Bruno Taut (Fortsetzung)

II.     DIE WELLE

Heute liegt uns alles Pathetische meilenfern.

"JÜNGLICHE TRETET HER.
ZU HÖREN ZIEMT. . . . . . . .
MIT ALLEN SCHWINGEN
BRAUST IHR BALD HINAUS. .
DESS SCHOLLE NOCH DIE
MÄCHTIGEN HORTE HEHLT. .
SCHON SCHNARRT DER RUF!"

Solche Töne aus einem neuen Gedichtbuch, und wenn es auch im Inselverlag erschienen ist, haben schon pathologischen Charakter. Man mag den wahren Klassiker der heutigen deutschen Sprache, Paul Scheerbart, auch nicht kennen oder verstehen, aber schon ein Tagesname wie Jack London liegt auf einer ganz anderen Ebene. Fern sind die Tage der Wagnerbegeisterung, ja fast ebenso die Zeiten, da Beethoven mehr war als ein bloßer ästhetischer Genuß. Auch der unpathetische Gefühlsausdruck scheint eben nicht mehr möglich zu sein. Die Zeiten müssen wohl erst die Form für das Gefühl schaffen; jeder bisherige Ausdruck dafür grenzt für uns ans Sentimentale oder Kitschige, auch wenn nicht gerade solche Sätze auftauchen wie folgender aus einem neuen Goetheroman des Verlages Albert Langen:

"er war von tiefinnerster Bewegung
so blaß geworden, daß sein schöne
Gesicht fast die Farbe des weissen
Spitzenjabots annahm und der dunkle
Rand der gesenkten Lider wie eine
feine Rabenfeder auf der Wange lag."

Auch von Innerlichkeit zu reden, ist heute unmöglich. Verinnerlichung, Vergeistigung, Veredelung und all dergleichen kann man nicht mehr anständigerweise und ohne Ironie auf die Zunge nehmen. Die Zeit der großen Worte ist vorbei. Auch die Zeit der großen Männer. Bernard Shaw: "Es gibt ebensowenig ‚große Männer' wie ,große Nationen' und ,große' Staaten. Diesen ganzen Humbug wollen wir ruhig dem 19. Jahrhundert überlassen, für das er charakteristisch ist. Wir müssen diesen Personalkult los werden. Wir müssen die ,großen Männer' los werden, dann werden wir auch die ,großen Nationen' los sein und dann wird es uns allen - vielleicht - besser gehen!" Was sich als unser heutiges Denken und unsere heutige Anschauung nach und nach einstellt, ist durch diese Negationen angedeutet. Es ist eine gewisse kindliche, harmlose Freude an den Erscheinungen der Welt, die uns umgibt, eine Verständnislosigkeit gegenüber allen Rätselratern und Predigern mit vollem Mund. Was hat man sich für Kopfschmerzen über die Ästhetisierung der Reklame gemacht; man verbietet ja noch bis jetzt in München die Lichtreklame, und doch haben wir alle wie Kinder unsere Freude an ihr, ohne uns kaum bewußt zu werden, was da alles angepriesen wird. Wie urkomisch ernst hat man die Häuserbemalung genommen! Vereine wurden gegründet, Zeitschriften "Die farbige Stadt", "Das farbige Straßenbild", amtliche Verfügungen mit "Richtlinien" erscheinen usw. usw. - und das alles auf einem Gebiet, das wie der Tanz Sache des einfachsten, lockersten, heitersten Impulses sein sollte. Man verulkte mich, als ich in Magdeburg das Rathaus anstrich, damit, ich solle doch auch die Straßen anstreichen. Und nun:

Farbige Automobilstraßen
Von England  geht die  Anregung  aus,
die  eintönig   grauen    Fahrstraßen  in
farbige   Straßen   umzuwandeln.   Das
könnte  nach  der  Darlegung in " Han-
del   und   Industrie"  auch   ganz  gut
durchgeführt  werden,  weil  in   letzter
Zeit  ein   neuer    Baustoff   hergestellt
wird   dessen   poröse,   bimssteinähn-
liche   Masse   bei    außerordentlicher
Leichtigkeit  eine  größere    Zugfestig-
keit   gewährleistet   als   der   Zement.
Dieser   neue    Stoff    A e r o c r e t e
genannt,  kann  auf den   Zementbelag
der  Straße  aufgetragen  werden  und
bildet  sodann  eine  Schutzschicht, in
der sich  keine  Risse bilden. Auf diese
Weise ist es auch möglich, den  so be-
handelten Straßen mit Hilfe von unlös-
lichen  Farbstoffen  eine    Färbung  zu
geben, etwa  sie  blau  zu färben. Wo-
durch sie sich sehr deutlich  abheben;
Außerdem  ermüdet  ihr  Anblick    das
Auge des  Fahrers  nicht  so  wie   das
einförmige Grau.

Diese naive Betrachtung des ganzen Lebens fällt wie ein Scheinwerfer mit hellstem Licht auf die gesamte Bauerei unserer Tage. Beim Industriebau sind wir glücklich so weit, daß schon fast jeder die fremdartige Verzierung und Monumentalisierung ablehnt. Beim Wohnhausbau aber möchte man doch ein wenig vom "Schmücke Dein Heim" sehen und verwechselt die Wohnlichkeit mit dem Anbringen von Atrappen. Wohnlich ist das Wohnhaus, wenn es gut zu bewohnen ist, und diese Art der Wohnlichkeit spricht sich bei harmloser Unbefangenheit des Erbauers ohne weiteres auch in seiner äußeren Erscheinung aus. Es spukt bei diesem Thema noch etwas wie die "große" Kunst herum, so "groß" wie Shaws große Männer und Nationen. Und doch ist gerade das Wohnhaus das Gebiet, bei dem das einfachste und ungezwungenste Auftreten in der Natur der Sache liegen sollte. Massen von Wohnhäusern, in denen mit ein, zwei und drei Zimmern Hinz und Kunz wohnt, - was sollen solche Bauten von hoher Kunst reden! Sie sind gewiß nicht fern ab von allem Künstlerischen, durchaus nicht bloße Zweckbauten wie eine Latrine oder im höheren Stadium ein Industriewerk. Das können wir selbst von den alten Bauten ablesen, ob es nun die allereinfachsten Wohnhäuser aus dem 18. Jahrhundert um den Russel Square in London oder die Fuggerhäuser in Augsburg sind. Sie können und müssen sogar ihren eigenen Ausdruck haben, ihre eigene Melodie oder im Großen ihren Rhythmus des Massengesanges, aber dieser Ausdruck muß der den Wohnhäusern eigentümliche, aus ihnen unmittelbar sprechende sein und darf höchstens das bescheidene Podium für ein größeres Bauwerk bilden, wenn ein solches einmal kommen will. Auch mit der neuen Musik bildet sich hier ein Berührungspunkt. Kurt Dippner schreibt folgendes:

. . . So wurden wir Zeuge einer merkwürdigen Umstellung des Geschmacks auf Melodie und Einfachheit . . . so stehen doch zur neuen Idee, nämlich dem "Zurück zur Einfachheit!", zu viele, daß ich wage, dies als wichtigstes und elementarstes Gesetz der neuen Kunst auszusprechen . . . Heute kennen wir zwei Namen, die als Kometen erschienen und zu Sternen wurden, weil selbst der eingefleischte Klassizist ihnen ein Zugeständnis nicht versagen kann: daß sie begabt sind mit der urwüchsigsten Musikantennatur, mit der Liebe zu Melodie und Rhythmus. Beide kommen aus gegensätzlichen Kulturkreisen, von konträrsten Voraussetzungen her und beide treffen sich heute in einem, der Abkehr von allem, was gestern war, dem Riesenorchester, der großen Oper, dem Romantisieren, von allem, was nach Wichtigkeit und Pathetik klingt - in der Beschränkung auf primitivste Ausdruckmittel, auf das Handwerkliche, in ihrer Sehnsucht nach Klarheit, im Zurückgreifen auf eine Polyphonie, die in ihrer Konsequenz noch erschreckt durch Schärfe der Klangwirkungen bei Hindemith oder verblüfft durch die scheinbar naiven tonalen Trümpfe bei Strawinski. Davor liegen noch Übergänge zu diesem "neusachlichen" Stil . . . Paul Hindemith bereitete uns . . . Schrecken oder Begeisterung, je nach Einstellung des Hörers. Vielleicht kommen wir einmal dahin, daß wir . . . ihren Verkündern zum mindesten die Ehrlichkeit nicht absprechen bei ihrer Arbeit, die sie sich nicht gerade bequem gemacht haben und die mir bestätigt erscheint durch die Parallel-Erscheinungen, die wir auch auf außermusikalischem Gebiet beobachten können. Gewiß wäre es affektiert, von einem Werk, wie etwa Hindemiths Cello-Konzert, nach einmaligem Hören begeistert zu sein: aber sind wir denn - ehrlich gesagt - wirklich imstande, Bachs abstrakte Polyphonie ohne weiteres genießend aufzunehmen?

Wo stehen wir? Wir gehen. Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir sind ein Stück weitergekommen. "

Diese Worte treffen mit kleinen Übertragungen auch den Weg der neuen Baukunst. Auch wir glauben nicht ein Ziel erreicht zu haben, aber wir glauben, daß wir gehen. Der Weg selbst wird sich durch das Weitere und die Bilder deutlich genug kennzeichnen. Vielleicht, daß der Einfluß Amerikas wenigstens in einem Punkte gut ist und wertvolle Folgen hat, vielleicht, daß die einfache und natürliche Art des Amerikaners, seine Umwelt ohne große Problematik anzusehen, auf uns im guten Sinne abfärbt. Wir dürfen soviel wohl sagen; sind wir doch endlich auch zur Skepsis gegen die blinde Anstaunung alles Amerikanischen gelangt und teilen durchaus die Zweifel des Amerikaners Lewis Mumford ("Vom Blockhaus zum Wolkenkratzer") gegenüber der Überschätzung von Maschine und Technik:

". . . Wo wir das Sonnenlicht ausschalten, führen wir das elektrische Licht ein; wo wir den Geschäftsbetrieb über das Maß des Möglichen zusammendrängen, bauen wir Wolkenkratzer, wo wir die Verkehrsadern überlasten, schlachten wir Untergrundbahnen aus; wo wir in der Stadt eine Überfüllung der Bevölkerung dulden, die keine gut organisierte Gemeinde zulassen würde, leiten wir das Wasser hunderte von Meilen her; wo wir der Bevölkerung die letzten Spuren der Vegetation und frischer Luft rauben, legen wir metallene Wege an, um sie, zum Teil wenigstens, einmal wöchentlich aufs Land zu bringen . . . All diese maschinellen Errungenschaften repräsentieren nicht etwa den Triumph menschlicher Arbeit, sie zeigen den Mißbrauch, den man mit ihnen treibt, in seiner ganzen Ausdehnung. Während ein erfinderisches Zeitalter Methoden verfolgt, die keinerlei Beziehung zu einer intelligenten und humanen Lebensform haben, würde ein phantasievolles die Notwendigkeit solcher Methoden nicht anerkennen. Indem wir unsere gesamte Entwicklung auf der Maschine aufbauen, haben wir uns selbst der Hoffnung, beraubt, die wir auf die Maschine setzen: nämlich unsere Daseinbedingungen mit ihrer Hilfe von Grund auf menschlicher zu gestalten. "

Der Präsident der U.S.A. sagte am 150. Gedenktage der Unabhängigkeitserklärung, sie sei das Ergebnis des im Volke wohnenden Gefühls dafür, daß den geistigen Dingen der Vorrang zukomme. Wenn wir, so erklärte Coolidge, nicht daran festhalten, so wird alle unsere materielle Wohlfahrt, so überwältigend sie auch scheinen mag, in unseren Händen nur ein Symbol der Ohnmacht sein. - - -

So sehen wir mit gelindem Schauder, wie die Rationalisierung, die industriemäßige Herstellung der Wohnhäuser als eine unserer alten Forderungen zu einem bloßen Schlagwort geworden ist, und fürchten an vielen Punkten, daß man normiert und rationalisiert, ehe man weiß, was*)

*) Man sollte zunächst die Qualität einfachster vorhandener Industrieerzeugnisse nach Leistung und Preis normieren, derart, daß ein Versagen des Normenartikels die Haftung der Fabrik zur Folge hat. Rationalisierung sollte auch nicht gleichbedeutend mit Arbeiterentlassung sein, sondern vielmehr in der Ausweitung von Produktion und Konsum zugleich, d. h. also auch der Kaufkraft des Volkes bestehen.

Wir aber wollen einstweilen erst versuchen und das wirklich Brauchbare erst finden, ehe wir es in der Massenproduktion durch die Maschine allzu früh festlegen. Es schleppen sich nicht bloß alte Gesetze und Rechte wie eine ewige Krankheit fort, es schleppen sich genau ebenso falsche Formen fort, wenn sie zu früh zur verbindlichen Norm gemacht worden sind. Ein Beispiel dafür ist die Herrenkleidung, die, in England zur verpflichtenden Norm gemacht, ihre grundlegenden Fehler schon fast ein Jahrhundert lang festhält, im Wesen unverändert, ganz gleich, ob die Hose einmal eng und einmal weit getragen wird. Die Frauenkleidung zeigt dagegen ein anderes Gesicht; ihre Veränderungen sind rasch und launenhaft, aber sie sind flüssig und infolgedessen bis heute bei einer leidlich guten einfachen Form angelangt. Ein Vergleich der heutigen durchschnittlichen Frauenkleidung mit früheren Moden verbindet sie über die Jahrhunderte hinweg merkwürdigerweise mit der ägyptischen und griechischen Tracht, wenn auch natürlich in sehr veränderter Fassung. Es soll hier nicht aus dem Vergleich der rasch wechselnden Frauenmode mit jenen Zeiten ein Schluß auf die neue Baukunst gezogen werden, so merkwürdige Verbindungspunkte in dem Streben nach absoluter Präzision bestehen, das für die Architekten der Gegenwart wie für die Ägypter und Griechen gleichartig kennzeichnend ist. Dagegen kann aus der stetigeren Herrenmode mit ihrem Festhalten an der albernen Weste und dem gefütterten Rock, ihrer lächerlichen Schlipsdekoration, mit ihrem Materialaufwand an Stoff und Knöpfen, mit ihrer ganzen unhygienischen und umständlichen Lösung (die Sportkleidung in gewissem Grade ausgenommen) einiges Negative über die Rationalisierung entnommen werden*).

*) (Um Gotteswillen aber keine Normung des Schillerkragen - Plattfuß - Langhaar - Kurzhos - Wandervogels!)

Trotzdem bleibt der Gedanke selbst richtig, auf die ratio, die Vernunft zurückzugehen. Wenn, wie es zu hoffen ist, auch dieses Schlagwort der Rationalisierung sich einmal totgelaufen hat, so wird der Gedanke seine Form finden, in stetigem und zähem Arbeiten auf unserem Wege.

BTABB28.gif (230104 Byte) Abb.28

Kant definiert den Begriff des Künstlerischen in folgender Weise: "bestehend in dem glücklichen Verhältnis, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann, zu einem großen Begriff Ideen aufzufinden, und andrerseits zu diesen den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, anderen mitgeteilt werden kann." Die Kette: Begriff - Idee - Ausdruck - Gemütsstimmung, letztere wiederum als Begleitung des ursprünglichen Begriffs, scheint uns sehr wesentlich. Mit dieser Definition ist die schulmäßige Spaltung von Denken und Fühlen aufgehoben und es wird, für welches Gebiet man sie anwenden will, deutlich, daß die endgültige Form sich immer mit dem Ursprungsbegriff decken muß. Ja sogar die subjektive Gemütsstimmung muß dem Ursprungsbegriff parallel laufen. Auf das Wohnhaus bezogen ergibt sich die Folgerung: dem Begriff Massenwohnung darf weder die endgültige Form noch die dadurch auf den Betrachter ausgelöste Stimmung zuwiderlaufen.
Das Ergebnis der bisherigen Betrachtungen ist dahin zusammenzufassen, daß die Erscheinung der einfachen Wohnhausbauten auf alle Fälle eine einfache sein muß. Es ist interessant, mit diesem Ergebnis den Ablauf der vergangenen Generationen zu überblicken, soweit wir dabei noch von einem uns bewußten Blutstrom sprechen können. Der weitere Rückblick auf frühere Jahrhunderte wird bedenklich, da der Blickpunkt ja immer unser, also der unserer eigenen Gegenwart sein muß und deshalb je nach der Anschauung der Gegenwart entsprechend verfärbt ist. Wir beobachten heute, daß das, was auf dem Lande und in kleinen Städten von Technikern und Maurermeistern entworfen wird, was also den heutigen "Maurermeisterstil" ausmacht, daß dies gewöhnlich die Anwendung des Mansardendaches in mehr oder weniger verkrüppelter und häßlicher Form darstellt. So häßlich es uns auch erscheinen mag, es findet nicht die Schwierigkeiten bei den beleihenden und genehmigenden Behörden wie eine von diesem Formkodex abweichende Arbeit. Wenden wir den Blick um eine Generation zurück! 1902 baute Theodor Fischer in Stuttgart mitten in einer Reihe einfachster kastenförmiger Wohnhäuser das erste Mansardenhaus mit Erker, meisterhaft in seiner Linienführung, doch ein Schlag für die umstehenden Bauten. Dieses Haus rief damals trotz seiner Qualitäten eine stürmische Entrüstung hervor; trotzdem baute Fischer seine Häuser mit hohen Dächern unter größten Schwierigkeiten weiter, und nach dem Ablauf über die Nachfolger und Schüler ist heute dieser Vorstoß zur - Plattheit geworden, angebetet von aller Welt, mag auch nicht eine Spur mehr von Qualität daran sein. Dieses klägliche Auslaufen einer Meisterleistung gibt heute die Waffen gegen die jetzige junge und kühne Baukunst her, genau so wie damals die zur Plattheit gewordenen kastenförmigen Renaissancehäuser die kühne Leistung Theodor Fischers nicht aufkommen lassen wollten.

BTABB29.gif (113340 Byte) Abb. 29 HAUS ZELIER IN STUTTGART 1902

Eine weitere Generation zurück! - Die Jahre um 1870 zeigen zwar etwas nüchterne, uns aber nicht unsympathische, schlichte Wohnhausbauten, über deren renaissancistische Trockenheit wir gern hinwegsehen, wenn wir an die Zeiten um die Jahrhundertwende mit ihrem Tohuwabohu denken oder auch an die 30er, 40er Jahre der immer stillen und vornehmen Hochromantik, deren Grund Schinkel legte. Theodor Fischer und andere haben wohl dem Gefühlsausbruch der 90er Jahre mit ihrer Wagnermusik einen gewissen künstlerischen Halt gegeben. Es bleibt aber sehr deutlich die eigentümliche Wellenbewegung erkennbar, welche unsere Generation im Prinzip mit der vorletzten, also mit den Großvätern verbindet. Der Sohn muß in der Grundtendenz entgegengesetzt zum Vater stehen, Wellental und Wellenberg sind wohl das Bild für den Ablauf der Generationen. Es ist uns heute noch erklärlich, wodurch unsere Väter zu den Gefühlsausbrüchen an den Wohnhäusern der vielen Unternehmerbauten kamen, die uns in ihrer wilden Überreizung des Auges jetzt ganz unerträglich sind. Die 60er, 70er Jahre hinterließen keine andere Erbschaft als die Disziplin, die, wenn sie nichts weiter enthält, nur Trockenheit ist. Woher sollte das drängende, dazu als Opposition notwendige Gefühl seine Grundlagen nehmen? Die voraufgehende Generation hinterließ ja keinen wesentlichen Inhalt.Von Welle zu Welle geht ein Höhersteigen oder ein Abflauen der Wellenhöhe vor sich. Damals um 1870 war die aufblühende Industrie im wesentlichen der brutale Abgott der einen, die vor der Maschine auf Knien lagen, und der verhaßteste Feind der andern, denen sie das Brot stahl. Heute sind diese Affekte vollkommen verflogen. Industrie und Maschine werden von allen, sowohl vom Arbeiter wie vom Kapitalisten nur als simple Diener betrachtet, die sich unseren Bedürfnissen und Wünschen zu unterwerfen haben. Deshalb muß die heutige Angleichung an die vorletzte Generation unter wesentlich veränderten Vorzeichen stehen. Wir können heute mit Recht uns auf die Suche machen, um auf der Grundlage der Maschine unsere Wünsche in die uns genehme Form zu bringen. Bei der Einsicht in dieses Wellenspiel haben wir aber keine geringe Verantwortung; denn nach jenem Gesetz, das offenbar sehr konsequent auftritt, wird die nächste Generation die Grundtendenz unserer Väter wieder aufnehmen. Hinterlassen wir ihr wieder eine so schmale Kost, so muß sie wieder zu Surrogaten greifen. Gelingt es uns aber, ein solides Fundament zu legen und unter Freihaltung von aller Schulmeisterei und Dogmatik die Aufgaben der Technik mit ihrer natürlichen Gestaltung bis aufs äußerste auszuweiten, so wird die nächste Generation eine Grundlage vorfinden, die ihr die Möglichkeit gibt, darauf weiter zu bauen und den dauerhaften Ausdruck für das Gefühlshafte zu schaffen. Unsere heutigen Bauten sind vorwiegend Zweckbauten; sie müssen es sein, schon mit Rücksicht auf die Folgen der Katastrophe 1914-18. So könnte jedoch das vorwiegende Hervortreten des Wohnhausbaues in diesen Jahrzehnten ein charaktervolles Podium für die später notwendigen großen Bauanlagen anderer Bestimmung sein. Die besten Köpfe denken schon daran, wie einmal über das Rationelle hinaus wieder das "Irrationale" sich entfalten könnte. Dies sind Vorzeichen. Das Ziel ist nicht zu nennen, aber der Weg in der Wirrnis ist gefunden. - Heute ist der Architekt seinem eigentlichen Wesen nach zum Konstrukteur und Ingenieur geworden. Ihn erfreut alles, was wahr und klar ist. Doch hören wir auch einmal auf eine andere Stimme! Paul Scheerbart schrieb schon vor dem Kriege in einer Geschichte: "Der Architektenkongreß" einen Ausblick in die Zukunft, worin ein Vater zu seinem Sohne folgendermaßen spricht:

"Dein Sinn, mein Sohn, ist zu sehr auf das Praktische gerichtet, darum willst du Ingenieur werden. Laß das sein; es ist nicht mehr zeitgemäß. Die Zeit schreit nach den großen Architekten, die unser Leben endlich einmal lebenswert machen sollen. Vor zwanzig Jahren war das noch anders, da spielte der Ingenieur tatsächlich die erste Rolle im menschlichen Leben. Heute leben wir schon mitten im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Darum geh in dich, laß das Praktische beiseite und werde Architekt. Dann kannst du ein berühmter Mann werden und das Leben der Menschen köstlich ausgestalten."
Auf den immerwährenden Wandel der Kunst hinzuweisen, ist banal. Das gibt schließlich jeder zu, daß die stetige Veränderung eine der wesentlichen Eigenschaften der Kunst ist. Aber man zieht selten die Konsequenz daraus, auch zuzugeben, daß die Kunst selbst überhaupt nicht mehr existiert; so bald man ihr in der Praxis diese Eigenschaft entziehen will. Die Kunst lebt eben durch den ständigen Schöpfungsprozeß; ihre Leistungen müssen immer den Charakter des Neuen haben; im anderen Falle verwelkt sie und stirbt. Nachahmungen haben mit der Kunst nichts mehr zu schaffen. Seltsam genug, daß wir solche Binsenwahrheiten noch besonders aussprechen müssen, die in früheren Jahrhunderten, in denen man gegen das Alte sehr wenig empfindsam war (noch Goethe forderte den Abriß mittelalterlicher Gebäude zugunsten von Neubauten seiner Zeit), selbstverständlich waren. Karl Friedrich Schinkel schrieb in seinen nachgelassenen Schriften:

"Die Kunst ist überhaupt nichts, wenn sie nicht neu ist. "

Er führte dies in folgendem weiter aus:

"Überall ist man nur wahrhaft lebendig, wo man Neues schafft, - überall, wo man sich ganz sicher fühlt, hat der Zustand schon etwas Verdächtiges; denn da ,weiß' man etwas gewiß. Also etwas, was schon da ist, wird nur gehandhabt, wird wiederholt angewendet. Dies ist schon eine halbtote Lebendigkeit. Überall da, wo man ungewiß ist, aber den Drang fühlt und die Ahnung zu und von etwas Schönem, welches dargestellt werden muß, da, wo man also sucht, da ist man wahrhaft lebendig. Aus diesen Reflexionen erklärt sich das oft furchtsame, ängstliche und demütige Naturell der größten Genies der Erde."

Heute müssen diese Wahrheiten nicht oft genug in die Köpfe derer eingehämmert werden, die im Gegensatz zu diesen Worten Schinkels die Behutsamkeit des Suchenden als mangelndes "Selbstbewußtsein" ablehnen und als Grundlage ihres Vertrauens vor allen Dingen die forsche Sicherheit und die großartige Geste verlangen. Daß mit der allgemein fehlenden Einsicht auch das entsprechende Verhalten in der Praxis verbunden ist, braucht den einzelnen Künstler weniger zu beunruhigen; sein Lohn liegt ja in seiner Arbeit, die er auf alle Fälle leistet. Für das Gebahren der Allgemeinheit dagegen hat diese Sache schon ernstere Folgen. Die Kunst ist nicht etwas wie eine Zigarette oder ein Likör, sie ist als ein Teil der menschlichen Konstitution ebenso notwendig wie alles andere, und wenn hier das Denken versagt, so muß dasselbe Versagen entsprechend in allen Gebieten eintreten, kurz eine allgemeine Verdummung. Mag der reine Verstandesmensch auch gar kein Verhältnis zur Kunst haben, so wird sein überlegener Verstand doch in ihr ein Mittel erkennen müssen, die rohen, nun einmal vorhandenen Triebe zu verfeinern oder sie von der Brutalität weg nach einer anderen Richtung zu "verdrängen". Diese Wirkung ist natürlich um so stärker, je mehr die Kunst die Menschen erregt, je weniger sie leichthin gefällig, d. h, gewöhnlich und gewohnt ist.
Bis zu welchem Grade wir gesunken sind, zeigt das Schund- und Schmutzgesetz, zeigt die Tatsache, daß ein Buch wie der Pfaffenspiegel nach 80jährigem Bestehen in unseren Tagen verboten wird, daß zur ultima ratio - das Verbot geworden ist. Verbieten ist schon von vornherein ein Kennzeichen der Schwäche. In der Pädagogik sind wir zu dieser Einsicht gekommen. In künstlerischen Dingen aber verfährt man darüber hinaus noch ähnlich wie in der Justiz; man will das Verbrechen aus dar Welt schaffen, indem man den Verbrechern die Köpfe abschlägt oder sie sonst vollends ruiniert, und benimmt sich wie ein Kind, das den Tisch schlägt, an dem es sich gestoßen hat (Lichtenberg).
Ganz sicher ist auch dieser Zustand eines wohl noch nie dagewesenen Muckertums nur ein tiefes Tal in der Wellenbewegung. Je tiefer das Tal, um so höher vielleicht die nächste Welle, die Affekte folgender Art überfluten und hinwegspülen wird. Bodo Ebhardt in seinem Werke "Deutsche Burgen als Zeugen deutscher Geschichte":

"Sinn- und zwecklos wurde dem heute wieder so viel gepredigten Lockruf gefolgt, der verlangt, daß erst einmal alle Ordnung auf den Kopf gestellt und die Herrscher und Führer des Volkes in Blut und Tränen ersäuft werden müßten, ehe das goldene Zeitalter anbreche. " - oder: "Das ist der starke Fels unseres unbeugsamen Willens, das Vaterland von allem undeutschen Wesen und Gesindel zu reinigen."

Oder ein anderer Kollege schreibt zur neuen Architektur:

"Wie kommt denn eigentlich, bei Lichte besehen, eine sog. Neue Architektur zustande? Sehr einfach. Ein Architekt stellt beispielsweise einen möglichst auffälligen Kasten in Würfelform mit irrsinnig großen Fensterflächen, ohne sichtbares Dach in die Gegend. Habeat sibi, wenn er den dazu passenden Bauherren findet! Der unbefangene Betrachter steht davor: Was ist denn das? Mächtige Fenster! Am Ende ein kleines Warenhaus. Aber im Freien?? - Der Zoologische Garten ist weit davon, sonst würde er auf einen Käfig raten, denn man setzt ja wertvolle Affen, die unser Klima nicht vertragen, gern unter Glas. - Falsch geraten, belehrt der Architekt, es ist ein Wohnhaus! Der Beschauer "staunt Bauklötzer"; ein Seitenblick und - natürlich in Gedanken -: laß doch det Kind de Bulette!"

Was bedeuten solche Äußerungen?

"Kinderkrankheiten brechen manchmal
wieder bei den Alten aus; dann
sind sie schlimm: nicht Notwendigkeit,
fast Schande. Es gibt einen Fanatis-
mus des Ausgangs, des Geschehenen,
unschön, trostlos, wie nur ein End-
krampf sein kann. . . . . . Auch der
Fanatiker der Spätzeit ist Absolutist,
aber sein Plus setzt er vor das Gestern,
vor den Stillstand, vor die tote Form.
Seine Konsequenzen sind tyrannisch -
im rückläufigen Sinne. (L. Althaus)"

Demgegenüber gibt es ein anderes Verhalten des Alters. Der in seinem achten Jahrzehnt lebende Cornelius Gurlitt schreibt folgendes:

"Schritt für Schritt ändern sich die Formen, die neuen wurden begrüßt und die alten verworfen. Der Wandel, der sich heute vollzieht, ist keineswegs an sich ein Neues: mag das Geschaffene auch noch so neu erscheinen - das Wandeln blieb das Alte! Meister schufen in ihrer Art "Typen", die ihre Mitarbeiter und Nachfolger je nach ihren Ansichten umgestaltend fortbildeten. Aber sie hüteten sich, durch Verordnungen das Festhalten an einer Form zu fördern.

Das Muckertum gegenüber der Baukunst riecht gern nach Scholle und nennt sich dann "Heimatschutz".
"Der Heimatschutz vergreift sich oft: Leute, die keine Bauern im alten Sinn mehr sind, die selbst mit Frau und Kindern ganz andere Lebensansprüche haben, soll man nicht architektonisch in die alte Bauernjacke zwängen wollen, die ihnen längst nicht mehr paßt "

ebenfalls Cornelius Gurlitt.
 
weiter Teil III