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Autor: Streiter, Richard
In: Zentralblatt der Bauverwaltung - 16 (1896); 50. - S. 550 - 553
 
Architektur und Kunstphilosophie
 
Es ist heutzutage mehr vielleicht denn je eine undankbare Aufgabe, kunstwissenschaftliche Fragen anzuschneiden, die in das Gebiet der Philosophie hinüberführen. Denn es liegt in der Zeitstimmung, daß alles, was mit Philosophie zusammenhängt, mit Mißtrauen entgegengenommen wird. Das ist zum Theil durch die Philosophie selbst verschuldet, die am Anfang unseres Jahrhunderts mit den großen idealistischen Systemen in das bodenlose Reich metaphysischer Träume und in den Irrgarten dialektischer Begriffskünsteleien sich verstiegen hatte; zum anderen Theil ist es in den außerordentlichen Erfolgen der Naturwissenschaften begründet, die eine einseitige Ueberschätzung der realistischen Wissenszweige und eine stark materialistische Färbung der Weltanschauung mit sich brachten. Von der allgemeinen Geringschätzung der "entthronten Königin Philosophie" ist wohl die Kunstphilosophie am meisten betroffen, und sie vor allem hat dieses Schicksal zuerst sich selbst zuzuschreiben: denn auf ihrem Gebiete überwucherten das Unkraut und die tauben Blüthen geistreichelnder Schönrednerei am üppigsten das bescheidene Wachsthum der nicht sehr zahlreichen fruchtbaren Keime. Die Verspottung der Kunstphilosophie dauert bis auf den heutigen Tag fort, obwohl seit geraumer Zeit in der wissenschaftlich ernst zu nehmenden Aesthetik ein vollkommener Umschwung eingetreten ist, seitdem scharfe und zugleich feinfühlige Denker, wie der von der Medicin zur Philosophie übergetretene Hermann Lotze, der Physiker und Psychophysiker Theodor Fechner an Stelle der früheren Aesthetik "von oben nach unten" eine mit den Mitteln der exacten Forschung arbeitende Aesthetik "von unten nach oben" setzen. Den weiten Kreisen der philophischen Laien ist es verborgen geblieben, daß die auf psychologischer Grundlage langsam und vorsichtig fortschreitende neuere Aesthetik von metaphysischen Voraussetzungen und dialektischen Begriffsverschränkungen ängstlich sich frei hält, darum allen Anspruch auf volle wissenschaftliche Achtung erheben kann.

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Abb. 3. Ansicht. Universitäts-Sternwarte in Königsberg i. Pr.

Um so bedauerlicher ist es, wenn neuerdings ein angesehener Vertreter der Kunstwissenschaft der allgemeinen Mißstimmung gegen die Kunstphilosophie neue Nahrung giebt, indem er bei einer an sich achtenswerthen ästhetischen Studie in das schlimmste Phrasenthum der Kunstphilosophie älterer Ordnung verfällt. Das hat Herr Professor Schmarsow gethan in seiner Abhandlung über "Das Wesen der architektonischen Schöpfung", die unlängst in diesem Blatte eine eingehende Besprechung gefunden hat .*) Die scharfe Zurechtweisung, die Schmarsow ob seiner schwülstigen, verkünstelten Sprache zu theil geworden ist, hat er entschieden verdient. Der Unklarheit seiner Ausdrucksweise ist es in erster Linie zuzuschreiben, daß sein Kritiker das Problem, das in ,jenen Ausführungen gelöst werden sollte, gar nicht als solches gewürdigt hat. Herr Illert, der sich nicht damit begnügt, das Ungehörige und Unzulängliche der ihm vorliegenden Einzelleistung zu verurtheilen, der vielmehr den Anlaß benutzte, um die bekannten Spöttereien über alle "Kunstphilosophisterei" zu ergießen, war so unvorsichtig, sich selbst auf dieses gefährliche Gebiet zu begeben. Es ist ihm dabei ergangen, wie es philosophischen Laien in solchen Fällen stets zu ergehen pflegt: er hat Einzelheiten, die Vertrautheit mit philosophischer Denkweise voraussetzen, mißverstanden, und er hat das, worauf es eigentlich ankommt, nicht scharf genug ins Auge gefaßt.

*) S. 369 ff. d. Jahrg.

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Abb. 4. Grundriß in Höhe EF. Universitäts-Sternwarte in Königsberg i. Pr.

Das Problem, das der Schmarsowschen Abhandlung zu Grunde liegt, ist die alte Frage: Ist die Architektur zu den sogenannten "freien Künsten" zu rechnen oder nicht? E. v. Hartmann beantwortete die Frage in einem Aufsatz in der "Gegenwart" (1887) mit "nein!" Schmarsow ließ sich dadurch veranlassen, nach einer neuen Begründung für die Ansicht ,jener zu suchen, die die Frage mit "ja !" beantworten möchten. Herr Illert findet es lächerlich, die Frage überhaupt zu stellen, und glaubt, daß erst die "Aesthetiker von heute", als deren würdiger Vertreter ihm mit Unrecht E. v. Hartmann erscheint, auf solche Ungereimtheiten verfallen seien. Nun ist zunächst daran zu erinnern, daß schon der alte Aristoteles die Architektur von den "freien Künsten" ausschloß; daß verschiedene spätere Kunstphilosophen ihm hierin folgten, so der angesehenste französische Aesthetiker des vorigen Jahrhunderts, "der französische Aristoteles", Batteux; daß Fichte die Architektur nur in dem sehr beschränkten Fall als "schöne Kunst" gelten läßt, wenn sie nicht einem praktischen Zwecke dient, sondern "wenn gebaut wird, bloß damit gebaut wurde", wie beim Denkmal; daß Schelling die Frage stellt, "inwiefern eine Kunst, die dem Bedürfniß untergeordnet einem Zweck außer ihr dient, unter die schönen Künste gezählt werden könne"; daß Hegel, Weiße, Vischer und alle neueren Aesthetiker diese Frage eingehend untersuchen. Es ist klar: hier liegt ein nicht leicht zu lösendes Problem vor: die Architektur nimmt unter den Künsten eine Sonderstellung ein. Herr Illert will dies nicht zugestehen: er meint, "daß die zopfige Lehre vom sogenannten 'Selbstzweck' der Kunst die meisten falschen Auffassungen von der Baukunst erweckt hat", und er glaubt diese falschen Ansichten durch folgenden Satz widerlegen zu können: "Auch Malerei und Bildhauerei haben gerade in ihren höchsten Leistungen, in der Monumentalkunst, bestimmten vorgeschriebenen Zwecken zu dienen, ja sie haben der Baukunst zu  d i e n e n  und sich unterzuordnen." Hier liegt augenfällig eineWorttäuschung mit dem Ausdruck "dienen" vor. Man spricht bekanntlich vom "Selbstzweck" der Künste, weil ihre Werke nichts anderes wollen und sollen, als ergötzen, als  ä s t h e t i s c h e  Z w e c k e  b e f r i e d i g e n. Wenn eine Kunst der anderen "dient", so wird dadurch ihr "Selbstzweck" (nämlich  n u r  zu ergötzen, nicht praktisch zu nützen) natürlich nicht aufgehoben: es wollen eben dann zwei Künste in der Vereinigung ihren "Selbstzweck'` erreichen. Die Schöpfungen der Architektur dagegen sind sich in diesem Sinne nicht "Selbstzweck"; sie wollen gefallen, ergötzen  u n d  z u g l e i c h  n ü t z e n: sie dienen fast immer in erster Linie  p r a k t i s c h e n  Z w e c k e n: ja es giebt unzählige Fälle, wo Bauwerke bei fast gänzlicher Hintansetzung der ästhetischen Rücksichten nur zur Befriedigung des nackten Bedürfnisses aufgeführt werden. Sollen nun auch Bauwerke letzterer Art, sollen also alle architektonischen Leistungen schlechthin als in das Gebiet der Kunst gehörig betrachtet werden? Es ist einleuchtend: die Frage muß mit "ja"` beantwortet werden können, soll anders die Architektur ohne weiteres den übrigen Künsten gleichgesetzt werden. Nun beantwortet aber Herr Illert die Frage mit "nein!" Er sagt: "Die Erfüllung eines praktischen Zweckes ist stets die erste und wichtigste Aufgabe eines ,jeden Werkes der Baukunst . . . Daß hiermit keineswegs etwa ausgesprochen sein soll, als wäre mit Erfüllung aller Forderungen der Zweckmäßigkeit schon ein Kunstwerk geschaffen, bedarf wohl nicht erst der Hervorhebung." Es kann wohl kein Zweifel sein: Herr Illert läßt die Architektur  n i c h t  g r u n d s ä t z l i c h,  sondern nur b e d i n g u n g s w e i s e  als Kunst gelten. Warum spottet er dann so sehr über E. v. Hartmann, der auch die Architektur  g r u n d s ä t z l i c h  nicht als Kunst anerkennen will? Auf die nächsten Fragen aber, die dann gestellt werden müssen, auf die Fragen: was ist es, was ein Bauwerk zum Kunstwerk macht? was bildet die Grenze, die künstlerische und nicht künstlerische Architektur scheidet? bleibt Herr Illert jede Antwort schuldig. Denn in dem Satze: ". . . ebenso ist ein Werk der Architektur,   w e n n  s e i n  S c h ö p f e r  e i n  K ü n s t l e r   w a r,  ein Kunstwerk", ist keine Antwort enthalten, sondern nur der Anlaß, ,jene Frage, um die sich alles dreht, neuerdings zu stellen.

Da giebt die "Philosophisterei" Schmarsows, richtig verstanden, denn doch etwas mehr. Schmarsow meint es gut mit der Architektur, besser, als Herr Illert vermuthet. Schmarsow widerstrebt es, die Architektur nur bedingungsweise als Kunst gelten zu lassen. Er ist sich der Schwierigkeit wohl bewußt, zwischen baulicher Thätigkeit, die Kunst ist, und solcher, die nicht Kunst ist, grundsätzlich zu unterscheiden. Sein Bestreben geht deshalb dahin, nachzuweisen,  d a ß  i n  j e d e r  A r t  v o n  b a u l i c h e r  B e t h ä t i g u n g  z u m  m i n d e s t e n  d i e  K e i m e  z u  k ü n s t l e r i s c h e n  B i l d u n g e n  e n t h a l t e n  s i n d . Darum faßt er alle architektonischen Erscheinungen "von der Höhle des Troglodyten, von der Karaibenhütte bis zum Reichstagsgebäude" zusammen, um das ihnen allen gemeinsame künstlerische Element festzustellen. Wenn Herr lllert fragt: "Was hindert von solchem Gesichtspunkt aus daran, auch die Höhle des Hamsters, den Bau des Dachses, Fuchses usw. mit in die Betrachtung zu ziehen?" so ist zu erwidern: Nichts hindert daran; im Gegentheil! Die Hereinziehung thierischer Bauthätigkeit ist gerade für die .Erkenntnis dessen, worauf es ankommt, nur förderlich. Bereits Schelling hat in seiner "Philosophie der Kunst" bei Betrachtung der Baukunst auf den "Kunsttrieb der Thiere" Bezug genommen. Das giebt einen nützlichen Fingerzeig. Man spricht von einem Kunsttrieb der Thiere, wenn die Erzeugnisse thierischer Bauthätigkeit durch eine  a u g e n f ä l l i g e  R e g e l m ä ß i g k e i t,  F o l g e r i c h t i g k e i t,  G e s e t z m ä ß i g k e i t  sich auszeichnen. Dies läßt ohne weiteres den springenden Punkt unseres Problems errathen, den Schmarsow wohl berührt, nicht aber in seiner ausschlaggebenden Bedeutung klar erkannt und herausgehoben hat. Der Satz "Die Architektur ist Raumgestalterin", der auf den ersten Blick als Ietztes Ergebniß von Schmarsows Ausführungen erscheint, sagt freilich herzlich wenig. Aber Schmarsow bleibt dabei auch nicht stehen. Er geht von den "ersten Versuchen, eine räumliche Vorstellung in die Wirklichkeit zu setzen," aus und sieht diese in den Abgrenzungen eines beliebigen Stückes Land durch eine Furche, eine Reihe von Feldsteinen, durch eine Hecke oder Hürde. Dann fährt er also fort: "Die wachsende Handfertigkeit und die Fortschritte im Bearbeiten des Vorhandenen bringen weitere Anlagen zum Vorschein: Die angedeuteten Grenzen nähern sich immer mehr der geraden Linie, die Abstände der aufgepflanzten Feldsteine oder sonstigen Merkzeichen verrathen die Neigung zum Gleichmaß, das Ganze der gewollten Umschließung den Grundzug einer regelmäßigen Figur. Je übersichtlicher der Umriß dieser Gemarkung, desto sicherer wird der parallele Verlauf der Seiten, die symmetrische Gleichheit ihrer Länge durchgeführt, selbst örtliche Hindernisse von der menschlichen Regel überwunden. Auch hier also wirkt die natürliche Organisation des Menschen unbewußt und nothwendig wie auf alle Erzeugnisse seiner Hand ebenso, wie in seinen Geräthen und deren Verzierung oder im Schmuck seines eigenen Leibes die gleichartige oder abwechselnde Reihung, die symmetrische Wiederkehr, die regelmäßigen Formen des Rechtecks, des Kreises usw. hervortreten . . . Als ldeal schwebt immer die reine Form vor, wie sie sein soll, deren Gesetze die Raumwissenschaft ergründet, während die Raumkunst, die ihre Gestaltung in wirklichem Material durchführt, auch mit den Factoren der natürlichen Umgebung, den physischen Gesetzen der Wirklichkeit sich abfinden muß. Aber in beiden waltet das Grundgesetz des Menschengeistes, kraft dessen er auch in der Außenwelt Ordnung sieht und Ordnung will. Ueberall bei seinem Thun ist deutlich, daß die Klarheit des Gesetzmäßigen, die Uebersichtlichkeit der wiederkehrenden Theile, die Regelmäßigkeit und Reinheit ihm eigentliche Befriedigung gewähren. So bevorzugt der Mensch sehr bald die geradegewachsenen Stämme vor den krummen, beseitigt vorsätzlich die Spuren des zufälligen Wachsthums und der Abhängigkeit von wechselnden Einflüssen der Umgebung, indem er die Rinde abschält und die Borke glättet oder zurechthaut, und so bleibt in den Ebenen, die er als Wände aufrichtet, in den Pfosten und Pfeilern, die sie halten, wie in allen Einzelformen der späteren tektonischen Gestaltung die Vorliebe für abstracte Regelrichtigkeit der Linien, Flächen und Körper als charakteristisches Wirkungsmittel der Architektur bestehen, ja es weckt wohl gar jede Abweichung davon das Gefühl der Abirrung in andere Gattungen der Kunst. Die Architektur ist also Raumgestalterin nach den Idealformen der menschlichen Raumanschauung."

In diesen Sätzen steckt denn doch etwas mehr, als Herr Illert aus Schmarsows Abhandlung herausgelesen hat. Der allerdings nicht leicht zu erkennende Gedankengang Schmarsows ist kurz zusammengefaßt folgender: Soll die Architektur nicht nur bedingungsweise, sondern grundsätzlich als Kunst anerkannt werden, so müssen in jeder Art von baulicher Thätigkeit zum mindesten die Keime zu künstlerischer Gestaltung sich nachweisen lassen. Diese sind nun darin zu finden,  d a ß  R a u m g e f ü h l  u n d   R a u m p h a n t a s i e  z u  e i n e r  ü b e r  d i e  B e f r i e d i g u n g  d e s  n a c k t e n  B e d ü r f n i s s e s  h i n a u s g e h e n d e n  G e s t a l t u n g s w e i s e  n a c h  d e n  I d e a l f o r m e n   d e r  m e n s c h l i c h e n  R a u m a n s c h a u u n g  d r ä n g e n.  Wenn Herr Illert einwendet: "Niemals hat ein innerer Trieb, einem solchen Raumgefühl Befriedigung zu schaffen, zur Raumgestaltung getrieben: im Anfang aller Baukunst ist die  N o t h  gestanden: von  a u ß e n  ist an den Menschen der  Z w a n g, das  S c h u t z b e d ü r f n i ß  herangetreten und hat ihn ein  D a c h  aufsuchen und bei Ermanglung eines natürlichen ein künstliches bauen lassen", so übersieht er dabei, daß die Annahme, der Mensch sei durch Noth zum Bauen getrieben worden, von Schmarsow ja gar nicht bestritten worden ist, daß aber in dieser Annahme allein nicht die mindeste Erklärung dafür zu finden ist, weshalb die dem reinen Bedürfniß entsprungenen Bauten  k ü n s t l e r i s c h  ausgestaltet wurden. Künstlerisch zu bauen, ist dem Menschen doch nicht "von außen" aufgedrungen worden; vielmehr hat Schmarsow vollkommen Recht, wenn er sagt: "Es ist die Befriedigung eines tief innerlichen Bedürfnisses, wenn die menschliche Hand ordnend und gestaltend eingreift in die wirkliche Umgebung; aber die Nothwendigkeit ihres Verfahrens kommt uns erst zum Bewußtsein, wenn wir sehen, wie es aus dem lnnersten unserer Organisation entspringt". Allerdings hat Schmarsow die Erklärung nicht geliefert, wie die ordnungs- und gesetzmäßige Entwicklung baulicher Thätigkeit, also die ersten Ansätze zur künstlerischen Seite der Architektur "aus dem lnnersten unserer Organisation entspringen". Er ist die psychologische Begründung für die Erscheinung schuldig geblieben, daß alle bauliche Bethätigung zu den "Idealformen menschlicher Raumanschauung" hindrängt, daß "die Klarheit des Gesetzmäßigen, die Uebersichtlichkeit der wiederkehrenden Theile, die gleichartige oder abwechselnde Reihung, die Regelmäßigkeit und Reinheit" sogleich bevorzugt werden. Dies gerade sind die Grundprobleme der Architektur-Aesthetik, mit denen sich die ernste, tiefbohrende Forschung in neuester Zeit beschäftigt. Ganz unglücklich ist Schmarsows weitläufige und künstliche Theorie von dem "dreidimensionalen Achsensystem", das durch den inmitten seiner Raumschöpfung befindlichen Menschen gegeben ist. Die abfällige Kritik Illerts über diesen Theil der Abhandlung ist durchaus gerechtfertigt.

Dagegen hat Herr Illert noch in einigen Einzelpunkten Schmarsow mißverstanden, so bei jener Stelle, wo auf die Abhängigkeit der ästhetischen Wirkung von dem genießenden Subject angespielt ist. Selbstverständlich ist mit dem Satz, das Kunstwerk entstehe erst durch das genießende Subject, nicht das Vorhandensein des Kunstwerks an sich, sondern die Entstehung, die Ausübung seiner vollen ästhetischen Wirkung gemeint. Daß  d i e s e  vom genießenden Subject abhängt, beweist gerade das von Illert angeführte Beispiel. Dem Bauern, "der sich an einem Gassenhauer ergötzt, aber gelangweilt und unbefriedigt aus einer Symphonieaufführung davongeht", ist die Symphonie nicht als das "entstanden, was sie für den Componisten war, und was sie dem gebildeten, musicalischen Hörer ist. Der Bauer hört nur die Folge von Tönen und Tonverbindungen, aus denen sich die Symphonie zusammensetzt, nicht aber die Symphonie; diese müßte er beim Hören verstehend in sich nachzuschaffen vermögen: da er das nicht kann, so "entsteht" für ihn die Symphonie nicht als das Kunstwerk, das sie ist. Nebenbei bemerkt, verkennt Herr Illert auch, worauf Schmarsow bei seiner Vergleichung der Architektur mit der Musik hinaus will. Nicht die alte Geschichte von der "gefrorenen Musik" will dieser wieder auftischen: er meint vielmehr, daß ein sachverständiges Auge und eine geschulte Phantasie aus Grundrissen, Aufrissen und Schnitten sich die Wirkung eines Bauwerks ebenso vorzustellen vermöge, wie der geübte Dirigent aus der Partitur eines Tonwerks dessen musicalische Wirkung sich schon lesend vorauszunehmen weiß.

Es würde zu weit führen, auf andere derartige Mißverständnisse hier näher einzugehen. Sie sind nach Besprechung der grundsätzlichen Fragen belanglos. Einige Bemerkungen allgemeinerer Art aber können nicht übergangen werden. Es ist Herrn Illert nicht zu verargen, wenn er über die durch unleidlich gezierte Sprache künstlich verdunkelten Gedankengänge Schmarsows aufgebracht ist, wenn er aus dem mancherlei Verfehlten das wenige Werthvolle, das Schmarsow selbst als solches nicht klar genug erkannte, nicht herausgefunden hat. Daß er aber von der Grausamkeitswollust des Kritisirens so weit sich fortreißen ließ, alle Kunstphilosophie einfach unter den Tisch zu werfen, das fordert eine Zurückweisung heraus. Ungerechtfertigt sind vor allem die spöttelnden Angriffe auf Semper. Wenn, wie es den Anschein hat, Herr Illert glaubt, den "schreibenden Semper" mit dem Schlagwort von der "Architektur als Bekleidungskunst" abthun zu können, so ist entgegenzuhalten, daß der überaus reiche Inhalt von Sempers "Stil" denn doch sehr viel mehr bietet, als die Darlegung der Bekleidungstheorie. Durch derartige Seitenhiebe im Vorbeigehen wird das Ansehen, das das hochbedeutende Werk mit Recht genießt, nicht geschmälert, und es wird kaum noch jemand geben, der deshalb, weil sich Semper durch seine Lieblingsidee zu manchen Einseitigkeiten hat verleiten lassen, bedauert, daß der "Stil" überhaupt geschrieben wurde, wie dies Herr Illert thut, wenn er sagt: "Leider haben ja auch schaffende Künstler wie Semper u. a. sich auf das Gebiet der Kunstphilosophisterei begeben". Ganz unhaltbar aber ist der Satz, mit dem Herr Illert. seine Besprechung einleitet. Es sollen "von den Studirenden der Kunstwissenschaft, so viele außer Landes, gar in Paris ihre Studien betreiben", weil sie die "hohle Kathederweisheit deutscher Universitäten" fliehen; auch sollen "fast alle grundlegenden Werke der Kunstwissenschaft französischen Ursprungs sein". Das sind Behauptungen, die zu beweisen Herrn Illert sehr schwer fallen dürfte. Wenn deutsche Studirende der Kunstwissenschaft nach Paris gehen, so thun sie dies aus demselben Grunde, der sie nach Rom und Florenz gehen läßt, nämlich der dort zu findenden reichen Kunstschätze wegen. Die "Kunstphilosophisterei" an deutschen Hochschulen treibt sie sicher nicht außer Landes: denn es ist eine Herrn Illert freilich nicht bekannte Thatsache, daß die allgemeine Abneigung gegen die Philosophie gerade bei fast allen deutschen Kunsthistorikern in ausgeprägtem Maße zu finden ist, daß Gelehrte, die die Kunstwissenschaft nicht rein geschichtlich, sondern ästhetisch-kritisch, etwa in der Art von Jacob Burckhardt pflegen, an deutschen Hochschulen heutzutage mit der Laterne zu suchen sind. Gerade die Abhandlung Schmarsows "über das Wesen der architektonischen Schöpfung" und ihre Kritik durch Herrn IIIert lassen den Schluß zu, daß streng sachliche, wissenschaftlich ernst zu nehmende Kunstphilosophie an deutschen Hochschulen eher zu wenig als zu viel betrieben wird. Andernfalls könnten unklare Schönrednerei und philosophischer Dilettantismus nicht mehr so selbstbewußt auftreten, wie es hier geschehen ist.

München, im Oktober 1896 - Dr. R. Streiter