Wer zu Sinnreichheit kommen ist, der wirket alle sinnlichen Dinge desto baß.
Heinrich Suso
Uns
sieht der Mietskaserneninsasse und Asphalttreter als
bedauernswerte Idealisten und Utopisten an, die nicht mit beiden
Füßen auf der Erde
stehen. Er aber steht ja nur auf dem Asphalt und nicht auf dem
Erdboden, er möchte vom
harten Pflaster aus seine Welt, d. i. die Stadt, regieren und merkt
nicht, daß er dabei
zum traurigen Idealisten wird, zum Anbeter eines Götzen, zum
demütigen Knecht eines
Phantoms. Wie sieht denn das Erbe "unserer Väter" aus? Ich
stand auf dem
Domturm und sah - nun - keinen Organismus. Das Alte, die Kirchen stehen
wie verkümmerte
Blumen in einem wüsten Unkrautacker, und wo man keinen alten
Straßenzug, keine
organische saubere Dachmasse mehr sah, nach Süden,
Fermersleben, Sudenburg usw., da war
nur ein Geschiebe von wüsten Kästen, in die mit dem
Messer schnurgerade
"Fluchten" geschnitten sind - die schöne Welt des
Pflastertreters.
Ich fuhr im Flugzeug über die Stadt: tief unten das Werk der
winzigen Menschentiere. In
dieser schönen Welt, wo die Elbe wie ein Silberband leuchtet,
in dem grünen Meer von
Feldern und Bäumen - mit Scham sieht man von da aus, was wir
Menschentiere geleistet
haben.
Abb.1
Abb.2
Wenig
schmeichelhafte Vergleiche drängen sich angesichts dieses
Steinwirrwarrs auf, wenn
wir nicht an der sauberen Anlage des Doms und seiner Umgebung einen
Halt für unser
Selbstbewußtsein fänden, daß wir Menschen
doch zu den "besseren" Tieren
gehören. - Von oben sieht man es: "Stadt" - so etwas gibt es
eigentlich nicht
mehr. Es breitet sich weithin ins Land aus, man sieht keine "Grenze",
an der man
sagen könnte: hier hört die Stadt auf und das Land
beginnt. Aber es strahlt nicht
organisch zusammen zu einem Gipfel, zu einem Höhepunkt, es
kumuliert, häuft sich nur,
ohne jede Form, ohne jeden Sinn (Abb. 1 u. 2). - Wie es kam? wir wissen
es, und wir wollen
uns damit nicht aufhalten, wir wollen uns nur die Frage vorlegen: wie
können wir eine
Gestaltung, eine reine klare Fassung der menschlichen
Bedürfnisse vorbereiten, die wir
vor den kommenden Jahrzehnten verantworten können? - Die
Grundfrage ist: was ist heute
die Stadt? Elementare Kräfte haben sich des Landes in der
Peripherie bemächtigt,
unbekümmert darum, wie es aussieht, was wird usw. Sie setzen
sich einfach auf den Boden,
als wahre "Besitzer", pflanzen Sträucher und Kohl, bauen ihre
Buden, oft auch
Häuser, und kümmern sich den Teufel um Baupolizei und
Stadtbehörde - die
Laubenkolonisten und Schrebergärtner zählen in
Magdeburg allein nach Zehntausenden. Der
Plan gibt ja das deutlichste Bild Abb. 3). Das alles ist aber formlos.
Es ist nicht
Städteauflösung im Sinne von Erlösung, es
ist nur Gestoßensein, nur die Reaktion des
Pflastertreters selbst, nicht aber Aktion gegen Reaktion. Neu, wie sie
ist, trägt diese
Bewegung naturgemäß den Stempel des Gewaltsamen,
aber auch den des Embryonalen,
Keimhaften. Die Erde der Stadt wehrt sich dagegen, daß alle
ihre Poren verschlossen
werden, die Erde atmet und lebt mit ihren Mikroben und duldet auf die
Dauer nicht das
Vorhaben ihrer Tötung. Dies gilt in besonderem Maße
für den fruchtbaren Humus der
Börde, der die Stadt westlich der Elbe umzieht. Wer sich
dieser Erkenntnis nicht
verschließt, muß die Bewegung fördern und
ihr helfen, indem er aus dem wilden Auftreten
die für alle gleichartigen Voraussetzungen
herausschält und versucht, in einzelnen
Zusammenschlüssen die neue Siedlungsform zu erproben, und zwar
nicht bloß baulich
(vergleiche Frühlicht Heft 1, S. 20-21), sondern auch
gärtnerisch und kulturell. Es wird
ein nicht immer gesegneter Weg sein - der Mensch der Steinstadt kann
nicht sofort ein
Mensch der Erdstadt werden -, bis endlich sich eine Tradition bildet,
auf der sich die
neue Siedlung aufbaut, deren neue Form sich heute erst tastend und
suchend ans Licht wagt.
Die sog. Gartenstadt steht als Vermittlungsglied in der Mitte. Ihre
Erfahrungen und die
neuen Wege werden sich begegnen und das Neue formen. Mag der
Pflastertreter dies alles
für sporadische und vorübergehende Liebhabereien
erklären - über alle
Übergangsbeispiele Europas hinweg bleibt die Millionen
"gartenstadt" Peking das
grandiose Symbol der Siedlungsform auf dem Grunde einer tiefen Kultur.
Man kann
"Baulücken" in Mietskasernenvierteln schließen, aber
man darf nicht ungestraft
neue Gebiete wie bisher "erschließen" und (im doppelten
Sinne) bepflastern.
Abb.3
Wie kann
sich nach seinen Voraussetzungen und
Lebensbedingungen Magdeburg entwickeln? Wie kann es selbst, im Ganzen
zur Form werden? -
Unter Form soll hier nicht ein "städtebaulicher" oder gar
ästhetischer
Formalismus verstanden werden, sondern das, was ohne jede einwirkende
Voreingenommenheit
sich etwa zu einem Organismus zusammenfügen könnte,
der dann auch für die Sinne
erfreulich ist. Auch ein Ameisenhaufen hat Form und bei
näherem Hinsehen enthüllt sich
seine letzte und unbedingte Gesetzmäßigkeit. Alle
Tiere und auch der Mensch bilden nach
einer absoluten Idee, die durch Anpassung an bestimmte Gegebenheiten an
sich zwar
undeutlicher, aber reichhaltiger wird, wenn sie umfassende Kraft hatte.
"Bewegung ist
alle Form", und die Form der Stadt entsteht aus der
tatsächlichen Bewegungsweise der
Menschen, aus dem Verkehr untereinander, zur Arbeitsstätte und
zur Umgebung und anderen
Städten. Der Außenverkehr Magdeburgs gliedert sich in
Überlandstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt
und späterhin Flugverkehr. Dieser als der
anpassungsfähigste wird sich leicht regeln.
Auch für die Überlandstraßen
läßt sich das einfache große Netz leicht
den späteren
verstärkten Bedürfnissen anpassen (Abb. 4). Der
Schiffsverkehr erhält durch den die
Elbe unweit der Stadt überquerenden Mittellandkanal und durch
seinen nach dem
Industriegelände zu führenden Zuleitungsarm eine
starke Veränderung. Eine neue
Wasserlinie entsteht, deren Bedeutung schwer abschätzbar, aber
aller Voraussicht nach
eine eminente sein wird.
Abb.4
Hier
muß sich einmal ein Arbeitsleben in großen
Ausmaßen
entwickeln, das auf das ganze Stadtgebilde umgestaltend einwirkt.
Zunächst sei hier noch
der beabsichtigte Umgehungskanal erwähnt, der eine ganz
wesentliche Entlastung der Elbe
und damit ihrer Ufer an der heutigen Altstadt zur Folge haben wird. Aus
beiden Faktoren
ergeben sich Einwirkungen auf das Eisenbahnnetz. Dieses, wie es heute
ist, erscheint
organisch, sobald man die alten und die neuen Linien jede für
sich betrachtet.
Zusammengenommen zeigt es aber Parallelismen, die als
überflüssige Verdoppelungen wirken
- die Verhältnisse ergaben es eben so - und eigentlich dazu
aufzufordern scheinen, sich
für eins oder das andere zu entscheiden. Und wie der Lauf der
Welt nun einmal ist: das
Alte lebt, solange es kann und, wenn das Junge stark und
lebensfähig für sich allein
ist, so stirbt es in Frieden. Dies wird einmal für die
Elbestrecke mit Elbbahnhof, einem
alten Hauptbahnhof, gelten, wie es heute schon für die alte
Berliner Strecke nach
Biederitz gilt, wenn - die junge Strecke etwa am Scheitelpunkt ihrer
Kurve die Güterfrage
gelöst haben wird. Wie dies geschehen wird, ist eine Frage an
die Sphinx; es gibt ja
verschiedenartige Projekte dafür, und wir dürfen
hoffen, daß die Eisenbahn in einer
Magdeburger Lebensfrage, der Verbindung von Altstadt und Wilhelmstadt
und der Verringerung
ihrer heutigen Zerschneidung nicht - verkehrsfeindlich sein wird. Nach
der Lösung des
Güterbahnhofs an dieser Stelle und nach dem Fortfall des
Umschlag- und Verladeverkehrs an
dem Westufer der Elbe im Bezirk der Altstadt würde endlich
jene Uferbahn eingehen und
damit für die Innenstadt ein großer Schritt getan:
Magdeburg würde dann endlich wieder
an der Elbe liegen (vgl. Frühlicht Heft 1, S. 17),
während es ihr heute mit Schuppen,
Schienen usw. seine - Hinterhand zeigt. Schiffs- und Bahnverkehr bestimmen im wesentlichen die Lage der
Industrie und, sofern eine
vernünftige planvolle Besiedlung erfolgt, auch die Lage der
Wohngebiete, welche aus
allen, seelischen und materiellen, Gründen nicht zu weit von
der Arbeitsstätte liegen
dürfen. Heute ist das in Magdeburg nicht der Fall (Abb. 2).
Aber die Zukunft ermöglicht
es. Die Industrie wird sich dort, wo sie heute am
größten ist, auf der Linie
Buckau-Fermersleben weiterentwickeln, sodann aber im Norden bei
Rothensee um den heutigen
und vor allem aber späteren Handelshafen.
Abb.5
Freies Land zum Siedeln wird dort im Westen der südlichen
und nördlichen Industriegegenden die dazu nötigen
Wohngebiete bilden, die sich in
einfachem Wachstum dem Schwung der Elbe anschließen und, in
großem Maßstabe dem Bogen
der Elbe folgend, wieder die langgestreckte, auch für das alte
Magdeburg
charakteristische Form bilden, die aus Fluß und Landschaft
die natürliche ist (Abb. 7).
Diese Gebiete lehnen sich an die neueren und
verhältnismäßig solideren Mietshausviertel
an, sie verbindend, und im Laufe der Jahrzehnte umformend. Aber die
stärkste und
rascheste Umformung wird dabei die Altstadt zwischen heutigem Bahnhof
und Elbe erfahren.
Um Breiteweg, Kaiserstraße und Altmarkt bis zum Bureauhaus
auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz
(Heft 1, S. 12-16), das als Schnittpunkt der großen
Überlandwege (Abb. 4) geradezu ein
Wahrzeichen bildet, wird sich bis zum Dom als Tangente dieses Kreises
die Messestadt mit
Geschäften, Bureaus und Hotels immer markanter herausbilden,
wovon wir trotz der heutigen
Ansätze dazu kaum eine Vorstellung haben. Natürlich
ist das nicht grob prinzipiell zu
nehmen; gewisse Nebenzentren müßten entstehen, z. B.
um die neue Halle "Land und
Stadt" (Heft 1, S. 6-8), Viehhof usw. (ob vielleicht in jene Gegend der
neue
Güterbahnhof kommen könnte?). Am stärksten
wird sich die Umbildung aber in den
eigentlichen Altstadtvierteln zeigen, welche sich heute
östlich vom Breitenwege, der
Bodensenkung folgend, bis zur Elbe herunterziehen. Aus ihnen ragen der
Dom und die großen
Kirchen heraus, mit den Türmen gegen Westen der
Anhöhe zu und mit den Chören der Elbe
sich zuneigend, mit betontem Ausdruck der Bodenbewegung (Heft 1, S.
17). Aber - die Elbe
sieht sie nicht. Sie ist mit "Nutz"anlagen verstopft, kein Hauch der
frischen
Wasserluft dringt an heißen Sommerabenden in die Quartiere,
welche die großartigen
Kirchenbauten umgeben. Ihr Schicksal ist besiegelt. Baulich nach 20
Jahren unhaltbar,
sanitär nach dem Zeugnis von Ärzten und
Fürsorgerinnen heute schon nicht mehr, werden
auch sie sterben, wenn der oben geschilderte
Entwicklungsprozeß der Stadt vor sich geht.
Abb.6
Aber keine "Freilegung" darf diese Sanierung
sein. Feinfühlige Hände werden den Reiz der
Straßenzüge zu erhalten verstehen, die
neue Bebauung nach dem Strom hin niedriger werdend, mit Gärten
und Parks durchsetzt,
Arbeitsräume in terrassenförmigem Anstieg und
Wohnungen vielleicht für alle diejenigen,
welche wegen ihres Berufs in der Nähe der
Geschäftsstadt wohnen möchten. Die großen
Massen aber werden automatisch durch die neuen Siedlungsgebiete
abgezogen. Zu dieser
Auflockerung und Elbebefreiung wird ein breites öffentliches
Grün an den Ufern, Alleen
usw. kommen, um das Stagnieren der schlechten Stadtluft in diesem
Luftsack, wie es heute
bei milder Luft dort die Regel ist, endgültig zu beseitigen.
Gegenüber, auf dem andern
Elbeufer, würde das Zitadellengebiet der gegebene Mittelpunkt
eines repräsentativen
Viertels, etwa mit dem Rathause als Kulmination sein (Heft 1, S.
18-19). Die Zukunft wird
die neuen großen Bauaufgaben erst stellen, welche einem
höheren Zweck dienen und wirksam
genug sind, um ein großes Gesamtstadtland zu krönen,
als Zusammenfassung des geistigen
Lebens der verschiedenen Siedlungsgebiete. Dort würde die
Uferausbildung in gleicher
Weise wie das Westufer mit dem schönen Rotehornpark
zusammenwachsen, mit dem der große
Bogen des Glacis eine geschlossene Einheit des öffentlichen
Grüns um die geschäftige
Stadt bildet. Das neue öffentliche Grün (Abb. 6)
bedeutet eine gleiche Zivilisierung des
Militärs wie das alte. Es verbindet die Forts und
Außenwerke, soll sich aber auch
zungenartig in die Siedlungen hineinziehen, um jede letzte
Verkümmerung des Städters zu
verhindern. Das sollen aber durchaus keine teuren "Anlagen" sein,
vielmehr
gärtnerisch angebaute Flächen mit Wegen, Obst usw.
(vgl. Harry Maaß, Lübeck). Dieses Neu-Magdeburg, das Abb. 7 andeutet, entspricht zwar nicht dem
Begriff
"Stadt", der einen Kreis oder ein Quadrat fordert. Aber "Stadt" ist
heute nichts Abgeschlossenes mehr, es ist etwas Ausstrahlendes und
nirgends Aufhörendes,
das die Grenzen von Stadt und Land schließlich ganz
verwischt. Die weite Distanz
verstärkt die Selbständigkeit, alles, was
distanziert, fördert.
Abb.7
Ein besonderer
Vorzug liegt für Magdeburg aber in dieser
Lage: alle Wohngebiete - die wahrscheinlich wenig
entwicklungsfähigen Ostgebiete
ausgenommen - liegen im Westen von Industrie und Geschäft. Wo
wie in Berlin und London z.
B. der Zug nach dem Westen wegen der unverbrauchten Luft nur einem Teil
der Bevölkerung
erfüllbar bleibt; hier ist er nicht nötig, weil alles
Westen ist. Und alles ist dort
Humusboden. Nur eins fehlt hier dem Westwind: der pflanzliche Gehalt.
Kein Wald weit und
breit. Hat die Luft in Magdeburg deswegen keine Frische, schmeckt sie
deshalb nur nach -
Stadt? Abb. 7 zeigt eine Andeutung, wo einmal in großem
Maßstabe aufgeforstet werden
müßte. Drei Waldflächen würden mit
dem Strom eine große Form bilden. Kreuzhorst,
Biederitz und die neue Forst als die bedeutungsvollste zur Auffrischung
von Lunge und
Geist der Magdeburger. Die Chinesen verbinden ihren Stadtbau aufs engste mit der Landschaft.
Ihre
Stadtorientierung hat tiefe mythische Bedeutungen. Wir müssen
es auch tun; sonst rächt
sich die Erde, die Luft, das Wasser, das Feuer. Lieben wir die
Elemente, so lieben sie
auch uns und helfen uns. "Städtebau" ist ein Unding, wenn feste Pläne mit
"Fluchtlinien" eine
Zukunft in den Einzelheiten festlegen wollen, von denen wir noch gar
nicht wissen, ob
nicht alles bald überholt ist. Solche Pläne werden
zum Fetzen Papier wie ein überlebter
Vertrag. Wo die Häuser stehen, wie sie gebaut werden, das darf
kein Plan im voraus
festnageln wollen, weil nur die körperliche Gestaltung der
drei Dimensionen entscheidet,
aber niemals ein "planum". Im Großen ist aber eine Richtung
für die Erkenntnis
des neuen Werdens notwendig, um danach von Fall zu Fall die Tagesfragen
entscheiden zu
können. Diese Erkenntnis ist die wesentliche Grundlage des
schöpferischen
Gemeinschaftsgeistes.
Bruno
Taut (Zeichnungen
von Erich Fresdor)
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