliche Ausnahmen abgerechnet, soviel heute bekannt, überhaupt nicht oder nur in Ansätzen. Zwar Märkte hatten sie alle und Festungen waren sie ebenfalls. Die chinesischen großen Sitze des Gewerbes und Handels waren sämtlich, die kleinen meist, befestigt, im Gegensatz zu Japan. Die ägyptischen, vorderasiatischen, indischen Sitze von Handel und Gewerbe waren es ebenfalls. Gesonderte Gerichts b e z i r k e  waren die großen Handels- und Gewerbesitze jener Länder gleichfalls nicht selten. Sitz der Behörden der großen politischen Verbände waren sie in China, Aegypten, Vorderasien, Indien immer, - während gerade dies der charakteristische Typus der okzidentalen Städte des frühen Mittelalters namentlich im Norden  n i c h t  war. Ein besonderes, den Stadtbürgern  a l s  s o l c h e n  eignendes materielles oder Prozegrecht aber oder autonom von ihnen bestellte Gerichte waren den asiatischen Städten unbekannt. Sie kannten es nur insofern, als die Gilden und (in Indien) Kasten; welche tatsächlich vorzugsweise oder allein in einer Stadt ihren Sitz hatten, Träger von solchen Sonderrechtsbildungen und Sondergerichten waren. Aber dieser städtische Sitz jener Verbände war  r e c h t l i c h  zufällig. Unbekannt oder nur in Ansätzen bekannt war ihnen die autonome Verwaltung, vor allem aber - das ist das Wichtigste - der  V e r b a n d s charakter der Stadt und der Begriff des Stadtbürgers im Gegensatz zum Landmann. Auch dafür waren nur Ansätze vorhanden. Der chinesische Stadtinsasse gehörte rechtlich seiner Sippe und durch diese seinem Heimatdorf an, in welchem der Ahnentempel stand und zu dem er die Verbindung sorgfältig aufrechterhielt, ebenso wie der russische, in der Stadt erwerbende, Dorfgenosse rechtlich "Bauer" blieb. Der indische Stadtinsasse [war] außerdem: Mitglied seiner Kaste. Die Stadteinwohner waren freilich eventuell, und zwar der Regel nach, Mitglieder auch lokaler Berufsverbände, Gilden und Zünfte, spezifisch städtischen Sitzes. Sie gehörten schließlich als Mitglieder den Verwaltungsbezirken: Stadtvierteln, Straßenbezirken an, in welche die obrigkeitliche Polizei die Stadt zerlegte, und hatten innerhalb dieser bestimmte Pflichten und zuweilen auch Befugnisse. Der Stadt- oder Straßenbezirk konnte insbesondere leiturgisch im Wege der Friedensbürgschaft für die Sicherheit der Personen oder anderer polizeilicher Zwecke kollektiv haftbar gemacht werden. Aus diesem Grunde konnten sie zu Gemeinden mit gewählten Beamten oder mit erblichen Aeltesten zusammengeschlossen sein: so in Japan, wo über den Straßengerneinden mit ihrer Selbstverwaltung als höchste Instanz ein oder mehrere Zivilverwaltungskörper (Machi-Bugyo) standen. Ein Stadt b ü r g e r recht aber im Sinne der Antike und des Mittelalters gab es nicht, und ein Korporationscharakter der Stadt als solcher war unbekannt. Sie war freilich eventuell auch als Ganzes ein gesonderter Verwaltungsbezirk, so, wie dies auch im Merowinger- und Karolingerreiche der Fall war. Weit entfernt aber [davon], daß etwa, wie im mittelalterlichen und antiken Okzident, die Autonomie und die Beteiligung der Einwohner an den Angelegenheiten der lokalen Verwaltung in der Stadt, also in einem gewerblich-kommerziell gearteten, relativ großen Ort, stärker entwickelt gewesen wäre als auf dem Lande, traf vielmehr regelmäßig das gerade Umgekehrte zu. Auf dem Dorf war z. B. in China die Konföderation der Aeltesten in vielen Dingen fast allmächtig und insoweit also der Taotai auf die Kooperation mit ihnen faktisch angewiesen, obwohl das Recht davon nichts wußte. Die Dorfgemeinschaft Indiens und der russische Mir hatten höchst eingreifende Zuständigkeiten, die sie, der Tatsache nach, bis in die neueste Zeit, in Rußland bis zur Bürokratisierung unter Alexander III., so gut wie völlig autonom erledigten. In der ganzen vorderasiatischen Welt waren die "Aeltesten" (in Israel "sekenîm"), das heißt ursprünglich: die Sippenältesten, später: die Chefs der Honoratiorensippen, Vertreter und Verwalter der Ortschaften und des örtlichen Gerichtes. Davon war in der asiatischen Stadt, weil sie regelmäßig der Sitz der hohen Beamten oder Fürsten des Landes war, gar keine Rede; sie lag direkt unter den Augen ihrer Leibwachen. Sie war aber fürstliche  F e s t u n g   und wurde daher von fürstlichen Beamten (in Israel: sarîm) und Offizieren verwaltet, die auch die Gerichtsgewalt hatten. In Israel kann man den Dualismus der Beamten und Aeltesten in der Königszeit deutlich verfolgen. In dem bürokratischen Königreich siegte überall der königliche Beamte. Gewiß war er nicht allmächtig. Er mußte vielmehr mit der Stimmung der Bevölkerung in einem oft erstaunlichen Maß rechnen. Der chinesische Beamte vor allem war gegenüber den lokalen Verbänden: den Sippen und Berufsverbänden,  w e n n  sie sich im Einzelfalle zusammenschlossen, regelmäßig völlig machtlos und verlor bei jeder ernstlichen gemeinsamen Gegenwehr sein Amt. Obstruktion, Boykott, Ladenschließen und Arbeitsniederlegungen der Handwerker und Kaufleute im Fall konkreter Bedrückung waren schon alltäglich und setzten der Beamtenmacht Schranken. Aber diese waren völlig unbestimmter Art. Andererseits finden sich in China wie in Indien bestimmte Kompetenzen der  G i l d e n  oder anderer Berufsverbände oder doch die faktische Notwendigkeit für die Beamten, mit ihnen sich ins Einvernehmen zu setzen. Es kam vor, daß die Vorstände dieser Verbände weitgehende Zwangsgewalten auch gegen Dritte ausübten. Bei alledem aber handelt es sich - normalerweise - lediglich um Befugnisse oder faktische Macht einzelner bestimmter Verbände bei einzelnen bestimmten Fragen, die ihre konkreten Gruppeninteressen berühren. Nicht aber - normalerweise - existiert irgendein gemeinsamer Verband mit Vertretung einer Gemeinde der Stadt b ü r g e r  als solcher. Dieser Begriff fehlt eben gänzlich. Es fehlen vor allem spezifisch  s t ä n d i s c h e  Qualitäten der städtischen Bürger. Davon findet sich in China, Japan, Indien überhaupt nichts und [finden sich] Ansätze nur in Vorderasien.

In Japan war die ständische Gliederung rein feudal: die (berittenen) Samurai und [die] Kasi (unberittene Ministerialen) standen den Bauern (no) und den teilweise in Berufsverbänden zusammengeschlossenen Kaufleuten und Handwerkern gegenüber. Aber der Begriff "Bürgertum" fehlte ebenso wie der Begriff der "Stadtgemeinde". In China war in der Feudalzeit der Zustand der gleiche, seit der bürokratischen Herrschaft aber stand der examinierte Literat der verschiedenen Grade dem Illiteraten gegenüber, und daneben finden sich die mit ökonomischen Privilegien ausgestatteten Gilden der Kaufleute und Berufsverbände der Handwerker. Aber der Begriff Stadtgemeinde und Stadtbürgertum fehlte auch dort. "Selbstverwaltung" hatten in China wie in Japan wohl die Berufsverbände, nicht aber die Städte, sehr im Gegensatz zu den Dörfern. In China war die Stadt Festung und Amtssitz der kaiserlichen Behörden, in Japan gab es "Städte" in diesem Sinn überhaupt nicht. In Indien waren die Städte Königs- oder Amtssitze der königlichen Verwaltung, Festungen und Marktorte. Ebenso finden sich Gilden der Kaufleute und außerdem die in starkem Maße mit Berufsverbänden zusammenfallenden Kasten, beide mit sehr starker Autonomie, vor allem eigener Rechtssetzung und Justiz. Aber die erbliche Kastengliederung der indischen Gesellschaft mit ihrer rituellen Absonderung der Berufe gegeneinander, schließt die Entstehung eines "Bürgertums" ebenso aus wie die Entstehung einer "Stadtgemeinde". Es gab und gibt mehrere Händlerkasten und sehr viele Handwerkerkasten mit massenhaften Unterkasten. Aber weder konnte irgendeine Mehrheit von ihnen zusammengenommen dem okzidentalen Bürgerstand gleichgesetzt werden, noch konnten sie sich zu etwas der mittelalterlichen Zunftstadt Entsprechendem zusammenschließen, da die Kastenfremdheit jede Verbrüderung hemmte. Zwar in der Zeit der großen Erlösungsreligionen finden wir, daß die Gilden, mit ihren erblichen Schreschths (Aeltesten) an der Spitze, sich in vielen Städten zu einem Verband zusammenschließen, und es gibt als Rückstand von damals bis heute noch einige Städte (Ahmedâbâd) mit einem gemeinsamen städtischen Schreschth, dem okzidentalen Bürgermeister entsprechend, an der Spitze. Ebenso gab es in der Zeit vor den großen bürokratischen Königtümern einige Städte, die politisch autonom und von einem Patriziat regiert wurden, welches sich aus den Sippen, die Elefanten zum Heer stellten, rekrutierte. Aber das ist später so gut wie völlig verschwunden. Der Sieg der rituellen Kastenfremdheit sprengte den Gildenverband, und die königliche Bürokratie, mit den Brahmanen verbündet, fegte diese Ansätze, bis auf jene Reste in Nordwestindien, hinweg.

In der vorderasiatisch-ägyptischen Antike sind die Städte Festungen und königliche oder Amtssitze mit Marktprivilegien der Könige. Aber in der Zeit der Herrschaft der Großkönigreiche fehlt ihnen Autonomie, Gemeindeverfassung und ständisch privilegiertes Bürgertum. In Aegypten bestand im Mittleren Reich Amtsfeudalität, im Neuen Reich bürokratische Schreiberverwaltung. Die "Stadtprivilegien" waren Verleihungen an die feudalen oder präbendalen Inhaber der Amtsgewalt in den betreffenden Orten (wie die alten Bischofsprivilegien in Deutschland), nicht aber zugunsten einer autonomen Bürgerschaft. Wenigstens bisher sind nicht einmal Ansätze eines "Stadtpatriziats" nachweisbar. In Mesopotamien und Syrien, vor allem Phönizien, findet sich dagegen in der Frühzeit das typische Stadtkönigtum der See- und Karawanenhandelsplätze, teils geistlichen, teils aber (und meist) weltlichen Charakters, und dann die ebenso typische aufsteigende Macht patrizischer Geschlechter im "Stadthaus" ("bitu" in den Tell-el-Amarna-Tafeln) in der Zeit der Wagenkämpfe. Der kanaanäische Städtebund war eine Einung der wagenkämpfenden stadtsässigen Ritterschaft, welche die Bauern in Schuldknechtschaft und Klientel hält; wie in der Frühzeit der hellenischen Polis. Aehnlich offenbar in Mesopotamien, wo der "Patrizier", d. h. der grundbesitzende, ökonomisch wehrfähige Vollbürger vom Bauern geschieden ist, Immunitäten und Freiheiten der Hauptstädte vom König verbrieft sind. Aber mit steigender Macht des Militärkönigtums schwand das auch hier. Politisch autonome Städte, ein Bürgerstand wie im Okzident finden sich in Mesopotamien später so wenig wie städtisches Sonderrecht neben dem königlichen Gesetz. Nur die Phöniker behielten den Stadtstaat mit der Herrschaft des mit seinem Kapital am Handel beteiligten grundsässigen Patriziats. Die Münzen mit der Aera des 'am Sôr,' am Karthadast in Tyros und Karthago deuten schwerlich auf einen herrschenden "Demos", und sollte es doch der Fall sein, so aus später Zeit. In Israel wurde Juda ein Stadtstaat: aber die Sekenîm (Aeltesten), die in der Frühzeit als Häupter der patrizischen Sippen in den Städten die Verwaltung leiteten, traten unter der Königsherrschaft zurück; die Gibborîm (Ritter) wurden königliche Gefolgsleute und Soldaten, und gerade in den großen Städten regierten, im Gegensatz zum Lande, die königlichen Sarîm (Beamten). Erst nach dem Exil taucht die "Gemeinde" (kahal) oder "Genossenschaft" (cheber) auf konfessioneller Grundlage als Institution auf, aber unter der Herrschaft der Priestergeschlechter. Immerhin finden sich hier, am Mittelmeerrande und am Euphrat, erstmalig wirkliche Analogien der antiken Polis; etwa in dem Stadium, in welchem Rom sich zur Zeit der Rezeption der Gens Claudia befand. Immer herrscht ein stadtsässiges Patriziat, dessen Macht auf primär im Handel erworbenem und sekundär in Grundbesitz und persönlichen Schuldsklaven und in Sklaven angelegtem Geldvermögen, militärisch auf kriegerischer Ausbildung im Ritterkampf ruhte, oft untereinander in Fehde, dagegen interlokal verbreitet und verbündet, mit einem König als primus inter pares, oder mit Schôphetîm oder Sekenîm - wie der römische Adel mit Konsuln - an der Spitze und bedroht durch die Tyrannis von charismatischen Kriegshelden, welche sich auf geworbene Leibwachen (Abimelech, Jephthah, David) stützen. Dies Stadium ist vor der hellenistischen Zeit nirgends, oder doch nie dauernd, überschritten.

Es herrschte offenbar auch in den Städten der arabischen Küste zur Zeit Muhammeds und blieb in den islâmischen Städten bestehen, wo nicht, wie in den eigentlichen Großstaaten, die Autonomie der Städte und ihr Patriziat völlig vernichtet wurde. Sehr vielfach scheint freilich unter islâmischer Herrschaft der antik-orientalische Zustand fortbestanden zu haben. Es findet sich dann ein labiles Autonomieverhältnis der Stadtgeschlechter gegenüber den fürstlichen Beamten. Der auf Teilnahme an den städtischen Erwerbschancen ruhende, meist in Grundbesitz und Sklaven angelegte Reichtum der stadtsässigen Geschlechter war dabei Träger ihrer Machtstellung, mit welcher die Fürsten und ihre Beamten auch ohne alle formalrechtliche Anerkennung hier für die Durchführbarkeit ihrer Anordnungen oft ebenso rechnen mußten, wie der chinesische Taotai mit der Obstruktion der Sippenältesten der Dörfer und der Kaufmannskorporationen und anderer Berufsverbände der Städte. Die "Stadt" aber war dabei im allgemeinen keineswegs notwendig zu einem in irgendeinem Sinn selbständigen Verband zusammengeschlossen. Oft das Gegenteil. Nehmen wir ein Beispiel. Die arabischen Städte, etwa Mekka, zeigen noch im Mittelalter und bis an die Schwelle der Gegenwart das typische Bild einer Geschlechtersiedlung. Die Stadt Mekka war, wie Snouck Hurgronjes anschauliche Darstellung zeigt, umgeben von den "Bilâd": grundherrlichem, von Bauern, Klienten und im Schutzverhältnis stehenden Beduinen besetztem Bodenbesitz der einzelnen "Dèwî 's", der von 'Alî abstammenden hasanidischen und anderen adligen Sippen. Die Bilâd lagen im Gemenge. "Déwî" war jede Sippe, von der ein Ahn einmal "Scherîf" war. Der Scherîf seinerseits gehörte seit 1200 durchweg der 'alîdischen Familie Katâdas an, sollte nach dem offiziellen Recht vom Statthalter des Khalifen (der oft ein Unfreier, unter Hârûn ar-Raschîd einmal ein Berbersklave war) eingesetzt werden, wurde aber tatsächlich aus der qualifizierten Familie durch Wahl der in Mekka ansässigen Häupter der "Dèwî 's" bestimmt. Deshalb und weil der Wohnsitz in Mekka Gelegenheit zur Teilnahme an der Ausbeutung der Pilger bot, wohnten die Sippenhäupter (Emîre) in der Stadt. Zwischen ihnen bestanden jeweils "Verbindungen", d. h. Einverständnisse über die Wahrung des Friedens und den Teilungsschlüssel für jene Gewinnchancen. Aber diese Verbindungen waren jederzeit kündbar, und ihre Aufsagung bedeutete den Beginn der Fehde außerhalb wie innerhalb der Stadt, zu welcher sie sich ihrer Sklaventruppen dienten. Die jeweils Unterlegenen hatten die Stadt zu meiden, doch galt, infolge der trotzdem bestehenden Interessengemeinschaft der feindlichen Geschlechter gegenüber den Außenstehenden, die bei Strafe allgemeiner Empörung auch der eigenen Anhänger festgehaltene Courtoisie: die Güter und das Leben der Familien und die Klienten der Verbannten zu schonen. In der Stadt Mekka bestanden in der Neuzeit als offizielle Autoritäten: 1. nur auf dem Papier der von den Türken eingerichtete kollegiale Verwaltungsrat (Medschlis), - 2. als eine effektive Autorität: der türkische Gouverneur; er vertrat jetzt die Stelle des "Schutzherrn" (früher meist: der Herrscher von Aegypten), - 3. die 4 Qâdîs der orthodoxen Riten, stets vornehme Mekkaner, der vornehmste (schâfi'itische) jahrhundertelang aus einer Familie, vom Scherîf entweder ernannt oder vom Schutzherrn vorgeschlagen, - 4. der Scherîf, zugleich Haupt der städtischen Adelskorporation, - 5. die Zünfte, vor allem der Fremdenführer, daneben der Fleischer, Getreidehändler und anderer, - 6. die Stadtviertel mit ihren Aeltesten. Diese Autoritäten konkurrierten mannigfach miteinander ohne feste Kompetenzen. Eine klagende Prozeßpartei sucht sich die Autorität aus, welche ihr am günstigsten und deren Macht gegenüber dem Verklagten am durchgreifendsten schien. Der Statthalter konnte die Anrufung des mit ihm in allen Sachen, wo geistliches Recht involviert war, konkurrierenden Qâdî nicht hindern. Der Scherîf galt dem Einheimischen als die eigentliche Autorität; auf seine Gutwilligkeit war der Gouverneur speziell bei allem, was die Beduinen und die Pilgerkarawanen anging, schlechthin angewiesen, und die Korporation des Adels war hier wie in anderen arabischen Gebieten speziell in den Städten ausschlaggebend. Eine an okzidentale Verhältnisse erinnernde Entwicklung zeigt sich darin, daß im 9. Jahrhundert, beim Kampf der Tûlûniden und Schaffâriden in Mekka, die Stellungnahme der reichsten Zünfte: der Fleischer- und [der] Getreidehändlerzunft, ausschlaggebend wurde, während noch zu Muhammeds Zeit unbedingt nur die Stellungnahme der vornehmen quraischitischen Geschlechter militärisch und politisch in Betracht gekommen wäre. Aber ein Zunftregiment ist nie entstanden; die aus den Gewinnanteilen der stadtsässigen Geschlechter gespeisten Sklaventruppen haben jenen wohl immer wieder die ausschlaggebende Stellung gesichert, ähnlich wie auch im Okzident im Mittelalter die faktische Macht in den italienischen Städten immer wieder in die Hände der ritterlichen Geschlechter als der Träger der militärischen Macht zu gleiten die Tendenz hatte. Jeglicher, die Stadt zu einer korporativen Einheit zusammenschließende Verband fehlte in Mekka, und darin liegt der charakteristische Unterschied gegen die synoikisierten Poleis des Altertums sowohl wie gegen die "commune" schon des frühen italienischen Mittelalters. Aber im übrigen haben wir allen Anlaß, diese arabischen Zustände - wenn man die vorigen spezifisch islâmischen Züge fortläßt oder ins Christliche transponiert - als durchaus und für die Zeit  v o r  der Entstehung des Gemeindeverbandes als so gut wie völlig typisch auch für andere, speziell die okzidentalen Seehandelsstädte anzusehen.

Soweit die gesicherte Kenntnis asiatischer und orientalischer Siedlungen, welche ökonomischen Stadtcharakter trugen, reicht, war jedenfalls der normale Zustand der: daß nur die Geschlechtersippen und eventuell neben ihnen die Berufsverbände, nicht aber die Stadtbürgerschaften als solche, Träger eines Verbandshandelns sind. Natürlich sind die Uebergänge auch hier flüssige. Aber gerade die allergrößten, Hunderttausende und zuweilen Millionen von Einwohnern umfassenden, Siedlungszentren zeigen diese Erscheinung. Im mittelalterlichen byzantinischen Konstantinopel sind die Vertreter der  S t a d t v i e r t e l , die zugleich (wie noch in Siena die Pferderennen) die Zirkusrennen finanzierten, die Träger der Parteiungen: der  N i k a -Aufstand unter Justinian entstammte dieser lokalen Spaltung des Stadt. Auch in dem Konstantinopel des islâmischen Mittelalters - also bis in das 19. Jahrhundert - finden sich neben den rein militärischen Verbänden der Janitscharen und der  S i p a h i s  und den religiösen Organisationen der Ulemâs und der Derwîsche nur Kaufmannsgilden und -zünfte als Vertreter bürgerlicher Interessen, aber keine Stadtvertretung. Das war schon in dem spätbyzantinischen Alexandrien insofern ähnlich, als neben den konkurrierenden Gewalten des auf die sehr handfesten Mönche gestützten Patriarchen und des auf die kleine Garnison gestützten Statthalters offenbar nur Milizen der einzelnen Stadtviertel existierten, innerhalb derer die Zirkusparteien der rivalisierenden "Grünen" und "Blauen" die führenden Organisationen darstellten.


§ 2.     DIE STADT DES OKZIDENTS

Bodenrecht und persönliche Rechtslage S. 741. - Polisbildung durch Verbrüderung S. 744; - im Orient gehemmt durch Tabu- und sonstige magische Schranken der Sippenverfassung; Sprengung derselben als Voraussetzung der Verbrüderung S. 745. - Bedeutung der Sippe für die antike und mittelalterliche Stadt S. 746. - Schwurgemeinschaftliche Verbrüderung im Okzident. Rechtliche und politische Folgen S. 748. - Soziologischer Sinn der Stadteinung: a) die conjurationes in Italien S. 750; - b) Verbrüderungen im germanischen Norden S. 753; - c) Wehrhaftigkeit der Bürger zufolge der Militärverfassung als positive Grundlage der okzidentalen Städteentwicklung S. 756. Im auffallendsten Gegensatz namentlich zu den asiatischen Zuständen stand nun die Stadt des mittelalterlichen Okzidents, und zwar ganz speziell die Stadt des Gebiets nördlich der Alpen da, wo sie in idealtypischer Reinheit entwickelt war. Sie war ein Marktort, wie die asiatische und orientalische Stadt, Sitz von Handel und Gewerbe, wie jene, Festung wie jene. Kaufmannsgilden und Handwerkerzünfte fanden sich hier wie dort, und daß diese autonome Satzungen für ihre Mitglieder schufen, war durch die ganze Welt, nur gradweise verschieden, verbreitet. Ebenso enthielt die antike wie die mittelalterliche Stadt des Okzidents - in letzterer allerdings mit einigen später zu machenden Vorbehalten - in sich Fronhöfe und Sitze von Geschlechtern mit außerstädischem grundherrlichem und daneben oft mit großem städtischen Bodenbesitz, der aus den Erträgnissen der Teilnahme der Geschlechter an den städtischen Gewinnchancen der Stadt vergrößert wurde. Ebenso kannte die okzidentale Stadt des Mittelalters überwiegend Schutzherren und Beamte eines politischen Herrn, welche in ihren Mauern Befugnisse verschiedenen Umfangs ausübten. Ebenso wich hier, wie fast in der ganzen Welt, das Recht, welches für Hausgrundstücke galt, von dem des landwirtschaftlichen Bodens natürlich irgendwie ab. Aber wenigstens für die mittelalterliche Stadt des Okzidents war der  U n t e r s c h i e d  d e s  B o d e n r e c h t s  ein, von Uebergangserscheinungen abgesehen, kaum je fehlendes Essentiale: prinzipiell frei veräußerliches, ganz zinsfreies oder nur mit festem Zins belastetes vererbliches Bodeneigentum in der Stadt, in der mannigfachsten Weise grundherrliches oder der Dorf- oder Markgemeinde gegenüber oder nach beiden Richtungen gebundenes Bauernland draußen. Das war in Asien und in der Antike nicht in gleicher Regelmäßigkeit der Fall. Diesem immerhin nur relativen Gegensatz des Bodenrechts entsprach aber ein absoluter Gegensatz der persönlichen Rechtslage.

Ueberall, im frühen Mittelalter, [in] der Antike, dem vorderasiatischen und dem ferneren Osten war die Stadt eine durch Zuzug und Zusammenfluß von außen entstandene und, bei den sanitären Verhältnissen der Unterschichten, nur durch fortwährend neuen Zustrom vom Lande sich erhaltende Zusammensiedlung. Ueberall enthält sie daher Elemente gänzlich verschiedener ständischer Stellung. Examinierte Amtsanwärter und Mandarinen neben den als Banausen verachteten Illiteraten und den (wenigen) unreinen Berufen in Ostasien, alle Arten von Kasten in Indien, sippenmäßig organisierte Geschlechtergenossen neben landlosen Handwerkern in Vorderasien und der Antike, Freigelassene, Hörige und Sklaven neben adligen Grundherren und deren Hofbeamten und Dienstleuten, Ministerialen oder Soldkriegern, Priestern und Mönchen in der frühmittelalterlichen Stadt. Herrenhöfe aller Art konnten in der Stadt liegen, auch [konnte] das Stadtgebiet als Ganzes zur Grundherrschaft eines Herrn gehören, innerhalb der Stadt selbst Reparatur und Bewachung der Mauern einer Schicht von Burgmannen oder anderen durch Burglehen oder andere Rechte Privilegierten anvertraut sein. Die schärfsten ständischen Unterschiede gliederten namentlich die Stadtinsassen der mittelländischen Antike. In geringem Maße aber auch noch die des frühen Mittelalters und ebenso Rußlands bis an die Schwelle der Gegenwart, auch noch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft: der aus Dörfern stammende Stadtinsasse war dem Dorfe schollenpflichtig und konnte vom Mir durch Entziehung des Passes zur Rückkehr genötigt werden. Freilich weist die sonstige, außerstädtische, ständische Schichtung innerhalb der Stadt fast überall gewisse Modifikationen auf. In Indien so, daß die Entstehung bestimmter spezifisch städtischer Verrichtungen auch die Bildung von Kasten zur Folge haben mußte, welche also der Tatsache, wenn auch nicht dem Recht nach, den Städten spezifisch waren. In Vorderasien, der Antike, dem frühen Mittelalter und in Rußland vor der Leibeigenenbefreiung vor allem so: daß die breiten Schichten der stadtsässigen Unfreien oder Hörigen in der Stadt faktisch, wenn auch zunächst nicht rechtlich, ihrem Herrn nur einen Zins zahlten, im übrigen aber eine der Tatsache nach ökonomisch selbständige Kleinbürgerklasse darstellten bzw. diese mit den rechtlich freien Kleinbürgern gemeinsam bildeten. Der Umstand, daß die Stadt ein Markt war, mit relativ ständiger Gelegenheit, durch Handel oder Handwerk Geld zu verdienen, veranlaßte eben zahlreiche Herren, ihre Sklaven und Hörigen nicht im eigenen Haus oder Betrieb als Arbeitskräfte, sondern als Rentenfonds auszunützen, sie also als Handwerker oder Kleinhändler anzulernen und dann, eventuell (so in der Antike) mit Betriebsmitteln ausgestattet, gegen Leibzins in der Stadt dem Erwerb nachgehen zu lassen. Bei öffentlichen Bauten Athens finden wir daher Sklaven und Freie in der gleichen Akkordgruppe gegen Lohn engagiert. Freie und Unfreie, als Institoren des Herrn oder mit "merx peculiaris" faktisch ganz selbständig schaltende Kleinbürger, stehen im Gewerbe und Kleinhandel der Römerzeit nebeneinander, gehören den gleichen Mysteriengemeinden an. Die Chance, sich freikaufen zu können, steigerte die ökonomische Leistung speziell der unfreien Kleinbürger, und es ist daher kein Zufall, daß in der Antike und in Rußland gerade in den Händen von Freigelassenen sich ein großer Teil der ersten, durch rationalen Dauerbetrieb gewerblicher oder kommerzieller Art erworbenen Vermögen ansammelte. Die okzidentale Stadt war so schon in der Antike wie in Rußland ein   O r t  d e s  A u f s t i e g s  a u s  d e r  U n f r e i h e i t  i n  d i e  F r e i h e i t  durch das Mittel geldwirtschaftlichen Erwerbs. Noch wesentlich stärker nun gilt das gleiche für die mittelalterliche Stadt, zumal die Binnenstadt, und zwar je länger desto mehr. Denn hier verfolgte, im Unterschied von fast allen anderen uns bekannten Entwicklungen, die Bürgerschaft der Städte in aller Regel ganz bewußt eine darauf gerichtete Stände p o l i t i k. Bei reichlichem Erwerbsspielraum bestand in der Frühzeit dieser Städte ein gemeinsames Interesse ihrer Insassen an der Ausnutzung derselben zwecks Erweiterung der Absatz- und Erwerbschancen jedes Einzelnen durch Erleichterung des Zuzugs von außen und deshalb auch ein solidarisches Interesse daran, daß nicht jeder soeben in der Stadt wohlhabend gewordene Hörige von seinem Herrn - wie es von seiten schlesischer Adliger noch im 18., von russischen noch im 19. Jahrhundert mehrfach geschehen ist - etwa zu Hausknechts- oder Stalldiensten requiriert wurde, sei es auch nur, um so ein Loskaufgeld von ihm zu erpressen. Die Stadtbürgerschaft usurpierte daher - und dies war die eine große, der Sache nach  r e v o l u t i o n ä r e  Neuerung der mittelalterlich-okzidentalen gegenüber allen anderen Städten - die Durchbrechung des Herrenrechts. In den mittel- und nordeuropäischen Städten entstand der bekannte Grundsatz: "Stadtluft macht frei", - d. h. nach einer verschieden großen, stets aber relativ kurzen Frist verlor der Herr eines Sklaven oder Hörigen das Recht, ihn als Gewaltunterworfenen in Anspruch zu nehmen. Der Satz ist in sehr verschiedenem Grade durchgedrungen. Sehr oft mußten sich andererseits Städte zu dem Versprechen bequemen, Unfreie nicht aufzunehmen, und mit Engerwerden des Nahrungsspielraums ist diese Schranke ihnen auch oft willkommen gewesen. Allein als Regel setzte jener Grundsatz sich dennoch durch. Die ständischen Unterschiede schwanden also in der Stadt, wenigstens soweit sie Verschiedenheit von gewöhnlicher Freiheit und Unfreiheit bedeuteten. Andererseits entwickelte sich innerhalb zahlreicher, ursprünglich auf politischer Gleichstellung der Ansiedler untereinander und freier Wahl der Stadtbeamten ruhender Stadtansiedlungen im europäischen Norden vielfach eine Honoratiorenschicht: die ständische Differenzierung der kraft ihrer ökonomischen Unabhängigkeit und Macht die Aemter monopolisierenden Ratsgeschlechter gegen die anderen Bürger. Und ferner finden wir in zahlreichen, besonders südlichen, aber auch nördlichen reichen Städten (auch deutschen) von Anfang an - wie in der Antike - das Nebeneinander von "Reitern", Leuten, die einen Stall halten (einen "Rennstall" würden wir heute sagen, denn an die Turnierzwecke ist dabei gedacht), den "Constaffeln", als einem spezifischen Stadtadel, und den gemeinen Bürgern, also: in ständischer Scheidung. Dem aber steht nun eine andere Entwicklung gegenüber, welche die ständische Gemeinsamkeit der Stadtbürger als solcher, galten sie nun als Adel oder Nichtadel, gegenüber dem Adel außerhalb der Stadt steigerte. Mindestens in Nordeuropa wurde gegen Ende des Mittelalters die Adelsqualität des stadtsässigen, am Erwerb beteiligten und - was vor allem geltend gemacht wurde - mit den Zünften im Stadtregiment zusammensitzenden Patriziats von seiten des ritterlichen Landadels nicht mehr anerkannt, dem Patriziat also Turnier- und Stiftsfähigkeit, Konnubium und Lehensfähigkeit abgesprochen (die letztere in Deutschland mit den nur zeitweiligen Ausnahmen der privilegierten Reichsstadtbürger). Von diesen beiden Tendenzen: zu einer relativen ständischen Nivellierung und umgekehrt zu einer stärkeren Differenzierung in der Stadt, haben im allgemeinen die letzteren das Uebergewicht behalten. Am Ende des Mittelalters und bei Beginn der Neuzeit werden fast alle Städte, italienische, englische und französische ebenso wie deutsche, soweit sie nicht - wie in Italien - monarchische Stadtstaaten geworden waren, durch einen Ratspatriziat oder eine Bürgerkorporation beherrscht, welche nach außen exklusiv war, nach innen eine Honoratiorenherrschaft bedeutete, selbst dort, wo auf der Zeit des Zunftregiments die Pflicht für diese Honoratioren, formell einer Zunft zuzugehören, noch fortbestand.

Die Abschneidung der ständischen Zusammenhänge nach außen hin zum außerstädtischen Adel wurde nur in den Stadtkorporationen Nordeuropas ziemlich rein durchgeführt, während im Süden, zumal in Italien, umgekehrt mit aufsteigender Macht der Städte fast aller Adel stadtsässig wurde, wie wir dies wesentlich verstärkt auch in der Antike finden, wo die Stadt ja ursprünglich gerade als Sitz des Adels entstand. Antike und, in geringerem Maß, südeuropäisch-mittelalterliche Städte bilden hierin also gewissermaßen Uebergangsstadien von der asiatischen zur nordeuropäischen Stadt. Zu diesen Unterschieden tritt nun aber als entscheidend hinzu die Qualität der antiken sowohl wie der typischen mittelalterlichen Stadt als eines  a n s t a l t s m ä ß i g  v e r g e s e l l s c h a f t e t e n , mit besonderen und charakteristischen Organen ausgestatteten Verbandes von "Bürgern", welche in dieser ihrer Qualität einem nur ihnen zugänglichen  g e m e i n s a m e n  R e c h t   unterstehen, also ständische "Rechtsgenossen" sind. Diese Eigenschaft als einer ständisch gesonderten "Polis" oder "Commune" war, soviel bekannt, in allen anderen Rechtsgebieten, außer den mittelländischen und okzidentalen, nur in den Anfängen vorhanden. Am ehesten wohl noch in Mesopotamien, Phönizien und in Palästina in der Zeit der Kämpfe der israelitischen Eidgenossen mit dem kanaanäischen Stadtadel und vielleicht noch in manchen Seestädten anderer Gebiete und Zeiten. So existierte in den Städten der von Cruickshank und nach ihm von Post geschilderten Fanti-Neger der Goldküste ein "Rat" unter dem Vorsitz eines Stadtkönigs als primus inter pares, dessen Mitglieder 1. die "Kabossirs": die Häupter der durch Reichtum und ständische Lebensführung (Gastlichkeit und Aufwand) ausgezeichneten Geschlechter, 2. die gewählten Obmänner der als militärische Verbände mit Wahl der Obmänner und mit Aeltesten organisierten, gegeneinander ganz selbständigen, oft genug in Fehde miteinander liegenden Stadtviertel, 3. die erblichen Polizeiamtmänner (Pynine) der Stadtviertel bildeten, und in dessen Hand Gericht und Verwaltung lagen. Aehnliche Vorstufen der Polis- oder Communekonstitution dürften sich in Asien und Afrika mehrfach gefunden haben. Aber von einem ständischen "Stadtbürgerrecht" verlautet nichts.

Dagegen war die vollentwickelte antike und mittelalterliche Stadt vor allem ein als   V e r b r ü d e r u n g  konstituierter oder so gedeuteter Verband, dem daher auch das entsprechende religiöse Symbol: ein Verbandskult der Bürger als solcher, also ein Stadtgott oder Stadtheiliger, der für die Bürger als solche da ist, nicht zu fehlen pflegt. Ein solcher fehlt zwar auch in China nicht (oft ein apotheosierter Mandarin). Aber er behielt dort den Charakter eines Funktionsgottes im Pantheon. Der Verband der Stadtgemeinde im Okzident als solcher hatte ferner: B e s i t z , über den ihre Organe verfügten. Wenn dagegen der berühmte Streit der 'Alîden mit der Gemeinde über die "Gärten von Fadak" - der erste ökonomische Anlaß der Abspaltung der Schî 'a - ein Streit über Geschlechter- oder Gemeindeeigentum war, so war die "Gemeinde", in deren Namen die Vertreter der Kalifen jenen Grundbesitz in Anspruch nahmen, die religiöse Gemeinschaft des Islâm, nicht eine politische "Gemeinde" von Mekka, welche gar nicht existierte. Allmenden von städtischen Siedlungen mögen anderwärts ebenso existiert haben wie für Dorfgemeinden. Ebenso gab es spezifisch städtische Steuerquellen der Fürsten. Aber ein Finanzwesen einer Stadtgemeinde nach Art der antiken oder mittelalterlichen Stadt ist von anderwärts nicht bekannt, höchstens Ansätze dazu mag es gegeben haben.

Für die gemeinsamen Eigentümlichkeiten der mittelländischen Städte zum Unterschied von den asiatischen war zunächst und vor allem das Fehlen der magisch-animistischen Kasten- und Sippengebundenheit der freien Stadtinsassen mit ihren Tabuierungen grundlegend. In China war es die exogame und endophratrische Sippe, in Indien seit dem Siege der Patrimonialkönige und Brahmanen überdies noch die endogame und tabuistisch exklusive Kaste, welche jeglichen Zusammentritt zu einer, auf allgemeiner sakraler und bürgerlicher Rechtsgleichheit, Konnubium, Tischgemeinschaft, Solidarität nach außen, ruhenden Stadtbürgervergesellschaftung hinderten. Dies in Indien infolge des tabuistischen Kastenabschlusses noch weit stärker als in China, - wie denn,  a u c h   infolgedessen, Indien eine, rechtlich angesehen, zu 90% landsässige Bevölkerung gegenüber der immerhin weit größeren Bedeutung der Städte in China aufwies. Die Insassen einer indischen Stadt haben als solche gar keine Möglichkeit gemeinsamer Kultmahle, die chinesischen infolge ihrer Sippenorganisation und der alles überwiegenden Bedeutung des Ahnenkults keinen Anlaß dazu. Soweit, daß auch die private Speisegemeinschaft ganz ausgeschlossen ist, gehen allerdings nur tabuistisch gebundene Völker wie die Inder und (in weit begrenzterem Umfang) die Juden. Bei den Indern wirkt schon jeder Blick eines Kastenfremden in die Küche verunreinigend. Aber noch in der Antike waren die sakralen Handlungen der Sippe für Nichtsippengenossen ebenso schlechthin unzugänglich wie der chinesische Ahnenkult. Demgegenüber war schon für die antike Polis nach der Ueberlieferung eine Komponente des (realen oder fiktiven) Akts der "Zusammenhausung" (Synoikismós) der Ersatz der für die Kultmahle der eingemeindeten Verbände dienenden Einzelprytaneen durch das ursprünglich für jede Polis unentbehrliche Prytaneion der Stadt, des Symbols der Tischgemeinschaft der Stadtbürgersippen als Folge von deren Verbrüderung. Freilich lag der antiken Polis offiziell zunächst die Gliederung in Sippen und ihnen übergeordnete rein personale und oft (mindestens der Fiktion nach) auf Abstammungsgemeinschaft ruhende, je einen nach außen wiederum streng exklusiven Kultverband bildende Gemeinschaften zugrunde. Die antiken Städte waren in der, praktisch keineswegs bedeutungslosen, Anschauung ihrer Zugehörigen zunächst gewillkürte Vergesellschaftungen und Konförderationen von Personenverbänden teils primär sippenhaften, teils, wie wahrscheinlich die Phratrien, primär militärischen Charakters, die dann in den späteren Einteilungen der Städte nach verwaltungstechnischen Gesichtspunkten schematisiert wurden. Daher waren die Städte der Antike sakral exklusiv nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, gegen jeden, der keiner der konföderierten Sippen zugehörte: den Plebejer; und eben deshalb blieben sie eben immerhin doch auch in sich selbst in zunächst weitgehend exklusive Kultverbände gegliedert. In diesem Charakter als adlige Sippenkonföderationen glichen den antiken Städten noch ziemlich weitgehend auch die südeuropäschien Städte im frühen Mittelalter, vor allem Seestädte (aber nicht nur solche). Innerhalb ihrer Mauern hatte jede adlige Sippe ihre eigene Festung für sich oder auch, gemeinsam mit anderen, in welchem Fall deren Benutzung (wie in Siena) eingehend geregelt war, die Geschlechterfehden wüteten in der Stadt mindestens ebenso heftig wie draußen und manche der ältesten Stadteinteilungen (z. B, in "alberghi") waren vermutlich solche in feudale Machtbezirke. Dagegen fehlte - und dies war höchst wichtig - hier jeder noch in der Antike vorhandene Rest von  s a k r a l e r  Exklusivität der Sippen gegeneinander und nach außen: eine Folge des historisch denkwürdigen, von Paulus im Galaterbrief mit Recht in den Vordergrund gerückten Vorgangs in Antiochien, wo Petrus mit den unbeschnittenen Brüdern (rituelle) Speisegemeinschaft pflegte. Diese rituelle Exklusivität hatte sich schon in den antiken Städten bis zu völligem Schwinden abgeschwächt. Die sippenlose Plebs setzte die rituelle Gleichstellung im Prinzip durch. In den mittelalterlichen, zumal in den mittel- und nordeuropäischen Städten bestand diese Abschwächung von Anfang an und verloren die Sippen sehr bald alle Bedeutung als Konstituentien der Stadt. Diese wurde eine Konföderation der  e i n z e l n e n   Bürger (Hausväter), so daß auch die Einbezogenheit des Stadtbürgers in außerstädtische Gemeinschaften hier praktisch jede Bedeutung gegenüber der Stadtgemeinde einbüßte. Schon die antike Polis wurde so in der Vorstellung ihrer Bürger zunehmend eine anstaltsmäßige "G e m e i n d e". Endgültig entstand der "Gemeinde"-Begriff in der Antike im Gegensatz zum "Staat" allerdings erst durch ihre Eingliederung in den hellenistischen oder römischen Großstaat, welche ihr auf der anderen Seite die politische Selbständigkeit nahm. Die mittelalterliche Stadt dagegen war ein "commune" von Anfang ihres Bestehens an, einerlei, wieweit man sich dabei den Rechtsbegriff der "Korporation" als solchen sofort zu klarem Bewußtsein brachte.

Im Okzident fehlten eben die Tabuschranken des indisch-äquatorialen Gebiets und die totemistischen, ahnenkultischen und kastenmäßigen magischen Klammern der Sippenverbände, welche in Asien die Verbrüderung zu einer einheitlichen Körperschaft hemmten. Der konsequente Totemismus und die kasuistische Durchführung der Sippenexogamie sind gerade dort und sicherlich als ziemlich späte Produkte entstanden, wo es zu großen politisch-militärischen und vor allem städtischen Verbandsbildungen nie kam. Die antiken Religionen kennen höchstens Spuren davon, sei es nun als "Reste" oder auch als verkümmerte "Ansätze". Die Gründe dafür lassen sich, soweit sie nicht intern religiös waren, nur unbestimmt vermuten. Das überseeische Reislaufen und Seeräuberleben der Frühzeit, die militärischen Aventiuren und massenhaften binnenländischen und überseeischen Kolonialgründungen, welche unvermeidlich intime Dauerverbände zwischen Stamm- oder doch Sippenfremden stifteten, sprengten offenbar ebenso unvermeidlich die Festigkeit jener sippenexklusiven und magischen Bande. Und mochte man sie auch in der Antike überall, der Tradition gemäß, künstlich durch Einteilung der neugegründeten Gemeinden in gentilizische Verbände und Phratrien wieder herstellen, - nicht der Gentilverband, sondern der Militärverband der Polis war jetzt doch die grundlegende Einheit. Die jahrhundertelangen Wanderungen erobernder Kriegerverbände der Germanen vor und in der Völkerwanderungszeit, ihr Reislaufen und ihre Aventiurenzüge unter selbstgewählten Führern waren ebensoviele Hemmungen gegen das Aufkommen tabuistischer und totemistischer Bindungen. Mochte man auch bei ihnen die Siedlung, wie überliefert wird, tunlichst nach realen oder fiktiven Sippen vornehmen, - der Ding- und Militärverband der Hundertschaft, die Hufenverfassung als Grundlage der Lastenumlegung, später die Beziehung zum Fürsten: Gefolgschaft und Vasallentum, blieben das Entscheidende, nicht irgendwelche, vielleicht gerade infolge jener Umstände niemals zur Entwicklung gelangten, magischen Bande der Sippe. Und das Christentum, welches nun die Religion dieser in allen ihren Traditionen tief erschütterten Völker wurde und wohl gerade infolge der Schwäche oder des Fehlens der magischen und tabuistischen Schranken bei ihnen dazu werden konnte, entwertete und zerbrach alle solche Sippenbande in ihrer religiösen Bedeutsamkeit endgültig. Die oft recht bedeutende Rolle, welche die kirchliche Gemeinde bei der verwaltungstechnischen Einrichtung der mittelalterlichen Städte gespielt hat, ist nur eines von vielen Symptomen für das starke Mitspielen dieser, die Sippenbande auflösenden und dadurch für die Bildung der mittelalterlichen Stadt grundlegend wichtigen Eigenschaften der christlichen Religion. Der Islâm hat die Landsmannschaften der arabischen Stämme und die Sippenbande, wie die ganze Geschichte der inneren Konflikte des älteren Kalifats zeigt, nicht wirklich überwunden, weil er zunächst eine Religion eines erobernden, nach Stämmen und Sippen gegliederten Heeres blieb.

Machen wir uns die praktischen Unterschiede nochmals ganz klar. Die Stadt war zwar überall in der Welt in starkem Maß Zusammensiedlung von bisher Orts f r e m d e n. Der chinesische wie der mesopotamische und ägyptische und gelegentlich sogar noch der hellenistische Kriegsfürst legt die Stadt an und verlegt sie wieder, siedelt nicht nur darin an, wer sich ihm freiwillig bietet, sondern raubt nach Bedarf und Möglichkeit das Menschenmaterial zusammen. Am stärksten in Mesopotamien, wo die Zwangssiedler zunächst den Kanal zu graben haben, der die Entstehung der Stadt in der Wüste ermöglicht. Weil er dabei mit seinem Amtsapparat und seiner Beamtenverwaltung ihr absoluter Herr bleibt, entsteht entweder gar kein Gemeinde v e r b a n d  oder nur dürftige Ansätze eines solchen. Die Zusammengesiedelten bleiben oft konnubial getrennte Sonderstämme. Oder, wo dies nicht der Fall ist, bleiben die Zuzügler Mitglieder ihrer bisherigen Orts- und Sippenverbände. Nicht nur der chinesische Stadtinsasse gehörte normalerweise zu seiner ländlichen Heimatgemeinde, sondern auch breite Schichten der nicht hellenischen Bevölkerung des hellenistischen Orients, wie ja noch die neutestamentliche Legende die Geburt des Nazareners in Bethlehem damit motiviert, daß die Sippe des Vaters dort, in der deutschen Uebersetzung des Heliand gesprochen: ihr "Hantgemal" gehabt habe, also - meint die Legende - auch dort zu schätzen gewesen sei. Die Lage des in die russischen Städte zuwandernden Bauern war bis vor kurzem keine andere: sie behielten ihr Recht auf Land sowohl wie ihre Pflicht, auf Verlangen der Dorfgemeinde dort an den Lasten teilzunehmen, in ihrem Heimatort. Es entstand also kein Stadt b ü r g e r r e c h t , sondern nur ein Lasten- und Privilegienverband der jeweils Stadtsässigen. Auf Sippenverbänden ruhte auch der hebräische Synoikismós: die Rekonstituierung der Polis Jerusalem durch Esra und Nehemia läßt die Ueberlieferung sippschaftsweise, und zwar durch Zusammensiedlung von Delegationen jeder politisch vollberechtigten landsässigen Sippe erfolgen. Nur die sippenlose und politisch rechtlose Plebs wird nach Ortsangehörigkeit gegliedert. Auch in der antiken Polis war zwar der Einzelne Bürger, aber ursprünglich immerhin nur als Glied seiner Sippe. Jeder hellenische und römische Synoikismós und jede kolonisatorische Eroberung verlief in der Frühantike mindestens der Fiktion nach ähnlich wie die Neukonstituierung von Jerusalem, und selbst die Demokratie konnte an dem Schema der Zusammensetzung der Bürgerschaft durch Sippen (gentes), aus diesen zusammengesetzten Phratrien und durch diese gebildeten Phylen, lauter rein personalen kultischen Verbänden also, zunächst nicht rütteln, sondern diese tatsächlich vom gesippten Adel beherrschten Verbände nur durch indirekte Mittel politisch unschädlich zu machen suchen. Einen Kultmittelpunkt seiner Sippe ( gr1.JPG (1523 Byte)) mußte in Athen nachweisen können, wer amtsfähig für die legitimen Aemter sein wollte. Daß Städte durch Zusammensiedlung Einheimischer mit Stammfremden entstehen, wußte auch die römische Legende sehr gut; sie werden dann durch rituale Akte zu einer religiösen Gemeinde mit einem eigenen Gemeindeherd und einem Gott als Gemeindeheiligen auf der Burg verbrüdert, aber dabei in gentes, curiae (= Phratrien), tribus (= Phylen) gegliedert. Diese für jede antike Stadt ursprünglich selbstverständliche Zusammensetzung wurde sehr früh - wie schon die runden Zahlen der Verbände (aus 3, 30 oder 12 gebildet) zeigen - rein künstlich zum Zweck der Lastenumlegung hergestellt. Immerhin blieb die Zugehörigkeit Kennzeichen des zur Teilnahme am Kult und allen denjenigen Aemtern, welche der Qualifikation zum Verkehr mit den Göttern, in Rom der "auspicia", bedurften, berechtigten Vollbürgers. Sie war eben  r i t u e l l  unentbehrlich. Denn ein  l e g i t i m e r  Verband mußte auf der rituellen Grundlage der überlieferten, rituell gerichteten Verbandsformen: Sippe, Wehrverband (Phratrie), politischer Stammesverband (Phyle) beruhen oder dies doch fingieren. - Das war nun bei den mittelalterlichen Stadtgründungen namentlich des Nordens durchaus anders. Der Bürger trat wenigstens bei Neuschöpfungen als Einzelner in die Bürgerschaft ein. Als Einzelner schwur er den Bürgereid. Die persönliche Zugehörigkeit zum örtlichen Verband der Stadt, und nicht die Sippe oder der Stamm, garantierte ihm seine persönliche Rechtsstellung als Bürger. Die Stadtgründung schloß auch hier oft nicht nur ursprünglich orts-, sondern eventuell auch stammfremde Händler mit ein. Jedenfalls bei Neugründungen kraft Privilegs für Zuwanderer. - In geringem Maß natürlich bei der Umwandlung alter Ansiedlungen in Stadtgemeinden. Denn natürlich traten z. B. nicht etwa die in Köln erwähnten, aus dem ganzen Umkreis des Okzidents von Rom bis Polen stammenden Kaufleute in die dortige städtische Schwurgemeinschaft ein, deren Gründung vielmehr gerade von den einheimischen besitzenden Schichten ausging. Aber auch solche Einbürgerungen ganz Fremder kamen vor. Eine prinzipielle, den asiatischen Gastvolkverhältnissen entsprechende Sonderstellung innerhalb der mittelalterlichen Städte nahmen hier höchst charakteristischerweise nur die Juden ein. Denn obwohl z. B. in oberrheinischen Urkunden der Bischof hervorhebt, daß er "um des größeren Glanzes der Stadt willen" Juden herbeigerufen habe, und obwohl die Juden in den Kölner Schreinsurkunden als Grundbesitzer im Gemenge mit Christen auftraten, hinderte schon der dem Okzident fremde rituelle Ausschluß der konnubialen und die tatsächliche Behinderung der Tischgemeinschaft der Juden mit Nichtjuden, vor allem aber: das Fehlen der Abendmahlsgemeinschaft, die Verbrüderung. Auch die mittelalterliche Stadt war ein Kultverband. Die Stadtkirche, der Stadtheilige, die Teilnahme der Bürger am Abendmahl, die offiziellen kirchlichen Feiern der Stadt verstanden sich von selbst. Aber das Christentum hatte der  S i p p e  jegliche rituelle Bedeutung genommen. Die Christengemeinde war ihrem innersten Wesen nach ein konfessioneller Verband der gläubigen Einzelnen, nicht ein ritueller Verband von Sippen. Daher blieben die Juden von Anfang an außerhalb des Bürgerverbands. Wenn so auch die Stadt des Mittelalters des kultischen Bandes bedurfte und zu ihrer Konstituierung oft (vielleicht: immer) kirchliche Parochien gehörten, so war sie dennoch, wie die antike Stadt auch, eine weltliche Gründung. Nicht   a l s  kirchliche Verbände wirkten die Parochien mit und nicht durch ihre kirchlichen Vertreter, sondern neben der rein weltlichen städtischen Schöffenbank waren es die  L a i e n vorstände der kirchlichen Parochialgemeinden und eventuell die Gilden der Kaufleute, welche auf seiten der Bürger die  f o r m a l rechtlich entscheidenden Akte vornehmen. Kirchengemeindliche Vollwertigkeit statt der, wie in der Antike, rituell vollwertigen Sippe war Voraussetzung der Qualifikation zum Bürger. Der Unterschied gegen asiatische Verhältnisse war im Anfang der Entwicklung noch kein grundsätzlicher. Der dem Ortsheiligen des Mittelalters entsprechende Lokalgott und die rituelle Gemeinschaft der Vollbürger war als unumgänglicher Bestandteil jeder Stadt den vorderasiatischen Städten der Antike bekannt. Aber die Verpflanzungspolitik der Menschen erobernden Großkönige hat das offenbar durchbrochen und die Stadt zu einem reinen Verwaltungsbezirk gemacht, in welchem alle Insassen ohne Unterschied der Stammes- und rituellen Zusammengehörigkeit die gleichen Lebenschancen hatten. Dies geht aus den Schicksalen der ins Exil verschleppten Juden hervor: nur die staatlichen Aemter, welche Schriftbildung und offenbar auch rituelle Qualifikation erforderten, scheinen ihnen verschlossen gewesen zu sein. "Gemeindebeamte" gab es in den Städten offenbar nicht. Die einzelnen Fremdstämmigen hatten, wie die exilierten Juden, ihre Aeltesten und Priester, waren also "Gaststämme". In Israel vor dem Exil standen die Metöken (gerîm) außerhalb der rituellen Gemeinschaft (sie waren ursprünglich unbeschnitten) und zu ihnen gehörten fast alle Handwerker. Sie waren also Gaststämme wie in Indien. In Indien war die rituelle Verbrüderung der Stadtinsassen durch das Kastentabu ausgeschlossen. In China gehörte zu jeder Stadt ein Stadtgott (oft ein kultisch verehrter früherer Mandarin der Stadt). Bei allen asiatischen, auch den vorderasiatischen, Städten fehlte aber die  G e m e i n d e  oder war nur in Ansätzen vorhanden und stets nur als Verband von Sippen, der über die Stadt hinausreicht. Die konfessionelle Gemeinde der Juden aber nach dem Exil war rein theokratisch regiert.

Die Stadt des Okzidents, in speziellem Sinn aber die mittelalterliche, mit der wir uns vorerst allein befassen wollen, war nicht nur ökonomisch Sitz des Handels und Gewerbes, politisch (normalerweise) Festung und eventuell Garnisonort, administrativ ein Gerichtsbezirk, und im übrigen eine schwurgemeinschaftliche  V e r b r ü d e r u n g . In der Antike galt als ihr Symbol die gemeinsame Wahl der Prytaneen. Im Mittelalter war sie ein beschworenes "commune" und galt als "K o r p o r a t i o n" im Rechtssinne. Zwar galt dies nicht sofort. Noch 1313 konnten - worauf Hatschek hinweist - englische Städte keine "franchise" erwerben, weil sie, modern gesprochen, keine "Rechtspersönlichkeit" hatten, und erst unter Eduard I. erscheinen Städte als Korporationen. Die Bürgerschaften der entstehenden Städte wurden überall, nicht nur in England, rechtlich von der politischen Gewalt, den Stadtherren, zunächst als eine Art von passivem leiturgischen Zweckverband behandelt, dessen durch Anteil am städtischen Grundbesitz qualifizierte Glieder spezifische Lasten und Pflichten und spezifische Privilegien genossen: Marktmonopole und Stapelrechte, Gewerbeprivilegien und Gewerbebannrechte, Anteilnahme am Stadtgericht, militärische und steuerliche Sonderstellung. Und überdies stellte sich der ökonomisch wichtigste Teil aller dieser Privilegien dabei formalrechtlich zunächst meist gar nicht als ein Erwerb eines Verbandes der Bürgerschaft, sondern als ein solcher des politischen oder grundherrlichen Stadtherrn ein. Er, nicht der Bürger, erwirbt formell jene wichtigen Rechte, die tatsächlich den Bürgern direkt ökonomisch - ihm, dem Stadtherrn, aber indirekt finanziell, durch Abgaben der Bürger - zugute kommen. Denn sie sind z. B. in Deutschland in den ältesten Fällen Privilegien des Königs an einen Bischof, auf Grund deren dieser nun seinerseits seine stadtsässigen Untertanen als privilegiert behandeln durfte und behandelte. Zuweilen - so im angelsächsischen England - galt die Zulassung zur Ansiedlung am Markt als ein exklusives Privileg der benachbarten Grundherren für ihre und nur ihre Hörigen, deren Erwerb sie ihrerseits besteuerten. Das Stadtgericht war entweder Königsgericht oder herrschaftliches Gericht, die Schöffen und andere Funktionäre [waren] nicht Repräsentanten der Bürger, sondern, auch wo die Bürger sie wählten, Beamte des Herrn, das Stadtrecht [war] für diese Funktionäre des Herrn maßgebendes Statut des letzteren. Die "universitas civium", von der überall sehr bald geredet wird, war also zunächst heteronom und heterokephal, sowohl anderen politischen als (häufig) grundherrlichen Verbänden eingegliedert. Allein dies blieb nicht so. Die Stadt wurde eine, wenn auch in verschiedenem Maße, autonome und autokephale anstaltsmäßige Vergesellschaftung, eine aktive "Gebietskörperschaft", die städtischen Beamten [wurden] gänzlich oder teilweise Organe dieser Anstalt. Für diese Entwicklung der mittelalterlichen Städte war nun aber allerdings wichtig, daß von Anfang an die privilegierte Stellung der Bürger als ein Recht auch des Einzelnen unter ihnen im Verkehr mit Dritten galt. Dies war eine Konsequenz nicht nur der dem Mittelalter ebenso wie der Antike ursprünglich eigenen personalrechtlichen Auffassung der Unterstellung unter ein gemeinsames "objektives" Recht als eines "subjektiven" Rechts, einer   s t ä n d i s c h e n  Qualität also der Betroffenen, sondern speziell im Mittelalter - wie namentlich Beyerle mit Recht hervorhebt - eine Konsequenz der in der germanischen Gerichtsverfassung noch nicht abgestorbenen Auffassung jedes Rechtsgenossen als ein "Dinggenossen", und das heißt eben: als eines aktiven Teilhabers an der Dinggemeinde, in welcher [er] das dem Bürger zukommende objektive Recht als Urteiler im Gericht selbst mitschafft - eine Institution, von der und deren Folgen für die Rechtsbildung wir früher gesprochen haben. Dies Recht  f e h l t e  den Gerichtseingesessenen in dem weitaus größten Teil der Städte der ganzen Welt. (Nur in Israel finden sich Spuren davon. Wir werden bald sehen, wodurch diese Sonderstellung bedingt war.) Entscheidend war für die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt zum Verband aber, daß die Bürger in einer Zeit, als ihre ökonomischen Interessen zur anstaltsmäßigen Vergesellschaftung drängten, einerseits daran  n i c h t   durch magische oder religiöse Schranken gehindert waren, und daß andererseits auch  k e i n e  rationale Verwaltung eines politischen Verbandes über ihnen stand. Denn wo auch nur einer von diesen Umständen vorlag, wie in Asien, da haben selbst sehr starke gemeinsame ökonomische Interessen die Stadtinsassen nicht zu mehr als nur transitorischem Zusammenschluß befähigt. Die Entstehung des autonomen und autokephalen mittelalterlichen Stadtverbandes aber im Mittelalter mit seinem verwaltenden Rat und ihrem "Konsul" oder "Majer" oder "Bürgermeister" an der Spitze ist ein Vorgang, der sich von aller nicht nur asiatischen, sondern auch antiken Stadtentwicklung wesenhaft unterscheidet. In der Polis war, wie später noch zu erörtern, die spezifisch städtische Verfassung zunächst, und zwar am meisten da, wo die Polis ihre charakteristischsten Züge entfaltete, eine Umbildung der Gewalt einerseits des Stadtkönigs, andererseits der Sippenältesten zu einer Honoratiorenherrschaft der voll wehrhaften "Geschlechter". Gerade in denjenigen mittelalterlichen Städten dagegen, welche den spezifischen Typus der Zeit repräsentierten, war dies durchaus anders.

Man muß freilich bei der Analyse des Vorgangs die formalrechtlich und die soziologisch und politisch entscheidenden Vorgänge auseinanderhalten, was bei dem Kampf der "Städtetheorien" nicht immer geschehen ist. Formalrechtlich wurden die Korporation der Bürger als solche und ihre Behörden durch (wirkliche und fiktive) Privilegien der politischen und eventuell auch der grundherrlichen Gewalten "legitim" konstituiert. Diesem formalrechtlichen Schema entsprach der faktische Hergang allerdings teilweise. Aber oft und zwar gerade in den wichtigsten Fällen handelte es sich um etwas ganz anderes: eine, formalrechtlich angesehen, revolutionäre Usurpation. Freilich nicht überall. Man kann zwischen originärer und abgeleiteter Entstehung des mittelalterlichen Stadtverbandes unterscheiden. Bei originärer Entstehung war der Bürgerverband das Ergebnis einer politischen Vergesellschaftung der Bürger trotz der und  g e g e n  die "legitimen" Gewalten, richtiger: das Ergebnis einer ganzen Serie von solchen Vorgängen. Die formalrechtlich entscheidende Bestätigung dieses Zustandes durch die legitimen Gewalten trat dann später - übrigens nicht einmal immer - hinzu. Abgeleitet entstand der Bürgerverband durch eine vertragsmäßige oder oktroyierte Satzung eines mehr oder minder weiten oder begrenzten Rechts der Autonomie und Autokephalie seitens des Stadtgründers oder seiner Nachfolger, besonders häufig bei der Neugründung von Städten zugunsten der Neusiedler und deren Rechtsnachfolger. Die originäre Usurpierung durch einen akuten Vergesellschaftungsakt, eine Eidverbrüderung (Conjuratio), der Bürger war namentlich in den großen und alten Städten, wie etwa Genua und Köln, das Primäre. Im ganzen war eine Kombination von Hergängen der einen und der anderen Art die Regel. Die urkundlichen Quellen der Stadtgeschichte aber, welche naturgemäß die legitime Kontinuität stärker erscheinen lassen als sie war, erwähnen diese usurpatorischen Verbrüderungen regelmäßig gar nicht; es ist jedenfalls Zufall, wenn ihr Hergang urkundlich überliefert wird, so daß die abgeleitete Entstehung den wirklichen Tatsachen gegenüber wenigstens in schon bestehenden Städten sicherlich zu häufig erscheint. Von der Kölner "conjuratio" von 1112 spricht eine einzige lakonische Notiz. Rein formal mögen etwa in Köln die Schöffenbank der Altstadt und die Parochialvertretungen, namentlich die der Martinsvorstadt als der Neusiedlung der "mercatores", bei beurkundeten Akten ausschließlich in Aktion getreten sein, weil sie eben anerkannt "legitime" Gewalten waren. Und die Gegner, die Stadtherren, pflegten bei den Auseinandersetzungen natürlich ebenfalls formale Legitimitätsfragen, etwa (in Köln): daß Schöffen vorhanden seien, die den Eid nicht geleistet haben, und ähnliches, vorzuschieben. Denn in dergleichen äußerten sich ja die usurpatorischen Neuerungen formal. Aber die gegen die Stadtautonomie gerichteten Erlasse der staufischen Kaiser sprechen eine andere Sprache: sie verbieten nicht nur diese und jene formalrechtlichen Einzelerscheinungen, sondern eben: die "conjurationes". Und es spricht hinlänglich für die Art der bei jenen Umwälzungen  f a k t i s c h   treibenden Gewalten, daß in Köln noch weit später die Richerzeche (Gilde der Reichen) - vom Legitimitätsstandpunkt aus ein rein privater Klub besonders wohlhabender Bürger - n i c h t  etwa nur, wie selbstverständlich, die Mitgliedschaft in diesem Klub, sondern: das davon rechtlich ganz unabhängige Bürgerrecht zu erteilen, sich mit Erfolg die Kompetenz zuschreiben durfte. Auch die Mehrzahl der größeren französischen Städte sind in einer im Prinzip ähnlichen Art durch eidliche Bürgerverbrüderungen zu ihrer Stadtverfassung gelangt.

Die eigentliche Heimat der conjurationes war aber offenbar Italien. Hier wurde die Stadtverfassung in der weit überwiegenden Mehrzahl aller Fälle originär durch conjuratio ins Leben gerufen. Und hier kann man daher auch - trotz aller Dunkelheit der Quellen - am ehesten den soziologischen Sinn der Stadteinung ermitteln. Ihre allgemeine Voraussetzung war die dem Okzident charakteristische teils feudale, teils präbendale Appropriation der Herrschaftsgewalten. Man hat sich die Zustände in den Städten vor der conjuratio zwar im einzelnen untereinander sehr verschieden, im ganzen aber als ziemlich ähnlich der eigentümlichen Anarchie der Stadt Mekka zu denken, welche eben deshalb oben etwas näher geschildert wurde. Massenhafte Herrschaftsansprüche stehen, einander kreuzend, nebeneinander. Bischofsgewalten mit grundherrlichem und politischem Inhalt, viskontile und andere appropriierte politische Amtsgewalten, teils auf Privileg, teils auf Usurpation beruhend, große stadtsässige Lehensträger oder freigewordene Ministerialen des Königs oder der Bischöfe (capitani), landsässige oder stadtsässige Untervasallen (valvassores) der capitani, allodialer Geschlechterbesitz verschiedensten Ursprungs, massenhafte Burgenbesitzer in eigenem und fremdem Namen, als privilegierte Stände mit starker Klientel von hörigen und freien Schutzbefohlenen, berufliche Einungen der stadtsässigen Erwerbsklassen, hofrechtliche, lehenrechtliche, landrechtliche, kirchliche Gerichtsgewalten nebeneinander. Zeitweilige Verträge - ganz entsprechend den "Verbindungen" der mekkanischen Geschlechter - unterbrachen die Fehden der wehrhaften Interessenten innerhalb und außerhalb der städtischen Mauern. Der offizielle legitime Stadtherr war entweder ein kaiserlicher Lehensmann oder, und meist: der Bischof, und dieser letztere hatte vermöge der Kombination weltlicher und geistlicher Machtmittel am meisten Chance, eine wirksame Herrschaftsgewalt durchzusetzen.

Zu einem konkreten Zweck und meist auf Zeit oder bis auf weiteres, also kündbar, wurde nun auch jene conjuratio geschlossen, welche als "Compagna communis" (oder unter einem ähnlichen Namen) den politischen Verband der späteren Stadt" vorbereitet. Zunächst finden sich noch gelegentlich deren mehrere innerhalb der gleichen Mauern; aber dauernde Bedeutung erlangen allerdings nur der eidliche Verband der "ganzen" Gemeinde, das heißt: aller derjenigen Gewalten, welche in dem betreffenden Augenblick   m i l i t ä r i s c h e  Macht innerhalb der Mauern innehatten oder beanspruchten und in der Lage waren, sie zu behaupten. In Genua wurde dieser Verband zunächst von 4 zu 4 Jahren erneuert. Gegen wen er sich richtete, war sehr verschieden. In Mailand schlossen ihn 980 die wehrhaften Stadtinsassen gegen den Bischof, in Genua scheint anfangs der Bischof mit den viskontilen Familien, welchen die weltlichen Herrenrechte (später als reine Zinsansprüche fortbestehend) appropriiert waren, ihm angehört zu haben, während die spätere Compagna communis allerdings hier wie anderwärts sich unter anderem auch gegen die Machtansprüche des Bischofs und der Visconti richtete. Das positive Ziel der Eidverbrüderung aber war zunächst die Verbindung der ortsangesessenen   G r u n d b e s i t z e r  zu Schutz und Trutz, zu friedlicher Streitschlichtung untereinander, und zur Sicherung einer den Interessen der Stadtinsassen entsprechenden Rechtspflege, ferner aber die  M o n o p o l i s i e r u n g  d e r  ö k o n o m i s c h e n  C h a n c e n , welche die Stadt ihren Insassen darbot: nur der Eidgenosse wurde zur Teilnahme am Handel der Stadtbürger, in Genua z. B. zur Teilnahme an der Kapitalanlage in Form der Kommenda im Ueberseehandel, zugelassen; sodann die Fixierung der Pflichten gegen den Stadtherrn: feste Pauschalsummen oder hohe Zinsen statt willkürlicher Besteuerung; und endlich die militärischen Organisationen zum Zweck der Erweiterung des politischen und ökonomischen Machtgebiets der Kommune nach außen. Kaum sind die Konjurationen entstanden, so beginnen demgemäß auch schon die Kriege der Kommunen gegeneinander, die zu Anfang des 11. Jahrhunderts bereits eine chronische Erscheinung sind. Nach innen erzwang die Eidverbrüderung den Beitritt der Masse der Bürgerschaft; die stadtsässigen, adligen und Patrizierfamilien, welche die Verbrüderung stifteten, nahmen dann die Gesamtheit der durch Grundbesitz qualifizierten Einwohner in Eid; wer ihn nicht leistete, mußte weichen. Irgendeine formale Aenderung der bisherigen Amtsorganisation trat zunächst keineswegs immer ein. Bischof oder weltlicher Stadtherr behielten sehr oft ihre Stellung an der Spitze eines Stadtbezirks, und verwalteten ihn nach wie vor durch ihre Ministerialen; nur das Vorhandensein der Bürgerversammlung ließ die große Umwälzung fühlbar werden. Aber das blieb nicht so. In den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts traten überall die "consules" auf, jährlich gewählt, offiziell durch die Gesamtheit der Bürger, oder durch ein von ihnen gewähltes, in Wahrheit wohl immer das Wahlrecht usurpierendes Honoratiorengremium, dessen Zusammensetzung nur durch Akklamation bestätigt wurde, als Wahlmännerkolleg, stets mehrere, oft ein Dutzend und mehr. Die Konsuln, besoldete und mit Sportelrechten ausgestattete Beamte, rissen in Vollendung der revolutionären Usurpation, die ganze oder den Hauptteil der Gerichtsbarkeit und den Oberbefehl im Kriege an sich und verwalteten alle Angelegenheiten der Kommune. Hervorgegangen scheinen sie in der ersten Zeit meist oder doch sehr oft aus den vornehmen richterlichen Beamten der bischöflichen oder herrschaftlichen Kurie; nur daß jetzt durch die eidverbrüderte Bürgerschaft oder deren Vertretung die Wahl an die Stelle der Ernennung durch den Stadtherrn trat. Sie streng kontrollierend stand ihnen zur Seite ein Kollegium von "Sapientes", oft die "Credenza" genannt, gebildet teils aus den alten Schöffen, teils aus Honoratioren, welche die Konsuln selbst oder ein Wahlkollegium dazu bestimmten; der Sache nach waren es einfach die Häupter der militärisch und ökonomisch mächtigsten Familien, welche unter sich diese Stellungen verteilten. Die erste Bildung der Schwurverbrüderung wahrte noch die ständische Scheidung der verschiedenen Kategorien von capitani (Hauptvasallen), Untervasallen, Ministerialen, Burgherren (castellani) und cives meliores, d. h . der ökonomisch Wehrfähigen; die Aemter und der Rat wurden unter sie proportional verteilt. Aber sehr bald schon trat der im Effekt gegen den Lehensverband als solchen sich wendende Charakter der Bewegung beherrschend hervor. Die Konsuln durften keine Lehen von einem Herrn nehmen, sich nicht als Vasallen kommendieren. Und eine der ersten, gewaltsam oder durch erzwungene oder erkaufte Privilegien der Kaiser und Bischöfe durchgesetzten politischen Errungenschaften war die Schleifung der kaiserlichen, bischöflichen und stadtherrlichen  B u r g e n  innerhalb der Stadt, ihre Verlegung vor die Stadtmauer (so besonders in Privilegien der salischen Kaiser) und die Durchsetzung des Grundsatzes, daß innerhalb eines bestimmten Bezirks um die Stadt Burgen nicht gebaut werden und daß der Kaiser und andere Stadtherren ein Recht, in der Stadt sich einzuquartieren, nicht besitzen sollten. Die rechtliche Errungenschaft aber war die Schaffung einer besonderen städtischen  P r o z e d u r, unter Ausschaltung der irrationalen Beweismittel, namentlich des Zweikampfes (so in zahlreichen Privilegien des 11. Jahrhunderts) - das gleiche also, womit das englische und französische Königtum den Interessen der Bürger entgegenkam -, ferner das Verbot, Stadtbürger vor außerstädtische Gerichte zu ziehen, und die Kodifikation eines besonderen rationalen   R e c h t e s  für die Stadtbürger, welches das Gericht der Konsuln anzuwenden hatte. So war aus dem zunächst von Fall zu Fall oder kurzfristig geschlossenen, rein personalen Eidverband ein dauernder politischer Verband geworden, dessen Zugehörige Rechtsgenossen eines besonderen ständischen Rechtes der Stadtbürger waren. Dies Recht aber bedeutete formal eine Austilgung des alten Personalitätsprinzips des Rechts, material aber eine Sprengung der Lehensverbände und des ständischen Patrimonialismus. Zwar noch nicht zugunsten des eigentlichen gebietskörperschaftlichen "Anstaltsprinzipes". Das Bürgerrecht war ein ständisches Recht der bürgerlichen Schwurgemeindegenossen. Ihm unterstand man kraft Zugehörigkeit zum Stande der Stadtbürger oder der von ihnen abhängigen Hintersassen. Noch im 16. Jahrhundert war da, wo die Herrschaft der adligen Geschlechter in den Städten aufrecht stand, in den meisten niederländischen Gemeinden z. B., die Vertretung in den Provinzial- und Generalständen keine Vertretung der Stadt als solcher, sondern eine solche des stadtsässigen Adels; das tritt darin hervor, daß neben der Vertretung dieser Geschlechter sehr häufig noch eine Vertretung der Zünfte oder anderer nicht adliger ständischer Schichten aus der gleichen Stadt sich fand, welche gesondert stimmte und mit der Vertretung der Geschlechter ihrer Stadt keineswegs zu einer gemeinsamen Stadtrepräsentation vereinigt war. In Italien fehlte diese spezielle Erscheinung. Aber im Prinzip war die Lage oft ähnlich. Der stadtsässige Adel sollte zwar, normalerweise wenigstens, aus dem Lebensverband gelöst sein (was aber keineswegs immer wirklich der Fall war), hatte aber neben seinen Stadthäusern Burgen und grundherrliche Besitzungen auswärts, war also neben seiner Teilhaberschaft am Kommunalverband noch als Herr oder Genosse in andere politische Verbände eingegliedert. In der ersten Zeit der italienischen Kommunen lag das Stadtregiment faktisch durchaus in den Händen ritterlich lebender Geschlechter, ganz einerlei ob formal die Vergesellschaftung ein anderes vorsah und ob gelegentlich auch tatsächlich die nichtadligen Bürger einen vorübergehenden Anteil am Regiment durchsetzten. Die militärische Bedeutung des ritterlichen Adels überwog. Im Norden, speziell in Deutschland, spielten in noch stärkerem Maß als im Süden die alten Schöffengeschlechter eine entscheidende Rolle, behielten oft zunächst die Verwaltung der Stadt auch formell oder doch in ungeschiedener Personalunion in der Hand. Und je nach der Machtlage erzwangen auch die bisherigen Träger der stadtherrlichen, namentlich der bischöflichen, Verwaltung einen Anteil: die Ministerialen. Besonders da, wo die Usurpation gegenüber dem Stadtherrn nicht unbedingt durchdrang - und das war meist der Fall - setzte dieser, also meist der Bischof, eine Teilnahme für Ministerialen am städtischen Rat durch. In großen Städten wie Köln und Magdeburg hatte der Bischof seine Verwaltung ganz oder teilweise durch freie bürgerliche Schöffen geführt, welche nun aus beeideten Beamten des Bischofs beeidigte Vertreter der Kommunen zu werden die Tendenz zeigten, immer aber dabei die Repräsentanten der conjuratio sich beigesellten oder mit ihnen sich in die Verwaltung teilten. Neben die vom Grafen ernannten Schöffen der flandrischen, brabanter und der niederländischen Städte begannen im 13. Jahrhundert Ratsmänner oder Geschworene (jurati - schon der Name zeigt die usurpatorische Entstehung aus einer conjuratio an) oder "Bürgermeister" aus der Bürgerschaft für die Zwecke der Verwaltung zu treten, meist in gesonderten Kollegien, zuweilen mit ihnen zusammentretend. Sie waren Vertreter der zur Einung verbundenen Bürger, in Holland noch später als Korporation der "Vroedschap" fortbestehend. Ueberall hat man sich die Verhältnisse in der ersten Zeit als sehr schwankend und gerade die entscheidenden Punkte der faktischen Machtverteilung [als] sehr wenig formal geregelt vorzustellen. Die persönlichen Beziehungen und Einflüsse und die Personalunion mannigfacher Funktionen taten das Entscheidende; eine formelle Sonderung einer "Stadtverwaltung" in unserem heutigen Sinn, eigene Büros und Rathäuser, fehlten. Wie in Italien durchweg die Bürgerschaft sich im Dom versammelte, die leitenden Komitees oder auch Bürger aber vermutlich zunächst in Privathäusern und in Klublokalen [zusammentraten], so war es auch in Köln. Namentlich das letztere scheint sicher. In der Zeit der Usurpation war offenbar in Köln das "Haus der Reichen" (domus divitum) mit dem "Haus der Bürger" (domus civium), also dem Sitz der Verwaltung, ebenso in "Lokalunion" [gewesen], wie, nach Beyerles sicher richtiger Darlegung, die Führer des Klubs der Richerzeche mit den Inhabern der Schöffenstühle und anderer maßgebender Aemter in einer weitgehenden Personalunion gewesen und geblieben sein müssen. Ein stadtsässiges Rittertum von der Bedeutung des italienischen gab es hier nicht. In England und Frankreich spielten die Kaufmannsgilden die führende Rolle. In Paris waren die Vorstände der Wassergilde auch formal als Vertreter der Bürgerschaft anerkannt. Die Entstehung der Stadtgemeinden ist aber auch in Frankreich bei den meisten großen und alten Städten durchaus der Regel nach wohl durch Usurpation seitens der Verbände der Bürger, der Kaufleute und stadtsässigen Rentner, und Einung entweder mit den stadtsässigen Rittern, so im Süden, oder mit den confraternitates und Zünften der Handwerker, so im Norden des Landes, vor sich gegangen.

Ohne mit der "conjuratio" identisch zu sein, haben bei deren Entstehung diese [Verbrüderungen und Verbände] doch, speziell im Norden, mit anderen Einungen, eine bedeutende Rolle gespielt. Die Schwurbrüderschaften des germanischen Nordens weisen, entsprechend der noch geringeren Entwicklung des Rittertums, ganz besonders archaische Züge auf, die den südeuropäischen Ländern im ganzen fehlten. Die Schwurbrüderschaften konnten für den Zweck der politischen Vergesellschaftung und Usurpation von Macht gegenüber den Stadtherren neu geschaffen werden. Aber es konnte die Bewegung auch an die im Norden und in England massenhaft entstandenen Schutzgilden anknüpfen. Diese waren keineswegs primär zum Zweck der Einflußnahme auf politische Verhältnisse geschaffen worden. Sie ersetzten vielmehr ihren Mitgliedern zunächst das, was ihnen in der frühmittelalterlichen Stadt besonders häufig abging: den Anhalt an einer Sippe und deren Garantie. Wie diese dem Versippten, so gewährten sie ihnen Hilfe bei persönlicher Verletzung oder Bedrohung und oft auch in ökonomischer Not, schlossen Streit und Fehde zwischen den Verbrüderten aus, und machten deren friedliche Schlichtung zu ihrer Aufgabe, übernahmen für den Genossen die Wehrgeldpflicht (in einem englischen Fall) und sorgten für seine Geselligkeitsbedürfnisse durch Pflege der noch aus heidnischer Zeit stammenden periodischen Gelage (ursprünglich Kultakte), ferner für sein Begräbnis unter Beteiligung der Brüderschaft, garantierten sein Seelenheil durch gute Werke, verschafften ihm auf gemeinsame Kosten Ablässe und die Gunst mächtiger Heiliger und suchten im übrigen natürlich gegebenenfalls gemeinsame, auch ökonomische, Interessen zu vertreten. Während die nordfranzösischen Stadteinungen vorwiegend als beschworene Friedenseinungen ohne die sonstigen Gildenattribute ins Leben traten, hatten die englischen und nordischen Stadteinungen regelmäßig Gildecharakter. In England war die Handelsgilde mit dem Monopol des Kleinverkaufs innerhalb der Stadt die typische Form der Stadteinung. Die deutschen Händlergilden waren der Mehrzahl nach spezialisiert nach Branchen (so die meist mächtige Gewandschneidergilde, die Krämergilde u. a.). Von da aus ist dann die Gilde als Organisationsform auf den Fernhandel übertragen worden, - eine Funktion die uns hier nichts angeht.

Die Städte sind  n i c h t , wie man vielfach geglaubt hat, "aus den Gilden entstanden", sondern - in aller Regel - umgekehrt die Gilden  i n  den Städten. Die Gilden haben ferner auch nur zum kleinen Teil (namentlich im Norden, speziell in England, als "summa convivia") die Herrschaft in den Städten erlangt; die Regel war vielmehr, daß zunächst die mit den Gilden keineswegs identischen "Geschlechter" in den Städten die Herrschaft an sich zogen. Denn die Gilden waren auch nicht mit der conjuratio, der Stadteinung, identisch. Die Gilden waren endlich niemals die einzigen Arten von Einung in den Städten. Neben ihnen standen einerseits die in ihrer beruflichen Zusammensetzung uneinheitlichen religiösen Einungen, andererseits aber rein ökonomische, beruflich gegliederte Einungen: Zünfte. Die religiöse Einungsbewegung, die Schaffung von "confraternitates", ging das ganze Mittelalter hindurch neben den politischen, den gildenmäßigen und den berufsständischen Einungen her und kreuzte sich mit ihnen in mannigfachster Art. Sie spielten namentlich bei den Handwerkern eine bedeutende, mit der Zeit wechselnde Rolle. Daß zufällig die älteste urkundlich nachweisbare eigentliche fraternitas von Handwerkern, in Deutschland: die der Bettziechenweber in Köln (1149), jünger ist als die entsprechende gewerbliche Einung, beweist an sich zwar nicht, daß zeitlich die berufliche Einung, richtiger: der spezifisch berufliche Zweck der Einung, überall der frühere und ursprüngliche gewesen sei. Allerdings scheint dies aber bei den gewerblichen Zünften die Regel gewesen zu sein, und dies erklärt sich vermutlich daraus, daß die Einungen der freien Handwerker, wenigstens außerhalb Italiens, ihr erstes Vorbild an der grundherrschaftlichen Einteilung der abgabepflichtigen Handwerker in Abteilungen mit Meistern an der Spitze fanden. Aber in andern Fällen bildete wohl auch die fraternitas den Ausgangspunkt der späteren beruflichen Einung. Wie noch in der letzten Generation ¹) die Entstehung jüdischer Arbeitergewerkschaften in Rußland mit dem Ankauf des dringendsten Bedarfsartikels für einen religiös vollwertigen Juden: einer Thorarolle, zu beginnen pflegte, so pflegten auch zahlreiche, der Sache nach berufliche Verbände gesellige und religiöse Interessen an die Spitze zu stellen oder doch, wenn sie ausgesprochene Berufseinungen waren, religiöse Anerkennung zu suchen, wie dies auch die meisten Gilden und überhaupt alle Einungen im Laufe des Mittelalters in der Regel getan haben. Das war keineswegs nur ein Schleier für massive materielle Interessen. Daß z. B. die ältesten Konflikte der späteren Gesellenverbände nicht über Arbeitsbedingungen, sondern über religiöse Etikettenfragen (Rangfolge bei Prozessionen und ähnliches) entstanden, zeigt vielmehr, wie stark religiös bedingt auch damals die soziale Bewertung des sippenlosen Bürgers war. Nur tritt gerade dabei sofort auch das hervor, worauf es hier ankommt: der ungeheure Gegensatz gegen jeden tabuistischen kastenartigen Abschluß, welcher die Verbrüderung zu einer Gemeinde ausgeschlossen hätte.

¹) Vor dem ersten Weltkrieg (d. H.)


Im ganzen standen diese religiösen und geselligen Bruderschaften, einerlei ob sie im Einzelfall die älteren oder die jüngeren waren, oft nur in faktisch annähernder Personalunion mit den offiziellen Berufsverbänden - Kaufmannsgilden und Handwerkerzünften, - von denen späterhin noch die Rede sein muß. Diese ihrerseits wieder waren weder, wie man wohl geglaubt hat, immer Abspaltungen aus einer ursprünglich einheitlichen Bürgergilde - das kam vor, aber andererseits waren z. B. Handwerkereinungen zum Teil wesentlich älter als die ältesten conjurationes. Noch waren sie umgekehrt ihre Vorläufer, - denn sie finden sich in der ganzen Welt, auch wo nie eine Bürgergemeinde entstanden ist. Sondern alle diese Einungen wirkten in der Regel wesentlich indirekt: durch jene Erleichterung des Zusammenschlusses der Bürger, welche aus der Gewöhnung an die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen durch freie Einungen überhaupt entstehen mußte: durch Beispiel und Personalunion der führenden Stellungen in den Händen der in der Leitung solcher Schwurverbände erfahrenen und durch sie sozial einflußreichen Persönlichkeiten. In jedem Fall war es an sich das Natürliche, und der weitere Verlauf bestätigt es, daß auch im Norden überall die reichen, an der Selbständigkeit der Verkehrspolitik interessierten Bürger es waren, welche außer den adligen Geschlechtern an der Schaffung der conjuratio aktiv partizipierten, das Geld hergaben, die Bewegung in Gang hielten und die mit den Geschlechtern gemeinsam die Masse der übrigen in Eid und Pflicht nahmen; eben davon war offenbar das Recht der Bürgerrechtsverleihung durch die Richerzeche ein Rest. Wo überhaupt außer den Geschlechtern auch Verbände von erwerbenden Bürgern an der Bewegung beteiligt waren, kamen dafür von allen Einungen allerdings meist nur die Gilden der Kaufleute für die Stadteinung in Betracht. Noch unter Eduard II, wurde in England von den damals gegen die Kaufmannschaft aufsässigen Kleinbürgern geklagt: daß die "potentes" Gehorsamseide von den ärmeren Bürgern, speziell auch den Zünften, verlangten und kraft dieser usurpierten Macht Steuern auferlegten: Aehnlich hat sich der Vorgang sicher bei den meisten originär-usurpatorischen Stadtverbrüderungen abgespielt. Nachdem nun die sukzessiven Usurpationen in einigen großen Städten Erfolg gehabt hatten, beeilten sich aus "Konkurrenzrücksichten" diejenigen politischen Grundherren, welche neue Städte gründeten oder bestehenden neue Stadtprivilegien verliehen, einen allerdings sehr verschieden großen Teil jener Errungenschaften ihren Bürgern freiwillig und ohne erst die Entstehung einer formalen Einung abzuwarten, zuzusichern, so daß die Erfolge der Einungen die Tendenz hatten, sich universell zu verbreiten. Dies wurde namentlich dadurch befördert, daß die Siedlungsunternehmer oder auch die Siedlungsreflektanten, wo immer sie, durch Vermögensbesitz und sosiales Ansehen, dem Stadtgründer gegenüber das nötige Gewicht dazu hatten, sich die Gewährung eines bestimmten Stadtrechtes, z. B. die Freiburger das Kölner, zahlreiche süddeutsche Bürgerschaften das Freiburger, östliche Städte das Madgeburger, in Bausch und Bogen konzedieren ließen und nun bei Streitigkeiten die Stadt, deren Recht gewährt worden war, als kompetent für die Auslegung des letzteren angerufen wurde. Auf je wohlhabendere Siedler der Stadtgründer reflektierte, desto erheblichere Konzessionen mußte er machen. Die 24 conjuratores fori in Freiburg [im Breisgau] z. B., denen [der Herzog] von Zähringen die Erhaltung der Freiheiten der Bürger der neuen Stadt angelobt, spielen hier etwa die Rolle der "Richerzeche" in Köln, sind persönlich weitgehend privilegiert und haben als "consules" der Gemeinde zuerst das Stadtregiment in der Hand.

Zu den durch Verleihung bei der Gründung und Privilegierung der Städte durch Fürsten und Grundherren verbreiteten Errungenschaften aber gehört vor allem überall: daß die Bürgerschaft als eine "Gemeinde" mit eigenem Verwaltungsorgan, in Deutschland dem "Rat" an der Spitze, konstituiert wurde. Der "Rat" vor allem gilt in Deutschland als ein notwendiges Freiheitsrecht der Stadt, und die Bürger beanspruchten, ihn autonom zu besetzen. Zwar ist dies keineswegs kampflos durchgesetzt worden. Noch Friedrich II. hat 1232 alle Räte und Bürgermeister, die ohne Konsens der Bischöfe von den Bürgern eingesetzt waren, verboten, und der Bischof von Worms setzte für sich und seinen Stellvertreter den Vorsitz im Rat und das Ernennungsrecht der Ratsmitglieder durch. In Straßburg war die Ministerialenverwaltung des Bischofs Ende des 12. Jahrhunderts durch einen aus Ratsmännern der Bürger und 5 Ministerialen zusammengesetzten Rat ersetzt, und in Basel setzte der Bischof durch, daß der, wie Hegel annimmt, vom Kaiser selbst zugelassene Rat der Bürger vom Kaiser wieder verboten wurde. In zahlreichen süddeutschen Städten aber blieb der herrschaftlich ernannte oder doch herrschaftlich bestätigte Schultheiß lange Zeit der eigentliche Chef der Stadt, und die Bürgerschaft konnte dieser Kontrolle nur ledig werden, indem sie das Amt käuflich erwarb. Allein fast überall finden wir dort, daß neben dem Schultheiß in den Urkunden der Stadt zunehmend der "Bürgermeister" hervortritt und schließlich meist den Vorrang gewinnt. Er aber war dort im Gegensatz zum Schultheiß in aller Regel ein Vertreter der Bürgereinung, also ein ursprünglich usurpatorisch entstandener und nicht ein ursprünglich herrschaftlicher Beamter. Freilich aber war, entsprechend der andersartigen sozialen Zusammensetzung sehr vieler deutscher Städte, dieser im 14. Jahrhundert aufsteigende "Bürgermeister" oft schon nicht mehr ein Vertreter der "Geschlechter", also den "consules" Italiens entsprechend - diesen entsprachen vielmehr die scabini non jurati, die consules und ähnliche Vertreter der Frühzeit in den großen Städten-, sondern vielmehr ein Vertrauensmann der Berufseinung, gehörte also hier einem späteren Entwicklungsstadium an.

Die aktive Mitgliedschaft im Bürgerverbande war zunächst überall an städtischen Grundbesitz geknüpft, der erblich und veräußerlich, fronfrei, zinsfrei oder nur mit festem Zins belastet, dagegen für städtische Zwecke schoßpflichtig - diese Pflicht wurde in Deutschland geradezu Merkmal des bürgerlichen Grundbesitzes - besessen wurde. Später traten andere schoßpflichtige Vermögensstücke, vor allem Geld oder Geldstoffbesitz, daneben. Ursprünglich war überall der nicht mit jener Art von Grundbesitz angesessene Stadtinsasse nur Schutzgenosse der Stadt, mochte im übrigen seine ständische Stellung sein, welche immer. Die Berechtigung zur Teilnahme an den städtischen Aemtern und am Rat hat Wandlungen durchgemacht. Und zwar in verschiedenem Sinne. Wir wenden uns dem nunmehr zu.

Es erübrigt vorher nur noch, vorläufig ganz allgemein, die Frage zu stellen: worauf denn nun es letztlich beruhte, daß im Gegensatz zu Asien die Städteentwicklung im Mittelmeerbecken und dann in Europa einsetzte. Darauf ist insofern bereits eine Antwort gegeben, als [hier nicht] die Entstehung einer Stadt v e r b r ü d e r u n g , einer städtischen  G e m e i n d e  also, durch die magische Verklammerung der Sippen und, in Indien, der Kasten gehemmt war. Die Sippen waren in China Träger der entscheidend wichtigen religiösen Angelegenheiten: des Ahnenkults, und deshalb unzerbrechlich; die Kasten in Indien aber waren Träger spezifischer Lebensführung, an deren Innehaltung das Heil bei der Wiedergeburt hing und die daher gegeneinander rituell exklusiv waren. Aber wenn dies Hindernis in Indien in der Tat absolut war, so die Sippengebundenheit in China und vollends in Vorderasien doch nur relativ. Und in der Tat tritt gerade für diese Gebiete etwas ganz anderes hinzu: der Unterschied der  M i l i t ä r verfassung, vor allem: ihrer ökonomisch-soziologischen Unterlagen. Die Notwendigkeit der Stromregulierung und Bewässerungspolitik hatte in Vorderasien (einschließlich Aegyptens) und (in nicht ganz so starkem, aber doch entscheidendem Maß) auch in China eine königliche  B ü r o k r a t i e  entstehen lassen - zunächst reine Baubürokratie, von der aus dann aber die Bürokratisierung der gesamten Verwaltung sich durchsetzte -, welche den König befähigte, mit Hilfe des Personals und der Einnahmen, die sie ihm verschaffte, die Heeresverwaltung in eigene, bürokratische Bewirtschaftung zu nehmen: der "Offizier" und der "Soldat", die ausgehobene, aus Magazinen ausgerüstete und verpflegte Armee wurde hier die Grundlage der militärischen Macht. Die Trennung des Soldaten von den Kriegsmitteln und die militärische Wehrlosigkeit der Untertanen war die Folge. Auf diesem Boden konnte keine politische, der Königsmacht gegenüber selbständige Bürgergemeinde erwachsen. Denn der Bürger war der Nichtmilitär. Ganz anders im Okzident. Hier erhielt sich, bis in die Zeit der römischen Kaiser, das Prinzip der  S e l b s t e q u i p i e r u n g  der Heere, mochten sie nun bäuerlicher Heerbann, Ritterheer oder Bürgermilizen sein. Das aber bedeutete die militärische  E i g e n ständigkeit des einzelnen Heerfolgepflichtigen. In einem Heer mit Selbstequipierung gilt der - schon in Chlodwigs Stellung zu seinem Heerbann sich äußernde - Grundsatz: daß der Herr sehr weitgehend auf den guten Willen der Heeresteilnehmer angewiesen ist, auf deren Obödienz seine politische Macht ganz und gar beruht. Er ist jedem einzelnen von ihnen, auch kleinen Gruppen gegenüber, der Mächtigere. Aber allen oder größeren Verbänden einer Vielzahl von ihnen gegenüber, wenn solche entstehen, ist er machtlos. Es fehlt dem Herrn dann der bürokratische, ihm blind gehorchende, weil ganz von ihm abhängige Zwangsapparat, um ohne Einvernehmen mit den militärisch und ökonomisch eigenständigen Honoratioren, aus deren Reihen er ja seine eigenen Verwaltungsorgane: seine Würdenträger und Lokalbeamten, rekrutieren muß, seinen Willen durchzusetzen, sobald die in Anspruch genommenen Schichten sich zusammenschließen. Solche Verbände aber bildeten sich stets, sobald der Herr mit neuen   ö k o n o m i s c h e n  Forderungen, Forderungen von  G e l d zahlungen zumal, an die eigenständig wehrhaften Heerfolgepflichtigen herantrat. Die Entstehung der "Stände" im Okzident, und nur hier, erklärt sich daraus. Ebenso aber die Entstehung der korporativen und der autonomen Stadtgemeinden. Die Finanzmacht der Stadtinsassen nötigte den Herrn, sich im Bedarfsfall an sie zu wenden und mit ihnen zu paktieren. Aber Finanzmacht hatten auch die Gilden in China und Indien und die "Geldleute" Babylons. Das erlegte dem König, um sie nicht zu verscheuchen, auch dort gewisse Rücksichten auf. Aber es befähigte nicht die Stadtinsassen, und waren sie noch so reich, sich zusammenzuschließen und  m i l i t ä r i s c h  dem Stadtherrn Widerpart zu halten. Alle conjurationes und Einungen des Okzidents aber, von der frühen Antike angefangen, waren Zusammenschlüsse der  w e h r h a f t e n  Schichten der Städte. Das war das positiv Entscheidende.


§ 3.     DIE GESCHLECHTERSTADT IM MITTELALTER UND IN DER ANTIKE

Wesen der Geschlechterherrschaft S. 757. - Ausbildung derselben in Venedig als monopolistisch-geschlossene Herrschaft der Nobili S. 758; - in anderen italienischen Kommunen ohne monopolistischen Zusammenschluß und mit Hilfe des Podestats S. 760; - durch die königliche Verwaltung beschränkte Honoratiorenoligarchie in englischen Städten S. 762; - Herrschaft der ratsfähigen Geschlechter bzw, der Zünfte in Nordeuropa S. 765. - Das gentilcharismatische Königtum in der Antike S. 766. - Die antike Geschlechterstadt als Küstensiedlungsgemeinschaft von Kriegern S. 768. - Unterschiede gegenüber dem Mittelalter S. 771; - Aehnlichkeit der ökonomischen Struktur der Geschlechter hier und dort S. 772.


§ 4.     DIE PLEBEJERSTADT

Die Brechung der Geschlechterherrschaft durch die stadtbürgerliche Eidverbrüderung S. 775. - Revolutionärer Charakter des "Popolo" als illegitimer politischer Verband S. 776. - Die Machtverteilung unter den Ständen der italienischen Stadt im Mittelalter S. 777. - Parallele Entwicklung des Demos und der Plebs in der Antike: das römische Tribunat und die Ephoren in Sparta S. 779. - Struktur der antiken "Demokratie" im Vergleich zur mittelalterlichen S. 782. - Die Stadttyrannis im Altertum und Mittelalter S. 784. - Exzeptionelle Stellung der italienischen Stadt des Mittelalters S. 787. - Gesamtlage der mittelalterlichen Städte auf dem Höhepunkt der Stadtautonomie S. 788, - bedingt durch: 1. politische Selbständigkeit S. 788, - 2. autonome Rechtssatzung S. 789, - 3. Autokephalie S. 790, - 4. Steuerautonomie S. 791, - 5. Marktrecht und autonome   "Stadtwirtschaftspolitik" S. 791, - 6. das durch die politische und ökonomische Eigenart der mittelalterlichen Stadt bedingte Verhalten gegenüber den nicht-stadtbürgerlichen Schichten S. 793, - insbesondere gegenüber dem Klerus S. 795.


§ 5.     ANTIKE UND MITTELALTERLICHE DEMOKRATIE

Der süd- und der nordeuropäische mittelalterliche Stadttypus in ihrem Verhältnis zueinander und zum antiken Stadttypus S. 796. - Der Klassengegensatz in der Antike und im Mittelalter S. 797. - Antike und mittelalterliche Stadtverfassung: örtliche Gemeinschaften und Berufsverbände als Grundlage der politischen Organisation S. 798. - Die Bauern in der antiken, das gewerbliche Bürgertum in der mittelalterlichen Stadt als typische Träger der Frühdemokratie. Divergenz der Weiterentwicklung zwischen Hellas und Rom S. 801. - Die Wirtschaftspolitik der antiken und der mittelalterlichen Stadtdemokratien. Primär militärische Orientiertheit der Interessen in der spezifsch antiken Stadt S. 803. - Primär ökonomische Orientiertheit der typischen mittelalterlichen gewerblichen Binnenstadt S. 805. - Ständische Schichtung in der antiken Polis im Vergleich zur mittelalterlichen Stadt S. 806. - Die antike Polis als Kriegerzunft im Gegensatz zur gewerblichen Binnenstadt der Mittelalters S. 809. - Patrimoniale und feudale Struktur der römischen Honoratiorenoligarchie S. 812. Die wesentlich ökonomischen Gegensätze der Stadtbürger zu den nicht bürgerlichen Schichten und ihren ökonomischen Lebensformen waren nicht das, was der mittelalterlichen Stadt ihre entwicklungsgeschichtliche Sonderstellung zuwies. Vielmehr war dafür die Gesamtstellung der Stadt innerhalb der mittelalterlichen  p o l i t i s c h e n  und ständischen Verbände das Entscheidende. Hier am stärksten scheidet sich die typische mittelalterliche Stadt nicht nur von der antiken Stadt, sondern auch innerhalb ihrer selbst in zwei durch flüssige Uebergänge verbundene, in ihren reinsten Ausprägungen aber sehr verschiedene Typen, von denen der eine, wesentlich südeuropäische, speziell italienische und südfranzösische, dem Typus der antiken Polis trotz aller Unterschiede dennoch wesentlich näher steht als der andere, vornehmlich nordfranzösische, deutsche und englische [Typus], der trotz aller Unterschiede nebeneinander in dieser Hinsicht gleichartig war. Wir müssen uns nunmehr noch einmal einer Vergleichung des mittelalterlichen mit dem antiken Stadttypus, und zweckmäßigerweise mit anderen Stadttypen überhaupt, zuwenden, um die treibenden Ursachen der Verschiedenheit zusammenhängend zu überblicken. Das ritterliche Patriziat der südeuropäischen Städte besaß ganz ebenso persönliche auswärtige Burgen und Landbesitzungen, wie etwa im Altertum dies schon mehrfach an dem Beispiel des Miltiades erörtert wurde. Die Besitzungen und Burgen der Grimaldi finden sich weit die Küste der Provence entlang. Nach Norden zu wurden derartige Verhältnisse wesentlich seltener, und die typische mittel- und nordeuropäische Stadt der späteren Zeit kennt sie nicht. Andererseits: Von einem Demos, der wie der attische, durch rein politische Macht bedingte, städtische Gratifikationen und Rentenverteilung erwartete, weiß die mittelalterliche Stadt ebenfalls so gut wie gar nichts, obwohl es, ganz wie für die athenischen Bürger Verteilung des Ertrages der laurischen Minen, so für mittelalterliche und selbst moderne Gemeinden direkte Verteilungen von ökonomischen Erträgnissen des Gemeindebesitzes gegeben hat.

Sehr scharf ist der Gegensatz der untersten ständischen Schicht: die antike Stadt kennt als Hauptgefahr der ökonomischen Differenzierung, die deshalb von allen Parteien gleichmäßig, nur mit verschiedenen Mitteln zu bekämpfen gesucht wurde, die Entstehung einer Klasse von Vollbürgern, Nachkommen vollbürgerlicher Familien, welche, ökonomisch ruiniert, verschuldet, besitzlos, nicht mehr imstande, sich selbst für das Heer auszurüsten, von einem Umsturz oder einer Tyrannis die Neuverteilung des Grundbesitzes oder einen Schulderlaß oder Versorgung aus öffentlichen Mitteln: Getreidespenden, unentgeltlichen Besuch von Festen, Schauspielen und Zirkuskämpfen, oder direkte Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zur Ermöglichung des Festbesuches verlangten. Derartige Schichten waren dem Mittelalter zwar nicht unbekannt. Sie fanden sich auch in der Neuzeit auf dem Boden der [nord]amerikanischen Südstaaten, wo der besitzlose "arme weiße Dreck" (poor white trash) der Sklavenhalterplutokratie gegenüberstand. Im Mittelalter waren die durch Schulden deklassierten Schichten des Adels, z. B. in Venedig; ebenso ein Gegenstand der Sorge wie in Rom in der Zeit Catilinas. Aber im ganzen spielt dieser Tatbestand eine geringe Rolle. Vor allem in den demokratischen Städten. Er war jedenfalls nicht der typische Ausgangspunkt von Klassenkämpfen, wie dies im Altertum durchaus der Fall war. Denn in der Antike spielten sich in der Frühzeit die Klassenkämpfe zwischen den stadtsässigen Geschlechtern als  G l ä u b i g e r n  und den Bauern als  S c h u l d n e r n  und depossedierten Schuldknechten ab. Der "civis proletarius", der "Nachfahre" - eines Vollbürgers nämlich - war der typische Deklassierte. In der Spätzeit waren es verschuldete Junker wie Catilina, welche den besitzenden Schichten gegenüberstanden und zu Führern der radikalen revolutionären Partei wurden. Die Interessen der negativ privilegierten Schichten der antiken Polis sind wesentlich  S c h u l d n e r - Interessen. Und daneben: K o n s u m e n t e n - Interessen. Dagegen schwinden auf dem Boden der Antike innerhalb der Stadtwirtschaftspolitik jene Interessen zunehmend, welche im Mittelalter den Angelpunkt der demokratischen Stadtpolitik ausmachten: die  g e w e r b e politischen. Jene zünftlerische "Nahrungspolitik" stadtwirtschaftlichen Charakters, welche die Frühzeit des Aufstieges der Demokratie auch in der Antike zeigte, trat mit der weiteren Entwicklung immer stärker zurück. Wenigstens ihre produzentenpolitische Seite. Die voll entwickelte Demokratie der hellenischen Städte, ebenso aber auch die voll entwickelte Honoratiorenherrschaft in Rom kennt vielmehr, soweit die städtische Bevölkerung in Betracht kommt, neben Handelsinteressen fast nur noch Konsumenteninteressen. Die Getreideausfuhrverbote, welche der antiken mit der mittelalterlichen und merkantilistischen Politik gemeinsam waren, reichten in der Antike nicht aus. Direkte öffentliche Fürsorge für Getreidezufuhr beherrschte die Wirtschaftspolitik. Getreidespenden befreundeter Fürsten geben in Athen einen Hauptanlaß zur Revision der Bürgerregister behufs Ausschluß Unberechtigter. Und Mißernten im pontischen Getreidegebiet zwingen Athen zum Erlaß des Tributs an die Bundesgenossen; so sehr beherrschte der Brotpreis die Leistungsfähigkeit. Direkte Getreideankäufe der Polis finden sich auch im hellenischen Gebiet. Aber in riesigstem Maßstab entstand die Benutzung der Provinzen zu Getreidesteuern für die Getreidespenden der Stadtbürgerschaft in der Spätzeit der römischen Republik.

Der spezifisch  m i t t e l a l t e r l i c h e  Notleidende war ein armer   H a n d w e r k e r , also ein gewerblicher  A r b e i t s l o s e r , der spezifisch  a n t i k e  Proletarier ein  p o l i t i s c h   Deklassierter, weil  g r u n d b e s i t z l o s  gewordener früherer Grundbesitzer. Auch die Antike hat die Beschäftigungslosigkeit von Handwerkern als Problem gekannt. Das spezifische Mittel dagegen waren große Staatsbauten, wie sie Perikles ausführen ließ. Schon die massenhafte Sklavenarbeit im Gewerbe verschob aber dessen Lage. Gewiß hat es auch im Mittelalter in einem Teil der Städte dauernd Sklaven gegeben. Einerseits bestand in den mittelländischen Seestädten sogar bis gegen Ende des Mittelalters eigentlicher Sklavenhandel. Andererseits hatte der gerade entgegengesetzte, kontinentalste Typus: eine Stadt wie Moskau vor der Leibeigenenbefreiung, durchaus das Gepräge einer großen Stadt des Orients, etwa der diokletianischen Zeit: Renten von Land- und Menschenbesitzern und Amtseinkünfte wurden darin verzehrt. Aber in den typischen mittelalterlichen Städten des Okzidents spielte ökonomisch die Sklavenarbeit je länger je mehr eine ganz geringe, schließlich gar keine Rolle mehr. Nirgends hätten machtvolle Zünfte das Entstehen einer Handwerkerschicht von Leibzins an ihre Herren zahlenden Sklaven als Konkurrenten des freien Gewerbes zugelassen. Gerade umgekehrt in der Antike. Jede Vermögensakkumulation bedeutete dort: Anhäufung von Sklavenbesitz. Jeder Krieg bedeutete massenhafte Beutesklaven und Ueberfüllung des Sklavenmarktes. Diese Sklaven wurden zum Teil konsumtiv, zur persönlichen Bedienung der Besitzer, verwendet. Im Altertum gehörte der Sklavenbesitz zu den Erfordernissen jeder vollbürgerlichen Lebenshaltung. Der Vollhoplit konnte in Zeiten chronischen Kriegszustandes den Sklaven als Arbeitskraft so wenig entbehren wie der Ritter des Mittelalters die Bauern. Wer ohne jeden Sklaven leben mußte, war unter allen Umständen ein Proletarier (im Sinne der Antike). Die vornehmen Häuser des Römeradels kannten konsumtive Verwendung von Sklaven in Massen zur persönlichen Bedienung, welche in einer sehr weitgetriebenen Funktionsteilung die Geschäfte des großen Haushalts besorgten und produktiv wenigstens beträchtliche Teile des Bedarfs oikenwirtschaftlich deckten. Nahrung und Kleidung der Sklaven wurde allerdings zum erheblichen Teile geldwirtschaftlich beschafft. In der athenischen Wirtschaft galt als Norm der voll geldwirtschaftliche Haushalt, der erst recht im hellenistischen Osten herrschte. Aber noch von Perikles wurde speziell betont, daß er, um der Popularität bei den Handwerkern willen, seinen Bedarf möglichst durch Kauf auf dem Markt und nicht eigenwirtschaftlich deckte. Andererseits lag ein immerhin beträchtlicher Teil auch der städtischen gewerblichen  P r o d u k t i o n  in den Händen von selbständig erwerbenden Sklaven. Von den Ergasterien ist schon früher die Rede gewesen, und ihnen treten die unfreien Einzelhandwerker und Kleinhändler zur Seite. Es ist selbstverständlich; daß das Nebeneinanderarbeiten von Sklaven und freien Bürgern, wie es sich in den gemischten Akkordgruppen bei den Arbeiten am Eréchtheion findet, sozial auf die Arbeit als solche drückte und daß die Sklavenkonkurrenz auch ökonomisch sich fühlbar machen mußte. Die größte Expansion der Sklavenausnutzung fiel aber im hellenischen Gebiet gerade in die Blütezeiten der Demokratie.

Dieses Nebeneinander von Sklavenarbeit und freier Arbeit hat nun offenbar in der Antike auch jede Möglichkeit einer Entwicklung von  Z ü n f t e n  in der Entstehung geknickt. In der Frühzeit der Polis waren vermutlich - wenn auch nicht sicher nachweislich - in Ansätzen gewerbliche Verbände vorhanden. Allem Anschein nach aber als organisierte Verbände militärisch wichtiger alter Kriegshandwerker - wie die centuria fabrum in Rom, die "Demiurgen" im Athen der Ständekämpfe. Diese Ansätze politischer Organisation aber schwanden gerade unter der Demokratie spurlos, und das konnte nach der damaligen sozialen Struktur des Gewerbes nicht anders sein. Der antike Kleinbürger konnte wohl mit den Sklaven zusammen einer Mystengemeinde (wie in Hellas) oder einem "Collegium" (wie später in Rom) angehören, aber nicht einem Verband, der, wie die Zunft des Mittelalters, politische Rechte in Anspruch nahm. Das Mittelalter kennt den Popolo im Gegensatz zu den Geschlechtern als  z ü n f t i g   organisiert. Gerade in der klassischen Zeit der Antike, unter der Herrschaft des Demos, fehlt dagegen (im Gegensatz zu älteren Ansätzen) jede Spur von Zünften. Nicht nach Zünften, sondern nach  D e m o i  oder nach Tribus, also nach örtlichen und zwar (formal) vorwiegend  l ä n d l i c h e n  Bezirken war die "demokratische" Stadt eingeteilt. Das war ihr Merkmal. Davon weiß nun wiederum das Mittelalter gar nichts. Die Einteilung des Stadt i n n e r e n  in Stadtquartiere war natürlich dem Altertum und Mittelalter gemeinsam mit den orientalischen und ostasiatischen Städten. Indessen die ausschließliche Begründung einer politischen Organisation auf lokale Gemeinschaften und vor allem deren Erstreckung auf das gesamte zum politischen Bereich der Stadt gehörige platte Land, so daß hier formell geradezu das Dorf die Unterabteilung der Stadt wurde, fehlte dem Mittelalter und fehlte auch allen anderen Städten anderer Gebiete. Die Demoieinteilung fiel (im wesentlichen) mit den Dorfmarken (historischen oder ad hoc geschaffenen) zusammen. Die Demoi waren mit Allmenden und lokalen Ortsobrigkeiten ausgestattet. Dies als Grundlage der  S t a d t verfassung steht einzigartig in der Geschichte da und kennzeichnet für sich allein schon die Sonderstellung gerade der  d e m o k r a t i s c h e n  Polis des Altertums, welche gar nicht stark genug betont werden kann. Dagegen  g e w e r b l i c h e   Verbände als Konstituentien einer Stadt finden sich in der Antike nur in der Frühzeit und dann nur neben anderen ständischen Körperschaften. Sie galt für Wahlzwecke: so in Rom die Centurie der fabri neben den Centurien der equites im alten Klassenheer und möglicherweise, aber gänzlich unsicher, die Demiurgen eines vorsolonischen Ständekompromisses in Athen. Dies Vorkommen konnte dem Ursprung nach auf freie Einungen zurückgehen - wie dies sicherlich für das in der politischen Verfassung mit berücksichtigte, sehr alte Collegium mercatorum mit dem Berufsgott Mercurius in Rom galt -, oder es konnte auch in leiturgisch, für Heereszwecke, gebildeten Verbänden seine letzte Quelle haben: die antike Stadt beruhte ja in ihrer Bedarfsdeckung ursprünglich auf den Fronden der Bürger. Einzelne gildenartige Erscheinungen finden sich. Der Kultverband der Tänzer des Apollon in Milet z. B. mit seiner ganz offiziellen, durch Eponymie des Jahres nach dem Verbandsvorstand dokumentierten Herrschaftsstellung (unbekannten spezielleren Inhalts) in der Stadt findet seine Parallele am ehesten in den Gilden des mittelalterlichen Nordens einerseits, den Zünften der magischen Tänzer bei amerikanischen Stämmen und der Magier (Brahmanen) in Indien, der Leviten in Israel andererseits. Man wird aber nicht an einen Gaststamm von Berufsekstatikern denken. Er ist in historischer Zeit vielmehr wohl als ein Klub der zur Teilnahme an der Apollon-Prozession qualifizierten Honoratioren anzusehen, entspricht also am ehesten der Kölner Richerzeche, nur mit der dem Altertum im Gegensatz zum Mittelalter typischen Identifikation einer kultischen Sondergemeinschaft mit der herrschenden politischen Bürgerzunft. Wenn in der  S p ä t zeit der Antike andererseits in Lydien wieder Kollegien von Gewerbetreibenden mit  e r b l i c h e n  Vorstehern sich finden, welche die Stelle von Phylen einzunehmen scheinen, so ist dies sicher aus alten gewerblichen Gaststämmen hervorgegangen, repräsentiert also einen der okzidentalen Entwicklung gerade entgegengesetzten, an indische Verhältnisse erinnernden Zustand. Im Okzident war eine Einteilung von Gewerbetreibenden nach Berufen erst wieder in den sowohl spätrömischen wie frühmittelalterlichen "Officia" und "Artificia" der grundherrlichen Handwerke vorhanden. Später, im Uebergang zum Mittelalter, finden sich für städtische Handwerke, welche für den Markt produzierten, aber von einem Herrn persönlich abhängig, also abgabepflichtig waren, Verbände, welche, soviel ersichtlich, nur der Abgabenerhebung gedient zu haben scheinen, vielleicht aber ursprünglich vom Herrn gebildete leiturgische Verbände waren. Neben diesen aber, die später verschwinden, und vielleicht ebenso alt wie sie, finden sich dann jene Einungen  f r e i e r   Handwerker mit monopolistischen Zwecken, welche in der Bewegung des Bürgertums gegen die Geschlechter die entscheidende Rolle spielten. In der Antike findet sich dagegen in der klassischen Demokratie nichts von alledem. Leiturgische Zünfte, welche vielleicht in der Frühzeit der Stadtentwicklung existiert haben könnten, obwohl sie außer in jenen militärischen und Abstimmungsverbänden Roms nicht einmal in Spuren sicher nachzuweisen sind, finden sich erst im leiturgischen Staat der späten antiken Monarchie wieder. Die freien Einungen aber haben gerade in der Zeit der klassischen Demokratie zwar alle möglichen anderen Gebiete umfaßt, aber, soviel ersichtlich, nirgends  Z u n f t charakter besessen oder angestrebt. Sie gehen uns hier daher nichts an. Hätten sie irgendwo ökonomischen Zunftcharakter erlangen wollen, so hätten sie eben, da die unfreien Handwerker nun einmal massenhaft existierten, ebenso wie die mittelalterliche Stadt, zwischen freien und unfreien Mitgliedern keinen Unterschied machen dürfen. Dann aber mußten sie auf  p o l i t i s c h e  Bedeutung verzichten, und das hätte für sie gewichtige Nachteile ökonomischer Art, die wir bald kennenlernen werden, zur Folge gehabt. Die antike Demokratie war eine "Bürgerzunft" der  f r e i e n  Bürger und dadurch, wie wir sehen werden, in ihrem ganzen politischen Verhalten determiniert. Die freien Zünfte oder die ihnen ähnlichen Einungen beginnen sich daher, soviel bisher bekannt, genau in derjenigen Zeit erstmalig zu bilden, als es mit der politischen Rolle der antiken Polis definitiv  z u  E n d e  war. Die Idee aber, die unfreien oder die freien nicht vollbürgerlichen (freigelassenen, metökischen) gewerblichen Arbeiter zu unterdrücken, zu verjagen oder wirksam zu begrenzen, konnte für die Demokratie der Antike, offenbar als undurchführbar, gar nicht mehr in Betracht kommen. Ansätze, die sich dafür in charakteristischer Art in der Zeit der Ständekämpfe, speziell der Gesetzgeber und Tyrannen finden, schwinden später völlig und zwar gerade nach dem Siege der Demokratie. Das Maß der Heranziehung von Sklaven privater Herren neben freien Bürgern und Metöken bei Staatsbauten und Staatslieferungen gerade in der Zeit der absoluten Herrschaft des Demos zeigt ganz offenbar: daß sie dafür eben einfach nicht entbehrt werden konnten, wohl auch: daß ihre Herren den Profit davon nicht entbehren wollten und die Macht hatten, ihren Ausschluß zu hindern. Sonst hätte man sie sicherlich wenigstens dazu nicht mit herangezogen. Das freie, vollbürgerliche Gewerbe reichte also für die großen Staatsbedarfszwecke gar nicht aus. Hier zeigt sich die grundverschiedene Struktur gerade der voll entwickelten antiken Stadt wie der voll entwickelten mittelalterlichen in der Zeit der Herrschaft des Demos dort, des Popolo hier. In der von Hoplitenheeren beherrschten, frühdemokratischen antiken Stadt spielte der stadtsässige, nicht auf einem Kleros angesessene, ökonomisch [nicht] wehrfähige Handwerker politisch keine Rolle. Im Mittelalter führten das stadtsässige bürgerliche Großunternehmertum (popolo grasso)  u n d : die kleinkapitalistischen Handwerker (popolo minuto). Diese Schichten aber - das zeigt der politische Tatbestand - hatten innerhalb der antiken Bürgerschaft  k e i n e  (maßgebende)  M a c h t . Wie der antike Kapitalismus  p o l i t i s c h  orientiert war: an Staatslieferungen, staatlischen Bauten und Rüstungen, Staatskredit (in Rom als politischer Faktor schon in den punischen Kriegen), staatlicher Expansion und Beute an Sklaven, Land, Tributpflichten und Privilegien für Erwerb und Beleihung von Grund und Boden, Handel und Lieferungen in den Untertanenstädten, so war es auch die antike Demokratie: Die Bauern, so lange sie der Kern der Hoplitenheere blieben, waren am kriegerischen Landerwerb zu Ansiedlungszwecken interessiert. Das stadtsässige Kleinbürgertum aber: an direkten und indirekten  R e n t e n  aus der Tasche der abhängigen Gemeinden: den Staatsbauten, Theater- und Heliasten-Geldern, Getreide- und anderen Verteilungen, die aus der Tasche der Untertanen vom Staat dargeboten wurden. Eine Zunftpolitik nach mittelalterlicher Art hätte das vorwiegend aus ländlichen Grundbesitzern bestehende Hoplitenheer in der Zeit seines Sieges in den kleisthenischen und (in Rom) dezemvirialen Ständekompromissen schon von seinen Konsumenteninteressen an billiger Versorgung aus sicher nie aufkommen lassen. Und der spätere, von spezifisch stadtsässigen Interessenten beeinflußte hellenische souveräne Demos hatte offensichtlich kein Interesse mehr daran, und übrigens wohl auch keine Möglichkeit dazu.

Die politischen Ziele und Mittel der Demokratie in der Antike waren eben grundstürzend andere als diejenigen des mittelalterlichen Bürgertums. Das äußert sich in der schon mehrfach berührten Verschiedenheit der Gliederung der Städte. Wenn im Mittelalter die Geschlechter nicht geradezu verschwinden, sondern in die  Z ü n f t e  als die nunmehrigen Konstituentien in die Bürgerschaft einzutreten genötigt wurden, so bedeutete dies: daß sie innerhalb dieser durch den Mittelstand majorisiert werden konnten, also formal einen Teil ihres Einflusses einbüßten. Oft genug sind freilich umgekehrt die Zünfte dadurch nach Art der Londoner Liveries ihrerseits auf die Bahn, plutokratische Rentnerkorporationen zu werden, getrieben worden. Immer aber bedeutete der Vorgang die Steigerung der Machtstellung einer  i n n e r städtischen, an Handel und Gewerbe direkt beteiligten oder interessierten, in diesem modernen Sinn: bürgerlichen Schicht. Wenn dagegen in der Antike an die Stelle oder neben die alten personalen Geschlechterverbände, Phylen und Phratrien, die Einteilung des Stadtgebietes in  D e m o i  oder  T r i b u s  trat und diese Körperschaften und ihre Repräsentanten nun allein die politische Gewalt in Händen hatten, so bedeutete das zweierlei: zunächst die Zersprengung des Einflusses der Geschlechter. Denn deren Besitz war, seiner Entstehung durch Beleihung und Schuldverfall entsprechend, zum sehr großen Teile Streubesitz und kam nun nirgends mehr mit voller Wucht, sondern nur in den einzelnen Demoi mit seinen einzelnen Partikeln zur Wirkung. Dort, im einzelnen Demos, war er jetzt zu registrieren und zu versteuern, und das bedeutete wesentlich mehr im Sinne der Herabsetzung der politischen Macht des großen Besitzes als heute ¹) etwa eine Eingemeindung der ostdeutschen Gutsbezirke in die Landgemeinden bedeuten würde. Ferner und vor allem aber bedeutete die Zerschlagung des ganzen Stadtgebietes in Demoi: die Besetzung aller Rats- und Beamtenstellen mit Repräsentanten dieser, wie es in Hellas geschah, oder doch die Gliederung der Komitien (Tributkomitien) nach Tribus (31 ländliche, 4 städtische), wie sie in Rom durchgeführt wurde. Wenigstens der ursprünglichen Absicht nach sollte das die ausschlaggebende Stellung  n i c h t   stadtsässiger, sondern  l a n d sässiger Schichten und ihre Herrschaft über die Stadt bedeuten. Also  n i c h t  ein politisches Aufsteigen des städtischen erwerbenden  B ü r g e r t u m s , wie im Popolo, sondern gerade umgekehrt den politischen Aufstieg der  B a u e r n . Im Mittelalter, heißt das, war von Anfang an das  G e w e r b e , in der Antike aber, in der kleisthenischen Zeit, die  B a u e r n schaft Träger der "Demokratie".

¹) Vor 1918.


Der Tatsache nach und wenigstens einigermaßen dauernd trat dies allerdings nur in Rom ein. In Athen war nämlich die Zugehörigkeit zu einem Demos, dem man einmal angehörte, eine dauernde erbliche Qualität, welche unabhängig war vom Wohnsitz, Grundbesitz und Beruf, ebenso wie die Phratrie und die Sippe angeboren waren. Die Familie eines Paianiers z. B., wie des Demosthenes, blieb durch alle Jahrhunderte diesem Demos rechtlich zugehörig, wurde in ihm zu den Lasten herangezogen und zum Amt erlost, ganz einerlei ob er durch Wohnsitz oder Grundbesitz noch die allermindesten Beziehungen dorthin hatte. Damit wurde aber natürlich den Demoi, sobald einige Generationen der Zuwanderung nach Athen über sie hingegangen waren, der Charakter lokaler  b ä u e r l i c h e r  Verbände genommen. Alle möglichen stadtsässigen Gewerbetreibenden zählten jetzt als Glieder ländlicher Demoi. Die Demoi waren also in Wahrheit jetzt rein persönliche Gliederungen der Bürgerschaft, wie die Phylen es auch waren. Tatsächlich waren damit die in Athen am Ort der Ekklesía jeweils anwesenden Bürger nicht nur durch die Tatsache dieser Anwesenheit bevorzugt, sondern sie bildeten mit steigendem Wachstum der Stadt zunehmend auch die Mehrheit in den formal ländlichen Demen. Anders in Rom. Für die 4 alten städtischen Tribus scheint zwar einmal ein ähnliches Prinzip gegolten zu haben. Aber jede der späteren ländlichen Tribus umfaßte nur denjenigen, welcher in ihr jeweilig mit Grundbesitz  a n g e s e s s e n  war. Mit Aufgabe dieses Grundbesitzes und anderweitigem Neuankauf wechselte man die Tribus, die claudische Gens z. B. gehörte der nach ihr benannten Tribuskörperschaft später gar nicht mehr an. Die Folge davon war, daß zwar ebenfalls, und bei dem ungeheuer ausgedehnten Gebiet noch mehr als in Athen, die jeweils bei den Comitien anwesenden, also die stadtsässigen Tribulen begünstigt waren. Aber: zum Unterschiede von Athen nur diejenigen, welche ländliche  G r u n d b e s i t z e r  waren und welche Bodenbesitz solchen Umfangs in Händen hatten, daß sie die eigene Anwesenheit in der Stadt mit der Bewirtschaftung dieses Besitzes durch fremde Kräfte vereinigen konnten: Grundrentner also. Große und kleine ländliche Grundrentner beherrschen demnach seit dem Siege der Plebs die Comitien Roms. Die Uebermacht der stadtsässigen Grundadelsfamilien in Rom einerseits, des städtischen Demos in Athen andererseits, hat diesen Unterschied aufrechterhalten. Die Plebs in Rom war kein Popolo, keine Vereinigung von Zünften der Handel- und Gewerbetreibenden, sondern dem Schwerpunkt nach der Stand der ländlichen panhopliefähigen Grundbesitzer, von denen in aller Regel die stadtsässigen allein die Politik beherrschten. Die Plebejer waren anfänglich nicht etwa Kleinbauern im modernen Sinn und noch weniger eine im mittelalterlichen Sinne bäuerliche Klasse, um die es sich handelte. Sondern die ökonomisch voll wehrhafte Grundbesitzerschicht des platten Landes, in sozialer Hinsicht zwar keine "gentry", wohl aber eine "yeomanry", mit einem nach dem Ausmaß des Bodenbesitzes und der Lebenshaltung in der Zeit des Aufstieges der Plebs mittelständischen Charakter: eine Ackerbürgerschicht also. Mit steigender Expansion stieg der Einfluß der stadtsässigen Bodennutznehmer. Dagegen war die gesamte Bevölkerung städtischen gewerblichen Charakters in den vier Stadttribus zusammengefaßt, also: einflußlos. Daran hat der römische Amtsadel stets festgehalten, und auch die gracchischen Reformer sind weit davon entfernt gewesen, das ändern und eine "Demokratie" hellenischer Art einführen zu wollen. Dieser ackerbürgerliche Charakter des römischen Heeres ermöglichte die Festhaltung der Herrschaft durch die großen stadtsässigen Senatorenfamilien. Im Gegensatz zur hellenischen Demokratie, welche den geschäftsführenden Rat durch das Los bestellte und den Areiopag, der im wesentlichen aus den gewesenen Beamten zusammengesetzt war und dem Senat entsprach, als Kassationsinstanz vernichtete, blieb (in Rom) der Senat die leitende Behörde der Stadt, und es ist nie der Versuch gemacht worden, daran etwas zu ändern. Das Kommando der Truppen hat in der großen Expansionszeit stets in den Händen von Offizieren aus Stadtadelsfamilien gelegen. Die gracchische Reformpartei der späteren republikanischen Zeit aber wollte, wie alle spezifischen antiken Sozialreformer, vor allem die Wehrkraft des politischen Verbandes herstellen, die Deklassierung und Proletarisierung der ländlichen Besitzer, ihren Auskauf durch den großen Besitz hemmen, ihre Zahl stärken, um dadurch das sich selbst equipierende Bürgerheer aufrechtzuerhalten. Auch sie also war primär eine ländliche Partei, so sehr daß die Gracchen, um überhaupt etwas durchzusetzen, genötigt waren, die an Staatspachten und Staatslieferungen interessierte, durch ihre Beteiligung am Erwerb von den Aemtern ausgeschlossene Kapitalistenschicht: die Ritter [(Cequites)], zur Unterstützung gegen den Amtsadel heranzuziehen.

Die perikleische Bautenpolitik wird wohl mit Recht als zugleich auch der Beschäftigung der Handwerker dienend aufgefaßt. Da die Bauten aus den Tributen der Bundesgenossen bestritten wurden, waren diese die Quelle jener Verdienstchancen. Aber, wie die inschriftlich feststehende Mitarbeit der Metöken und Sklaven zeigt, kam sie keineswegs nur den vollbürgerlichen Handwerkern zugute. Der eigentliche "Arbeitslosenverdienst" der Unterschichten war vielmehr in der perikleischen Zeit: Matrosenlohn und  B e u t e , vor allem: Seekriegsbeute. Gerade der Demos war deshalb so leicht für den Krieg zu gewinnen. Diese deklassierten Bürger waren ökonomisch abkömmlich und hatten nichts zu verlieren. Dagegen ist eine eigentlich gewerbliche Produzentenpolitik der ganzen antiken demokratischen Entwicklung als ausschlaggebendes Element unbekannt geblieben. -

Wenn so die antike Stadtpolitik in erster Linie städtische Konsumenteninteressen verfolgt, so gilt dies gewiß auch für die mittelalterliche Stadt. Aber die Drastik der Maßregeln war in der Antike weit größer, offenbar weil es unmöglich schien, für eine Stadt wie Athen und Rom die Getreideversorgung lediglich dem privaten Handel zu überlassen. Dagegen finden sich auch in der Antike gelegentlich Maßregeln zur Begünstigung besonders wichtiger Exportproduktionen. Aber durchaus nicht vornehmlich gewerblicher Produktionszweige. Und nirgends wurde die Politik einer antiken Stadt durch diese Produzenteninteressen beherrscht. Für ihre Richtung maßgebend waren vielmehr zunächst in den alten Seestädten diejenigen grundherrlichen und ritterlichen, am Seehandel und Seeraub interessierten, dorther ihren Reichtum erwerbenden stadtsässigen Patrizier, welche überall, dann aber, in der Frühdemokratie, diejenigen landsässigen hoplitfähigen Besitzer, welche in dieser Art  n u r  in der mittelländischen Antike vorkommen. Schließlich aber die Interessen von Geld- und Sklavenbesitzern einerseits, städtischen Kleinbürgerschichten andererseits, welche beide, nur in verschiedener Art, an Staatsbedarf und  B e u t e  als Groß- und Kleinunternehmer, Rentner, Krieger und Matrosen interessiert sind.

Hierin verhielten sich nun die mittelalterlichen Stadtdemokratien  g r u n d s ä t z l i c h  anders. Die Gründe des Unterschiedes waren bereits mit der Stadtgründung vorhanden und äußerten schon damals ihre Wirkung. Sie liegen in geographischen und militärischen, kulturgeschichtlich bedingten, Umständen. Die  a n t i k e n   mittelländischen Städte fanden bei ihrer Entstehung, eine  a u ß e r städtische politische Militärgewalt von Bedeutung und vor allem: von technisch hochstehender Art, sich überhaupt nicht gegenüber. Sie selbst waren vielmehr die Träger der höchst entwickelten militärischen Technik. Zunächst in den Geschlechterstädten der ritterlichen Phalange, dann aber, und vor allem, des disziplinierten Hoplitenkampfes. Wo in dieser militärischen Hinsicht im Mittelalter Aehnlichkeiten bestanden, wie bei den frühmittelalterlichen, südeuropäischen Seestädten und den italienischen Stadtadelsrepubliken, zeigt auch die Entwicklung relativ weitgehende Aehnlichkeiten mit der Antike. In einem frühmittelalterlichen südeuropäischen Stadtstaat war die aristokratische Gliederung schon durch den aristokratischen Charakter der Militärtechnik bedingt. Gerade die Seestädte, und nächst ihnen die (relativ)  a r m e n   Binnenstädte mit großen politisch unterworfenen und von dem stadtsässigen Rentnerpatriziat beherrschten Gebieten (wie Bern), sind hier am wenigsten zu Demokratien geworden. Dagegen die gewerblichen Binnenstädte und vor allem die Städte des nördlichen  k o n t i n e n t a l  e n  Europa sahen sich im Mittelalter gegenüber der Militär- und Aemterorganisation der Könige und ihrer über die breiten Binnenflächen des Kontinents ausgebreiteten ritterlichen burgsässigen Vasallen. Sie beruhten in einem großen, nach Norden und nach dem Binnenland zu immer mehr überwiegenden Bruchteile von ihrer Gründung an auf Konzessionen der politischen und grundherrlichen, dem feudalen Militär- und Amtsverband eingegliederten, Gewalthaber. Ihre Konstituierung als "Stadt" erfolgte je länger je mehr nicht im politischen und militärischen Interesse eines grundsässigen Wehrverbandes, sondern vor allem aus  ö k o n o m i s c h e n  Motiven des Gründers: weil der Gewalthaber Zoll- und ähnliche Verkehrseinnahmen und Steuern für sich davon erwartete. Sie war für ihn in erster Linie ein ökonomisches Geschäft, nicht eine militärische Maßregel, oder jedenfalls trat diese militärische Seite, wo sie vorhanden gewesen war, zunehmend zurück. Zu einer verschieden umfangreichen Autonomie der Stadt, wie sie dem okzidentalen Mittelalter spezifisch ist, führte die Entwicklung nur deshalb und nur so weit, weil und als die außerstädtischen Gewalthaber - das war das einzige  d u r c h g e h e n d   Entscheidende - noch nicht über denjenigen geschulten Apparat von Beamten verfügten, um das Bedürfnis nach  V e r w a l t u n g  städtischer Angelegenheiten auch nur so weit befriedigen zu können, als es  i h r  e i g e n e s  Interesse an der ökonomischen Entwicklung der Stadt verlangte. Die frühmittelalterliche fürstliche Verwaltung und Rechtsprechung besaß der Natur der Sache und der Stellung ihrer Träger nach nicht diejenige Fachkunde, Stetigkeit und rational geschulte Sachlichkeit, um die ihren eigenen, sie hinlänglich in Anspruch nehmenden Interessen und ihren ständischen Gewohnheiten ganz fernliegenden Angelegenheiten der städtischen Handels- und Gewerbeinteressenten von sich aus zu ordnen und zu leiten. Das Interesse der Gewalthaber aber ging zunächst lediglich auf Geldeinnahme. Gelang es den Bürgern, dies Interesse zu befriedigen, so sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die außerstädtischen Gewalthaber sich jeder Einmischung in die Angelegenheiten der Bürger enthalten würden, welche ja die Anziehungskraft der eigenen städtischen Gründung in Konkurrenz mit denen anderer Gewalthaber und also ihre Einnahmen schädigen konnte. Ihre Machtkonkurrenz untereinander, namentlich aber die Machtkonkurrenz der Zentralgewalt mit den großen Vasallen und der hierokratischen Gewalt der Kirche, kam den Städten zu Hilfe, zumal innerhalb dieser Konkurrenz das Bündnis mit der Geldmacht der Bürger Vorteile versprechen konnte. Je einheitlicher daher ein politischer Verband organisiert war, desto weniger entfaltete sich die politische Autonomie der Städte. Denn mit dem äußersten Mißtrauen haben ohne Ausnahme alle feudalen Gewalten, von den Königen angefangen, deren Entwicklung beobachtet. Nur der Mangel eines bürokratischen Amtsapparates und der Geldbedarf nötigte die französischen Könige seit Philipp [II.] August und die englischen seit Eduard II., sich auf die Städte ebenso zu stützen, wie die deutschen Könige sich auf die Bischöfe und das Kirchengut zu stützen versuchten. Nach dem Investiturstreit, welcher den deutschen Königen diese Stütze entzog, finden sich kurze Anläufe der salischen Könige, auch ihrerseits die Städte zu begünstigen. Sobald aber die politischen und finanziellen Machtmittel der königlichen oder territorialen Patrimonialgewalten den geeigneten Amtsapparat zu schaffen gestatteten, haben sie die Autonomie der Städte alsbald wieder zu vernichten gesucht.

Das historische Intermezzo der Städteautonomie war also in der mittelalterlichen Städteentwicklung durch  g ä n z l i c h  a n d e r e  Umstände bedingt als in der Antike. Die spezifisch antike Stadt, ihre herrschenden Schichten, ihr Kapitalismus, die Interessen ihrer Demokratie sind alle, und zwar je  m e h r   das spezifisch Antike hervortritt, desto  m e h r , primär politisch und militärisch orientiert. Der Sturz der Geschlechter und der Uebergang zur Demokratie war bedingt durch die Aenderung der Militärtechnik. Das sich selbst equipierende disziplinierte Hoplitenheer war es, welches den Kampf gegen den Adel trug, ihn militärisch und darauf auch politisch ausschaltete. Seine Erfolge gingen sehr verschieden weit, teilweise bis zur völligen Vernichtung des Adels, wie in Sparta, teilweise zu formaler Beseitigung der Ständeschranken, Befriedigung des Verlangens nach rationaler und leicht zugänglicher Justiz, persönlichem Rechtsschutz, Beseitigung der Härten des Schuldrechts, während die faktische Stellung des Adels in anderer Form erhalten blieb: so in Rom; teilweise zur Eingemeindung des Adels in die Demoi und zu timokratischer Leitung des Staates: so im kleisthenischen Athen. Meist findet sich, solange die landsässige Hoplitenschaft ausschlaggebend war, die Erhaltung autoritärer Institutionen des Geschlechterstaates. Sehr verschieden intensiv war auch der Grad der Militarisierung der Institutionen. Die spartanische Hoplitenschaft hat das gesamte den Kriegern gehörige Land und die darauf sitzenden Unfreien als gemeinsamen Besitz behandelt und jedem wehrhaft gemachten Krieger den Anspruch auf eine Landrente gegeben. In keiner anderen Polis ist man so weit gegangen. Weit verbreitet scheint freilich, im Gegensatz zu der nur mit Erbanwartschaften der Söhne belasteten, im übrigen aber freien Veräußerlichkeit des Bodens, die in Resten noch später erhaltene Beschränkung der Veräußerung der Kriegerlose: des ererbten Landes der Mitglieder der Bürgerzunft also, gewesen zu sein. Aber auch diese hat schwerlich überall bestanden und ist später überall beseitigt worden. In Sparta war die Bodenakkumulation zwar nicht in den Händen der Spartiaten, wohl aber in denen der Frauen zulässig und hat die ökonomische Basis der ursprünglich wohl 8000 Vollbürger umfassenden Kriegerschaft der "Hómoioi" so verändert, daß schließlich nur wenige Hunderte die militärische Vollausbildung und den Beitrag zu den Syssitien erschwingen konnten, an welchen das Vollbürgerrecht hing. In Athen hat umgekehrt die Durchführung der Verkehrsfreiheit in Verbindung mit der Demosverfassung die Parzellierung, welche der zunehmenden Gartenkultur entsprach, gefördert. In Rom hat wiederum umgekehrt die Verkehrsfreiheit, welche im wesentlichen seit der Zwölftafelzeit bestand, zu ganz abweichenden Ergebnissen geführt, weil dabei die Dorfverfassung gesprengt wurde. In Hellas ist die Hoplitendemokratie überall da geschwunden, wo der Schwerpunkt der militärischen Machtstellung sich auf die Seemacht verschob (in Athen endgültig seit der Niederlage von Koróneia). Seitdem wurden sowohl die straffe Militärausbildung vernachlässigt wie die Reste der alten autoritativen Institutionen beseitigt, und nunmehr beherrschte der  s t a d t sässige Demos die Politik und die Institutionen der Stadt.

Von derartigen rein militärisch bedingten Peripetien weiß die mittelalterliche Stadt nichts. Der Sieg des Popolo beruhte in erster Linie auf ökonomischen Gründen. Und die spezifisch mittelalterliche Stadt: die bürgerliche  g e w e r b l i c h e  B i n n e n s t a d t , war überhaupt primär  ö k o n o m i s c h  orientiert. Die feudalen Gewalten sind im Mittelalter nicht primär Stadtkönige und Stadtadel gewesen. Sie hatten nicht, wie der Adel der Antike, ein Interesse daran, spezifische militärtechnische Mittel, welche nur die  S t a d t  als solche ihnen geboten hätte, in ihren Dienst zu stellen. Denn die Städte des Mittelalters waren, außer den Seestädten mit ihren Kriegsflotten, nicht als solche Träger derartig spezifisch militärischer Machtmittel. Im Gegenteil, während in der Antike die Hoplitenheere und ihre Einschulung, also militärische Interessen, immer mehr in den Mittelpunkt der Stadtorganisation traten, begannen die meisten Bürgerprivilegien des Mittelalters mit der Beschränkung der Bürgerwehrpflicht auf den Garnisondienst. Die Stadtbürger waren dort ökonomisch zunehmend an friedlichem Erwerb durch Handel und Gewerbe interessiert und zwar die unteren Schichten der Stadtbürgerschaft am allermeisten, wie namentlich der Gegensatz der Politik des Popolo minuto gegen die oberen Stände in Italien zeigt. Die politische Situation des mittelalterlichen Stadtbürgers wies ihn auf den Weg, ein  h o m o  o e c o n o m i c u s  zu sein, während in der Antike sich die Polis während der Zeit ihrer Blüte ihren Charakter als des militärtechnisch höchststehenden Wehrverbands bewahrte: der antike Bürger war  h o m o  p o l i t i c u s. In den nordeuropäischen Städten wurden, wie wir sahen, die Ministerialen und Ritter als solche oft direkt aus der Stadt ausgeschlossen. Die  n i c h t  ritterlichen [außerstädtischen] Grundbesitzer aber spielten entweder als bloße Stadtuntertanen oder passive Schutzgenossen, zuweilen als zünftig organisierte, aber politisch und sozial nicht ins Gewicht fallende Gärtner und Rebleute eine ganz geringe, man kann sagen: selten eine überhaupt ins Gewicht fallende, Rolle für die Stadtpolitik. Das platte Land war in aller Regel für die mittelalterliche Stadtpolitik lediglich Objekt der Stadtwirtschaftspolitik und wurde es immer mehr. Nirgends hat die spezifisch mittelalterliche Stadt auf den Gedanken verfallen können, sich in den Dienst einer kolonisatorischen Expansion zu stellen. -

Damit sind wir bei dem sehr wichtigen Punkt der ständischen Verhältnisse der Städte des Altertums im Vergleich mit denen mittelalterlicher Städte angelangt. Die antike Polis kannte, auch abgesehen von den schon besprochenen Sklaven,  s t ä n d i s c h e   Schichten, welche dem Mittelalter teils nur in seiner Frühzeit, teils gar nicht, teils nur außerhalb der Stadt bekannt waren. Dahin rechnen: 1. die Hörigen, 2. die Schuldverknechteten, 3. die Klienten, 4. die Freigelassenen. Davon gehören die drei ersten Gruppen in aller Regel nur der Zeit vor der Hoplitendemokratie an und finden sich später nur in Resten von sinkender Bedeutung. Die Freigelassenen dagegen spielten gerade in der Spätzeit eine steigende Rolle.

1. Die patrimoniale  H ö r i g k e i t  findet sich innerhalb des Bereichs der antiken Polis in historischer Zeit wesentlich in Eroberungsgebieten. In der feudalen Frühzeit der Stadtentwicklung aber muß sie sehr weit verbreitet gewesen sein. Ihre in der ganzen Welt in gewissen Grundzügen ähnliche, in allen Einzelheiten sehr verschiedene Stellung unterscheidet sich nicht prinzipiell von derjenigen der Hörigen des Mittelalters. Ueberall wurde der Hörige vornehmlich ökonomisch ausgenutzt. Am vollständigsten erhalten blieb die Hörigkeit auf hellenischem Gebiet gerade da, wo die Stadtorganisationen nicht durchgeführt wurden, so namentlich in Italien und in Städten, welche so straffe Kriegerorganisationen waren, daß hier der Hörige als Staatshöriger und nicht als Besitz des einzelnen Herrn galt. Außerhalb dieser Gebiete hat die Zeit der Hoplitenherrschaft sie fast überall verschwinden lassen. Sie lebte wieder auf in hellenistischer Zeit in den okzidentalen Gebieten des Orients, welche damals der Städteorganisation unterworfen wurden. Große Landgebiete wurden, unter Erhaltung ihrer Stammesverfassung, den einzelnen Städten zugeteilt, deren Bürger eine hellenische (oder hellenisierte) Garnison im Interesse der Teilkönige bildeten. Aber diese zunächst rein politische Hörigkeit der nichthellenischen Landbevölkerung (gr2.JPG (1070 Byte)) hatte einen wesentlich anderen Charakter als die patrimoniale Abhängigkeit in der Epoche der Frühzeit und gehört nicht mehr in die Darstellung der autonomen Städte hinein.

2. Die  S c h u l d k n e c h t e  haben als Arbeitskräfte eine sehr bedeutende Rolle gespielt. Sie waren ökonomisch deklassierte Bürger. Ihre Lage war  d a s   spezifisch soziale Problem der alten Ständekämpfe zwischen stadtsässigem Patriziat und landsässigen Hopliten. In den Gesetzgebungen der Hellenen, in den XII Tafeln, in den Schuldhaftgesetzen, in der Politik der Tyrannen ist das Interesse dieser deklassierten landsässigen Bauernschichten durch manche Kompromisse erledigt worden. Die Erledigung erfolgte in sehr verschiedenem Sinne. Die Schuldknechte waren keine Hörigen, sondern freie Grundbesitzer, welche mit Familie und Land zu dauernder Versklavung oder zu privater Schuldhaft verurteilt [waren] oder zur Vermeidung der Exekution sich freiwillig in solche begeben hatten. Sie wurden ökonomisch nutzbar gemacht, besonders häufig als Pächter ihres vom Schuldherrn erhaltenen Landes. Ihre Gefährlichkeit zeigt sich darin, daß das XII Tafel-Gesetz gebot, den verurteilten Schuldner außer Landes zu verkaufen.

3. Die  K l i e n t e n  sind zu scheiden sowohl von Schuldknechten wie von Hörigen. Sie sind einerseits nicht wie die letzteren mißachtete Unterworfene. Im Gegenteil bildeten sie die Gefolgschaft des Herrn, und ihre Beziehung zu diesem war eine Treuebeziehung, die eine gerichtliche Klage zwischen Herrn und Klient als religiös unstatthaft erscheinen ließ. Ihr Gegensatz gegen die Schuldknechte zeigt sich darin, daß zum Unterschied von diesen eine ökonomische Ausnutzung der Klientelbeziehung durch den Herrn als unanständig galt. Sie waren persönliches und politisches, nicht aber ökonomisches Machtmittel des Herrn. Sie standen zum Herrn in einem durch die fides geregelten Verhältnis, über deren Innehaltung kein Richter, sondern ein Sittenkodex wachte und deren Verletzung von seiten eines Beteiligten in Rom sakrale Folgen hatte (die Verletzung der fides infamierte). Sie stammen aus der Zeit des Ritterkampfs und der Adelsherrschaft und waren ursprünglich die persönlich mit dem Herrn in den Krieg ziehenden, zu Geschenken und Unterstützung in Notfällen und vielleicht auch zu gelegentlicher Arbeitshilfe verpflichteten, vom Herrn mit Landlosen ausgestatteten und vor Gericht vertretenen, Ministerialen, wie die Sprache des Mittelalters sie bezeichnen würde, nicht aber seine Knechte. Nur waren sie nicht wie die späteren Ministerialen Leute von Ritterart und Ritterrang, sondern kleine Leute mit kleinen bäuerlichen Landlosen, eine Schicht plebejischer Kriegerleheninhaber. Der Klient war also ein am Bodenbesitz und an lokalen Gemeinschaften und deshalb am Wehrverband nicht Beteiligter, der sich (in Rom durch die applicatio) in ein Schutzverhältnis zu einem Geschlechterhaupt (pater) oder auch zum König begeben hat und daraufhin von diesem Rüstung und Land zugeteilt (technisch in Rom: adtribuere) erhält. Meist hat er diese Beziehung von den Vorfahren ererbt. Dies ist die alte Bedeutung der Klientel. Und ganz wie im Mittelalter in der Zeit der Adelsherrschaft die Muntmannen entstanden, so hat auch in der Antike der gleiche Zustand massenhaft freie Kleinbauern veranlaßt, sich schon um der Gerichtsvertretung durch Adlige willen in Klientelbeziehungen zu begeben. Dies ist in Rom wohl die Quelle der späteren freieren Formen der Klientel gewesen. Die alte Klientel dagegen gab wenigstens in Rom den Klienten ganz in die Hand des Herrn. Noch 134 v. Chr. bot Scipio seine Klienten als Feldherr auf. In der Bürgerkriegszeit sind in dieser Hinsicht die Kolonen (Kleinpächter) der großen Grundbesitzer an ihre Stelle getreten. Der Klient war in Rom in der Heeresversammlung stimmberechtigt und nach der Tradition (Livius) eine wichtige Stütze der Geschlechter. Eine rechtliche Aufhebung der Klientel ist wahrscheinlich niemals erfolgt. Aber der Sieg der Hoplitentechnik beseitigte ihre alte militärische Bedeutung auch dort, und in späterer Zeit ist das Institut nur erhalten als eine Einrichtung, welche dem Herrn sozialen Einfluß sicherte. Die hellenische Demokratie dagegen hat das Institut völlig vernichtet. Die Stadt des Mittelalters kennt innerhalb ihres Verbandes ein solches Institut überhaupt nur in der Form der Muntwaltschaft eines Vollbürgers über einen Nichtvollbürger, der sich in seinen Schutz begibt. Diese Gerichtsklientel verfiel mit der Geschlechterherrschaft.

4. Endlich umfaßte die Stadt der Antike die  F r e i g e l a s s e n e n. Ihre Zahl und Rolle war sehr bedeutend. Sie wurden ökonomisch ausgenutzt. Nach dem von italienischen Forschern sorgsam geprüften Inschriftenmaterial war etwa die Hälfte der Freigelassenen weiblichen Geschlechts. In diesem Falle dürfte die Freilassung meist dem Zwecke einer gültigen Eheschließung gedient haben und also durch Loskauf des Eheanwärters bewirkt sein. Im übrigen finden sich inschriftlich besonders viele Freigelassenen, welche Haussklaven waren und also ihre Freilassung persönlicher Gunst verdankten. Ob für die Gesamtheit diese Zahlen nicht sehr täuschen, ist doch äußerst fraglich, da naturgemäß gerade für diese Kategorie die Chance der inschriftlichen Erwähnung besonders groß war. Es ist dagegen recht plausibel, wenn wir mit Calderini die Zahl der Freilassungen aus dieser Schicht in Zeiten des politisch-ökonomischen Niedergangs anschwellen und in wirtschaftlich günstigen Zeiten abschwellen sehen: die Einschränkung der Gewinnchancen veranlaßte die Herren, den Haushalt einzuschränken und zugleich das Risiko der schlechten Zeit auf den Sklaven abzuwälzen, der sich ja nun selbst erhalten und seine Pflichtigkeiten an den Herrn bestreiten mußte. Die Agrarschriftsteller erwähnen Freilassung als Prämie für gute Wirtschaftsdienste. Der Herr wird ferner oft einen Haussklaven, statt ihn als Sklaven auszunutzen, freigelassen haben, weil er, worauf Max Strack hinweist, so der gerichtlichen, wenn auch begrenzten, Haftung für ihn ledig wurde. Aber andere Hinsichten dürften eine mindestens so große Rolle spielen. Der Sklave, dem sein Herr selbständigen Gewerbebetrieb gegen Abgaben gestattete, hatte ja die größten Chancen, Spargelder für den Loskauf aufzuspeichern, wie dies auch bei den russischen Leibeigenen der Fall war. Jedenfalls aber spielten für den Herrn die Dienste und Abgaben, zu denen der Freigelassene sich verpflichtete, die entscheidende Rolle. Der Freigelassene blieb in einer völlig patrimonialen, erst nach Generationen aufhörenden Beziehung zur Herrenfamilie. Er schuldete dem Herrn nicht nur die versprochenen, oft schweren Dienste und Abgaben, sondern auch seine Erbschaft unterlag, wie bei den Unfreien des Mittelalters, einem weitgehenden Zugriff des Herrn. Und daneben war er durch Pietätspflicht zu den verschiedensten persönlichen Obödienzen verbunden, welche die soziale Geltung und direkt die politische Macht des Herrn erhöhten. Die Folge war, daß die durchgeführte Demokratie, z. B. in Athen, die Freigelassenen vom Bürgerrecht völlig ausschloß und zu den Metöken zählte. In Rom, wo die Machtstellung des Amtsadels nie gebrochen wurde, zählten sie dagegen zu den Bürgern, nur setzte die Plebs durch, daß sie auf die vier städtischen Tribus beschränkt blieben, und darin gab ihr der Amtsadel nach, aus Furcht, sonst den Boden für eine Tyrannis bereiten zu helfen. Als Versuch, eine solche zu begründen, galt das Unternehmen des Zensors Appius Claudius, die Freigelassenen im Stimmrecht den Bürgern durch Verteilung auf alle Tribus gleichzustellen. Dieses charakteristische Unterfangen darf man freilich nicht mit Eduard Meyer als den Versuch der Schaffung einer "perikleischen" Demagogie auffassen. Denn die perikleische Herrscherstellung beruhte nicht auf Freigelassenen, welche hier ja gerade durch die Demokratie von allen Bürgerrechten ausgeschlossen waren, sondern gerade umgekehrt auf den Interessen der  V o l l bürgerzunft an der  p o l i t i s c h e n  Expansion der Stadt. Die antiken Freigelassenen waren dagegen in ihrer Masse eine Schicht von friedlichen Erwerbsmenschen, von homines oeconomici, welche in einem ganz spezifischen Grade, in einem weit höheren Maße als durchschnittlich irgendein Vollbürger einer antiken Demokratie, dem Erwerbsbürgertum des Mittelalters und der Neuzeit nahestanden. Darum also, ob mit ihrer Hilfe ein Volkskapitanat in Rom entstehen sollte, hätte es sich gehandelt, und die Zurückweisung des Versuchs des Appius Claudius bedeutete: daß nach wie vor das Bauernheer und der städtische Amtsadel, das erstere normalerweise vom letzteren beherrscht, die ausschlaggebenden Faktoren bleiben sollten.

Machen wir uns die spezifische Stellung der Freigelassenen, dieser in gewissem Sinne modernsten, einer "Bourgeoisie" nächststehenden Schicht der Antike noch etwas deutlicher. Nirgends haben die Freigelassenen die Zulassung zu Aemtern und Priestertümern, nirgends das völlige connubium, nirgends - obwohl sie in Notfällen aufgeboten wurden - die Teilnahme an den militärischen Exerzitien (dem Gymnásion) und an der Rechtspflege durchgesetzt, in Rom konnten sie nicht Ritter werden, und fast überall war ihre prozessuale Stellung irgendwie ungünstiger als die der Freien. Ihre rechtliche Sonderstellung hatte ökonomisch für sie die Bedeutung: daß nicht nur die Teilnahme an den vom Staat gewährten oder sonst  p o l i t i s c h  bedingten Emolumenten des Bürgers, sondern vor allem auch der Grunderwerb und mithin auch der Hypothekenbesitz ihnen verschlossen war. Die  G r u n d r e n t e  blieb also charakteristischerweise das spezifische Monopol der  V o l l bürger gerade in der   D e m o k r a t i e . In Rom, wo sie Bürger zweiter Klasse waren, bedeutete der Ausschluß von der Ritterwürde: daß ihnen die großen Steuerpachten und die Staatslieferungsgeschäfte, welche dieser Stand dort monopolisierte, verschlossen waren (wenigstens als Eigenunternehmen). Den Rittern standen sie also als eine Art von plebejischer Bourgeoisie gegenüber. Beides aber bedeutete praktisch: daß diese Schicht sich von dem spezifisch antiken, politisch orientierten Kapitalismus weitgehend ausgeschlossen und also auf die Bahn eines relativ modernen bürgerlichen Erwerbs hingewiesen sah. Sie sind denn auch die wichtigsten Träger jener Erwerbsformen, welche am meisten modernen Charakter zeigen, und entsprechen unserem kleinkapitalistischen, unter Umständen aber zu bedeutendem Reichtum aufsteigenden, Mittelstand bei weitem am ehesten, in entschiedenem Gegensatz zu dem typischen Demos der Vollbürger in der hellenischen Stadt, der die politisch bedingten  R e n t e n : Staatsrenten, Tagegelder, Hypothekarrenten, Landrenten monopolisiert. Die Arbeitsschulung der Sklaverei, verbunden mit der dem Sklaven winkenden Prämie des Freikaufs war ein starker Sporn für den Erwerbswillen der Unfreien in der Antike, ganz wie in der Neuzeit in Rußland. Der antike Demos war im Gegensatz dazu kriegerisch und politisch interessiert. Als eine Schicht ökonomischer Interessenten waren die Freigelassenen die gegebene Kultgemeinde des Augustus als des Bringers des Friedens. Die von ihm gestiftete Augustalenwürde ersetzte etwa unseren Hoflieferantentitel. -

Das Mittelalter kennt die Freigelassenen als einen besonderen Stand nur in der vorstädtischen Frühzeit. Innerhalb der Städte wurde die Schicht der Leibeigenen, deren Erbschaft dem Herrn ganz oder teilweise verfiel, durch den Satz: Stadtluft macht frei, und außerdem durch die städtischen Privilegien der Kaiser, welche den Zugriff der Herren auf die Erbschaft von Stadtbürgern verboten, schon in der ersten Zeit der städtischen Entwicklung beschränkt und fiel mit der Zunftherrschaft völlig dahin. Während in der Antike eine Zunftorganisation, welche vollbürgerliche, freigelassene und unfreie Handwerker umschlossen hätte, als politische Grundlage der Stadt als eines Militärverbandes völlig ausgeschlossen gewesen wäre, geht die mittelalterliche Zunftverfassung gerade umgekehrt von der Ignorierung der außerstädtischen ständischen Unterschiede aus.

Die antike Polis war, können wir resümieren, seit der Schaffung der Hoplitendisziplin eine  K r i e g e r z u n f t . Wo immer eine Stadt aktive Politik zu Lande treiben wollte, mußte sie in größerem oder geringerem Umfang dem Beispiel der Spartiaten folgen: trainierte Hoplitenheere aus Bürgern zu schaffen. Auch Argos und Theben haben in der Zeit ihrer Expansion Kontingente von Kriegervirtuosen, in Theben noch durch die Bande der persönlichen Kameradschaft verknüpft, geschaffen. Städte, welche keine solche Truppe besaßen, sondern nur ihre Bürgerhopliten, wie Athen und die meisten anderen, waren zu Lande auf die Defensive angewiesen. Ueberall aber waren nach dem Sturz der Geschlechter die Bürgerhopliten die ausschlaggebende Klasse der Vollbürger. Weder im Mittelalter noch irgendwo sonst findet diese Schicht eine Analogie. Auch die nicht spartanischen hellenischen Städte hatten den Charakter eines chronischen Kriegslagers in irgendeinem Grade ausgeprägt. In der ersten Zeit der Hoplitenpolis hatten daher die Städte zunehmend den Abschluß gegen außen im Gegensatz zu der weitgehenden Freizügigkeit der hesiodischen Zeit entwickelt, und es bestand sehr vielfach die Beschränkung der Veräußerlichkeit des Kriegerloses. Diese Einrichtung verfiel aber in den meisten Städten schon früh und wurde ganz überflüssig, als teils geworbene Söldner, teils, in den Seestädten, der Flottendienst in den Vordergrund traten. Aber auch damals blieb der Kriegsdienst letztlich maßgebend für die politische Herrschaft in der Stadt, und diese behielt den Charakter einer militaristischen Zunft bei. Nach außen war es gerade die radikale Demokratie in Athen, welche die angesichts der beschränkten Bürgerzahl nahezu phantastische, Aegypten und Sizilien umspannende Expansionspolitik stützte. Nach innen war die Polis als ein militaristischer Verband absolut souverän. Die Bürgerschaft schaltete in jeder Hinsicht nach Belieben mit dem Einzelnen. Schlechte Wirtschaft, speziell Vergeudung des ererbten Kriegerloses (der bona paterna avitaque der römischen Entmündigungsformel), Ehebruch, schlechte Erziehung des Sohnes, schlechte Behandlung der Eltern, Asebie, Hybris: - jedes Verhalten überhaupt, welches die militärische und bürgerliche Zucht und Ordnung gefährdete oder die Götter zum Nachteil der Polis erzürnen konnte - wurden trotz der berühmten Versicherung des Perikles in der thukydideischen Leichenrede: daß in Athen jeder leben könne, wie er wolle, hart gestraft und führten in Rom zum Einschreiten des Zensors. Prinzipiell also war von persönlicher Freiheit der Lebensführung keine Rede und, soweit sie faktisch bestand, war sie, wie in Athen, erkauft durch die geringere Schlagkraft der Bürgermiliz. Auch ökonomisch verfügte die hellenische Stadt unbedingt über das Vermögen der Einzelnen: im Fall der Verschuldung verpfändete sie noch in hellenistischer Zeit auch Privatbesitz und Person ihres Bürgers an den Gläubiger. Der Bürger blieb in erster Linie Soldat. Neben Quellwasser, Markt, Amtsgebäude und Theater gehört nach Pausanias zu einer Stadt das Gymnásion. Es fehlte nirgends. Auf Markt und Gymnásion verbringt der Bürger den Hauptteil seiner Zeit. Seine persönliche Inanspruchnahme: durch Ekklesia, Geschworenendienst, Ratsdienst und Amtsdienst im Turnus, vor allem aber durch Feldzüge: jahrzehntelang Sommer für Sommer, war in Athen gerade in der klassischen Zeit eine solche, wie sie bei differenzierter Kultur weder vorher noch nachher in der Geschichte erhört ist. Auf alle irgend erheblichen Bürgervermögen legte die Polis der Demokratie die Hand. Die Leiturgie der Trierarchie: Ausrüstung und Beschaftung des Kommandos von Kriegsschiffen, der Hierarchie: Herrichtung der großen Feste und Aufführungen, die Zwangsanleihen im Notfall, das attische Institut der Antidosis, überlieferte alle bürgerliche Vermögensbildung der Labilität. Die absolut willkürliche Kadijustiz der Volksgerichte (Zivilprozesse vor hunderten von rechtsunkundigen Geschworenen) gefährdete die formale Rechtssicherheit so stark, daß eher die Fortexistenz von Vermögen wundernimmt als die sehr starken Peripetien bei jedem politischen Mißerfolg. Dieser wirkte um so vernichtender, als einer der wichtigsten Vermögensbestandteile: die Sklaven, dann durch massenhaftes Entlaufen zusammenzuschrumpfen pflegte. Andererseits bedurfte die Demokratie für die Pachtung ihrer Lieferungen, Bauten, Abgaben der Kapitalisten. Eine rein nationale Kapitalistenklasse wie in Rom in Gestalt des Ritterstandes war aber in Hellas nicht entwickelt. Die meisten Städte suchten vielmehr gerade umgekehrt durch Zulassung und Heranziehung gerade auch auswärtiger Reflektanten die Konkurrenz dieser zu steigern, und die einzelnen Stadtgebiete waren zu klein, um hinlängliche Gewinnchancen zu bieten. Besitz von Land, in meist mäßigem Ausmaß Besitz von Sklaven, welche Zins an den Herrn zahlten oder als Arbeiter vermietet wurden (Nikias), daneben Schiffsbesitz und Kapitalbeteiligung am Handel waren die typischen Vermögensanlagen der Bürger. Dazu trat für die herrschenden Städte die Anlage in auswärtigen Hypotheken und Bodenbesitz. Diese war nur möglich, wenn das lokale Bodenbesitzmonopol der beherrschten Bürgerzünfte gebrochen war. Staatlicher Landerwerb, der dann an Athener verpachtet oder an attische Kleruchen gegeben wurde, und Zulassung der Athener zum Bodenbesitz in den Untertanenstädten waren daher wesentliche Zwecke der Seeherrschaft. Der Grund- und Menschenbesitz spielte also in der ökonomischen Lage der Bürger auch in der Demokratie durchaus die ausschlaggebende Rolle. Der Krieg, der alle diese Besitzverhältnisse umstürzen konnte, war chronisch und steigerte sich im Gegensatz gegen die ritterliche Kriegführung der Geschlechterzeit zu außerordentlicher Rücksichtslosigkeit. Fast jede siegreiche Schlacht brachte die massenhafte Abschlachtung der Gefangenen, jede Eroberung einer Stadt Tötung oder Sklaverei der ganzen Einwohnerschaft. Jeder Sieg entsprechend plötzliche Steigerung der Sklavenzufuhr. Ein solcher Demos konnte unmöglich primär in der Richtung des befriedeten  ö k o n o m i s c h e n  Erwerbs und eines   r a t i o n a l e n  Wirtschaftsbetriebes orientiert sein.

Darin verhielt sich das mittelalterliche Stadtbürgertum schon der ersten Entwicklungsperiode ganz erheblich anders. Die nächstverwandten Erscheinungen finden sich im Mittelalter wesentlich in den Seestädten Venedig und namentlich Genua, deren Reichtum an ihrer überseeischen Kolonialmacht hing. Dabei handelte es sich aber dem Schwerpunkt nach um Plantagen- oder grundherrlichen Besitz einerseits, Handelsprivilegien und gewerbliche Siedlungen andererseits, nicht aber um Kleruchien oder um Kriegssold oder um Dotierung der Masse der Bürger aus Tributen wie im Altertum. Die mittelalterliche  g e w e r b l i c h e  B i n n e n s t a d t  vollends steht dem antiken Typus ganz fern. Zwar war nach dem Siege des Popolo das Unternehmertum der oberen Zünfte oft außerordentlich kriegerisch gesinnt. Die Beseitigung lästiger Konkurrenten, Beherrschung oder Zollfreiheit der Straße Handelsmonopole und Stapelrechte spielen dabei vorwaltend die entscheidende Rolle. Allerdings kennt auch die mittelalterliche Stadt starke Umwälzungen des Grundbesitzstandes sowohl als Folge auswärtiger Siege, wie einer Umwälzung der Parteiherrschaft in der Stadt. Besonders in Italien: der Grundbesitz der jeweils besiegten oder feindlichen Partei gibt der herrschenden Partei Gelegenheit zu Pachtungen von Land von der staatlichen Zwangsverwaltung oder zu direkt käuflichem Erwerb, und jede Niederwerfung einer fremden Gemeinde vermehrt auch das unterworfene Landgebiet und damit die Möglichkeit des Bodenerwerbs für die siegreiche Bürgerschaft. Aber der Radikalismus dieser Besitzveränderungen ist nicht zu vergleichen mit den ungeheuren Besitzumwälzungen, welche noch in der Spätzeit der antiken Städte jede Revolution und jeder siegreiche auswärtige oder Bürgerkrieg mit sich brachte. Und vor allem steht nicht der  G r u n d b e s i t z  im Vordergrunde des ökonomischen Interesses bei der Expansion. Die mittelalterliche Stadt war unter der Herrschaft der Zünfte ein ganz außerordentlich viel stärker in der Richtung des Erwerbs durch rationale Wirtschaft orientiertes Gebilde als irgendeine Stadt des Altertums, solange die Epoche der unabhängigen Polis dauerte. Erst der Untergang der Stadtfreiheit in hellenistischer und spätrömischer Zeit änderte dies durch die Vernichtung der Chance, ökonomischen Verdienst auf dem Wege der kriegerischen Politik der Stadt für die Bürger zu schaffen. Gewiß: auch im Mittelalter waren einzelne Städte, so namentlich Florenz, in dessen Armee zuerst die Artillerie auftaucht, Träger des Fortschritts der Kriegstechnik zu Lande. Und schon das Bürgeraufgebot der Lombarden gegen Friedrich I. bedeutete eine militärtechnisch erhebliche Schöpfung. Aber die Ritterheere blieben doch den Stadtheeren im ganzen mindestens ebenbürtig, im Durchschnitt namentlich in Niederungen weit überlegen. Den Stadtbürgern konnte militärische Stärke zwar als Stütze, aber in Binnenlanden nicht als Grundlage ihres ökonomischen Erwerbs dienen. Dieser war dadurch, daß der Sitz der höchsten Militärs nicht in den Städten lag, auf den Weg  r a t i o n a l e r  W i r t s c h a f t s m i t t e l  hingewiesen.

Vier große Machtschöpfungen sind von der antiken Polis als solcher unternommen worden: das sizilianische Reich des Dionysios, der attische Bund, das karthagische und das römisch-italische Reich. Den peloponnesischen und den boeotischen Bund dürfen wir beiseite lassen, weil ihre Großmachtstellung ephemär war. Jede jener vier Schöpfungen ruhte auf einer anderen Basis. Die Großmacht des Dionysios war eine auf Söldner und nur daneben auf das Bürgerheer gestützte reine Militärmonarchie, die für uns als untypisch kein spezifisches Interesse bietet. Der attische Bund war eine Schöpfung der Demokratie, also einer Bürgerzunft. Dies mußte notwendig zu einer ganz exklusiven Bürgerrechtspolitik führen und bedingte andererseits die völlige Unterordnung der verbündeten demokratischen Bürgerzünfte unter die Bürgerzunft der herrschenden Stadt. Da die Höhe der Tribute nicht fest vereinbart, sondern einseitig in Athen festgestellt wurde, wenn auch nicht vom Demos selbst, sondern von einer kontradiktorisch verhandelnden Kommission, welche der Demos wählte, und da alle Prozesse der Bundesgenossen nach Athen gezogen wurden, so war die dortige kleine Bürgerzunft unumschränkte Herrin des weiten Reiches, nachdem mit wenigen Ausnahmen die Herstellung eigener Schiffe und Kontingente der Untertanen durch Geldzahlungen ersetzt und damit der gesamte Matrosendienst der herrschenden Bürgerschaft zugewiesen war. Eine einzige endgültige Vernichtung der Flotte dieses Demos mußte daher dieser Herrschaft ein Ende bereiten. Die Großmachtstellung der Stadt Karthago, beherrscht streng plutokratisch von großen Geschlechtern, welche Handels- und Seekriegsgewinn in typischer antiker Art mit großem Grundbesitz verbanden, der hier aber kapitalistisch mit Sklaven bewirtschafteter Plantagenbesitz war, ruhte auf Söldnerheeren. (In Verbindung mit der Expansionspolitik ging die Stadt erst zur Münzprägung über.) Die Beziehung der Heerführer, deren Heer an ihnen persönlich, ihren Erfolgen und Schicksalen mit seinen Beutechancen hing, zu den Patrizierfamilien der Stadt konnte niemals die Spannung verlieren, welche bis auf Wallenstein herab jedem auf eigener Werbung ruhenden Heerführertum gegenüber seinem Auftraggeber eigen gewesen ist. Dieses nie ruhende Mißtrauen schwächte die militärischen Operationen, so daß die Ueberlegenheit der Taktik des Berufsheeres der Söldner gegenüber den italischen Bürgeraufgeboten nicht dauernd behauptet werden konnte, sobald auch dort an die Spitze ein einzelner Dauerfeldherr gestellt wurde und die militärische Leistungsfähigkeit der Korporale und Soldaten dem Soldheere ebenbürtig geworden war. Dem Mißtrauen der karthagischen Plutokratie und der spartanischen Ephoren gegen die siegreichen Feldherren entspricht durchaus das Verhalten des attischen Demos und die von ihm entwickelte Institution des Ostrakismós. Die Abneigung der herrschenden Schicht dagegen: im Falle der Entstehung einer Militärmonarchie die Knechtschaft der unterworfenen auswärtigen Völker teilen zu müssen, lähmte die Expansionskraft. Allen antiken Hoplitenschaften gemeinsam ist ferner die durch mächtige, ökonomisch nutzbare politische Monopolinteressen gestützte Abneigung, die eigene politische Sondervergemeinschaftung der vollberechtigten Bürger durch Oeffnung der Schranken des Bürgerrechts zu erweitern und in einem einzigen Bürgerrecht eines aus zahlreichen Einzelgemeinden bestehenden Reiches aufgehen zu lassen. Alle auf dem Wege zu einem interstädtischen Bürgerrecht liegenden Vergemeinschaftungsformen haben jene Grundtendenz niemals ganz verschwinden lassen. Denn alles, was der Bürger als Recht, als Grundlage seines Prestiges und ideellen Bürgerstolzes ebenso wie als ökonomische Chance genoß, hing an seiner Zugehörigkeit zur militärischen Bürgerzunft, und die strenge Exklusivität der Kultgemeinschaften gegeneinander war ein weiteres Moment der Hemmung einer einheitsstaatlichen Bildung. Ganz unüberwindlich waren alle jene Momente nicht, wie das Gebilde des boeotischen Bundesstaates beweist, der ein gemeinsames boeotisches Bürgerrecht, gemeinsame Beamte, eine durch Repräsentanten der einzelnen Bürgerschaften beschickte beschließende Versammlung, gemeinsame Münze und gemeinsames Heer neben einer Gemeindeautonomie der einzelnen Städte kannte. Aber er steht in dieser Hinsicht innerhalb der hellenischen Welt nahezu isoliert da. Der peloponnesische Bund bedeutete nichts ähnliches, und alle anderen Bundesverhältnisse lagen nach der gerade entgegengesetzten Richtung. Es waren durchaus besondere soziale Bedingungen, welche die römische Gemeinde dazu gebracht haben, in dieser Hinsicht eine vom antiken Typus sehr stark abweichende Politik zu treiben.

In Rom war in ungleich stärkerem Maße als in irgendeiner antiken Polis eine Honoratiorenschicht stark feudalen Gepräges Träger der Herrschaft geblieben und nach nur zeitweiliger Erschütterung stets erneut geworden. Dies tritt auch in den Institutionen deutlich zutage. Der Sieg der Plebs hatte eine Demeneinteilung im hellenischen Sinne nicht gebracht, sondern der Form nach eine Herrschaft der in den Tribus sitzenden Bauern, der Sache nach aber die Herrschaft der  s t a d t s ä s s i g e n  ländlichen Grundrentner, die allein ständig an dem politischen Leben der Stadt teilnahmen. Sie allein waren ökonomisch "äbkömmlich", also amtsfähig, und der Senat als Repräsentation der großen Beamten [war] Träger der  A m t s a d e l s b i l d u n g . Dazu tritt nun die außerordentlich starke Bedeutung feudaler und halbfeudaler Abhängigkeitsverhältnisse. In Rom hat die Klientel als Institution, wenn auch ihres alten militärischen Charakters zunehmend entkleidet, bis in die spätesten Zeiten ihre Rolle gespielt. Wir sahen ferner, daß die Freigelassenen der Sache nach geradezu unter einer Art von sklavenartiger Gerichtshörigkeit standen: Caesar ließ einen seiner Freigelassenen hinrichten, ohne daß dagegen Widerspruch entstanden wäre. Der römische Amtsadel wurde je länger je mehr eine Schicht, welche nach dem Umfang ihres Grundbesitzes nur in den frühhellenischen, als "Tyrannen" verschrienen Figuren eines interlokalen Adels von der Art des Militiades eine schwache Analogie fand. Die Zeit des älteren Cato rechnete noch mit Gütern mäßigen Umfanges, immerhin weit größeren als etwa dem Erbbesitz des Alkibiades oder der von Xenohon als normal vorausgesetzten Landgüter. Aber die einzelnen Adelsfamilien kumulierten unzweifelhaft schon damals Massen solchen Besitzes und waren überdies direkt an den standesgemäß und, durch Vermittlung ihrer Freigelassenen und Sklaven, auch an den für unstandesgemäß geltenden Geschäften aller Art durch die ganze Welt hin beteiligt. Kein hellenischer Adel konnte sich entfernt mit dem ökonomischen und sozialen Niveau der römischen Geschlechter der späteren Republik messen. Auf den wachsenden Grundbesitzungen des römischen Adels wuchs die Zahl der Parzellenpächter (coloni), welche vom Herrn mit Inventar ausgerüstet und in der Wirtschaftsführung kontrolliert, nach jeder Krise immer tiefer verschuldet, faktisch erblich auf ihren Stellen blieben und vollständig von dem Herrn abhängig, in den Bürgerkriegen von den Parteiführern (ebenso wie von den Feldherren noch im numantinischen Kriege die Klienten) zur Kriegshilfe aufgeboten wurden.

Aber nicht nur massenhafte Einzelpersonen standen im Klientelverhältnis. Der siegreiche Feldherr nahm verbündete Städte und Länder in persönlichen Schutz, und diese Patronage blieb in seinem Geschlecht: so hatten die Claudier Sparta und Pergamon, andere Familien andere Städte in Klientel, empfingen ihre Gesandten und vertraten im Senat deren Wünsche. Nirgends in der Welt ist eine derartige politische Patronage in den Händen einzelner, formell rein privater Familien vereinigt gewesen. Längst vor aller Monarchie existierten private Herrschergewalten, wie sie sonst nur Monarchen besitzen. Diese auf Klientelbeziehungen aller Art ruhende Macht des Amtsadels hat die Demokratie nicht zu durchbrechen vermocht. An eine Eingemeindung der Geschlechter in die Demen und die Erhebung dieser Verbände zu Konstituentien des politischen Verbandes zum Zweck der Zerbrechung der Macht der Geschlechterverbände nach attischer Art ist in Rom gar nicht gedacht worden. Ebensowenig ist jemals versucht worden, so wie es die attische Demokratie nach der Vernichtung des Areiopags tat, einen erlosten Ausschuß des Demos als Verwaltungsbehörde und frei aus der ganzen Bürgerschaft erloste Geschworene als Gerichtsbehörde zu konstituieren. In Rom behielt die jenem Areiopag am meisten entsprechende Vertretung des Amtsadels, der Senat, als ständige Körperschaft gegenüber den wechselnden Wahlbeamten die Verwaltungskontrolle in der Hand, und selbst die siegreiche Militärmonarchie hat zunächst nicht den Versuch gemacht, diese Geschlechter auf die Seite zu schieben, sondern sie nur entwaffnet und auf die Verwaltung befriedeter Provinzen beschränkt.

Die patrimoniale Konstruktion der herrschenden Schicht äußerte sich auch in der Art der Führung der Amtsgeschäfte. Ursprünglich wurde das Büropersonal wohl überall von den Beamten selbst gestellt. Innerhalb der Friedensverwaltung wurde die Bestellung des subalternen Personals allerdings später seiner Verfügung weitgehend entzogen, aber den Feldherrn unterstützten sicherlich seine Klienten und Freigelassenen, daneben aber die freie Gefolgschaft persönlicher und politischer Freunde aus verbündeten Geschlechtern in der Ausübung seines Amtes. Denn im Felddienst war die Uebertragung der Amtswahrnehmung an Beauftragte weitgehend gestattet. Auch der Prinzeps der ersten Zeit der Militärmonarchie führte seine Verwaltung unbeschadet der später zunehmenden Einschränkung zu einem immerhin sehr großen Teile mit Hilfe seiner Freigelassenen, so daß diese Schicht gerade damals unter der Herrschaft der von jeher klientelreichen Claudier den Höhepunkt ihrer Macht erreichte und ein claudischer Kaiser dem Senat drohen konnte, auch formell die Gesamtverwaltung ganz in die Hand dieser seiner persönlichen Untertanen zu legen. Und ganz wie bei den spätrepublikanischen Adelsgeschlechtern lag auch beim Prinzeps einer der wichtigsten Schwerpunkte seiner ökonomischen Macht in den namentlich unter Nero gewaltig vermehrten Grundherrschaften und in solchen Gebietsteilen, die, wie namentlich Aegypten, wenn auch nicht, wie man behauptet hat, rechtlich, so doch faktisch als eine Art persönlicher Patrimonialherrschaft verwaltet wurden. Diese so bis in späte Zeiten nachwirkende Bedeutung des patrimonialen und feudalen Einschlags der römischen Republik und ihrer Honoratiorenverwaltung ist in ihrer Eigenart in einer nie völlig unterbrochenen Tradition von altersher, wenn auch ursprünglich naturgemäß in kleinerem Kreise, vorhanden gewesen und war die Quelle sehr wichtiger Unterschiede gegenüber dem Hellenentum. Schon die äußere Lebensführung wies charakteristische Unterschiede auf. In Hellas begann in der Zeit des Wagenkampfes der adlige Mann sich auf dem Ringplatz zu tummeln, wie wir sahen. Der Agón, das Produkt des individuellen Ritterkampfes und der Verklärung des ritterlichen Kriegsheldentums war Quelle der entscheidensten Züge der hellenischen Erziehung. Gegenüber dem Turnier des Mittelalters war, so sehr Wagen und Pferde im Vordergrund standen, doch der wichtige Unterschied von Anfang an vorhanden: daß bestimmte offizielle Feste ein- für allemal nur in dieser Form des Agón begangen wurden. Und mit dem Vordringen der Hoplitentechnik verbreiterte sich nur der Kreis des Agón. Alles, was auf dem Gymnásion geübt wurde: Speerkampf, Ringen, Faustkampf, vor allem Wettlauf, nahm diese Form an und wurde dadurch "gesellschaftsfähig". Die rituellen Gesänge zu Ehren der Götter wurden durch musische Agóne ergänzt. Zwar glänzte der vornehme Mann dabei durch die Qualität seines Besitzes: Pferde und Wagen, die er für sich laufen ließ. Aber der Form nach mußten die plebejischen Agóne als ebenbürtig anerkannt werden. Der Agón wurde organisiert mit Preisen, Schiedsrichtern, Kampfregeln und durchdrang das gesamte Leben. Nächst dem Heldengesang wurde er das wichtigste nationale Band des Hellenentums im Gegensatz zu allen Barbaren.

Schon das älteste Auftauchen der Hellenen auf Bildwerken scheint nun als ihnen spezifisch die Nacktheit, das Fehlen aller Bekleidung außer den Waffen, zu erweisen. Von Sparta, der Stätte des höchsten militärischen Trainings aus, verbreitete sie sich über die hellenische Welt, und auch der Lendenschurz fiel fort. Keine Gemeinschaft der Erde hat eine Institution wie diesen [Agón] zu einer solchen, alle Interessen und die ganze Kunstübung und Konversation bis zu den platonischen Dialogkämpfen beherrschenden Bedeutung entwickelt. Bis in die Spätzeit der byzantinisehen Herrschaft sind die Zirkusparteien die Form, in welche sich Spaltungen der Massen kleiden, und die Träger von Revolutionen in Konstantinopel und Alexandrien. Den Italikern blieb diese Bedeutung der Institution, wenigstens diejenige Art ihrer Entwicklung, welche sie in der klassischen hellenischen Zeit genommen hat, fremd. In Etrurien herrschte der Stadtadel der Lukumonen über verachtete Plebejer und ließ bezahlte Athleten vor sich auftreten. Und auch in Rom lehnte der herrschende Adel ein solches Sich-gemein-machen mit und vor der Menge ab. Niemals hat sein Prestigegefühl einen solchen Verlust von Distanz und Würde ertragen, wie sie ihm diese nackten Turnfeste der "Graeculi" bedeuteten, ebensowenig wie den kultischen Singtanz, die dionysische Orgiastik oder die abalienatio mentis der Ekstase. Es trat im römischen politischen Leben die Bedeutung der Rede und des Verkehrs auf der Agorá und in der Ekklesia ebenso weit zurück, wie der Wettkampf auf dem Gymnásion, der gänzlich fehlte. Reden wurden erst später und dann wesentlich im Senat gehalten und hatten demgemäß einen ganz anderen Charakter als die politische Redekunst des attischen Demagogen. Tradition und Erfahrung der Alten, der gewesenen Beamten vor allem, bestimmten die Politik. Das Alter und nicht die Jugend war maßgebend für den Ton des Verkehrs und die Art des Würdegefühls. Rationale Erwägung, nicht aber die durch Reden angeregte Beutelust des Demos oder die emotionale Erregung der Jungmannschaft gab in der Politik den Ausschlag. Rom blieb unter der Leitung der Erfahrung, Erwägung und der feudalen Macht der Honoratiorenschicht.