Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Theodor Straub
In: Stuttgard; Verlag von Konrad Wittwer (1887); - 104 S.
 
Zur Aesthetik der Architektur
 
Vorwort

Die künstlerische Seite der Architektur umschliesst Erscheinungen, die in Folge ihres alltäglichen Auftretens und ihrer scheinbaren Natürlichkeit von Vielen kaum eines tieferen Nachdenkens werth erachtet werden, die aber zu immer neuen, immer grösseren Fragen führen, sobald man sie ernstlich anfasst. Einigen solchen Erscheinungen sind diese Blätter gewidmet. In erster Linie von Bedeutung für den Fachmann, der mitten unter ihnen steht und ihren Einfluss auf sein Schaffen allerorten beobachtet, dürften ästhetische Fragen von der Art der hier behandelten auch in grösseren Kreisen Interesse finden, nicht nur als wissenschaftliche Räthsel, sondern weil sich in aller anderen Formenschönheit so manches wiederholt, was hier nur als Erscheinung der Architektur ins Auge gefasst wurde.

Wilhelm Wundt sagt in seiner »physiologischen Psychologie« (Bd. II S. 192, 2. Auflage): »Die psychologische Untersuchung der ästhetischen Gefühle hat meistens unter dem Umstand zu leiden gehabt, dass die Anregung zu derselben ganz und gar von jenem Aesthetischen im engeren Sinn ausging, mit welchem sich die Theorie der schönen Künste und die aus ihr unter dem Namen der Aesthetik hervorgegangene Wissenschaft beschäftigt. So ist es gekommen, dass man die einfachsten Fälle des Gefallens und Missfallens fast ganz aus dem Auge verlor, welche doch für die psychologische Theorie eine nothwendige Grundlage auch für die Erklärung der komplizirteren ästhetischen Wirkungen sind.«

Das ist es; man ging an das Schwerste, an das tausendfältig Zusammengesetzte zuerst; man betrachtete das Einfache kaum als Gegenstand der Aesthetik und kam daher so wenig zu einem wirklichen, dem Erklärungsbedürfniss genügenden Resultat, als etwa die Chemie zu einem solchen gelangt wäre, wenn sie von Anfang an nur die Stoffe der höchsten organischen Gebilde hätte untersuchen wollen. Gerade die Architektur umschliesst nun die »einfachsten Fälle des Gefallens und Missfallens«, soweit sie das Auge betreffen. »Worauf beruht der Reiz der einfachen und doch gefälligen geometrischen Figur oder Raumgestalt?« - »Warum sind nicht alle Personen in gleicher Weise fähig, den Reiz einer bestimmten Figur oder Form zu fühlen?« - »Wie kommt es, dass eine bestimmte Form veralten, also ihren Reiz verlieren kann?« - » Warum erhöht sich der Reiz der Formen, wenn sie in edlem Material erscheinen?« u. s. f Das sind die nächstliegenden Fragen über die einfachsten Fälle des Gefallens und Missfallens der sichtbaren Welt und zugleich die Grundfragen der Architektur. Indem der Verfasser in diesen und späteren Blättern eine Beantwortung derselben bietet, darf er hoffen, nicht nur eine Aufgabe aus dem Gebiet der Architektur zu lösen, sondern auch jenem berechtigten Ruf nach einer Grundlage der Raumweltästhetik entgegenzugehen.

Es liegt im Charakter solcher Fragen, dass der Weg zu ihrer Lösung über sie hinausfährt, dass die Antwort mehr beantwortet als man fragt. So liessen auch die hier eingeschlagenen Wege, obgleich nur in einer einzigen Provinz des Schönen und unabhängig von einander begonnen, schon frühe genug das Hinstreben auf einen gemeinsamen Flucht- und Mittelpunkt erkennen, auf den Gipfel aller Aesthetik, auf die Frage nach dem Wesen des Schönen. Auch in dieser Richtung bietet das vorliegende Buch einen neuen Gedanken. Die im engeren Gebiet erhaltenen Resultate schienen dem Verfasser kräftig genug zu zeugen, um sie schon hier als Einzelfälle eines allgemeinen Gesetzes der Schönheit erklären zu dürfen, obwohl die planmässige Begründung dieses Gesetzes hier noch nicht möglich war. Schien es doch sogar geboten, die Richtigkeit der Strassen des Vordringens an ihrem Zusammentreffen im fernen Ziel zu erproben und daher mit einem einzigen Licht vom gemeinsamen Gipfel aus in sie hineinzuleuchten; schien es doch wesentlich für die Ueberzeugungskraft der gewonnenen Einzelresultate, sie als getrieben aus einer Wurzel, einer Gesetzesformel des Seelenlebens zu enthüllen!

Stuttgart im Mai 1887.


Inhalt
Was ist die Ursache der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur?
Wie entsteht Schönheit der Maassverhältnisse und das Stilgefühl?
Was ist die Wahrheit in der Architektur?
Worauf beruht die Wirkung des edlen Materials in der Architektur und im Kunstgewerbe?

Ueber ein neuentdecktes Gesetz der Formästhetik
Was ist die Ursache der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur?

Eine Festrede

Hochgeehrte Versammlung!

Mancherlei Güter des Geistes empfangen wir durch das Auge; doch die reichste seiner Gaben ist die Freude an Farbe und Form. Eine unabsehbare Reihe schöner Gebilde hat die Natur um uns her erbaut; eine andere Gestaltenwelt, kaum minder formen- und farbenreich, schuf die Menschenhand unter jene hinein, und um all diese Werke wandern mit dem Gang der Gestirne Licht und Schatten und alle Mittelstufen der Beleuchtung in lautlosem stätigem Wechsel. In uns aber baute sich der kleine optische Apparat, der auf kleinstem Grunde die grössten Erscheinungen widerstrahlt, baute sich auch das Unbegreifliche, das uns dessen Bilder zum Bewusstsein führt und womit wir unter dem Gefühl der Freude aus Umriss und Licht und Schatten die Schönheit der Form erfassen.

Dieses Gefühl hat dem Menschen schon in früher Zeit viel zu denken gegeben. Woher dieses Gefallen an bestimmten Formen, woher das Missfallen oder die Gleichgültigkeit gegenüber anderen? So alt diese Frage ist, so ist sie doch bis auf den heutigen Tag noch ungelöst und der gemeinsame Zug der formschönen Gebilde noch unerforscht. Nicht zum geringsten Theil mag dieser Mangel an jedem Resultat wohl dadurch verschuldet sein, dass man bei allem Suchen und fast mit Absicht eine Erscheinung unbeachtet liess: es sind die Schwankungen jenes Gefühls.

Die Formen aller Gebilde der Natur und der Menschenhand, wie sie uns heut' umgeben, sind nicht auf einmal fertig ins Dasein getreten. In beiden Reichen erscheinen sie als die Letzten einer unendlichen Zahl, als das Resultat einer grossen Entwicklung herab aus uralter Zeit. Hier wie dort verfolgen wir das Kommen, Blühen und Vergehen einer endlosen Reihe von Formfamilien; hier wie dort ein Fortschreiten vom Rohen zum Feinen, oft unterbrochen durch Revolutionen und scheinbaren Rückfall; hier wie dort erkennen wir Stilperioden; nach Jahrtausenden zählen sie im Gestalten der Natur, nach Jahrhunderten oder Jahrzehnten nur im Bilden und Schaffen der Menschen.

»Durch welche Einwirkung der Aussenwelt und nach welchen inneren Gesetzen entstanden immer höher organisirte, immer schönere Formen in der Pflanzen- und Thierwelt aus oder nach den älteren?« Das ist eine Frage, die der menschliche Geist schon lange gestellt hat und auf welche die Wissenschaft seit einer Reihe von Jahren die Antwort sucht. Weit weniger Beachtung hat die verwandte Frage gefunden: »Welches ist die treibende Kraft in der Geschichte des von der Menschenhand erschaffenen Formschönen, die Kraft, welche mit sichtbarer Nothwendigkeit die Völker zu immer neuer Stilveränderung geführt hat und noch immer führt?«

Und doch muss in unseren Tagen diese Frage sich Jedem aufdrängen, der mit aufmerksamem Auge die Architektur unseres Jahrhunderts verfolgt. Kaum hatten wir die Aufnahme der griechischen Formen als eine Erlösung von gehaltlosem Wust gefeiert und in ihnen das Edelste erkannt, was die moderne Architektur nachschaffen könne, so führte uns ein hochbegabter, nun begrabener Meister zum freieren Stil der Hochrenaissance, den wir zuerst nur zurückhaltend und mit dem bewussten Streben nach der Strenge des Griechischen, dann mit voller Freude an seinem ganzen Reichthum aufnahmen und übten. Nun aber genügt schon Vielen auch die Hochrenaissance nicht mehr; schon Viele greifen tiefer und tiefer hinein in den stärker bewegten Formenapparat des Barockstils, der noch vor zwei Jahrzehnten als unorganisch und manierirt missachtet war, oder nach dem ebenso starken und dazu noch neuen Reiz der Deutschrenaissance; und es hat nicht das Ansehen, als ob diese Bewegung zum Stillstand kommen oder sich zur Rückkehr wenden wollte. Denn auch Solche, die noch die alten Grundsätze im architektonischen Schaffen hochhalten, finden nun in jenen früher angefeindeten Formen manches Schöne, das sie zuvor nicht beachtet oder nicht als schön empfunden hatten, und auch sie erkennen in sich eine deutliche Spur von einem Umschwung im Formgefühl unserer Zeit, den sie mit vollzogen haben, ohne es zu wollen und vielleicht lange Zeit, ohne es zu wissen. Vergebens halten wir uns vor, dass wir auf diesem Weg bald wieder bei dem kaum verlassenen Rokoko ankommen, bald wieder vor der Frage stehen werden: »Was nun?« Mit unserem Wissen von der Bewegung halten wir die Bewegung nicht auf. Es ist nur zu deutlich, dass wir einem Gesetz folgen, demselben Gesetz, das einst die Hochrenaissance selber in den Barockstil, das einst das frühgothische Formgefühl in die Spätgothik, das einen jeden anderen Baustil vom Aufgang zur Blüthe und von der Blüthe zum Zerfall getrieben hat.

Diese Erscheinung, dieses Gesetz möge, der Inhalt meiner Rede sein, in der ich die Frucht einigen Nachdenkens über unser Verhalten zur Formschönheit zu bieten wage. Es soll versucht werden, die psychologischen Ursachen nachzuweisen, aus denen unser Gefühl für die Schönheit der Schmuckformen eines Baustils sich mit der Zeit verändert, und aus dem Verhalten des Einzelnen zur einzelnen Form soll die Unvermeidlichkeit der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur begründet werden. Wohl führt der Weg zum Theil durch entlegenes Gebiet; doch wird es gestattet sein, über den Rahmen unserer Lehrfächer hinauszugreifen, wenn die technische Hochschule mit der Beantwortung einer wissenschaftlichen Frage einen Ausdruck bieten will für ihre dankbare und freudige Theilnahme an der heutigen Feier unseres Landes.


I.
Der Eindruck, den die Werke der Architektur und der bildenden Kunst auf uns ausüben, kommt zu Stande durch das Zusammentreten vieler Einzelwirkungen, die sich deutlich in zwei Haupteindrücke sondern; nämlich einerseits in eine Gefühlsreihe, die sich auf den mehr oder weniger klaren Gedanken über das Kunstwerk aufbaut; andererseits in ein Wohlgefallen von mehr äusserlicher Art, das mit Gedanken nichts zu thun hat, sondern aus dem Anschauen der Form oder des Bildes unmittelbar hervorgeht. Der erstgenannte Eindruck beruht auf dem geistigen Gehalt des Kunstwerks, der andere auf seiner Formschönheit. Diese letzte, vielleicht minder hoch stehende Seite der Schönheit, diese Schönheit der reinen, von jeder Gedankenvorstellung befreit gedachten sichtbaren Form ist es, von welcher im Folgenden die Rede sein wird. Sie ist zu definiren als ein an sich wohlgefälliges, bedeutungsloses Spiel von Linien oder von Licht und Schatten.

Das Verhältniss, nach welchem Gedankengehalt und Formschönheit ihren Beitrag zur ästhetischen Wirkung leisten, ist in verschiedenen Kunstwerken ein sehr verschieden grosses. In den Werken der Malerei und Skulptur, besonders in den höher stehenden, liegt der Schwerpunkt entschieden im Inhalt, und ihr Linienspiel gefällt und interessirt uns fast ausschliesslich durch das, woran es erinnert und was es bedeutet, fast ausschliesslich durch den Zustand geistigen oder leiblichen Lebens, dessen Vorstellung es uns darbietet. Was in ihnen formschön genannt wird, ist nicht rein formschön nach der aufgestellten Definition, und ein völlig gedankenfreies Wohlgefallen, wie im Anschauen von Arabesken und geometrischen Ornamenten, ist ihnen gegenüber nicht möglich. Sie enthalten wohl auch reine Formschönheit, denn deren äusserliche Merkmale, Stätigkeit der Linien, Symmetrie oder oftmalige gesetzmässige Wiederholung gleicher oder ähnlicher Theile finden sich auch in ihnen, wie im Naturschönen, ihrem Original; aber wir können das rein Formschöne in diesen Werken nicht loslösen vom Gedankengehalt. Was wir von Sinn und Ausdruck mit dem Spiel ihrer Linien verbinden können, das müssen wir auch unentrinnbar damit verbinden, so dass wir sie nicht auch nach Belieben als reine Form geniessen und beurtheilen können. Wir können z. B. von den Linien eines gezeichneten Kopfes die Vorstellung und den Ausdruck eines menschlichen Gesichts nicht hinwegdenken und dann beurtheilen, wie dieselben Linien auf uns einwirken würden, wenn sie - wie ein geometrisches Ornament - ohne Ausdruck und Bedeutung wären. Dasselbe ist sogar schon mit einer zufälligen Zusammenstellung von ein paar Punkten und Strichen der Fall, welche die Vorstellung eines Gesichts oder einer menschlichen Gestalt hervorrufen können. Mit jeder solchen Erscheinung verbinden wir unvermeidlich die Vorstellung des Gesichts oder der Gestalt und damit das Gefühl eines bestimmten Zustandes geistigen oder leiblichen Lebens und beurt eilen dann ihre Schönheit nicht mehr als reine Form, sondern nach der Wohlgefälligkeit oder Missfälligkeit dieses Gefühls. Nicht anders ist es mit jeder Erscheinung des lebenden oder todten Menschen. Was die menschliche Gestalt als reine, bedeutungslose Form an Schönheit bietet, kann nicht von Menschen beurtheilt werden, sondern es würden Wesen dazu gehören, die nicht menschlich fühlen und für alle Zustände der menschlichen Seele kein Verständniss haben. Auch noch die Schönheit der meisten Thiere beurtheilen wir weit mehr nach ihrem Ausdruck von Intelligenz, Kraft, Wildheit, Beweglichkeit u. s. w., als nach der geometrischen Harmonie der Linien. Nur in denjenigen Gebilden aus der Thierwelt, in denen wir keine Empfindung mehr thätig wissen, im Farbenschmuck der Federn oder des Schmetterlingsflügels, in den Linien der Muschel, in der Verzweigung der Korallen, gelangt diese Harmonie zur ausschliesslichen Wirkung auf das Gefühl.

Die Schönheit der reinen Form ist uns somit in den Werken der Malerei und Skulptur, wie auch in den meisten Gebilden der organischen Natur durch den Gedankengehalt völlig verdeckt; sie ist wohl da, und wir empfinden auch ihren erfreuenden Einfluss; aber wir sehen sie nicht für sich, nicht als selbständigen Gegenstand unseres Urtheils, und wir empfinden hier die Linien als schön oder unschön grösstentheils nach dem Werth oder Unwerth in uns ruhender Vorstellungen von früher erlebten Seelenzuständen, an welche wir im Anschauen der Form mehr oder weniger deutlich erinnert werden. Den Linien an sich verdanken wir hier unser ästhetisches Wohlgefallen kaum mehr als dasjenige an einem Gedicht der Form seiner Schriftzeichen.

Anders in der Architektur! Sie bietet uns, wenn wir zunächst von den wenigen Formen mit Naturnachbildung absehen, Systeme von abstrakten, geometrischen Linienzügen, keine Bilder von konkreten Dingen, die uns im Leben entgegengetreten sind; sie findet also keine ruhende Vorstellung solcher Dinge in unserem Gedächtniss, die nothwendig und unvermeidlich im Anschauen ihrer Werke ins Bewusstsein treten müsste, wie in der Malerei und Skulptur. Ihre Formen drücken hiernach für den natürlichen Verstand zunächst nichts aus und sind ihm räthselhafte Zeichen. Viele derselben haben allerdings durch die Art ihrer Verwendung eine Bedeutung, einen Gedankengehalt gewonnen; doch gibt es auch viele andere, die nicht die Fähigkeit haben, Gedankenvorstellungen irgend welcher Art zu erwecken. Diese sogenannten »rein dekorativen« Formen geben ganz unmittelbar den Begriff der reinen, bedeutungslosen Form und liefern den ersten Beweis dafür, dass in der Architektur die Form auch ohne Inhalt erfreut.

Unter den Gedankenvorstellungen, die von den übrigen Architekturformen in uns erweckt werden können, steht voran diejenige der statischen Leistung der Glieder am baulichen Organismus. Weitaus die meisten Formen bilden eine Reihe von Symbolen, welche die Funktionen von Stütze, Steinbalken, Mauerbogen, Gewölbrippe und Strebepfeiler zum Ausdruck bringen, wenigstens für den, der diesen Ausdruck sucht und zu sehen gelernt hat. Wodurch uns diese Formen zu solchen Symbolen werden, ist hier unwesentlich; wahrscheinlich werden sie es für den Einzelnen nur dadurch, dass sie es durch Tradition einmal sind, und es liegt hier eine vielleicht ursprünglich wohlbegründete, heute aber nur noch konventionelle Verbindung von Zeichen und Begriff vor, genau wie in der Sprache diejenige von Laut und Begriff. Dieses Zusammengewöhnen der Vorstellungen bestimmter statischer Leistungen und Formen kann eine bedeutende Kraft gewinnen, sonst könnte es den gut geschulten Architekten nicht in so hohem Grad verletzen, wenn er an einem Bauwerk die Säule oder den Pilaster, Formzeichen des Stützens, ohne eine aufgelegte Last verwendet sieht. Ein Studium der Baustile ergibt sogar das Resultat, dass die Architektur im engeren Sinne, d. h. die Schmuckformenreihe, wodurch sich jene unterscheiden, nie etwas Anderes verkündet als die in den Massen wohnende Kraft, vorausgesetzt, dass sie überhaupt etwas verkünden will. Die vornehmste Schönheit der Architektur, die der antiken Ordnungen, ist erstanden aus diesem Hinstreben aller Schmuckformen nach dem einen Inhalt, nach dem Idealisiren von Stütze und Last.

Hier ist also wieder die Form in Verbindung mit einem Inhalt schön, und es wird sich nun fragen, ob sie auch als reine Form schön wäre, d. h., ob von unserem Wohlgefallen noch etwas übrig bliebe, wenn man die Bedeutung wegnähme. - Das kann ja geschehen! Trennen wir jene Säulen und Gebälke und lösen wir jene Pfeiler und Gewölbrippen aus ihrem Organismus los! Stürzen wir Säulen und Pfeiler um, wenden wir die Gebälke Architrav nach oben! Damit ist die Vorstellung und Verkündigung ihrer statischen Leistung völlig verschwunden und sie sind zu reinen Formen geworden. Verlieren sie so an Schönheit? - Ja, aber sie verlieren nicht ihre ganze Schönheit. Auch die am Boden liegende Säule gefällt uns noch durch den Linienzug der Kanäle, deren Breite gesetzmässig von der Mitte nach aussen sich vermindert und in welchen ebenso gesetzmässig die Schatten allmählich wachsen , bis sie die ganze Kehlung erfüllen. Auch ein Bruchstück von Kapitäl oder Basis erfreut uns noch durch die perspektivische Verschiebung der Linien, durch die Ornamente, die sich in allmählich zunehmender Verkürzung bis zum Verschwinden auf den kreisförmigen Gliedern wiederholen, und durch, das feine Spiel von Licht und Schatten auf den Wulsten und in den Hohlkehlen. Auch das umgestürzte korinthische Gebälk ist noch immer schön mit seiner reichen Wechselfolge glatter und skulpirter Glieder, mit seiner Konsolenreihe und den Schlagschatten in den Feldern, mit seinem breiten Arabeskenzug auf Fries und Sima.

Was uns hier noch immer erfreut, kann nichts Anderes sein als der Reiz der reinen Form; denn was sollten wir hier ausser der Form selber uns noch vorstellen? Verändern wir nun aber die Höhe und Ausladung der Glieder an Basis und Kapitäl der Säule, bis sie - am Boden liegend- uns nicht mehr gefällt; stören wir -die Gesetzmässigkeit der Linien am Gebälk; machen wir die Konsolenfelder ungleich breit, den Zahnschnitt unregelmässig, bis es - am Boden liegend - seine Schönheit verloren hat, und stellen wir die Theile wieder zur Ordnung zusammen, damit der Inhalt wieder zur Form trete. Gefallen sie uns nun wieder? - Nein! wenn sie nicht schon zuvor schön sind, durch das Zusammenstellen werden sie es nicht. Alles Stützen und Freitragen, alle Klarheit und Wahrheit im Verkünden der statischen Leistung kann uns nicht versöhnen, wenn es der reinen Form an Schönheit fehlt. Und so ist denn bewiesen, dass in der Architektur das an sich wohlgefällige Spiel der Linien oder der Lichter und Schatten das Wesentliche sei, dass Sinn und Bedeutung der Form auch fehlen könne, ohne dass sie ihren ganzen Reiz verliert, dass Sinn und Bedeutung den Reiz der Architekturform wohl kräftig erhöhen, aber für sich allein einen solchen niemals verleihen.

Wie sollte uns auch der Inhalt der Formensprache der Architektur, die statische Leistung, für sich allein besonders interessiren? Würde hier nur die Statik und Mechanik unser Gefühl bewegen, dann wäre die Maschine das höchste architektonische Kunstwerk! Wir sehen ja die konstruktive Leistung auch ohne die Schmuckformen; wozu sollte denn die Schmuckformensprache überhaupt dienen, wenn schon diese Leistung für sich allein das Interessante wäre? Also ist es der Klang jener Sprache, was uns gefällt, nicht der Sinn, und wir hören das alte Märchen vom Stützen und Getragensein nur desshalb immer wieder mit an, weil uns der Wohllaut seiner immer neuen Worte immer wieder neu erfreut.
Allerdings ist mit der Verkündigung der statischen Leistung der Inhalt der Architektur noch lange nicht erschöpft. Auch sie hat die Gabe, mit manchen Werken uns in tiefster Seele zu bewegen; sie vermag ihren Monumenten bald den Ausdruck des schwungvollen Aufstrebens, bald den des feierlichen Ernstes, bald den der festlichen Freude, bald den der stolzen Kraft zu verleihen und auch dem Werk für alltägliche Zwecke seinen Rang und Charakter wohl abgewogen auf die Stirne zu schreiben. Wie wir vom Anschauen abstrakter Formen und Ornamente zum Gefühl des Erhabenen oder Ernsten oder Festlich-Heiteren gelangen, das wird wohl noch für lange Zeit ein tiefes psychologisches Geheimniss bleiben; nur eine lange Verkettung von unbewussten Vorstellungen kann uns vom einen zum anderen führen. Insbesondere ist der gewaltige Eindruck der grossen Massen und die erhebende Wirkung des, hohen, weiten, lichtdurchströmten Raums ein Gefühl, dessen Ursachen wohl in den grössten Tiefen der menschlichen Seele zusammenwirken und schaffen mögen.

Aber auch ohne die Spuren dieser Eindrücke zu verfolgen, können wir der Erfahrung unmittelbar die Thatsache entnehmen, dass das Gefühl für jenen Ausdruck und ebenso das Wohlgefallen am gut getroffenen Charakter eines Bauwerks üns nicht im mindesten abhält, die Schönheit der reinen Form für sich zu geniessen und zu beurtheilen, und in derselben Weise, wie der statischen Leistung gegenüber, lässt sich durch Herausgreifen kleiner Partien auch hier beweisen, dass die schöne Architekturform nicht ganz aufhören würde, wohlgefällig zu sein, wenn jener Ausdruck nicht in ihr enthalten oder wenn die Charakterdarstellung des Bauwerks verfehlt wäre.

Nach allem ist die Architektur die wahre schmückende Kunst, die wahre Kunst der sichtbaren reinen Form, und deren minder vornehme, minder seelenreiche Schönheit ist in ihren Werken die erste, oft sogar die einzige Quelle des ästhetischen Wohlgefallens.

Der Nachweis, dass die Architekturformen schön sind auch ohne Gedankengehalt, ohne Erinnerung an Naturgebilde, ohne Vorstellung einer Kraftäusserung der Masse, dieser Nacheis ist wesentlich für die Lösung der gestellten Aufgabe. Es ist daher der eingeführte Begriff der reinen Formschönheit ausdrücklich gegen die idealistische Richtung der Aesthetik zu vertheidigen, welche die Möglichkeit einer Freude an der reinen Form bestreitet. Sie behauptet, eine jede schöne Form erfreue uns nur durch die erweckten Gedankenvorstellungen; auch das einfachste Linienspiel werde uns unbewussterweise ein Symbol. Sie erkennt zwar den Werth der geometrischen Gesetzmässigkeit, der Symmetrie, der guten Massverhältnisse, der kräftigen oder feinen Schattenwirkung an; aber sie thut dies doch nur mit dem Bemerken, dass dieser Werth allen diesen geometrischen und formalen Reizen »nicht ursprünglich eigenthümlich sei, sondern auf sie übertragen von Vorstellungen, an welche sie erinnern«, und damit ist eben doch wieder die selbständige ästhetische Wirksamkeit der reinen Form bestritten und ein Inhalt als Grund unseres Wohlgefallens erklärt.

In Ansehung der Werke der Skulptur und Malerei, wie der meisten organischen Naturgebilde ist diese Behauptung der idealistischen Aesthetik nicht zu widerlegen, weil sich - wie schon entwickelt - das Wohlgefallen an diesen Werken und Gebilden wirklich aus Gedankenvorstellungen nachweisen und dasjenige an der reinen Bildvorstellung nicht aus der Gesammtwirkung heraus abklären lässt. Der Architekt aber kann sich bei dieser Lehre nicht beruhigen; es ist zu deutlich und die ganze Baugeschichte ist ein Beweis dafür, dass die reine Form als selbständiges Kunstobjekt existirt und ein Sonderleben führt, ohne sich um ihre Bedeutung viel zu kümmern, wenn sie je eine solche hat. Ein zwingender Beweis für ihre vom Inhalt unabhängige ästhetische Wirksamkeit liegt aber darin, dass wir eine schöne Architekturform, die eine bestimmte Bedeutung hat, lediglich durch eine geringe Veränderung weniger Maasse zu einer unschönen machen können, ohne dass dabei die Bedeutung verloren ginge oder auch nur gestreift würde. Ob der Echinus am dorischen Kapitäl mehr oder weniger Höhe erhält, ist für seine Bedeutung als druckübertragendes Glied offenbar gleichgültig, für die Schönheit der Säule aber vom grössten Einfluss. Zwei Säulen können die Vorstellung des festen Stehens, des unbeugsamen Stützens ihrer Last, des freudigen Emporstrebens, überhaupt alles, was wir im Anschauen einer Säule vorzustellen und zu fühlen vermögen, völlig gleich gut erwecken, und doch kann die eine schön sein, die andere nicht; also kann es nicht der Inhalt sein, was die eine Form zur schönen, die andere zur unschönen macht. Wenn wir fragen: warum ist eine Säule schön? so vermag die idealistische Aesthetik uns den Grund wohl zu sagen; fragen wir aber: warum ist jene Säule schön, diese nicht? so lässt sie uns ohne Antwort.
Freilich ist das Letztere bei jedem anderen ästhetischen System auch der Fall, die Freude an der reinen Form ist für die Wissenschaft noch ein ungelöstes Räthsel. Wenn uns eine optische Erscheinung auf eine Gedankenreihe führt und uns dadurch ein Lust- oder Unlustgefühl bereitet, so ist das wohl begreiflich; denn überall sonst im Leben gründet sich Gefühl auf Gedanken, und so ist uns der geistige Gehalt eines Kunstwerks wohl verständlich als Ursache des ästhetischen Gefühls. Hier aber, vor der reinen Form, ist Gefühl ohne Gedanken; hier ist uns der Verlauf bedeutungsloser Linien, das Verhältniss bedeutungsloser Maasse, das Spiel bedeutungsloser Lichter und Schatten bald die Quelle eines hohen Wohlgefallens, bald ganz gleichgültig. Vergebens fragen wir in beiden Fällen: warum? Vergebens suchen wir durch unser Denken auf die Ursache eines Gefühls zu kommen, das mit Gedanken nichts zu thun hat.
Nur noch eine Erklärung des Wesens der Formenfreude, eine oft vorgetragene physiologische, ist hier zurückzuweisen, um die Grundlage für eine spätere Schlussfolgerung zu gewinnen und sicher zu stellen. Wir wissen, dass das betrachtende Auge, indem es die Linien der Form verfolgt, von seinen Muskelbändern hin und her und auf und ab gedreht wird; wir wissen, dass die Lichtstrahlen auf die Netzhaut des Auges fallen und die Ausläufer des Sehnerven erregen; wir wissen, dass diese Erregung vom Sehnerv ins Gehirn fortgeleitet wird; was dort vor sich geht, ist zwar als mechanischer Vorgang noch unaufgeklärt, aber als seelischer Vorgang bekannt: es ist das bewusste Vorstellen der Form. In keinem der drei erst genannten Vorgänge, sondern nur im letzten, im bewussten Vorstellen, kommt das Wohlgefallen zu Stande, wenn die Form schon als reine Form schön ist. Dies gilt ausdrücklich nur für die reine Form. Ist ein Gebilde nur durch seinen Gedankengehalt schön, so ist auch noch nicht das bewusste Vorstellen der Form, sondern ein noch späterer Akt des Geistes, in welchem eine Verwerthung der Formvorstellung zu Gedanken vollzogen wird, derjenige Vorgang, auf dem das Wohlgefallen beruht.

Diesen Thatsachen gegenüber besteht zwar die Ansicht, dass unser Wohlgefallen an einer Form ganz oder grossentheils abhängig sei von der Bewegung, die das Auge beim Verfolgen der Linien der angeschauten Form einzuschlagen habe. Bei der schönen Form sei diese »Blickbahn« für die Augenmuskeln bequem und dem Bau des Sehorgans angemessen, bei der unschönen aber anstrengend und unserem Organismus zuwider. Die Bewegung rufe in jenem günstigen Fall ein wohlgefälliges Gefühl im Bewegungsapparat des Auges und in denjenigen Gehirnprovinzen hervor, in welchen die Bewegungen dieses Apparats verzeichnet und zu Vorstellungen verwerthet würden, und die Ursache dieses Gefühls werde von uns unbewussterweise in die Form verlegt. Die Vertheidiger dieser Lehre stützen sich auf die Erscheinung, dass das Auge den Weg von einem Gegenstand zu einem anderen gleich hoch liegenden in der Horizontalen, den Weg zu einem höher oder tiefer liegenden aber in einer Bogenlinie zurücklegt, vorausgesetzt, dass es freie Wahl für den Weg hat. Die horizontalen Geraden und leicht geschwungenen Bogenlinien sollen uns daher gefällig sein; geneigte und gebrochene gerade Linien oder gesetzlos gekrümmte sollen unangenehm sein, weil sie mit der natürlichen Blickbahn, mit dem Weg der freien Wahl des Auges nicht übereinstimmen u.s.w.

Die Gesetzmässigkeit der Linien, die wir in allem Formschönen finden, scheint zwar für diese Lehre zu sprechen; doch kann in dem äusserlichen Vorgang der Muskelbewegung die Endursache der Formenfreude nicht zu suchen sein, denn es müsste ja sonst unser Wohlgefallen an einer Form sich als von unserer Kopfhaltung abhängig erweisen, da bei geneigtem oder gedrehtem Kopf die Bewegung der Muskelbänder des Auges derselben Form gegenüber eine ganz andere ist als bei gehobener oder geradeaus sehender Kopfstellung. Die Erfahrung lehrt aber, dass eine schöne Form auch bei sehr anstrengender Augenverdrehung nicht unschön wird, überhaupt nicht anders beurtheilt wird als zuvor. Ferner bleibe ja sonst ein wesentliches Glied des Formschönen ganz ohne Einfluss, nämlich das Maass. Das Wohlverhältniss der Maasse, diese erste Bedingung der architektonischen Schönheit, kann nicht aus dem Muskelgefühl der Augenbewegung empfunden werden. Ob eine Linie etwas länger oder kürzer ist, das ist für die Bemühung der Augenmuskeln ganz gleichgültig. Und wenn wir je annehmen wollten, dass uns das Muskelgefühl der Augenbewegung über die Länge einer einzelnen Linie Rechenschaft gibt, so genügt dies nicht zur Wahrnehmung des Verhältnisses zweier Maasse, sondern hiezu wäre Vergleichung zweier Muskelgefühle, also doch eine weit höhere Seelenthätigkeit nothwendig.

Ebensowenig wie der Bewegungsapparat des Auges sind auch Netzhaut und Sehnerv durch das Liniensystem oder die Schattirung einer Form in ihrem Befinden beeinflusst, wenn es sich nicht gerade um Farbenempfindung oder übermässig starkes Licht handelt. Diese Behauptung bedarf wohl keines Beweises. Also kommt die Formenfreude nicht in den Muskelbändern des Auges, nicht in der Netzhaut, nicht im Sehnerv zu Stande, sondern es ist allein der mechanisch noch unauf geklärte Vorgang im Gehirn, das aneinanderreihende und vergleichende Zusammenfassen der Sinneseindrücke aufeinanderfolgender »Augenblicke« durch die Seele, mit einem Wort das bewusste Vorstellen der Form als Grundlage und Ursache der Formenfreude zu betrachten. Sie gestattet keine physiologische Erklärung; sie ist kein körperliches Wohlgefühl, sondern eine wahre Geistesfreude so gut wie jene anderen des ästhetischen Eindrucks, die wir der Reflexion verdanken, wenn sie auch weniger tief in unsere Seele greift, als diese.

Nicht dasselbe ist allerdings der Fall mit einem anderen Theil des Sinneseindrucks, mit der Empfindung der Farben. Das Wohlgefallen an diesen - abgesehen von den Farbenkontrasten - hat wohl seinen Ursprung in den Nervenenden der Netzhaut, also im Sinnesorgan, und kann daher als der sinnlich-angenehme Theil des Eindrucks bezeichnet werden, wenn man je die Unterscheidung von sinnlich und geistig durchführen will. Da es seinen eigenen Gesetzen folgt und an den Wandlungen des Formgefühls keinen Antheil nimmt, so ist es nicht möglich, die Farben in diese Betrachtung der reinen Form einzuschliessen.


II.
Wenn irgend eine Vorstellung, die ein bewusster Sinneseindruck in uns hervorgerufen hat, von einer anderen aus unserem Bewusstsein verdrängt wird, so ist sie, wie allgemein bekannt, damit durchaus nicht dauernd für uns verloren, sondern wir können durch irgend einen Anlass wieder an sie erinnert werden, worauf sie wieder ins Bewusstsein tritt. Es ruht also von jeder gehabten Vorstellung in uns ein unbewusster, aber jederzeit der Wiedererweckung fähiger Rückstand, der freilich im Lauf der Zeit sehr schwach werden, wohl auch ganz verloren gehen kann und über dessen Zusammenhang mit unserem Organismus wir wenig Sicheres wissen. Die Psychologie nennt diese Rückstände »Residuen« oder »verdunkelte Vorstellungen«. Auf unsern Vorstellungsresiduen beruht, unser ganzes Wissen; sie stellen dar alles, was wir an geistigen Gütern im Leben gesammelt haben.

Ein solches Residuum, und zwar ein bildliches, ein Gedächtnissbild, erwerben wir mit dem Anschauen einer jeden Form, und die vorangegangene Betrachtung lehrt nun, dass im Vorgang dieser Erwerbung der Grund unseres Wohlgefallens zu suchen ist, wenn das Gebilde schon als reine Form gefällt. Denn das Gestalten des Gedächtnissbildes und das (früher als die seelische Ursache der Freude an der reinen Form nachgewiesene) bewusste Vorstellen der letzteren während der Anschauung sind nicht etwa zwei verschiedene Geistesthätigkeiten, sondern nach der Lehre der Psychologen ganz identisch; das bewusste Vorstellen ist zugleich das Gestalten des Gedächtnissbildes; es ist die geistige Arbeit, mit welcher dieses geschaffen wird, und was von jenem Vorstellen früher nachgewiesen wurde, das ist nun auch wahr für dieses Gestalten.

Die geistige Arbeit, die wir im Gestalten des Gedächtnissbildes einer schönen Form leisten, ist die unbewusste seelische Ursache unserer Freude an dieser Form.

Dieser Satz ist die Grundlage der späteren Schlüsse. Er gilt ausdrücklich nur für die reine Form, nicht für solche Erscheinungen, die als Bilder der Natur oder durch die erweckten Gedanken gefallen; bei diesen liegt der Grund des ästhetischen Gefühls in anderen seelischen Vorgängen, die der Formvorstellung erst nachfolgen und von ihr ausgelöst werden.

Wozu leisten wir aber jene Geistesarbeit, aus welcher unser Genuss des Formschönen hervorgeht? Die Erfahrung gibt die Antwort, dass eine bleibende Errungenschaft mit ihr geschaffen wird; die Erfahrung lehrt uns, dass unser Gefühl für das Schöne eine Art Erziehung durchmacht, dass es abhängig ist von dem, was wir früher gesehen und im Gedächtniss behalten haben. Indem wir unserem Gedächtniss schöne Formen einprägen, erhöhen wir unbestrittenermassen unsere Fähigkeit, die Schönheit der Form zu empfinden. Darauf beruht ja allein die Möglichkeit, durch Nachbildung oder Anschauung schöner Formen in der Schule und im Leben sich Urtheilsfähigkeit über Schön und Nichtschön zu erwerben. Diese Thatsache steht im engsten Zusammenhang mit jener geistigen Arbeit; diese ist ein unbewusstes Verwerthen des Sinneseindrucks für die Fortentwicklung unseres Formgefühls, für das Wachsthum unseres Geistes. Es fügt sich also ein weiterer Satz an jenen von der geistigen Arbeit:

Das Formgefühl des Einzelnen ist abhängig von seinem Gedächtnissinhalt, das heisst von dem, was sein Gedächtniss an Bildern früher gesehener Formen auf bewahrt.

Jedes neue Gedächtnissbild wird zur Entwicklung des Formgefühls verwerthet, indem es den Gedächtnissinhalt vermehrt und verändert; jedes vermehrt die Fähigkeit, sich der nachfolgenden verwandten Erscheinungen zu erfreuen. Obwohl die Aenderung, die vom einzelnen neuen Gebilde herrührt, im allgemeinen unerheblich ist, so erreicht doch die Vielheit der neuen Eindrücke oft eine weitgehende Veränderung wie des Gedächtnissinhalts, so des Formgefühls. Auch aus diesem Satz, der wie der voranstehende für den Einblick in das Wesen des Schönen von der grössten Tragweite ist, obgleich er nur längst bekannte Dinge formulirt, werden später einige Schlüsse zu ziehen sein. Es mag noch ausdrücklich betont werden, dass mit dieser Abhängigkeit des Formgefühls vom Gedächtnissinhalt nicht behauptet werden soll, jenes sei ganz durch diesen bestimmt. Die Bilder im Gedächtniss sind zwar ein Faktor, aber durchaus nicht der einzige Faktor unseres Urtheils über die Schönheit der Form.

Die Beobachtung lehrt, dass jedes einzelne Gedächtnissbild in unserem Geist eine Entwicklung durchmacht, dass es verschiedene Stufen der Klarheit erreichen, dass es von erreichten Stufen wieder herabsinken und vielleicht vollkommen wieder erlöschen kann. Die Untersuchung über den Zustand unseres Gedächtnissbildes einer beliebigen früher gesehenen Form ist nicht schwer, wenn das Bild weit vorgeschritten ist. Wir suchen eben das Gedachte vorzustellen oder zu zeichnen; daraus ergibt sich ja deutlich; was wir behalten haben. Anders ist es in Beziehung auf die Anfangsstufen des werdenden Bildes in uns. Wir können uns z. B. oft mit aller Bemühung von irgend einem Gebilde nichts mehr vorstellen, etwa von einer Erscheinung aus unserer frühesten Kindheit, und man könnte nun denken, dass hier das Gedächtnissbild ganz verloren sei. Das wäre aber eine ungerechtfertigte Annahme; denn es trifft sich oft, dass uns ein solches scheinbar vergessenes Gebilde wieder begegnet oder dass wir eine Abbildung davon sehen, und dass wir es dann wieder erkennen oder dass es uns wenigstens bekannt anmuthet, obgleich wir uns nicht mehr erinnern, wo wir etwas Aehnliches gesehen haben. Damit ist dann bewiesen, dass wir doch noch ein Gedächtnissbild, wenn auch ein sehr unbestimmtes, in uns hatten. In anderen Fällen ist das innere Bild oft so weit entwickelt, dass wir das Gebilde aus dem Gedächtniss aufzeichnen können; aber selbst in diesem Fall lässt sich noch nicht behaupten, dass es vollendet sei, denn auch von diesem Klarheitsgrad ist noch ein gutes Stück Wegs zu demjenigen, in welchem das innere Bild während der Anschauung vorhanden ist. Ein Würfel ist z. B. ein sehr leicht in allen Projektionen zu zeichnendes Gebilde. Aber man denke sich den Würfel mit lothrecht gestellter Diagonale, und man wird nicht allzu leicht finden, das Ineinandergreifen der drei oberen und der drei unteren Flächen, sowie das Auf und Absteigen der Kanten zwischen diesen zwei Flächengruppen sich im Raum vorzustellen.

Von jeder grösseren Form, ja von allen Formen ist das Gedächtnissbild kein einzelnes Residuum, sondern eine Association, eine Kette von einfacheren Gedächtnissbildern, die einander nothwendig ins Bewusstsein rufen. Denn eine jede grössere Form erfassen wir nach und nach; es ist uns unmöglich, an einem Bauwerk gleichzeitig etwa das Ornament an einer Konsole und einige Meter davon den Fuss einer Säule aufmerksam zu betrachten. Das Bild einer grösseren Form zieht also als eine Kette von Vorstellungen in das Gedächtniss ein, und ebenso wird es auch reproduzirt.

Auch in seinem besten erreichbaren Zutand ist es keine vollkommen treue Wiedergabe des Anschauungsbildes, sondern dessen subjektiv aufgefasste Kopie. Das beste Mittel zur raschen Erwerbung des inneren Bildes ist erfahrungsgemäss das Abzeichnen.

Die Psychologie hat bisher ein allmähliches Entstehen des Residuums nicht angenommen, weil sie vorwiegend auf Gedankenvorstellungen Rücksicht nahm, und diese im Augenblick vollendete Residuen hinterlassen, wofern nur der Gedanke vollkommen durchgedacht war. Die allmähliche Gestaltung der Formgedächtnissbilder ist aber deutlich erkennbar. Es ergibt sich aus der Beobachtung, dass sie sich erst durch wiederholte Anschauung schärfer zeichnen aber auch nach oftmaliger Wiederholung noch immer sehr erheblich hinter dem bestmöglichen Zustand zurückstehen. Das Fortschreiten ihrer Gestaltung hängt von der Zeitdauer der Anschauung, von der Formgedächtnisskraft der Person und von dem im Anschauen entwickelten Grad der Aufmerksamkeit ab.

Die Beobachtung lehrt ferner, dass das Bildresiduum durch rasch wiederholte Betrachtung der Form sich zwar immer klarer zeichnet, aber doch niemals fertig wird, niemals die Schärfe und Deutlichkeit des Anschauungsbildes erreicht, dass es sich also diesem nähert wie eine Kurve ihrer Assymptote, wenigstens im endlichen Verlauf seiner Entwicklung. Hienach muss die geistige Arbeitsleistung mit jedem solchen rasch wiederholten Betrachtungsfall kleiner werden, jedenfalls dann, wenn die Aneignung schon weit vorgeschritten ist; denn nach jeder anderen Voraussetzung würde nothwendig einmal die anzueignende Grösse erschöpft und das Gedächtnissbild vollendet.

Nachdem die geistige Arbeit der Gestaltung dieses Bildes als Endursache der Formenfreude erkannt ist, so ergibt sich unmittelbar, dass die Formenfreude aufhört, sobald das Bild vollendet ist, weil dann keine Arbeit mehr geleistet werden kann. Da nun aber die Arbeitsleistung nicht plötzlich aufhört, sondern auch bei rasch wiederholter Betrachtung sich unter der Annahme immer kleinerer Werthe einem nie erreichbaren Ende nähert, so kann auch das Wohlgefallen an der Form nur unter der Annahme immer kleinerer Werthe seinem Aufhören entgegengehen. Damit erscheint ein Gesetz für unser Verhalten zur reinen Form, also lautend:

Unser Wohlgefallen an der Schönheit einer bedeutungslosen Form nimmt ab, wenn deren Bild in unserem Gedächtniss allzu deutlich und vollständig wird.

Dies ist das folgenschwere psychologische Gesetz von der Ermüdung des Formgefühls, das der Architektur eine immerwährende Stilveränderung auferlegt.

Die nachtheilige Verschärfung des inneren Bildes ist nun glücklicherweise keine stätige, sondern sie wird durch die Unvollkommenheit unserer Gedächtnisskraft aufgehalten oder auf gehoben, und nach der Entfernung von der Form beginnt das Bild die erlangte Klarheit immer wieder zu verlieren. Dieses Erblassen eines schönen Bildes in uns erweckt das Begehren, es zu erneuern, und wie dessenAufnahme von einem Wohlgefallen begleitet war, so empfinden wir das Wiedervergehen als einen Verlust. Die ihres Grundes unbewusste Trauer um diesen Verlust ist das Heimweh; auch der reinen Form gegenüber stellt es sich ein, von unmerklichen Graden, in welchen es kaum als solches erkannt wird, bis zum heftigen Zug nach dem Wiedersehen des Verschwindenden. In dem Gegensatz von Formenfreude und Heimweh beim Erwerben und Verlieren eines werthvollen Gedächtnissbildes liegt wohl eine beachtenswerthe Bestätigung des bisher Erhaltenen.

In Folge dieses Zugs zur Erneuerung und Vollendung eines begonnenen Bildes ist der Eindruck einer schönen Form, die wir nach langer Unterbrechung wiedersehen, oft kaum minder erfreulich, oft aber entschieden stärker als der erstmalige, indem noch aus anderen Gründen die Bedingungen der Formenfreude, d. h. die Bedingungen zum raschen Fortschreiten des Gedächtnissbildes, höher vorhanden sein können als erstmals.¹) Es kann sich somit der Vorgang wohl derart gestalten, dass sich durch genügend langes Entferntbleiben von der Form das Gedächtnissbild immer wieder abschwächt und damit die Reizempfänglichkeit immer wieder soweit sammelt, dass die Form uns dauernd oder vielmehr immer wieder erfreut. Dieses Stehenbleiben der Formenfreude ist begünstigt durch ein ungesteigertes, ungeübtes Formengedächtniss.

Anders aber entwickelt sich der Vorgang, wenn für ein starkes Gedächtniss der Anblick der Form sich rasch wiederholt. Das Bild ist dann bald seinem bestmöglichen Zustand nahe und findet nie mehr die Zeit, sich erheblich abzuschwächen. Es gibt dann bei jedem neuen Anblick kaum mehr etwas daran zu verschärfen, kaum mehr etwas Neues einzuheimsen in den geistigen Formenschatz und damit kaum mehr ein Wohlgefallen im Anblick. Man spürt unbewussterweise, dass man mit dem Gedächtnissbild nicht mehr recht vorwärts kommen kann, und damit ist dann der Antrieb zur Betrachtung verloren. Wozu die Form betrachten, da man sie doch auswendig weiss? Das ist dann das Stadium der Interesselosigkeit, der Ermüdung. Die Form wird dabei durchaus nicht unschön gefunden und nicht minder günstig beurtheilt als zuvor; aber es fehlt ihrem Anschauen der alte Schwung; sie erscheint selbstverständlich und reizlos wie ein längst aufgelöstes, wenn auch noch so geistreiches Räthsel.

Aber auch wenn dieser Zustand schon erreicht ist, kann jede längere Unterbrechung immer wieder eine neue Reizempfänglichkeit hervorrufen, ebenso die geringste Veränderung neuen Reiz verleihen, so z. B. ein neu gewonnener Standpunkt, veränderte Umgebung, eine schöne Tages- oder Abendbeleuchtung, Gelegenheitsdekoration durch Kränze, grünen Schmuck, Fahnen u. s. w., indem uns eine solche Veränderung das Vergnügen gewährt, unser Gedächtnissbild umzuzeichnen. Eine uns schon völlig bekannte Architekturform kann ferner dadurch auf lange Zeit immer wieder wohlgefällig werden, dass sie mit anderen Formen zu neuen Kombinationen sich vereinigt, und es darf nicht angenommen werden, dass die Verwerthung einer Form für die Entwicklung unseres Formgefühls abgeschlossen sei, wenn wir sie aus dem Gedächtniss aufzuzeichnen vermögen. So lange keine neue, ihr verwandte und ebenbürtige Form neben ihr erscheint, fahren wir noch lange fort, Werth und Wohlgefallen aus ihr zu ziehen; anderenfalls freilich wenden wir uns zur ausgiebigeren Arbeit und schöpfen an der neuen Quelle wieder aus dem Vollen.

So bekannt der Reiz der Neuheit und die Abstumpfung gegen einen Eindruck durch die Gewohnheit bei vielen Formen sein mag, so war es doch nöthig, das darin verborgene Gesetz und seine Ursachen aufzusuchen, wenn eine Folgerung daraus sollte gezogen werden können. Es musste gezeigt werden, dass auch die idealste Form, als reine optische Erscheinung betrachtet, keine Ausnahme bilden kann. Den meisten Personen geht der Reiz einer schönen Form nicht mit der Neuheit verloren, und dieser Thatsache gegenüber musste nachgewiesen werden, dass die Ermüdung nicht nur eine zufällige Erscheinung ist und nicht nur auf einer persönlichen Anlage oder Verirrung des Einzelnen, sondern auf einem allgemein gültigen Gesetz beruht.

Die Selbstbeobachtung wie die Beobachtung Anderer ergibt das Resultat, dass das nahezu fertige Gedächtnissbild einer vielgegliederten Form eine seltene Errungenschaft genannt werden muss und in der Architektur sich fast nur auf die Fachleute beschränkt. Dass aber auch den edelsten Formen gegenüber die Ermüdung nicht ausgeblieben ist, das lehrt uns ja eben überall die Baugeschichte. Bald waren jene dorischen Säulen aus der Blüthezeit der griechischen Architektur nicht mehr schlank genug, bald jene römischen Gebälk- und Kapitälformen des ersten Jahrhunderts nicht mehr reich genug, bald jene Fialen vom Jahre 1300 nicht mehr fein genug, bald jene Fassaden der Hochrenaissance zu matt! Können wir für die Thatsache, dass von den Meistern der grössten Epochen der Architektur die schönsten erreichten Formen wieder verlassen und durch andere, nach unserem Urtheil minder werthvolle ersetzt wurden, können wir für diese Thatsache eine andere Erklärung finden als die Unabhängigkeit der Ermüdung vom Werth der Form?

In allen anderen Gebieten der Formschönheit finden wir dieses Gesetz der Ermüdung wieder; besonders tritt es klar zu Tage im Reich der klingenden Formen, in der Musik. Dem Spiel der Linien ist in jeder Beziehung verwandt das Spiel der Intervalle, der reinen optischen Form die Melodie. Dort die Aufeinanderfolge von Maassgrössen gesetzmässiger Linien im Raum; hier die Aufeinanderfolge von Zahlengrössen aus einer gesetzmässigen Reihe in der Zeit. In beiden Fällen ist die Beziehung zwischen den aufeinanderfolgenden Grössen dasjenige Wohlgefällige, das der Ermüdung ausgesetzt ist. Das Schicksal der zu oft und rasch nach einander gehörten Melodie ist bekannt; es ist auch bekannt, dass hierbei das starke und das schwache musikalische Gedächtniss sich sehr verschieden verhalten und jenes weit früher ermüdet. Dass aber auch die ganze Entwicklung der Musik durch jenes Gesetz beeinflusst wird, das mögen einige Worte aus der bekannten Schrift von Eduard Hanslick: »Vom Musikalisch­Schönen« beweisen. Er sagt: »Es gibt keine Kunst, welche so bald und so viele Formen verbraucht wie die Musik. Modulationen, Kadenzen, Intervallenfortschreitungen, Harmonienfolgen nutzen sich in 50, ja 30 Jahren dergestalt ab, dass der geistvolle Komponist sich deren nicht mehr bedienen kann und fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird.«

Die Verfolgung des Gesetzes in noch anderen Gebieten des Formschönen muss ich mir versagen.

In seiner ganzen Schwere gilt das Gesetz nur für Formen, die nichts als Form sind. Je mehr Reflexion, je mehr tieferes geistiges Gefühl wir an eine Form knüpfen, desto weniger ist sie diesem harten Gesetz unterworfen, desto mehr hat sie für uns einen Werth in sich, den die Gewohnheit nicht zerstört. Daher ermüden gehaltvolle Werke der Malerei und Skulptur niemals; daher kann ein Dom nicht veralten, wenn auch seine Einzelformen längst veraltet sind. Wohl finden wir ein Aehnliches im Reich der Gedankenschönheit wieder; auch schöne Gedanken glänzen höher im Lichte der Neuheit; aber es besteht der durchgreifende Unterschied, der jede Aehnlichkeit der Wirkung des Gesetzes in beiden Schönheitsgebieten aufhebt, dass dort die Form allseitig mit ihren Grenzflächen vom Raum sich abschliesst, während hier der Gedanke immer neue Gedanken aufrufen und sich so ins Endlose ausbreiten kann. Als Erscheinung im Raum ist die Form eine endliche Grösse, die vom Gedächtniss erschöpft und angeeignet werden kann; als geistige Erscheinung ist sie ein Werth ohne Grenzen, der nie erschöpft wird, nie ein abgeschlossenes Gedächtnissbild liefert und aus dem eine Zeit um die andere sich Neues herausholen kann.²)


III.
Die Ermüdung des Einzelnen im Wohlgefallen an der schönen Form mit dem Schärferwerden seines Gedächtnissbildes ist die Ursache der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur. Nach dem Früheren ist gerade das starke Formgedächtniss am meisten der Gefahr der Ermüdung ausgesetzt. Ein solches erwerben sich in der Architektur Alle, die sich viel mit ihren Formen beschäftigen, also auch gerade Diejenigen, in deren Hand das Entwerfen neuer Werke gelegt ist, und auch ihren eigenen Werken gegenüber bleibt die Ermüdung nicht aus. Von der Gleichgültigkeit eines Meisters gegen seine fertigen und früheren Werke bieten alle Künste zahlreiche Beispiele.

Wie helfen sich nun die entwerfenden Architekten, um in neuen Werken wieder volles Genügen zu finden? Es sind drei Mittel, zu denen wir sie greifen sehen. Das erste besteht im Aufsuchen neuer Gruppirungen der Baumassen, neuer Motive für die Form der Bauwerke im Grossen und Ganzen. Durch immer wieder verschiedenes Zusammenstellen vor- und zurücktretender Baukörper von gleichen oder verschiedenen Höhen, mit geraden oder gekrümmten Linien im Grundriss, mit eigenen Dächern oder unter einem Dach, ferner durch Beifügen von Thürmen, Kuppeln, Erkern, hohen Giebeln, Dachreitern, Aufsätzen über den Hauptgesimsen u. s. w. kann die Gesammterscheinung der Bauwerke mit immer wieder neuen Formen überraschen. Dieses Hülfsmittel ist aber mehr nur anwendbar bei freistehenden grösseren Gebäuden, weniger bei solchen, die an einer Strasse in Reih` und Glied stehen. Bei diesen und an den Einzelbauten jener helfen dann zunächst neue Kombinationen der gebräuchlichen Schmuckformen und Kunstformen auf der Ebene der Fassaden. Gesimse, Säulen, Architrave, Steinbögen, Einfassungen und Flächenmuster aller Art, wie sie der jeweilig herrschenden Stilrichtung entsprechen, werden in den verschiedensten Weisen zusammengestellt, auch deren Einzelheiten immer wieder anders kombinirt und dadurch zahlreiche neue Erscheinungen erzeugt, die immer neue Gedächtnissbilder zu gestalten geben, immer wieder neuen Reiz gewähren. Aber die Zahl der Elemente, mit denen diese Kombinationen vorgenommen werden, ist nicht allzugross, und eine Reihe von Kombinationen aus praktischen Gründen oder mit Rücksicht auf das statische Gefühl nicht brauchbar. Auch tritt die Ermüdung an neuen Formen aus bekannten Elementen um so früher ein, je mehr sie solche im Verhältniss zu den neuen darbieten. Und so sind denn nach einer gewissen Zeit, deren Länge sich nach der Zahl der neu entstehenden Werke richtet, alle günstigen Kombinationen auf gebraucht, wenn man je die Geduld hat, sie alle aufzusuchen.

In dieser Lage, oder vielmehr meistens weit früher, greifen endlich die Entwerfenden zum dritten, zum entscheidenden Mittel, um den Formen neues Leben zu verleihen: sie steigern den Reiz der alten Formen; sie steigern an ihnen das, was sie früher zumeist erfreut hatte. Wo zuvor eine gegliederte Umrisslinie des Bauwerks oder der Einzelform als ein Reiz empfunden worden war, da wird die Silhouette noch lebhafter bewegt, noch reicher und kräftiger ausgeschnitten, indem man die Höhendifferenz der Theile steigert und ornamentale und figürliche Zuthaten in zunehmender Zahl am Umriss vertheilt; auch die Silhouetten dieser Zuthaten selbst werden mit immer stärker hinaustretenden Zacken oder mit immer tieferen Einschnitten gegliedert. Wo das freie Ornament als ein spielender Gegensatz zur Strenge der grossen architektonischen Linien wohlgefällig gewesen war, da wird die Menge der Ornamente gesteigert. Wo der Schlagschatten eines krönenden Gesimses als von guter Wirkung erkannt war, da wird das Maass der Ausladung vergrössert. Wo das Spiel der Schatten in einer Hohlkehle gefallen hatte, da wird sie tiefer ausgehöhlt. Wo die Ausbildung eines Fensters oder einer Thüre zur geschlossenen Architekturform durch die Umrahmung ein gutes Bild geboten hatte, da müssen sich zwei, drei oder noch mehr Umrahmungen umfassen. Wo die Durchkreuzung oder Berührung gerader oder gekrümmter Linien durch die Bildung ansprechender Figuren interessant gewesen war, da wird das Netz dieser Linien immer vielfältiger verschlungen, immer tiefer und sinnreicher ausgeklügelt. Wo die aufsteigende Bewegung eines vertikalen Linienzugs das Auge erfreut hatte, da wird die Wucht dieser Bewegung gesteigert, indem man sowohl die Zahl der Linien als die Höhe vermehrt. Ein andermal werden ebenso die horizontalen Linienzüge gesteigert und in immer grösserer Zahl, immer breiter und linienreicher durchgeführt; und so wäre noch mancher Steigerung zu gedenken. So wird der Formreiz, der in den frühesten Elementen des Baustils lag, immer mehr entwickelt und erhöht; so gelangt der Stil zu seinen Konsequenzen. ³) 4) Diese Steigerung ist jedoch nicht beliebig und unbeschränkt, sondern sie findet ihre Grenzen in dem Formgefühl des Entwerfenden selber. Dieses ist nach dem Früheren abhängig von seinem Gedächtnissinhalt und verändert sich mit diesem, kann sich aber ebensowenig als dieser sprungweise ändern. Bei einer zu weit gehenden Umbildung der Formen ginge deren Verwandtschaft mit dem Gedächtnissinhalt verloren, und sie würden dann dem Formgefühl nicht mehr entsprechen. Wenn die zu scharfen Bilder, von denen die Ermüdung herrührt, wieder neue geistige Arbeit zu leisten gestatten, so ist der unbewusste Zweck der Steigerung schon erreicht; dazu ist aber auch schon eine mässige Steigerung genügend. Gedächtnissinhalt und Formgefühl treiben sich gegenseitig voran: zuerst ändert sich jener, indem seine Bilder von den Formen zu scharf werden und Ermüdung des Formgefühls hervorrufen; dadurch ist auch dieses geändert und steigert die Formen; die gesteigerten Formen ändern wieder den Gedächtnissinhalt, dieser das Formgefühl und so fort. So schreitet eines nach dem anderen weiter, aber keines gestattet dem anderen einen grossen Schritt. Jüngere Architekten sind mehr zum Steigern geneigt und die erwähnten Schritte des Formgefühls sind bei ihnen grösser als bei älteren. Wenn das Gedächtniss schon reich an Bildern ist, so kommen neu erworbene neben der grossen Zahl der früheren weniger zur Geltung; auch werden im späteren Alter die neuen Bilder erfahrungsgemäss weniger kräftig festgehalten als die früheren; das heisst: der Gedächtnissinhalt ändert sich im allgemeinen im reiferen Alter weniger rasch als in der Jugend. Daraus ist nach der Abhängigkeit des Formgefühls vom Gedächtnissinhalt zu schliessen, dass auch das Formgefühl mitzunehmendem Alter immer weniger veränderlich wird, eine Folgerung, die im allgemeinen durch die Erfahrung bestätigt wird. Man steigert deshalb den Formreiz im reiferen Alter weniger gern und weniger stark als in der Jugend und sucht weit länger nach neuen Kombinationen der alten Formen, ehe man zum letzten, zum leichteren Hülfsmittel, zur Steigerung greift.

Ist nun einmal die gesteigerte Form vorhanden, so übt ihr Gedächtnissbild seinen Einfluss in den Geistern, so verändert sich durch sie das Formgefühl der Zeit über die alten Formen hinaus, und diese verlieren dauernd ihre frühere Alleinherrschaft über das Auge der meisten Zeitgenossen, nachdem sie zuvor nur Wenigen nicht mehr vollgenügend gewesen waren. Besonders gegenüber dem Laien mit ungeübtem Formgedächtniss ist dies der Fall. Obgleich an der alten Form noch nicht ermüdet, ist er für den Reiz der neuen doch sehr empfänglich; denn er hat bald verwerthet, was jene ihm bot, wenn auch sein Gedächtniss erst wenige Züge von ihr aufgenommen hat. Je weniger verwandte Gedächtnissbilder früher gesehener Formen eine neu erscheinende in ihm findet, desto bälder erreicht er eine Grenze, über die er im Gestalten des neuen Bildes nicht hinauskommen kann, weil ihm die Fähigkeit zum Erfassen des Weiteren vorläufig fehlt. Er kann deshalb eine Form nach jeder Unterbrechung wieder mit neuem Wohlgefallen betrachten, hat aber jedesmal bald wieder genug gesehen und ermüdet rasch in der Betrachtung, wenn er auch nicht viel sich aneignet. Wenn man ihn hört, so hat er »Alles« gesehen; aber man darf ihn nicht darüber ausfragen. Ein solches bewegliches Formgefühl ist gern bereit, sich zu einer neuen Form zu wenden, die eine mässige Verstärkung der Züge der alten und dem angenehmen Raubbau wieder ein frisches Feld darbietet.

Anders freilich verhält sich das ältere geübte Gedächtniss zu der neuen Form. Hier ist das Formgefühl gegründet auf einen reichen Schatz von früheren Gedächtnissbildern, spricht allen neuen Erscheinungen gegenüber ein entschiedenes Urtheil deutlich aus und verändert sich - wie soeben abgeleitet wurde - nur noch wenig. Jede weiter gehende Umbildung dem einmal als schön erkannten Formenkreis gegenüber findet deshalb keinen Anklang mehr oder wird sogar als eine Störung der Gesetze des Schönen empfunden, und so sehen wir zu allen Zeiten ältere Meister warnen vor der maasslosen Sucht nach dem Neuen. Von manchen Personen wird auch die Verstärkung des Formreizes anfänglich als eine Bemühung empfunden, aber allmählich angewöhnt und endlich wohlgefällig.

Aber wie sich die Zuschauer - seien es Laien oder Fachgenossen - zur gesteigerten Form verhalten, ist nicht von allzugrossem Einfluss auf die Entwicklung der Architektur. Denn nicht im Geräusch und Meinungsaustausch des öffentlichen Lebens tritt die neue Form hervor, sondern im Einzelnen, der ein neues Bauwerk zu entwerfen hat. Drinnen in der Stille, wo er an der Arbeit sitzt, oder vielmehr unter dem kleinen Gewölbe, worin seine Gedächtnissbilder beisammen wohnen und dem suchenden Bewusstsein gegenüber nach unerforschlichen Gesetzen zu neuen Kombinationen sich ordnen, dort fällt die Entscheidung; dort wird unvermeidlich einer der kleinen Schritte gemacht, die zusammen den grossen Fortschritt der Zeit ergeben. Rath und Unheil Anderer leisten freilich auch ihren Beitrag, aber nicht unmittelbar, sondern nur dadurch, dass sie der Entwerfende in sich verarbeitet und verwerthet, also auch wieder nur durch diesen.

So führt das Ueberbieten der vorhandenen Werke durch wenige neun entstehende zum Umschwung des Formgefühls; so wird die Formengenussfähigkeit einer ganzen Zeit erhöht; man verlangt immer Stärkergegliedertes, immer Reicheres zu dem unbewussten Zweck, sich auf der alten Höhe der Formenfreude zu erhalten. Die früher bewunderten Werke werden je länger desto mehr, zwar immer noch tüchtig, aber doch etwas zu matt gefunden. Dabei glaubt man unerschütterlich daran, dass man verbessert habe und konstatirt von Zeit zu Zeit den erfreulichen Fortschritt oder Aufschwung, ohne zu bedenken, ob sich nicht das Maass in der messenden Hand verändert habe. Man ist sicher, dass man »weiter« gekommen ist, und untersucht nicht, welchem Ziel entgegen. Die Frage, ob nicht das frühere Geschlecht sich an seinen einfachen, bescheidenen Formen ebensosehr erfreut habe, wie die Zeitgenossen an den neuen und reichen sich erfreuen, diese Frage wird nicht erörtert, könnte ja auch nicht entschieden werden; denn man kann die Formenfreude nicht messen.

Freilich, was sollte dem jüngeren Geschlecht auch Anderes übrig bleiben, als sich auf sein Gefühl zu verlassen, für sein Gefühl zu gestalten, wie es das ältere auch gethan? Um sich und Andere durch ihr Schaffen zu befriedigen, haben ja die Baumeister einer jeden Zeit nur die Anfrage an ihr Gefühl. Indem man aber die Aenderung dieses Gefühls nicht erkennt oder nicht beachtet und ihr doch immer mit einer Aenderung der Formen Folge leistet, führt man unvermeidlich und in der Meinung, immer zu verbessern , einen Baustil nicht nur zur Blüthe, sondern auch von der Blüthe zum Zerfall.

Nur dadurch, dass ein neues Werk entstehen soll, kann sich die Steigerung der Förmen vollziehen; das Fortschreiten der Stilveränderung ist somit abhängig von der Zahl der neu entstehenden Werke. Je schneller nach einander diese erscheinen, je schwungvoller die Bauthätigkeit einer Zeit, desto bälder sind die Kombinationen des Alten verbraucht, desto rascher schreitet also die Steigerung zum Reichen, Starkgegliederten fort, und zwar ist das Verhältniss kein einfaches, sondern ein solches einer höheren Potenz. Die ganze Baugeschichte ist hierfür ein Beweis: wir sehen die Aenderung der Formen langsam fortschreiten in der Frühzeit der alten Stile, so lange nur wenige Monumentalbauten kolossalen Maassstabs in den Zentralstätten der Kultur erscheinen, schneller schon in der Blüthezeit der alten Kunst und mit einer wahren Hast in den Perioden gesteigerter Bauthätigkeit des Mittelalters und der Neuzeit. Streng nach der Regel haben auch wir unseren ausgiebigsten Schritt dem Barockstil entgegen am Anfang der siebziger Jahre gethan. Das Fortschreiten ist an den verschiedenen Orten eines Stilgebietes ein verschieden rasches, je nach dem Grad der Bauthätigkeit und dem Eingreifen älterer oder jüngerer Kräfte. Dadurch bilden sich mehr oder weniger bedeutende Zentralpunkte, die einen bestimmten Umkreis beherrschen und eine lokale Stilrichtung darstellen.

Auch im Leben des Einzelnen ist es deutlich zu beobachten, wie das Verbrauchen, das Abnützen der Formen im Dienste des Entwerfens abhängig ist von dem Maass seiner Thätigkeit. Wer viel Neues zu entwerfen hat , für den verlieren die zu oft kombinirten Formen weit bälder ihren Reiz als für einen Anderen, der weniger thätig eingreift oder nur mit Verständniss zuschaut, und Jener verändert sein Formgefühl rasch, indem er sich über seinen Fortschritt freut, während Dieser das Jagen nach dem Neuen unnöthig findet und beklagt.

Das erreichte Alter des Einzelnen ist nach dem Früheren freilich ebensosehr von Einfluss auf diese Veränderung als das Maass der Thätigkeit; je mehr sich das Gedächtniss mit Bildern bereichert hat, je weniger kräftig es das Neue festhält, desto weniger veränderlich ist das Formgefühl. Daher in der Jugend ein fröhliches Schwärmen für alles Mögliche, beginnend mit dem, was von Anderen gepriesen wird, im Alter ein Verharren in der Vorliebe für einen abgeschlossenen Formenkreis, und der Uebergang hier entsprechend dem Uebergang dort!

Wo bleibt nun aber der Werth des wahren Formschönen, wenn die Schwankungen des Formgefühls unvermeidlich sind? Muss denn nicht jede Ansicht über diesen Werth eingedenk ihrer baldigen Aenderung schweigen und hört denn damit nicht alles Urtheil über Schön und Nichtschön auf? Soll denn das wahre Formschöne auf einer Stufe stehen mit den vergänglichen Erzeugnissen des Tages, die nur berechnet sind für den Tag ihres Erscheinens und werthlos am folgenden? -Nein, es ist nicht Alles im Formgefühl dem Wechsel unterworfen, weil, wie früher entschieden hervorgehoben wurde nicht Alles an ihm vom Gedächtnissinhalt abhängt; es bleibt in ihm durch alle Wandlungen hindurch noch immer viel Unveränderliches erhalten, noch immer genug, um aus allen Zeiten das Bedeutende vom Gewöhnlichen, das wahre Schöne vom Alltäglichen zu scheiden. Dieses Bleibende im Wechsel des entwickelten Formgefühls verhält sich allen Baustilen gegenüber unparteiisch und wird auch durch das Studium nur eines einzigen ausgebildet. Gerade unsere Zeit, die ob ihres Mangels an einem eigenen Stil, ob ihres mühelosen Wandels auf längst gebahnten Strassen von Vielen geschmäht wird, hat wohl vor allen anderen das Verdienst und den Beruf, die gemeinsamen Erscheinungen im Schönen aller Baustile zu schätzen und zu suchen.

Ein Anderes freilich ist nicht zu bestreiten und wird durch die Unvermeidlichkeit der Wandlungen des Formgefühls Allen nahe gelegt, die es nicht schon zuvor gewusst haben: eine allgemein gültige Bewerthung der Formschönheit der Architekturwerke ist unmöglich, und kein einzelner Mensch, kein Zeitalter kann den Anspruch erheben, ein objektives Unheil über sie zu haben. Eine Erkenntniss wie in der Mathematik gibt es im Gebiet der reinen Form nicht. Wohl finden wir eine weitgehende Uebereinstimmung des Formgefühls bei den Angehörigen eines engen Kreises, weil die Bilder derselben Natur, derselben Werke ihrer Vorfahren, desselben Lebens in Familie und Gemeinwesen, insbesondere aber derselben Werke der Baukunst auf ihr Formgefühl eingewirkt haben, und das einstimmige Urtheil dieser Glieder wird dann von ihnen für eine Erkenntniss gehalten. So ist eine gewisse Uebereinstimmung des Formgefühls vorhanden bei den zeitgenössischen Gliedern einer Familie, einer Schule einer Stadt, eines Volkes und der ganzen Menschheit. Aber je weiter wir den Kreis ziehen, desto geringer wird diese Uebereinstimmung, desto weiter gehende Verschiedenheiten im Formgefühl drängen sich uns entgegen; je grösser der Zeitraum, den wir für einen bestimmten Kreis ins Auge fassen, desto grösser die Veränderung, die zwischen Anfang und Ende sich vollzieht.

Man könnte ferner sagen, wir werden die Formschönheit an ihren Früchten erkennen; wo das höchste Maass der Formenfreude erreicht wird, da ist die Form am schönsten. Aber selbst angenommen, dass dieser Schluss richtig wäre, wer wollte die Formenfreude messen? Wie sollte eine Person ihr Gefühl mit dem einer anderen, wie eine Zeitgenossenschaft ihr Wohlgefallen mit dem einer anderen vergleichen können? Wie man darüber redet, gibt für diese Vergleichung keinen Maassstab.

Und so ist denn das unmessbare, schwankende Verhältniss der Architekturform zu einer veränderlichen Grösse, so ist denn das Wohlgefallen, das sie in einer Person nach der anderen, in` einem Geschlecht nach dem anderen hervorruft, zugleich auch das Unheil und das einzige gerechte Urtheil über ihren Werth; die Geschichte der Architektur ist ihrer Werke Gericht. Jede neue Zeit ist eine neue Stimme im hohen Rath des Formschönen; das Rathen und Meinen aber ist endlos, und die Beschlüsse der vergangenen Geschlechter werden von den jüngeren bald aufgehoben, bald wieder gutgeheissen, meistens aber vergessen.

Was wir auch heute in schaffender Freude an das Licht des Tages stellen mögen, es kommen Generationen, die es anders fühlen als wir! Was auch die Architektur erfinden mag, es ist der einstigen Ermüdung des Formgefühls zum voraus verfallen!

Wie feindlich steht also jenes psychologische Gesetz dem Schaffen des Einzelnen, wie feindlich der ganzen Architektur gegenüber! ...

Das Erste mag wahr sein; mit dem Wohl und Wehe des Einzelnen ist in der Geschichte der Kunst so wenig gerechnet wie in der Geschichte der Nationen. Aber vom Zweiten ist das Gegentheil der Fall: die Ermüdung des Formgefühls ist der Architektur nicht feindlich; sie ist vielmehr wesentlich für die Entwicklung der Architektur; sie war und ist bis heute die treibende Kraft, der wir allein den Fortschritt seit den primitiven Schmuckformen der ältesten Völker verdanken. Für jeden Niedergang des Formgefühls verleiht sie der Architektur ihrem Geschöpf eine neue reichere Blüthe. Ohne sie würde nie etwas Neues gesucht, nie etwas Schöneres gefunden worden sein. Hätte man dauernd schön gefunden, was einmal als das Schönste galt, so wäre kein neuer Baustil mehr entstanden; hätte man früher festgehalten, was wir heute als das Schönste der Vergangenheit preisen, hätte man die Wege nicht eingeschlagen, die wir heute als bedauerliche Irrwege zum Zerfall zu erkennen glauben, so wäre die Architektur längst keine Kunst mehr, sondern ein handwerksmässiges Anheften der Formen irgend einer Blüthezeit nach Rezept und Schablone. Wie einförmig würde sich das schön bewegte Bild gestaltet haben, das heute die Architekturgeschichte vor uns aufrollt, und in welchem ein jeder Baustil - wie die Jahresflora eines reichen Gartens - an uns vorüberzieht mit immer und immer wieder neuen Schmuckformen, mit den bescheidenen Blüten seines Frühlings, mit den Rosen seines Sommers, mit den Spätjahrblumen in seinem Zerfall , ein jeder ein formschöner Ausdruck der Geistesrichtung seiner Zeit, und deren Wandlungen treu verkündend allen kommenden Geschlechtern.


IV.
Noch ist auszuführen, wie in Folge des psychologischen Gesetzes das Formgefühl am Ende einer Stilperiode ermattet und zu erstarren beginnt, und unter welchen Erscheinungen sodann der Umschwung zu einem neuen Baustil sich vollzieht.

Es sei zu diesem Zweck gestattet, ein ideales Bild der Geschichte eines Baustils einzuführen, ein Bild, das mit dem wirklichen Verlauf der einzelnen Stilgeschichten nicht streng übereinstimmen, sondern nur im grossen das Schicksal der Schmuckformen aller Baustile darstellen soll, wie ja ein ideales Bild keine Aehnlichkeit bis in die kleinsten Züge zu bieten beansprucht.

Diese ideale und ungestört zu ihrem Ende gelangende Geschichte eines Baustils wäre zugleich die Geschichte der Empfänglichkeit eines Volkes für den Reiz der reinen Form und würde zeigen, wie das Wohlgefallen an dieser aus geringen Anfängen zu einem Höhepunkt aufsteigt und dann wieder herabsinkt, um zuletzt einen Zustand der Erstarrung und Interesselosigkeit zu erreichen.

Die ersten Anfänge der Architektur sind in Dunkel gehüllt. Durch lange Zeiträume hindurch scheint das Schaffen aller alten Völker ohne merklichen Fortschritt sich hingezogen zu haben und aller Schmuck der Bauwerke nur ein beweglicher, bei der textilen und keramischen Kunst entlehnter gewesen zu sein. Später erst, wenn eine höhere Kulturstufe erreicht wird, gehen die Schmuckformen auf den Bau selber über, und man sieht die bewusste Freude an seiner Verschönerung durch das Spiel der Linien und Schatten erwachen. Hier werden Formgedanken durch Nachbildung der Pflanzenwelt erworben; dort wird der frühere textile Stoff in dauernden Farbenschmuck der Wand umgewandelt; was zuvor im vergänglichen Material blosse Konstruktionsform war, das wird im dauerhaften als Schmuck beibehalten; eine Reihe von Linienspielen werden von der Kleinkunst herübergenommen, und so ist endlich ein ansehnlicher Kreis von Motiven als Grundlage der Entwicklung gewonnen. Bald erfolgt ein entschiedener, kräftiger Aufschwung. Die technischen Hülfsmittel gelangen zu hoher Vollendung; mit der grössten Sorgfalt und ohne Rücksicht auf die erwachsende Arbeit, wie für die Ewigkeit wird gebaut. Vereinfachungen dieser monumentalen Technik, aus denen erhebliche Ersparniss an Arbeit und ein kaum minder dauerhaftes Werk sich ergeben würde, werden verschmäht. Mauermassen und Säulenstärken vermindern sich; die Verhältnisse werden lichter und freier; die Steigerung des Formreizes schreitet rascher voran. So wird jene zwanglose Ueberwindung des Materials, jenes mittlere Verhältniss zwischen Masse und Durchbrechung, jener mittlere Grad des Reichthums, jener Gleichgewichtszustand zwischen Ornament und strengen architektonischen Linien erreicht, den wir als das äussere Merkmal der Blüthezeit eines Baustils betrachten. Aber diese glückliche Grenzlage, in welcher eine schon reich gewordene Architektur noch immer als der klare Ausdruck der in den Massen wohnenden Kraft erscheint, dauert nur wenige Jahrzehnte und leitet rasch hinüber zum einseitigen Schaffen für das Auge. Mit der hohen Stufe, die das reine Formwohlgefallen erreicht hat, ist es nun allmählich der stärkere Theil der ästhetischen Wirkung geworden, und diese wird endlich ausschliesslich nach ihm beurtheilt. Die Form kann nun auch schön sein, ohne etwas zu bedeuten. In Folge davon hört man allmählich auf, den Sinn der architektonischen Gliederung zu beachten oder nach einem solchen zu fragen und gestaltet nur noch mit Rücksicht auf den Reiz der formalen Erscheinung. Für eine Reihe von Einzelformen wird der ursprüngliche Sinn entweder absichtlich nicht mehr beachtet oder von einer Generation zur anderen vergessen, wie in der Entwicklung der Sprache viele angehängte Beiwörter sich. zu Vor- und Endsilben abschleifen und ihre alte Bedeutung nicht mehr erkennen lassen. Damit ist dann die letzte Fessel gegen die Entfaltung des reinen Formreizes gesprengt, und bald erreicht er den höchsten Grad, den der Baustil aufweist. Das ist dann ein Höhepunkt in der Empfänglichkeit des Menschen für den Reiz der reinen Form. Mit jedem neuen Baustil ist dieser Höhepunkt höher hinaufgestiegen als im vorhergehenden, wie auch der Formenreichthum der Architektur mit jedem neuen Baustil sich vergrössert hat. Die Welle des Formgefühls stieg schon im Gothischen erheblich höher als je zuvor; in der letzten Stilgeschichte aber, in der Spätrenaissance, erhob es sich zum Zustand einer wahren Ekstase, der uns früher als Wahnsinn erschienen ist und von dem wir auch heute noch keine wahre Vorstellung haben. In dieser Zeit der Nachblüthe hat auch die Technik ihre höchste Stufe erreicht; das schwierigste Material wird spielend überwunden; die Konstruktion löst die kühnsten Aufgaben, zwar nicht mehr mit der früheren äussersten Sorgfalt, aber auf dem nächsten, rationellsten Weg. Neue Bauwerke entstehen allerorten in grosser Zahl, im reichsten Schmuck; in den grössten Dimensionen und, oft mit fabelhafter Schnelligkeit; jeder spätere Entwurf geht über das Vorhandene weit hinaus. Der Reichthum der Künstler an Motiven, ihre Gewandtheit in deren Kombination, ihre vollendete Meisterschaft im Erzielen einer bedeutenden Gesammtwirkung und im Vorausbestimmen der perspektivischen Verschiebung lassen die Zeit der Nachblüthe in mancher Beziehung noch grösser erscheinen als die vorangehende.

Aber sobald dieser Höhepunkt der Steigerung erreicht ist, beginnen auch schon die Vorzeichen des nahenden Niedergangs sich einzufinden: eine minder sorgfältige Behandlung der Einzelglieder und Ornamente, eine zunehmende Sorglosigkeit in der Wahl des Materials und in der Konstruktion, eine langsam fortschreitende Zurücksetzung des Aeusseren gegen die Prachträume des Inneren, insbesondere aber ein Zurücktreten der Architektur überhaupt gegenüber der Malerei und Skulptur.

In allen geistigen Gebieten hat sich der Horizont erweitert; viele alte Vorurtheile fallen, und mit ihnen wanken viele alte Autoritäten. Dadurch entstehen heftige Parteikämpfe; hochbegabte Individuen treten in die Verwirrung, reissen schrankenlose Gewalt an sich und stürzen meteorartig in ein jähes Ende. Ein Ringen grosser Geisteskräfte, ein Jagen nach Glück und Lust, ein leidenschaftlicher, herb realistischer Zug, und um Phantome von Macht und Ehre ein Eidbruch, ein Mord, ein blindes Dransetzen des eigenen Lebens: das ist das Bild der Völker in dieser Periode ihres Baustils. Eine so mächtig bewegte Zeit findet in der reinen Form kein volles Genügen mehr; sie will stärker erschüttert sein, als es ein Spiel von geometrischen Linien vermag. Grösse im Vollbringen, Dulden und Geniessen, starkes Gefühl, heftige Leidenschaft oder auch Blut und Grausen, wie es ihre Bürgerkriege und zahlreiches Schlachtfelder erfüllt, das will eine solche grosse -entsetzlich grosse Zeit in den Formgebilden ihrer Kunst wiederfinden, und das vermögen die Linien der Architektur nicht zu bieten, wenn sie auch noch so wild durcheinanderschiessen. Daher erreichen jene beiden Künste nun ihre höchste Kraft und wenden sich zu ihren grössten Aufgaben; daher übernehmen sie nun die Führung im künstlerischen Schafen, nachdem bisher die Architektur vorangeschritten war; das Interesse für diese nimmt ab; man spielt nur noch mit ihr.

Bald hernach begjnnt auch Blüthe um Blüthe in ihrem Formenkranz zu welken, wenn auch noch andere sich erst zu entfalten beginnen. Denn auch auf seiner höchsten Höhe findet das Formgefühl keine Ruhe vor der Ermüdung; mitten unter das schwungvolle Schaffen tritt sie immer wieder hinein, und nachdem sie immer wieder durch eine neue Steigerung überwunden worden war, gelingt es endlich nicht mehr. Die Grenze, die sich endlich entgegenstellt, liegt nicht nur in den Eigenschaften des Baumaterials, das eine noch tiefer einschneidende Gliederung, ein noch freieres Loslösen der Form von den Gesetzen des Stoffes nicht mehr gestattet, sondern auch im menschlichen Geist selber, der im Erfinden immer stärkerer Formen auch seine Grenze findet und mit der wachsenden Sucht nach solchen endlich nicht mehr Schritt halten kann. Der nun erreichte, aufs Aeusserste gespannte Zustand des Formgefühls grenzt unmittelbar an die Abstumpfung, und nachdem eben noch die wildeste, willkürlichste, völlig zerrissene Form seinem Anspruch gewachsen war, so wird endlich auch diese als zu matt empfunden, und noch Stärkeres zu gestalten, gelingt nicht mehr.

Diese Erscheinung tritt aber nicht allen Formen gegenüber gleichzeitig ein, sondern sie erfasst langsam eine Gruppe um die andere, während anfänglich sogar wieder andere Formengruppen noch in der Entfaltung ihres Reizes begriffen sein können, und daraus entwickelt sich dann die lange, endlos sich hinziehende Periode des Heruntersteigens und Erstarrens der Architektur. Nachdem zuvor die Steigerung und Umbildung den ganzen Formenapparat umfasst hatte, so wird sie später einseitig nur in denjenigen Gruppen fortgesetzt, die sie noch ertragen, und die übrigen werden vernachlässigt. Es ist deutlich erkennbar, wie in solchen Zeiten das Interesse für die Architektur siclr im Sinken an diejenigen Formen klammert, welche durch Umbildung und Steigerung noch einer neuen Erscheinung fähig sind, während man die anderen entweder entschieden fallen lässt oder sie zuerst in wieder einfacheren, immer phantasieärmeren, endlich ganz nüchternen Gestalten sichtlich interesselos noch lange mitfährt, um sie dann fast unbemerkbar zu verlieren.

Eine Formengruppe um die andere wird herausgegriffen und nach allen möglichen Richtungen ausgesteigert, dann schematisirt und noch eine Zeitlang - oft auch noch sehr lange - gleichgültig als Schablone fort verwendet oder auf immer ärmere Gestalt heruntergebracht, endlich aber wie ein entleidetes Spielzeug verlassen, Das ist das Ende der Geschichte der reinen Form; das ist der Charakterzug im Stilzerfall!

Eine Schmuckform um die andere verarmt und verliert sich endlich aus dem festlichen Reihen; im vielstimmigen Kanon der Glieder und Ornamente, im früher so reichen Chorgesang der Architektur hört eine Stimme nach der anderen auf. Eine Verarmung der Motive und an Motiven, kaum merklich beginnend, mehr und mehr aber um sich greifend und das Erbtheil der Architektur verzehrend, ist das Merkmal des Niedergangs. Endlich vermag aller Aufwand an Formen die- Armut an Formgedanken nicht mehr zu verhüllen, und drückende Einförmigkeit lagert sich schwermüthig über allem Reichthum, aller Pracht. Mit einfachen Mitteln ist kein Effekt mehr zu erreichen; was man nicht aufs Reichste behandeln kann, interessirt nicht mehr. Daher vereinigt sich allmählich aller Schmuck auf wenigen Prachtstücken und das Andere wird flüchtig und lieblos abgefunden oder auch nackt und kahl daneben gestellt. Durch alle denkbaren Experimente wird Neues mit den noch gebliebenen alten Motiven zu erhalten gesucht, um das sinkende Interesse an den Resten der Formenwelt aufrecht zu erhalten; wie im Spätjahr die Blätterhülle eines Baumes noch rasch in allen Farben sich zu schmücken sucht, während schon das Gerippe der Aeste und Zweige mehr und immer mehr hervortritt, so werden in bunter Abwechslung die entlegensten Kombinationen der jeweilig noch beibehaltenen Formenelemente herbeigeholt und alle möglichst barocken Variationen durchgespielt; aber alle diese Hülfsmittel sind bald hernach wieder verbraucht; immer mehr ermüdet das Interesse an der noch übrigen Formenreihe; immer wieder und immer heftiger bricht die Langeweile herein; immer weiter schreitet die Verarmung an Motiven, und immer mehr tritt endlich zu Tage die öde, kahle Werkform.

Während in der spätest gothischen Kirche die Rippen der Netzgewölbe noch mit doppelt gekrümmten Kurven ihr verwegenes Figurenspiel in der Höhe zu treiben beginnen, sind die Wände schon kahl, die Pfeiler so nüchtern als möglich geworden; und im Rokoko greift man nach dem Heimgang der grossen Linien noch ein paar Ranken und Muscheln aus dem Ornamentenschatz heraus und phantasirt darüber mit Grazie fort ins Endlose, die Armut an Motiven durch hundertfältiges Wenden der wenigen verhüllend, bis endlich auch diese das Schicksal der anderen erfasst.

Alle diese Perioden des Niedergangs geniessen noch der Erbschaft aus ihrer grossen Vergangenheit und weisen in Beziehung auf die formale Erscheinung noch immer sehr bedeutende Werke auf, durch die sie - nach dem Formgefühl unserer Zeit - manche formale Leistung der aufsteigenden Stilentwicklung weit überragen. Der formale Reiz ist sogar in der Spätzeit, so lange noch die Verarmung nicht zu weit um sich gegriffen hat, oft höher als selbst in der Blüthezeit; denn er ist nur abhängig von der Gewandtheit in der Figurenbildung mit den geometrischen Formgesetzen. Was uns die Gebilde der Verfallperioden minderwerthig erscheinen lässt, das sind bestimmte störende Gedankenvorstellungen, z. B. in der gewundenen Säule eine Störung des statischen Gefühls, im Wirrwarr gekrümmter Fialen das Gefühl des Missbrauchs dieser Form und des Widerspruchs zwischen dem Steinmaterial und der dargestellten elastischen Krümmung, im zerrissenen und geschweiften Barockgiebel derselbe Widerspruch und die vollendete Zweckwidrigkeit und Sinnlosigkeit. Erst mit dem Fortschreiten der Verarmung des Baustils leidet auch der formale Reiz, und die störenden Vorstellungen verstärken sich.

Ausser dem gewonnenen formalen Reiz geht eine andere Errungenschaft der Blüthezeit nur langsam wieder verloren; es ist der Sinn für den hohen, weiten Raum. Dieser Sinn ist der Ermüdung nur wenig unterworfen, da er wie das Gefühl für die Grösse der Massen grösstentheils auf Gedankenvorstellungen beruht.

Auch die früher erreichte vollendete Technik beherrscht noch auf lange hinaus diese Zeiten des Niedergangs in allen Zweigen des architektonischen Schaffens; aber endlich tritt auch hier ein Sinken ein. Die kunstfertigen Hände werden begraben; was sie besassen, lässt sich nicht in Büchern der Nachwelt aufbewahren, und wenn hier nur eine Generation lässig ist im Erlernen, so ist bald Vieles verloren und vergessen. Eine solche lässige Generation findet sich aber um so leichter, je schwächer die Freude an den Architekturformen geworden ist. Wozu viel Mühe und Arbeit aufwenden, wenn doch kein Reiz mehr damit erzielt wird? So nimmt das Sinken der Technik, kaum begonnen, in immer stärkerem Maasse zu und geht allmählich in einen jähen Sturz über. Es bezeichnet den Anfang vom Ende, vom Ende der Freude an einer jeden Architekturform. Was über das nackte Bedürfniss hinausgeht, wird mehr und mehr als unnütze Verschwendung betrachtet, und endlich ist die rohe Werkform von allen Uebeln das kleinste geworden. Was in der Vorzeit der natürliche Zustand war, das erscheint nun wieder als das Ende der langen Entwicklung; das Formgefühl hat einen Kreislauf beschrieben. Es ist nun Alles eitel, und die schönste Architekturform von Einst nur noch ein Kuriosum.

Dies etwa das ideale Ende eines Baustils! Aber es ist dafür gesorgt, dass es nie erreicht wird. Es gibt zwar Völker, die im Prozess der Erstarrung und Verknöcherung durch jahrtausendlanges Hinschleppen eines in sich abgeschlossenen Formenkreises ein entlegenes Stadium erkennen lassen; keines aber hat diesen Prozess bis zur vollkommenen Formenlosigkeit durchlaufen, und jenes ideale Ende ist nur ein gedachtes, nur der unendlich ferne Punkt, nach welchem die Entwicklung hinstrebt. Am wenigsten haben sich ihm die europäischen Völker genähert; denn in dem geschilderten Niedergang lag während der uns bekannten Baugeschichte noch immer auch die Vorbereitung zu einem neuen Stil. Mit dem wachsenden Ungenügen an der alten Formenwelt und dem fortschreitenden Verlust an Motiven erwacht auch und steigert sich das Bestreben, den Verlust zu ersetzen, d. h. ganz neue Formgedanken aufzusuchen. Sind solche leicht zu finden, so greift man schon frühe nach ihnen; andernfalls fährt man im Verschiedenkombiniren des Alten oder in der begonnenen Steigerung und Umbildung einzelner herausgegriffener Motive noch fort; aber je mehr solcher Kombinationen und Umbildungen verbraucht werden, desto verdrossener wird das Spiel fortgesetzt, desto tiefer sinkt die Formenfreude, desto grösser wird der Antrieb, einen frischeren Gegenstand für sie zu suchen. Und so ist endlich der Drang nach dem Neuen nicht mehr zurückzuhalten; das Formgefühl öffnet sich gierig jedem fremden Einfluss. Neue Formgedanken werden aufgegriffen, wo man sie findet, wo immer sie erwachen, seien sie durch eine neue Konstruktionsweise nahegelegt, oder als Naturnachbildung gewonnen, oder als eine Kombination geometrischer Formgesetze vorbildlos erdacht, oder in den Trümmern eines vor Jahrhunderten verlassenen Baustils entdeckt, oder endlich wie vom Wind hergeweht aus fernen Ländern, wo sie dann als möglichst seltsam und von allem Bekannten total verschieden mit Bewunderung empfangen werden. In solchen Zeiten werden, entgegen allen anderen, Motive in die Architektur aufgenommen, die kaum einen Zusammenhang mit dem Gedächtnissinhalt darbieten, weil man keine mehr findet, die mit ihm verwandt und zugleich neu wären.

Diese neuen Formgedanken bilden dann mit den Resten des Alten die Grundlage einer neuen Entwicklung. Je weniger sich die alten Formen ausgelebt hatten, je mehr sie noch einer neuen Umbildung fähig sind, desto mehr gelangt von ihnen hinüber in den neuen Stil. Wenn somit die Ablösung eines Baustils durch seinen Nachfolger schon im früheren Verlauf des Niedergangs oder gar schon unmittelbar nach der Nachblüthe stattfindet, so kann sich der Umschwung vollziehen, ohne dass die Freude am architektonischen Schmuck erheblich herabsinkt, ohne dass die Baulust viel gestört wird. Je früher in seiner Entwicklung der alte Stil aufhört, desto reicher ist er noch bei seinem Aufhören, desto mehr Formen übergibt er seinem Nachfolger, desto reicher ist dieser schon in seinem Anfang.

Hierin unterscheiden sich nun die Zeiten des Stilwechsels sehr entschieden. Ein Baustil wurde im früheren, der andere im späteren Verlauf seines Niedergangs zu jenem idealen Ende aufgelöst, je nach den politischen Schicksalen eines Volkes, oder je nach dem Verlauf der Entwicklung in den Nachbarländern, oder endlich je nach dem zufälligen Umstand, ob die neuen architektonischen Formgedanken mehr oder weniger leicht zu finden waren.

Die griechisch-römische Architektur war noch im Absterben mächtig genug, sich an allen Orten ihres Gebiets mit den Resten der früheren lokalen Kunst oder mit herbeigezogenen germanischen und orientalischen Motiven zu neuen Baustilen zu vereinigen; sie beschrieb in ihnen eine neue Bahn, wie ein zersprengter Planet in vielen andern.

Der romanische Stil hatte wenigstens in Deutschland und Frankreich eine Barockperiode nur gestreift und war wenig über den Höhepunkt seiner Kraft hinaus, als er von der auf tretenden Gothik überrascht wurde; er trat deshalb mit allen Ehren und mit einem reichen Gefolge von Schmuckformen ein in das Haus der neuen Herrin.

Die Renaissance hatte nur in Toscana leichtes Spiel mit der Gothik, weil dort mit der Marmorinkrustation keine neue Steigerung mehr möglich war; schon in Oberitalien fand sie grösseren Widerstand; in Frankreich und Spanien aber, und noch mehr in Deutschland, erhielt sie erst nach langem Ringen mit der dort noch ziemlich reichen und lebensfreudigen Gegnerin die Oberhand, und aus diesem Grund musste sie dort nach ihrem Sieg so vielen mittelalterlichen Formgedanken das Leben in ihrem Reich gestatten.

Dagegen hatte der Barockstil mit seiner Familie gründlich ausgewirthschaftet; sein äusserst erzeugnissreiches Schaffen hatte wie ein verheerender Brand mit allen Möglichkeiten auf geräumt und alle denkbaren Kombinationen seiner Formenelemente bis iri die Wurzel hinein verzehrt, ehe er erlosch. Er hinterliess deshalb das Formgefühl völlig verödet, und es war auf seiner Brandstatt nichts Keimfähiges mehr zu holen, so dass von ihm nichts wiederaufblühen konnte im Garten der wiedererwachenden Architektur.

Die alten und neuen Formen, die in einem Stilumschwung zusammentreten, gehen eine kurze Zeit lang nur äusserlich verbunden neben einander her; ein gegenseitiges Einwirken auf einander, in welchem beide sich etwas verändern, ist jedoch schon in den ersten Monumenten zu erkennen. Man betrachtet gleichsam die neuen Formen mit den Augen des alten Stils und gestaltet sie dadurch im Sinne des Alten um, auch wenn man sie treu nachzubilden meint. Unter den alten Resten aber beginnt ein Sichten, ein Ausscheiden widerstrebender Elemente, wobei abermals eine Reihe von Formen verloren geht, eine andere durchgreifend umgestaltet wird. Dieses Verlorengehen alter Motive - gleichsam mitten im Aufschwung eine Fortsetzung des vorangegangenen Stilzerfalls - dauert in der Geschichte des neuen Stils oder auch noch in derjenigen seiner Nachfolger fort und führt früher oder später zum gänzlichen Verschwinden des Alten. Jedes architektonische Motiv, mit Ausnahme der elementaren, ohne die das Bauen unmöglich ist, wird bälder oder später als verbraucht und veraltet verlassen, wenn auch zuweilen die Reste der alten Formenwelt sich nicht nur durch die neue Stilgeschichte hindurch, sondern bis zu einem dritten und vierten Stil hinaus noch deutlich verfolgen lassen. Zunächst nach der Stilveränderung aber versöhnen und umfassen sich in den neuen Werken die beiden Prinzipien der Schmuckformengestaltung und erzeugen einen grösseren Reichthum der Formensprache, als er zuerst vorhanden war. Schon das Zusammenleben im Gedächtniss der Menschen verleiht den ursprünglich einander fremden Bestandtheilen des neuen Formenkreises einen Zug der Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft; indem sie immer und immer wieder an einem Monument vereinigt erscheinen, entsteht das Gefühl, dass ihr Nebeneinanderstehen nothwendig sei. Weit mehr aber erhalten sie durch die in der Folge gemeinsam erlittene Variation und Steigerung aus einem einzigen gestaltenden Geist heraus ein Gepräge -des Einheitlichen und in allen Theilen Folgerichtigen; sie gewinnen endlich auch eine fort und fort wachsende innere Zusammengehörigkeit, als ob sie durch einen einzigen Schöpfungsgedanken ins Dasein gerufen wären: sie werden ein Stil.

So geht ein Baustil aus den Trümmern anderer hervor; so erhält sich das Gefühl für die reine Form sein Dasein im Auf und Niederwogen, oftmals erstarrend und tief hinabsinkend in seiner Ermüdung, aber immer wieder Rettung findend im Erfassen frischer Formelemente und neue Kraft in der Erhöhung des Formreizes; so erfüllen die architektonischen Motive ihr Schicksal; so treten sie auf, wandern in mancherlei Gestalt von einem Baustil zum andern und verschwinden, um vielleicht nach Jahrhunderten wiederzukehren; so ist die Architektur bis auf unsere Tage eine grosse Tradition, ihr Ursprung aber und früher Verlauf im grauen Alterthum für uns verloren.


Zusätze

¹) Die Bedingungen der Formenfreude, d. h. die Bedingungen zum raschen Fortschreiten des Gedächtnissbildes, können bei der ersten oder irgend einer späteren Wiederholung der Anschauung höher vorhanden sein als erstmals. Der Grund hierfür liegt darin, dass die erstmalige Aufnahme des Gedächtnissbildes einer Form in den meisten Fällen die Fähigkeit zum weiteren Erfassen dieser Form vermehrt. Es geht eine innere Verarbeitung und Verwerthung des zuerst Erworbenen vor sich; die Form findet dadurch nach einiger Zeit mehr Anschluss im Gedächtnissinhalt als zuvor, und man wird dadurch für ihren Reiz empfänglicher. Es ist sogar zu beobachten, dass wir Manches bei der ersten Begegnung gering achten und ablehnen, das in der Folge in uns arbeitet, so dass wir allmählich bereuen, es nicht mit grösserer Aufmerksamkeit gesehen und festgehalten zu haben, und es in Folge des unbefriedigten Hinstrebens endlich überschätzen. Die berührte Erscheinung findet sich besonders beim ungeübten Formgedächtniss, beim erst im Werden begriffenen Formgedächtnissinhalt. Deutlicher ist sie in der Musik zu beobachten, wie sich überhaupt in dieser alle Thatsachen des Gefühls für die reine Form weit mehr bemerkbar machen als in der Architektur. Mit einem minder starken musikalischen Gedächtniss ausgestattet, hört man eine Melodie nach genügend langer Unterbrechung zum zweiten oder dritten Male, wenn sie schon etwas bekannt ist, entschieden mit mehr Genuss als das erste Mal, ein Zeichen, dass dann die Aneignung in grösseren zögen vor sich geht als zuvor. Beim hoch entwickelten musikalischen Gedächtnis soll dies weit weniger der Fall sein; der geübte Musiker ist schon das erste Mal aui der Höhe seiner Fähigkeit, die Schönheit einer Melodie zu erfassen.

²) Das Gefühl für das Gedankenschöne, das hier als bedeutsamer Kontrast zu dem wandelbaren Gefühl für die reine Form erscheint, ist zwar weit weniger veränderlich als dieses, aber in Wahrheit kein Kontrast. Auch dem Gedankenschönen gegenüber verräth das Gefühl eine langsame Schwankung, nicht nur im Leben des Einzelnen, sondern auch in dem der Völker und der ganzen Menschheit. Auch hier lebt ja das Gefühl vom Verbrauch der Schönheit und Grösse der Dinge, auf die es gerichtet ist; auch hier besteht ein unvermeidliches Veralten der Interessen dadurch, dass sie befriedigt werden, ein Sinken der Begeisterung durch die fortschreitende Deutlichkeit der Gedanken. Was war z. B. die geistige Idealgestalt des Menschen zur Zeit des Homer, was zur Zeit des Alkibiades, was zur Zeit der alten Christen, und was ist sie für den modernen Menschen, abgesehen von der Zersplitterung, die heute in der Festsetzung ihrer Züge besteht? Wie haben die geistigen Interessen immer und immer wieder neue Gestalt angenommen; wie oft in der Weltgeschichte hatten die Väter mit Aufwand des edelsten Blutes erstritten, was die Söhne um ein Linsengericht hingaben !

Die Zeit in ihrem Fluge streift nicht bloss
Des Feldes Blumen und des Waldes Schmuck,
Den Glanz der Jugend und die frische Kraft;
Ihr schlimmster Raub trifft die Gedankenwelt.
Was schön und edel, reich und göttlich war
Und jeder Arbeit, jeden Opfers werth,
Das zeigt sie uns so farblos, hohl und klein,
So nichtig, dass wir selbst vernichtet sind.
Und dennoch wohl uns, wenn die Asche treu
Den Funken hegt, wenn das getäuschte Herz
Nicht müde wird, von Neuem zu erglühn!
Das Echte doch ist eben diese Glut.
(Uhland.)

³) Es ist interessant, zu erkennen, wie die grösste Meisterin der bildenden Kunst, die Architektur, Skulptur und Malerei zugleich ist, wie die Natur die Ermüdung des Formgefühls ihren Werken gegenüber abwehrt. Nicht nur hat sie in ihnen die Fähigkeit niedergelegt, schrankenlose Reflexionen hervorzurufen, die sich heute zu einer Reihe von schönen Wissenschaften vereinigt haben, sondern auch schon als reine Formen sollen ihre Gebilde uns nicht ermüden; deshalb hat sie uns das Gestalten ihrer Gedächtnissbilder auf alle möglichen Weisen erschwert. Sie vereinigt in ihnen immer sehr viele der geometrischen Formgesetze zugleich; sie wählt dabei gerade die schwer zu erfassenden mit Vorliebe aus und verwerthet die einfachen selten; insbesondere verwandelt sie die in den Gebilden der Menschenhand so häufiges leicht zu erfassende Reihung in die schwer zu merkende gesetzmässige Verwandlung der Grösse der wiederholten Gebilde und ihrer Abstände; auch stört sie die vereinigten Gesetze fast immer durch Zufälligkeiten. Sie gestaltet nicht nur jedes Einzelwesen anders als die übrigen seiner Gattung, sondern verändert auch fortwährend alle organische Form durch das Wachsthum, durch Bewegung und Mienenspiel, durch Blühen und Welken. Sie verändert fortwährend das Bild der Landschaft, indem sie bald ihren grünen Schmuck, bald die bunten Färbungen des Spätjahres, bald ihre Schnee- und Eisflächen als Grundton ausbreitet, bald ihren blauen Himmel, bald die immer wechselnde Wolkendecke darüber spannt, bald Sonnenschein, bald milde Schattirung, bald Mond- und Sternenlicht darin ausgiesst. Sie verändert fortwährend ihr Firmament durch die Drehung der Himmelskugel, durch das Einherführen der Planeten in der unveränderlichen Aufstellung der Fixsterne und durch die für uns gesetzlos kommenden und gehenden Kometen. Das ist nun sicher nicht allein unsertwegen so; aber .wenn es mit Absicht hätte darauf angelegt werden sollen, uns das Gestalten fertiger Gedächtnissbilder der Naturwerke zu erschweren, uns frisch zu erhalten im Augengenuss des Weltalls, so könnte es kaum anders sein. Ja, die Natur ist sogar noch auf ganz andere Formgedächtnisskapazitäten eingerichtet als auf Menschen.

4) Als Beleg für die aufgezählten Richtungen der Steigerung eines formalen Reizes architektonischer Formgedanken sind im Folgenden einige naheliegende und hervortretende Beispiele ausgewählt. Der Formreiz der Umrisslinie (Silhouette) durchläuft eine interessanke Steigerung besonders deutlich im Giebel. Bis zum Romanischen ruht die Giebelsilhouette; sie bildet ein einfaches Dreieck, im Griechischen und Römischen mit Auszeichnung der Fusspunkte und der Spitze, im Romanischen nur der Spitze. Alle Steigerungen, die der Giebel im Romanischen erleidet, beziehen sich auf die Gesimse und den Schmuck der Giebelfläche. In Italien zeigt zwar ein Bauwerk aus romanischer Zeit, der Dom von Pisa, eine Belebung des Giebelsaumes durch ein krabbenartig wiederholtes Ornament; doch ist anzunehmen, dass hier eine gothische Wiederherstellung des Giebels vorliegt; denn der Querhausgiebel dieses Bauwerks zeigt nur geradlinigen Umriss. Die frühesten Giebel des gothischen Stiles waren auch noch geradlinig silhouettirt; in der Folge treten aber als erster Schritt zum reicheren Umriss die Krabben oder Kantenblumen auf, zuerst noch klein und in grösseren Abständen, dann grösser und dichter; ferner wird die Giebelspitze durch die Kreuzblume ausgezeichnet. Später fügt man die Fialen als Auszeichnung der Giebelfusspunkte bei, wodurch schon eine sehr reiche und interessante Silhouette gewonnen ist. Bald erscheinen auch noch Zwischenfialen auf dem Giebel (Fassade der Lorenzkirche in Nürnberg, Wimperge der Portale am Kölner Dom, Strassburger Münster u. s. w.) und damit abermals eine wirksame Steigerung. Der Spätzeit genügt die gerade Linie nicht mehr; sie führt die geschweifte Giebellinie, den sogenannten Kielbogen oder persischen Bogen mit Krabbenbesetzung ein, wenigstens als Wimperge über den Fenstern. Der Kielbogengiebel bildet die höchste in der Gothik erreichte Form der Silhouette und wird erst mit ihr verlassen. (Es könnte höchstens noch an die doppelte Krümmung, an das Heraustreten des Giebels aus der vertikalen Ebene erinnert werden, wie es z. B. an der Lorenzkapelle des Strassburger Münsters erscheint, oder an das Ineinanderschneiden mehrerer Kielbogengiebel, wofür Beispiele an den Thürmen von Ulm und Strassburg). Gleichzeitig aber steigert die Backsteingothik den Giebelumriss durch Stufen, aufsteigende Zinnen mit oder ohne Durchbrechung, Fialen u. s. w., und während der gothische Hausteingiebel mit dem Kielbogen beim Uebergang zur Deutschrenaissance als unfähig zu einer weiteren Steigerung verlassen wird, erscheint das Motiv des gothischen Backsteingiebels noch lange nicht abgenützt, sondern erst im rechten Zug begriffen, und es wird daher als Gegenstand einer weiteren Steigerung in den neuen Stil herübergenommen, nicht nur für den Backsteingiebel, sondern auch für den in Haustein. Es erscheinen dann all die unendlich vielgestaltigen Giebelsilhouetten durch Voluten, Ranken, Stufen mit Obelisken, oder quadrantförmigen Füllungen, oder Kugeln, oder Durchbrechungen, sodann durch die hohen Aufbauten auf der Spitze, all die reichen Linien, die am Wohnhaus und Palast der Deutschrenaissance so wesentlich zum stattlichen Ausdruck beitragen, aber auch nach wenigen Jahrzehnten voll reizender Motive schon alles Maass zu überschreiten beginnen und endlich in ein für uns noch ungeniessbares Gewirre von seltsamen Schnörkeln ausarten. Damit ist die Steigerung der Giebelsilhouette auch in dieser Richtung am Rand ihrer Mittel; auf demselben Weg noch weiter vorzudringen, ist nicht mehr möglich; es verschwindet nun diese ganze Kunstform vom Schauplatz, und das italienische Wahndach mit dem hohen horizontalen Hauptgesims sammt Balustrade und Figurenreihe darüber tritt an die Stelle des Giebeldaches. Wo man das werthvolle Motiv des Giebels noch nicht entbehren kann an Portalen und Fensterbekrönungen, da werden die ebenfalls italienischen Motive des flacheren verkröpften dreiseitigen oder segmentförmigen Giebels aufgegriffen und zum Gegenstand einer neuen Steigerung gemacht, indem man sie zuerst mit hohen figürlichen Aufsätzen, dann mit Herausbrechen der ganzen Mittelpartie der Gesimse unter Ersatz durch barocke Voluten mit aufgesetzten Obelisken oder hoch hinauf gebauten Büsten, Figuren, Kartuschen u. s. w. zur immer wilder ausgezackten Silhouette macht, bis endlich auch nach dieser Richtung ein weiteres Vordringen nicht mehr möglich und das ursprünglich so strenge Motiv völlig zerhackt und in kurze Linien aufgelöst ist. Damit ist der Giebel eigentlich schon verloren und muss nicht erst verlassen werden; und wenn seine Reste endlich vollends zusammenfliessen mit den dünnen geschweisten ornamentüberwucherten Krönungsgesimsen oder vielmehr Krönungsranken der Fenster und Portale, die aus der Steigerung der horizontalen Bekrönung der Rahmengesimse hervorgegangen sind, so betrifft diese letzte Umbildung eigentlich ein ganz anderes Motiv; auch ist dann nicht mehr mit Recht von einer Silhouette zu sprechen, indem die scharfe plastische Begrenzung verloren und ein malerisches Zerfliessen der Formen auf dem Hintergrund an ihre Stelle getreten ist. Aber auch bei diesem Ziel ist kein Bleiben, und da der Giebel doch nicht ganz weggeworfen und umgangen werden kann und ein anderer Ersatz für das Vorhandene, auf welchen das Umbildungsbestreben sich werfen könnte, nicht mehr zu finden ist, so erfolgt zuerst bald da, bald dort, endlich überall der Sprung rückwärts zum strengen, unverkröpften, römischen Dreieck. Eine gang ähnliche Steigerung der Silhouette lässt sich verfolgen vom romanischen Thurmhelm über die durchbrochene, krabbenbesetzte gothische Pyramide und ihre spätgothischen reichsten Formen mit gekrümmten Dachflächen hinaus bis zu den vielgestaltig zusammengebauten Umrissen der Deutschrenaissance und des Rokoko, wie sie etwa am Rathhausthurm in Danzig oder an der Hofkirche in Dresden und vielen anderen Thürmen des 17. und 18. Jahrhunderts erscheinen. Auch die steilen Walmdächer und Kuppeldächer bieten diese Entwicklung; endlich liefern besonders die Thür- und Fensterumrahmungen, lediglich als Silhouette betrachtet, ein interessantes Beispiel für das fort und fort gesteigerte Streben nach dem lebendigen Umriss, für die Ueberanstrengung und Verirrung in diesem Bestreben und für den darauf folgenden jähen Abfall des Formgefühls allen überreichen Silhouetten gegenüber. Beispiele für die Steigerung der freien Ornamentik als Gegensatz zu den grossen Linien der Architektur werden kaum zu nennen nöthig sein. Jeder Baustil beginnt mit einem Vorwalten, fast mit einer Alleinherrschaft der grossen Linie, belebt und gliedert sie in der Folge unter Steigerung der freien Ornamentik und endigt - wenn er weit genug fortschreitet - mit einer vollkommenen Willkürherrschaft der letzteren und einer Auflösung der zielbewussten grossen Linienzüge in kleingehackte geradlinige und in vielfältig geschweifte. Die Fenster- und Thüreinfassungen in Haustein lassen in jedem Baustil eine lebhafte Steigerung erkennen. Die nächstliegenden Fälle bieten die immer reicheren Rahmengesimse und Bekrönungen im Römischen, die immer grössere Tiefe des romanischen Portals mit immer grösserer Zahl der Falzsäulen und wulstförmigen Bögen in seiner schrägen Leibung und die immer reicheren Rahmenprofile im gothischen Stil. Besonders deutlich erscheint die Steigerung des Formreizes in der Entwicklung des gothischen Maasswerks, und zwar sowohl in Beziehung auf die Profilirung der Linienzüge als auf die gebildeten Figuren. In der frühesten Zeit nur die zwei Spitzbögen, die auf einem Vertikalpfosten zusammenkommen, und der Kreis im übrig bleibenden Bogenfeld mit einfacher Abfasung der Kanten als Profilirung, dann das Auftreten der Nasen, zuerst nur im Kreis den Vierpass oder Sechspass bildend, wenig vortretend, später auch die Spitzbögen belebend und wachsend bis zur Berührung der Kreislinien und bis zum Ansetzen von Lilien und Knäufen, dabei die Zahl der Vertikalstäbe immer grösser und das Figurensystem des Bogenfeldes immer reicher, ebenso die Profilirung mit Unterscheidung von Hauptlinien und Nebenlinien, selbst von Nebenlinien verschiedenen Ranges, bis jene reichsten Motive etwa vom Kölner Dom, von der Katharinenkirche zu Oppenheim u. s. w. erreicht sind, aber bald auch die klare, streng gesetzmässige Zeichnung mit Dreipass, Vierpass und Fünfpass verdrängt wird von einem ausgeklügelten Muster, in welchem Fischblasen und andere geschweifte Figuren in willkürlich verwickelter Weise sich umschlingen und ineinanderfügen. Dem wildesten Flamboyant folgt die unvermeidliche Ernüchterung; die Nasen fallen wieder heraus; der Unterschied von Hauptstäben und Nebenstäben verschwindet, und den Schluss bildet ein einförmiges Netz kleiner Kreisstücke, die, als symmetrische Wellenlinien aufsteigend, sich mit den Scheiteln berühren oder die Fläche arabeskenartig unter Knotenbildung überziehen, in dem sie über die Kreuzungspunkte hinausschiessen und dann stumpf abgehackt sind. Als weitere, leicht zu verfolgende Beispiele für die Steigerung einer Schmuckformengruppe mögen noch die durchbrochenen geradlinigen Fenstermuster und die Wandmotive des maurischen Stils genannt werden, dann die Gewölbrippengrundrissfiguren der Gothik vom einfachen Kreuzgewölbe bis zum reichsten Stern- und Netzgewölbe, das schliesslich mit Kreislinien auch im Grundriss erscheint, ferner die Stalaktitengewölbe des maurischen Stils, die Steigerung von der frühdorischen Säule bis zur spätdorischen und spätkorinthischen nach Zahl und Länge der aufstrebenden Linien, und ebenso diejenige der gothischen Bündelpfeiler und Rahmengesimse, die römischen Gebälkformen, die Rustika von den einfachen Bossen an den Florentiner Palästen bis zu den mit reichen geometrischen Mustern überzogenen der deutschen Renaissance, endlich das Muschel-, Stab- und Blattrankenwerk der Rokokodekoration.


Wie entsteht die Schönheit der Maassverhältnisse und das Stilgefühl?

Die früher erhaltenen Sätze über die Abhängigkeit des Gefühls für eine Architekturform vom jeweilig erreichten Zustand ihres Gedächtnissbildes in uns und von dem, was wir an verwandten Formen früher gesehen haben, sind fähig, gewisse bestehende Vorstellungen vom Wesen des Schönen zu widerlegen. Obgleich die Lehre von den Gedächtnissbildern als Schlüssel zu dessen Verständniss einer eigenen umfassenden Behandlung bedarf, wenn sie befriedigen und nicht nur Verneinung bieten soll, so mögen doch hier einige naheliegende Gedanken sich anschliessen, die eine Anwendung jener Sätze auf die wichtigen Fragen der schönen Maassverhältnisse und des Stilgefühls enthalten.

Die Aesthetik unserer Zeit betrachtet es als ihre Aufgabe, die Ursachen des Wohlgefallens am Schönen im Schönen selber aufzusuchen und nachzuweisen, wodurch das Urtheil über die Schönheit auf feststehende Regeln gegründet werden könnte. Für die schöne sichtbare Form will sie äussere Merkmale und Maassverhältnisszahlen suchen, aus deren Vorhandensein sie auch der Verstand als schön erkennen und Anderen als schön nachweisen könnte. Dieses Suchen nach Gesetzen und Merkmalen des Schönen ist bis jetzt erfolglos geblieben oder vielmehr nur bis dahin gekommen, wo die Welt auch ohne Aesthetik über Schön und Nichtschön einig war; wo sie es nicht ist, da hat auch die Aesthetik noch kein Gebiet; über den Geschmack ist noch immer nicht mit ästhetischen Gesetzesartikeln zu streiten, und es gibt noch immer kein Mittel, sich von der Schönheit einer Form zu überzeugen, als indem man sich selber fragt, ob und in welchem Grad ein Wohlgefallen daran sich einfindet.

Wenn wir nun die Aeusserungen verschiedener Personen über das Wohlgefallen vernehmen, das ein bestimmtes Spiel von Linien und Schatten in ihnen hervorruft, so finden wir eine sehr weitgehende Verschiedenheit; ja wir finden in manchen Fällen ebensoviel verschiedene Urtheile als Personen, so dass wir nothwendig ein verschieden ausgebildetes Formgefühl in jeder Person annehmen müssen. Das ist wohl auch von allen ästhetischen Parteien geschehen; doch hat die Verschiedenheit des »Geschmacks«, obgleich spruchwörtlich geworden, in der Aesthetik noch keine Beachtung gefunden. Sie wurde immer mit einer unvollständigen Ausbildung des Schönheitsgefühls oder mit einer Verirrung desselben erklärt, unter der stillschweigenden Annahme, dass es auch eine vollständige Ausbildung und ein von Irrthum freies Schönheitsgefühl gebe, und nur dieses hat die Aesthetik als den Gegenstand ihrer Forschung betrachtet. Auch im gewöhnlichen Leben wird nicht anders gedacht; wer etwas Schönes nicht schön findet oder etwas Unschönes schön findet, der ist eben im Irrthum, und Jeder, der überhaupt urtheilen zu können glaubt, hält sich bei Meinungsverschiedenheiten im Stillen oder unter Aeusserung vieler Gründe für Den, der Recht hat.

Die Beobachtung dessen, was als Urtheil über die Architekturwerke um uns her geäussert wird, und mehr noch die ganze Geschichte der Architektur, beweist jedoch, dass die Verschiedenheit des Formgefühls nicht nur auf einer verschieden weit entwickelten Fähigkeit beruht. Es stimmen nicht etwa die Formgeübten und -gebildeten in ihrem Urtheil überein, es konvergiren nicht etwa alle Urtheile nach einem einzigen, das die Wahrheit über den Grad der Schönheit der Formen darstellen würde, sondern in Sachen der reinen bedeutungslosen Form - ausdrücklich nur von dieser ist hier die Rede - streiten sich die Gelehrten kaum weniger als die Anderen. In manchen Richtungen ist man ja einig; das soll nicht bestritten werden; das hier Gesagte bezieht sich zumeist auf die Werthschätzung bestimmter Baustile und auf die Beurtheilung der Maassverhältnisse an den Bauwerken und ihren Einzelformen. Ein Beispiel möge es in der letztgenannten Beziehung erläutern.

Für den Ausbau des Ulmer Münsters liegt ein alter Plan von Matthäus Böblinger vor. Man glaubte das Verhältniss zwischen der Höhe der Pyramide und der des achtseitigen Thurmgeschosses ändern zu sollen, indem man der Pyramide auf Kosten dieses Geschosses mehr Höhe gab als nach dem Böblingerschen Plan, der gerade in Beziehung auf dieses Verhältniss von den anderwärts zu findenden Maassen der Thürme stark abweicht. Bei einem Besuch deutscher Architekten und Ingenieure in Ulm bildeten sich sofort zwei Parteien, von denen die eine der Aenderung zustimmte oder nichts dagegen einzuwenden hatte, die andere aber entschieden eine Verminderung der ursprünglichen Schönheit und Originalität des Böblingerschen Plans darin zu sehen erklärte und eine Aenderung des auf uns gekommenen Entwurfs eines anerkannt bedeutenden Meisters der gothischen Zeit nicht gerathen fand. An der Spitze beider Parteien standen Autoritäten der Baukunst. Nicht einem Betheiligten schien es zweifelhaft zu sein, dass hier wirklich - bei genügender Erkenntniss - die Wahrheit darüber gefunden werden könne, welches das schönste Verhältniss sei.

Wie oft kommt es auch bei architektonischen Konkurrenzen vor, dass man über das Urtheil des Preisgerichts erstaunt und entschiedenen Irrthum annehmen zu dürfen glaubt. In Berlin gab ein solcher Fall einmal Gelegenheit zur Erörterung des Zustandekommens eines solchen Urtheils; einer der Preisrichter ging zur Rechtfertigung des Kollegiums ein Stück weit auf die psychologische Frage ein, indem er ausführte, dass die subjektiven Urtheile der Einzelnen wohl irren könnten, dass man aber eben deshalb viele Sachverständige in das Preisgericht wähle, damit aus den mit Irrthum behafteten Urtheilen der Einzelnen durch Ausscheidung des einseitigen Individuellen das objektiv richtige Urtheil einer Gesammtheit hervorgehe. Die Unzuverlässigkeit des Einzelnen ist also zugegeben; aber bei welcher Zahl der urtheilenden Glieder der fromme Glaube an ein objektives Urtheil nicht mehr getäuscht wird, das blieb bei dieser Gelegenheit unentschieden.

Welche Gegensätze aber erst, wenn wir die Formgebildeten aus verschiedenen Jahrhunderten zusammenstellen! Es handelt sich dann nicht mehr um die mehr oder minder feinen Unterschiede, sondern vom Alpha bis zum Omega um die Formen selber. Es war z. B. ein Meister der Hochrenaissance oder des Barockstils unfähig, an einem von Erwin von Steinbach entworfenen Linienspiel sich zu erfreuen. Die Verachtung der Maniera tedesca in der Zeit der Renaissance ist bekannt; sie wurde so herb wie möglich ausgesprochen und niedergeschriehen. Man schalt auf die gothische Lüge, um bald darauf im Barockstil zu lügen. Wie konnten hingegen auch auf italienischem Boden die edelsten Reste des Alterthums unbewundert und unbeachtet stehen, als der nordische Zauber der Gothik über die Alpen drang! Welche Tyrannei hat ein jeder Baustil an den Werken seiner Vorgänger ausgeübt! Wie viel wohlgemeinte spätere Verbesserungen und Wiederherstellungen sind schreckliche Zeugen für die Gefühllosigkeit auch der Besten einer Zeit für das Beste aus allen anderen! Wenn man hier von einer Verirrung des Formgefühls reden wollte, so wäre die ganze Baugeschichte eine fortwährende Geschichte seiner Verirrung.

Man hat sich mit diesen heftigen Meinungsverschiedenheiten der.Vergangenheit dadurch abgefunden, dass man allen vergangenen Stilperioden eine gewisse Unvollständigkeit oder Einseitigkeit des Schönheitsgefühls beimass; sie sollen jede eine andere Seite der architektonischen Schönheit zu Tage gefördert haben, und so scheint es dem natürlichen Gefühl nach allerdings zu sein. Wir erkennen den Griechen ein höchst vornehmes, feines Formgefühl zu, fügen aber bei, dass ihnen der »Sinn« für das Aufstrebende, Weiträumige, für die Anpassung ihrer Architekturformen an grosse Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens gefehlt habe. In der That würden wohl die Meisten etwas enttäuscht sein zwischen den engen Wänden oder Säulenreihen einer Tempelcella, wenn das hinter ihnen einfallende Licht ihren langen Schlagschatten voraus werfen, den ganzen Obertheil des Raums und die Decke aber fast im Dunkeln verschwinden lassen würde. Wir loben auch die Römer wegen ihrer grossartigen Konstruktionen, ihres Raumgefühls, ihrer Meisterschaft in der Bewältigung aller Aufgaben eines weltstädtischen Lebens; aber so rechter, wahrer Künstler, Prinz aus Genieland, das war - wenn man von den Römern redet - doch nur der Grieche! Ja, sie waren tüchtige »Eklektiker«, das will man schon noch gelten lassen! Wir lassen endlich den gothischen Meistern für den hoch monumentalen Charakter ihrer Dome und Münster alle Gerechtigkeit widerfahren; aber einseitig und auf die Länge langweilig waren sie doch mit ihrem ewigen Maasswerk und Fialenwerk und Rippenwerk und auch niemals etwas Anderem; am rechten Ort und auf eine Weile geht's ja schon, aber wer möchte immer so fortfahren!

Vom Standpunkt unserer Zeit betrachtet, haben alle vergangenen Baustile durch die einseitige Vorliebe für ihre eigenen Formen unbewusst eine zweckmässige Arbeitstheilung vorgenommen und haben dadurch, obgleich sie nur für sich selber sorgen wollten, ihrer gemeinschaftlichen verehrten Nachwelt die Pyramide der möglichen architektonischen Schönheitsgattungen vollendet hinterlassen.

Mit uns steht es daher offenbar weit besser als mit ihnen allen. Wir können nun die Pyramide mit Musse umwandeln und sind dadurch vor der Gefahr bewahrt, ein einseitiges Urtheil zu fällen. Als Grund für unser Urtheil haben wir zwar vorläufig auch nur das Gefühl in uns, das über alle Formen jener Perioden durch einen bestimmten Grad von Wohlgefallen sich äussert und das wir widerstandslos als den Ausdruck der Wahrheit annehmen müssen, wie es jeder anderen Zeit auch ergangen und wodurch manche auf Irrwege gerathen ist. Doch ist das letztere bei uns nicht auch zu befürchten; denn wir haben ja das eingehende Studium der Baugeschichte, das treue Aufsuchen und Verbuchen aller Schmuckformen der Vergangenheit vor allen anderen Stilperioden voraus. Also dürfen wir uns auf unser Gefühl als auf die Erkenntniss des wahren Schönen verlassen? Gewiss dürfen wir das; wir haben es ja auch nie anders gehalten; es ist der nächste Weg, um über alle schwer zu erklärenden Erscheinungen wegzukommen, und wer sollte es uns wehren?

Ach, wenn nur nicht Eines dem Glauben an unser Gefühl noch im Weg wäre; wenn wir nur nicht zusehen könnten und müssten, wie es in Jedem von uns in einer stillen Wandlung begriffen ist, in einer um so rascheren, je schneller die äusseren Eindrücke um uns wechseln. Müsste es denn nicht das erste Zeichen für die Wahrheit unseres Gefühlsurtheils sein, dass es bei dem bliebe, was es einmal gesagt hat? dass wir nicht auf einmal Schönheiten entdeckten, wo zuvor keine für uns waren? dass wir uns nicht allmählich ein wenig gelangweilt fänden, wo wir früher so warm bewunderten? - Und gibt es denn: eigentlich ein Unheil unserer Zeit? Können wir aus den vielen individuellen Schönheitsurtheilen unserer Zeitgenossen wirklich etwas zusammenbringen, dem sie alle zustimmen? O ja, es findet sich manches, aber doch weit weniger als sich in allen anderen Stilperioden gefunden hätte. So viel wir an Uebersicht gewonnen haben, so viel ist an der Einheit unseres Zeiturtheils verloren gegangen!


Die ganze Verschiedenheit des Formgefühls der Einzelnen, sowie die Thatsache, dass die formalistische Aesthetik die wohlgefälligen Urverhältnisszahlen und Gesetzesartikel vergeblich sucht, findet eine überzeugende Erklärung in dem Satz, dass unser Wohlgefallen an einer Form abhängig ist von den Gedächtnissbildern, die wir gesammelt haben und - wie sich im Lauf der Untersuchung ebenfalls ergeben hat - von der jeweilig erreichten Deutlichkeit eines. jeden dieser Bilder.

Denn da sie weder nach ihrer Zahl noch nach ihrem Zustand im einzelnen Menschen unverändert bleiben, so verkündet der Satz unmittelbar, warum sich unser Formgefühl mit der Zeit in mancher Richtung verändern kann und muss.

Da ferner die Formgedächtnissbilder weder nach ihrer Zahl, noch nach ihrem Zustand in allen Menschen dieselben sind, so erklärt der Satz des Weiteren, warum das Wohlgefallen an einer bestimmten Form nicht in allen Menschen dasselbe ist. Da endlich die Erfahrung lehrt, dass in Beziehung auf das Gefühl für Maassverhältnisse und Stilschönheit eine grosse Verschiedenheit des Formgefühls wirklich besteht und zu allen Zeiten bestanden hat, so ist zu schliessen, dass gerade in diesen beiden Richtungen das Gefühl abhängig ist von den veränderlichen und zufälligen Gedächtnissbildern des Einzelnen, während es in einer anderen Beziehung ganz wohl von unveränderlichen Ursachen erzeugt werden mag.

Zugleich ist zu erkennen, warum die Entwicklungen des Formgefühls in verschiedenen Geistern nicht einem und demselben Ziel zustreben, das heisst, warum die fortschreitende Ausbildung verschiedener Personen nicht endlich zu ihrer Uebereinstimmung im Urtheil über die Schönheit der Formen und Maassverhältnisse führen muss; denn zur Annäherung an eine solche Uebereinstimmung würde gehören, dass Alle demselben Gedächtnissbilderkreis entgegengingen. So reich nun aber dieser Bilderkreis im einzelnen Menschen werden kann, so wird doch niemals seine Vollständigkeit behauptet werden dürfen; so weit die Uebereinstimmung in einem geschlossenen Kreis von Personen gehen kann, so lässt sich doch kein Zustand festsetzen, der als das gemeinsame Ziel der Ausbildung aller Gedächtnissbilderkreise zu erklären wäre. Schon die Natur mit ihren in allen Ländern und Meeren verschiedenen Gestalten geht ja darauf aus, den Gedächtnissinhalt verschiedener Völker und Personen auf möglichst verschiedene Bahnen zu leiten.

So sicher nun ein vollendeter und orichtigercc Gedächtnissbilderkreis von architektonischen und anderen Formen ein unvorstellbares Ding ist, so sicher ist die Allgemeingültigkeit der Schönheit architektonischer Maassverhältnisse und Stilformen ein unmöglicher Zustand; hier wird niemals eine vollkommene Uebereinstimmung des Urtheils vorhanden und niemals zu begründen sein, dass irgend ein Urtheil das »richtige« sei. So wenigstens gestaltet sich die Folgerung aus jenem Satz, wenn man die Menschheit als Ganzes den Formen gegenüberstellt; angewendet auf das einzelne Zeitalter und Volk oder auf jeden kleineren Kreis von Personen, ergibt die Abhängigkeit des F ormgefühls von den Gedächtnissbildern des Einzelnen ein wesentlich anderes Bild, worüber später. So viel aber ist sicher, die Schönheit einer Architekturform und bestimmter Maassverhältnisse ist nicht ein eigener unveränderlicher Vorzug dieser Form oder dieser Maasse, sondern ein Werth, den unser Gedächtniss ihnen verleiht und der sich nach unserem Gedächtnissinhalt richtet. Nur das psychologische Gesetz, nach welchem unser Gefühl zu Stande kommt aus dem Verhältniss des Neuerscheinenden zu den Bildern des früher Geschauten in unserem Gedächtniss, nur dieses Gesetz ist unveränderlich.

Alle diese Thatsachen sind ja auch - um eine früher gemachte Bemerkung hier weiter auszuführen - obgleich nicht mit Worten anerkannt, so doch richtig gefühlt und hundertfältig verwerthet durch die Art, wie wir Architektur studiren. Man weiss, dass es kein anderes Mittel gibt, unser Formgefühl zu bilden, als das Kennenlernen schöner Formen. Nur indem wir solche in unser Gedächtniss aufnehmen, erhöhen wir, ja erwerben wir sogar meistens erst die Fähigkeit, an den Werken gleichen Stils uns wirklich zu freuen, und es ist unbestritten, dass das Formgefühl, das wir nach durchlaufener Schule mitnehmen, sehr stark beeinflusst ist durch die Schule, d, h. durch die Formen, die man uns gezeigt, und durch das Urtheil, das man beigefügt hat.

Man kann ja das Formgefühl, mit Einschluss desjenigen für die Maassverhältnisse, werden sehen. Wenn dem Anfänger im Studium der Baukunst ein römisch-dorisches Kapitäl etwa durch ein Modell vorgestellt wird, ohne dass er diese und andere Architekturformen zuvor aufmerksam betrachtet hat, so erscheint es ihm als eine nicht ungefällige, aber doch seltsame und willkürliche Form. Ob die einzelnen Glieder etwas höher oder niedriger, etwas mehr oder weniger vortretend ausgeführt wären, scheint ihm ziemlich gleichgültig, und wenn an einem anderen Modell die Deckplatte breiter, der Echinus höher wäre, so wüssten die meisten Anfänger nicht zu sagen, ob ihnen die erste Form oder die zweite besser gefiele, und keine gefällt ihnen besonders lebhaft.

Ihr Formgefühl ist bis zu einer gewissen Grenze noch unempfindlich gegen solche Unterschiede. Diese Grenze liegt bei verschiedenen Schülern freilich schon sehr verschieden hoch. Der Jüngling aus der Stadt, der an ähnlichen Formen täglich vorbeigewandelt ist, wenn auch ohne sie aufmerksam zu betrachten, wird für die Veränderung der Verhältnisse schon von Anfang an empfindlicher sein als der junge Dorfbewohner. Bei einem Kind oder dem - Angehörigen eines unzivilisirten Volkes dürfte man dagegen ruhig den Echinus doppelt so hoch, die Deckplatte halb so hoch oder würfelförmig machen, ohne dass sein Schönheitsgefühl im mindesten verletzt würde.

Der Lehrer hat ja jedem Schüler gegenüber Gelegenheit, dessen Gefühl für die Formen kennen zu lernen aus dem, was er zeichnet; jeder Lehrer wird aber schon beobachtet haben, wie unglaublich unempfindlich mancher Anfänger für die Verhältnisse und Linien der Formen ist, die er darzustellen hat, und wie fast alle trotz Zirkel und·Lineal die Verhältnisse ins Unschöne verändern, ohne es zu spüren.

Wenn nun in der Folge die Form des Kapitäls sich dem Gedächtniss mehr und mehr einprägt, wenn die Umrisslinie und das Spiel der Schlagschatten und Körperschatten auf Echinus und Hals öfters gesehen und auch graphisch dargestellt werden, hauptsächlich aber, wenn die Form mit anderen in Verbindung tritt und an ganzen Fassaden als Theil eines grösseren Organismus sich wiederfindet, so erfreut sie mehr und mehr; man spürt auch eine kleine, endlich die kleinste Veränderung, die ihr gegenüber an anderen Kapitälen gleicher Gattung auftritt, und bis zu einer gewissen Grenze weist das Gefühl jede Veränderung der Maassverhältnisse ab.

Das Studium dieser Form hat also das Formgefühl in einer bestimmten Richtung entwickelt, und bei jeder anderen Architekturform, die wir in unser Gedächtniss aufnehmen, ist dasselbe der Fall. Es gibt kein anderes Mittel, Architektmr zu studiren, Urtheilsfähigkeit über die Schönheit in der Baukunst sich zu erwerben. Das geistige Aneignen einer jeden solchen Form bildet eine der Grundlagen unseres späteren Urtheils über die Schönheit ähnlicher Architekturformen, ohne dass wir später ausscheiden könnten, wie viel, oder auch nur daran denken, dass etwas in unserem Urtheil aus dem Studium dieser Form herstammt.

Es känn nichts Anderes geben, worauf der Unterschied des Formgefühls gegenüber jenem Anfangszustand beruhen würde, als das, was wir vom ganzen Studium in uns zurückgehalten haben, und das sind die Bilder der Formen in unserem Gedächtniss.

Das Sammeln solcher Bilder hört ja nicht etwa mit der Schule auf; Studienreisen nach Italien und anderen Ländern haben ja keinen anderen Zweck, als unseren Bilderschatz zu bereichern, und auch noch später; in der Zeit des selbständigen Schaffens, nehmen wir da und dort noch ein neues Motiv in uns auf. Das wild ja jedem Architekten eine aufmerksame Selbstbeobachtung beweisen, und auch ältere Baumeister sagen uns mündlich und durch ihre Werke, dass das Sammeln neuer Bilder und eine damit gleichlaufende, wenn auch im reiferen Alter nur noch langsam fortschreitende Veränderung des Formgefühls niemals aufhört.

Durch das »Aufnehmen« von Bauformen der Vergangenheit in unser Gedächtniss erwerben wir auch allein die Fähigkeit, ein Bauwerk architektonisch zu schmücken. Wir kombiniren beim Entwerfen allerdings die gesammelten Bilder oder ihre Elemente in den verschiedensten Weisen und schaffen hierdurch Neues auch schon für die Einzelheiten im architektonischen Schmuck; wir verändern sie auch wohl ein wenig aber es zeigt sich deutlich, dass wir dabei immer aus dem Inhalt unserer geistigen Bildergalerie heraus gestalten. Wir können freilich auch Formen erfinden, die nichts oder vielmehr nur die letzten Elemente aus dieser beziehen; aber solche Formen, die nur einen sehr schwachen Zusammenhang mit dem Gedächtnissinhalt haben, befriedigen weder uns selber noch Andere und tragen das Gepräge der Willkür und Heimatlosigkeit an sich.

Man kann sich die Frage vorlegen: Wenn jenes Kapitäl und alle uns zugänglichen Kapitäle gleicher Art eine etwa um ein Fünftel höhere Deckplatte und eine grössere Ausladung gehabt hätten, würden wir diese mässig anderen Verhältnisse dann auch für die schönsten zu halten gelernt haben? Dies ist die entscheidende Frage; ihre Beantwortung soll hier nicht umgangen werden; sie ist entschieden zu bejahen, jedoch mit dem Zusatz, so lange nicht eine störende Vorstellung ungünstiger statischer Verhältnisse, nämlich die Vorstellung »zu schwach« oder »überflüssig stark« in das Gefühl hereinwirkt. Wer in Betracht zieht, wie in den letzten drei Jahrzehnten das Gefühl für die Ausladung der Gesimse sich verändert hat, der wird auch ohne Erwägung über die Herkunft unseres Gefühls diesgr Antwort zustimmen.

Jeder Architekt, der sich beim Entwerfen beobachtet, wird finden, dass ihm sein Formgefühl in bestimmten Fällen ein Maass mit der grössten Schärfe vorschreibt und in anderen Fällen zwischen ziemlich weiten Grenzen freie Wahl lässt. So scharf ist z. B. das Gedächtnissbild, welches von jenem oft verwertheten Kapitäl sich einprägt, dass ein geübter Architekt, der zweimal unabhängig von einander ein römisch-dorisches Kapitäl profilirt, das zweite Mal dieselben Verhältnisse treffen wird, nur indem er seinem Schönheitsgefühl folgt. Gibt man nun aber anstatt des Kapitäls eine Vase zu entwerfen und lässt dieselbe wiederholen, ohne dass er die erste Zeichnung sieht, so wird er die Maassverhältnisse der ersten nicht mehr oder wenigstens weit weniger scharf wieder hinzeichnen als dort beim Kapitäl. Wie! hat der Architekt bei der Vase ein weniger feines Gefühl oder sind hier die schönen Verhältnisse weniger heikel als dort? Gewiss ist das letztere der Fall, und nur deshalb ist es der Fall, weil bei den früher gesehenen Vasen weit grössere Schwankungen in den Verhältnissen des Fusses zur Schale oder der Höhe zur Breite oder zwischen den einzelnen Gesimsgliedern vorhanden waren als zwischen den Gliedern und Maassen der früher gesehenen römisch-dorischen Kapitälformen. Ganz in derselben Weise ist eine jonische Säule sehr empfindlich in ihren Höhenverhältnissen, eine romanische und gothische dagegen gar nicht, weil wir von jener Verhältnisse von nur geringen Schwankungen im Gedächtniss haben und von diesen überschlanke und gedrückte mit allen Zwischenverhältnissen.

Es soll durchaus nicht behauptet werden, dass unser Formgefühl ausschliesslich das Resultat der früher aufgenommenen Gedächtnissbilder sei, sondern es sei hier entschieden wiederholt, dass das Formschöne einen vielumfassenden unveränderlichen Faktor einschliesst, der allen Menschen gegenüber und zu allen Zeiten sich gleich verhält, übrigens nur einen besonderen Fall des vorgenannten psychologischen Gesetzes bildet. Während die früher gesammelten Gedächtnissbilder in verschiedenen Geistern verschiedene sind, gibt es einen andern Theil der geistigen Organisation, der allen Bildungsstufen, allen Menschen gemeinschaftlich ist, und was sich vom angeschauten Gebilde an diesen Theil wendet, erweckt in allen Menschen dasselbe Gefühl. Wie in der Musik bestimmte Tonverbindungen von Allen als harmonisch, andere von Allen als dissonant empfunden werden, so gibt es auch in der Welt des Sichtbaren eine Harmonie, die aus den geometrischen Formgesetzen der geraden Linie, des Kreises, der übrigen stätigen Linien, des Parallellaufens, der zweiseitigen und zweiachsigen Symmetrie, der Wiederholung gleicher Gebilde in gleichen Abständen (Reihung), der radialen Ordnung gleicher Gebilde um einen Mittelpunkt, der gesetzmässigen Veränderung aufeinanderfolgender Maasse und Richtungen und noch anderen Begriffen der Raumanschauung hervorgeht. In jedem architektonischen Gebilde sind verschiedene solcher geometrischen Vorstellungen so vereinigt, dass sie zu gleicher Zeit vom Bewusstsein erfasst werden, und mit diesen Zügen seiner Gestalt wendet sich das Gebilde an denjenigen Theil der geistigen Organisation, der in allen Menschen derselbe ist und mit demselben Gefühl den äusseren Eindrücken antwortet.

Aber die Schönheit der Maassverhältnisse gehört nicht in diese sichtbare Harmonie, sondern ist Erzeugniss der Gedächtnissbilder des Einzelnen, und ebenso ist es mit dem Gefühl für die Stilverwandtschaft aller derjenigen Formen eines Baustils, die nicht durch gemeinsame geometrische Züge an einander erinnern.


Im Folgenden soll der zu vermuthende Zusammenhang des Maass- und Stilgefühls mit. dem Gedächtnissinhalt als ein besonderer Fall der Wirkung eines allgemeinen Gesetzes der Schönheit aufgezeichnet werden, obgleich die Grundlagen zum Aufbau des Behaupteten erst an anderer Stelle geschaffen werden können und der erschöpfende, alle Gebiete des Schönen umfassende Nachweis jenes Gesetzes anderen Blättern vorbehalten werden muss.

Das Gefühl des Schönen kommt zu Stande aus einer hoch gesteigerten Vorstellungthätigkeit des Augenblicks, das heisst, aus einem gleichzeitigen Zusammenwirken einer besonders grossen Zahl von Vorstellungen, die einestheils in verschiedenen Graden der Deutlichkeit bewusst, anderentheils unbewusst in der Seele thätig sind. (Es gibt eine Anregung der Gedächtnissbilder, bei welcher sie nicht bewusst werden und doch in Thätigkeit gerathen; dieser Zustand ist mit den »unbewusst in der Seele thätigen Vorstellungen« oder der »unbewussten Erinnerung« gemeint. Eine Seelenthätigkeit »unter der Schwelle desBewusstseins« ist ja von der Psychologie schon längst angenommen).

Es können nicht beliebig viele Vorstellungen oder beliebig geartete Vorstellungen gleichzeitig im Bewusstsein stehen, sondern es bedarf einer gewissen Auswahl, wenn das Bewusstsein der einen nicht dasjenige der anderen verhindern soll. Diese Auswahl so zu treffen, dass uns jeder Moment eine grosse Vielheit gleichzeitiger Vorstellungen bietet, das ist die Aufgabe, die im Schönen gelöst ist.

Die Vorstellungsthätigkeit der Seele ist einer fortwährenden Schwankung unterworfen; bald erhebt sie sich zu grösserer Stärke, bald sinkt sie herab; jeder solche Zustand der Vorstellungswelt ist von einem Gefühl begleitet, das entweder Lust- oder Unlustgefühl oder aus beiden gemengt ist, und dessen Schattirung sich nach dem Inhalt der vereinigten Vorstellungen richtet. Fühlen und Vorstellen sind zwei Aeusserungen eines und desselben seelischen Vorgangs, wie die Form einer Bewegung und die von dieser Bewegung an ihrem Ende erzielte Veränderung zwei Aeusserungen eines und desselben mechanischen Vorgangs sind. Bewusste und unbewusste Vorstellungen unterscheiden sich in derselben Weise wie zwei Schwingungszustände in der Masse, von denen der erste eine bleibende Lagenveränderung der bewegten Theile hervorruft, der andere ohne eine solche Lagenveränderung vorübergeht, wie eine Saite nur wenig kräftig schwingen kann und dann nach der Schwingung ist wie zuvor, und sehr stark schwingen kann und dann nach der Schwingung etwas gedehnt ist. Das Gefühl ist die Form der Bewegung; was uns als Vorstellung zum Bewusstsein gelangt, entspricht der bleibenden Lagenveränderung der Theile. Unbewusstes Vorstellen ist nur Gefühlselement; bewusstes Vorstellen ist Vorstellungs- und Gefühlselement zugleich. Bewusstsein ist Bauen von Gedächtnissbildern, Organisiren der Masse. Bewusst ist alle Seelenthätigkeit, welche die Möglichkeit der Erinnerung hinterlässt. Vorstellen und Empfinden unter der Schwelle des Bewusstseins hinterlassen keine Möglichkeit des Wiedererinnerns, keine Veränderung der Masse; aber sie können am Bauen von Gedäehtnissbildern, am Organi­siren der Masse mithelfen, indem sie Bewegung von einem Ort an den anderen übertragen. Dies die Grundzüge einer Seelenlehre, in welcher der oben ausgesprochene Satz sich in natürlicher Weise einfügt, ohne sie jedoch als Grundlage zu erfordern].

Jede Erhebung der Vorstellungsthätigkeit ist von einer Verstärkung des Gefühls begleitet; einer solchen Verstärkung entspricht das Gefühl des Schönen, oder aber auch dessen Mischung mit Unlustgefühl. Denn auch die Gefühle des Hässlichen, Furchtbaren und Lächerlichen sind auf ein solches Maximum der Vorstellungsthätigkeit gegründet; von ihnen unterscheidet sich dasjenige des Schönen durch die Reinigung von Störungen jeder Art. [Welche Gestalt die hochgesteigerte Vorstellungsthätigkeit und ihre Störungen in den verschiedenen Reichen des Schönen annehmen, das wird eben in den späteren Untersuchungen aufzuzeichnen sein.] Je grösser die Zahl der gleichzeitig in der Seele thätigen Vorstellungen, je lebhafter die Grade ihres Bewusstseins, desto stärker ist das Gefühl; je weniger störende Vorstellungen sich unter jenen befinden, desto reiner, desto ästhetischer ist das Gefühl. Es findet in der Empfindung des zusammengesetzten musikalischen Klanges einen besonderen Fall und zugleich ein treffendes Gleichniss. In der Steigerung der Vorstellungsthätigkeit ist das Interesse begründet, das ein Ding der Aussenwelt oder ein Gedanke in uns erweckt; in der Reinigung der Vorstellungsthätigkeit von allen Störungen liegt die grössere Feinheit, überhaupt die ganze Eigenart des Lustgefühls, wodurch sich das Schöne vom nur Interessanten als dessen besonderer Fall unterscheidet.

In der Architektur sind die gleichzeitig in der Seele thätigen Vorstellungen von dreierlei Art: Erstens geometrische Formgesetze, wie sie in den oben aufgezählten und anderen Begriffen der Raumanschauung enthalten sind. Zweitens angeregte Gedächtnissbilder, welche übereinstimmende Züge mit dem angeschauten Gegenstand enthalten, d. h. mehr oder minder bewusste oder ganz unbewusste Erinnerungen an früher gesehene Gebilde. Drittens Gedankenvorstellungen; diese beziehen sich auf die Kräftewirkung in den Massen; auf den Zweck des Bauwerks, und wie bei fast allen Erscheinungen des Schönen auf früher erlebte Seelenzustände des Anschauenden.

Die Schönheit der Maassverhältnisse, z. B. diejenige der jonischen Säulenordnung, welche in hervorragender Weise mit ihren Proportionen wirkt, beruht einestheils auf der Befriedigung des statischen Gefühls, auf der störungslosen, unbewussten Erinnerung an früheres Stützen und Lasten im selben Material, anderentheils auf einem reinen Maassgefühl, d. h. auf der störungslosen bewussten oder unbewussten Erinnerung an früher gesehene Maassverhältnisse zwischen den Theilen verwandter Gebilde. Bei der archaisch-dorischen Säulenordnung ist eine Störung des statischen Gefühls vorhanden in dem Ueberfluss an Kraftaufwand. Wir haben durch andere Erfahrungen mit demselben Material gelernt, dass hier überflüssig starke Stützen und Steinbalken eingeführt sind; auch ist die Vorstellung der Beengung, des Einklemmens zwischen den einander zu nahe gerückten Säulen eine lebhafte Störung. Für die Erbauer der archaisch-dorischen Tempel war jene Kenntniss der grösseren Leistungsfähigkeit des Materials und damit auch die Störung nicht vorhanden.

Ein genau bestimmbares Verhältniss schreibt übrigens in dieser Richtung das Gefühl nicht vor, sondern es gestattet sehr weiten Spielraum, und alle Verhältnisse von denjenigen der dorischen Ordnung aus der Blüthezeit bis zur korinthischen Ordnung enthalten nichts Störendes in Beziehung auf das statische Gefühl. Erst noch schlankere Verhältnisse einer Ordnung in Stein würden endlich das Unlustgefühl des Schwächlichen erzeugen. Daraus ist deutlich, dass in der Befriedigung des statischen Gefühls die Schönheit der Maassverhältnisse der jonischen Ordnung nicht allein begründet sein kann. Ohne diese Befriedigung gibt es keine schönen Verhältnisse, aber sie reicht zu solchen noch nicht aus.

Sie beruhen im Uebrigen auf dem reinen Maassgefühl, das - wie schon angegeben - hervorgeht aus einer bewussten oder unbewussten störungslosen Erinnerung an früher gesehene Maassverhältnisse zwischen den Theilen verwandter Gebilde. Eine Störung der gleichzeitig erweckten Gedächtnissbilder würde in dieser Beziehung enthalten sein in einem Widerspruch zwischen ihnen und dem angeschauten Gebilde. Ein unschönes Verhältniss liegt vor, wenn eine Form alte Gedächtnissbilder zwar anregt, aber auch solche Züge darbietet, die neben denen dieser Gedächtnissbilder als Widerspruch erscheinen, indem sie neben ihnen nicht bestehen können. Ein gutes Verhältniss z. B. zwischen den Theilen eines Armes erweckt einen solchen Widerspruch nicht; ein viel zu langer Oberarm bei viel zu kurzem Untertheil ist unschön, obgleich auch viele Gedächtnissbilder der Züge des Armes angeregt werden, weil dann in der Zahl der gleichzeitig in der Seele thätigen Vorstellungen auch solche mitlaufen, die mit den übrigen unvereinbar sind, und zwar aus folgendem Grund.

Dadurch, dass wir das Verhältniss zwischen Ober- und Unterarm immer annähernd in gleicher Weise haben auftreten sehen, ist das Gefühl entstanden, dass dieses Verhältniss und der Arm nothwendig zusammengehören. Die übrigen Züge des Armes und dieses Verhältniss bilden eine so innige Vorstellungsverbindung, dass wir jene uns nicht mehr vorstellen können, ohne dass dieses sofort auch vorgestellt wird. Es ist dieselbe seelische Erscheinung wie in der Sprache und in der Schrift. Sehen wir das Zeichen »a«, so tönt unvermeidlich in uns der Laut »a«; wir können dieser zweiten Vorstellung gar nicht mehr entrinnen, sobald die erste da ist, und würden es als den grössten Widerspruch empfinden, wenn dieses Zeichen fortan als »b« ausgesprochen werden sollte. Es ist aber keine innere Nothwendigkeit vorhanden, es ist vielmehr rein konventionell oder Sache der Tradition, dass gerade dieser Laut zu diesem Zeichen gehört, und für den Einzelnen ist es nur die grosse Zahl der Fälle der Erfahrung, was ihm die Verbindung zu einer unvermeidlichen macht. Ganz in derselben Weise ist das Gefühl in uns erwachsen, dass die bestehende Bezeichnung der Dinge durch die Sprache die einzig richtige sei, und noch zahllose andere Beispiele wären zu finden, in denen dieselbe innige Verbindung zweier oder mehrerer Vorstellungen, dasselbe Gefühl der Nothwendigkeit ihres Zusammengehörens lediglich durch die oftmalige und ausnahmslose Aufeinanderfolge im Bewusstsein entstanden ist.

Sehen wir nun jenen Arm mit schlechtem Verhältniss beider Theile, so rufen seine anderen Züge auch die Vor­Stellung des gewohnten Verhältnisses zwischen Ober- und Unterarm unvermeidlich hervor, und es sind dann zwei Vorstellungen zugleich im Bewusstsein, die neben einander nicht bestehen können, die eine erweckt vom Sinneseindruck, die andere von der Erinnerung. Dieser Widerspruch zwischen zwei gleichzeitigen Vorstellungen ist die Störung der hochgesteuerten Vorstellungsthätigkeit und damit des Schönen.

Dass unter den im Leben vorkommenden Verhältnissen zwischen beiden Gliedertheilen eines das schönste ist, kommt daher, dass dieses in der grössten Zahl von früher aufgenommenen Sinneseindrücken derselben Art sich wiederfindet, wie überhaupt derjenige Arm für uns der schönste ist, der die grösste Zahl der Züge des Armes, die wir im Gedächtniss tragen, widerspruchslos oder vielmehr überhaupt störungslos zu treffen vermag. Das mittlere Maass ist im Allgemeinen das schönste, weil das häufigst erschienene Maass. [Dies bezieht sich ausdrücklich nur auf die rein formale Erscheinung; weitaus der grössere Theil der Schönheit der menschlichen Gestalt beruht auf Gedankenvorstellungen, auf den Vorstellungen glücklicher Zustände des leiblichen und geistigen Lebens, und zu Gunsten dieser Vorstellungen hat die bildende Kunst neben der Beseitigung aller Störungen zuweilen bestimmte Verhältnisse, die in formaler Beziehung die schönsten wären, mit Glück ein wenig verändert].

Alle Maassverhältnisse der menschlichen Gestalt gewinnen hienach ihre Schönheit erst durch das Leben im Gedächtniss der Menschen. Nicht in den Formen und Maassen an sich liegt der Vorzug, um dessen willen wir sie bewundern; wäre der Unterarm bei allen Menschen doppelt so lang im Verhältniss zum Oberarm, als er es wirklich ist, so würden wir nicht ermangeln, dieses ganz andere Verhältniss ganz ebenso als die glückliche Mitte zwischen zu lang und zu kurz zu empfinden, wie jetzt das bestehende. Wenn uns der Storch mit seinen langen Stelzenbeinen einen komischen Eindruck macht, so ist die Ursache nur der grosse Wideispruch mit den Maassen, die sonst für ein Bein gebräuchlich sind; allerdings kommen auch störende Gedankenvorstellungen hinzu; wir denken uns in die Stellung auf solchen Beinen und fühlen uns in einem sehr bedenklichen Gleichgewicht. Der Herr Storch dagegen findet Frau Storch durchaus wohlproportionirt, und sogar wenn sie auf einem Bein steht, erscheint ihm das so entstehende Verhältniss von Stütze und Last als das edelste seiner Art. Die Gans auf einem Fuss ist ihm archaisch-dorische Ordnung.

Wie beim menschlichen Arm, so ist es nun auch bei der architektonischen Form. Eine jonische Säule auf die Höhe der dorischen gebracht, würde aus den entwickelten Ursachen das lebhafte Gefühl des Widerspruchs erwecken und dadurch das Gefühl des Schönen empfindlich verletzen. Bei den romanischen und gothischen Säulen, die an den Monumenten alle möglichen Verhältnisse darbieten, entsteht innerhalb bestimmter Grenzen eine solche Störung nicht, weil das veränderte Maass immer wieder andere Gedächtnissbilder findet, mit denen es im Einklang ist, weil überhaupt bei diesen Säulen das Gefühl der Nothwendigkeit gleichbleibender Maassverhältnisse sich niemals festsetzen konnte.

Für die Thatsache, dass ein architektonisches Maassverhältniss erst schön wird dadurch, dass es oft und ausnahmslos zwischen den Theilen seiner Form erscheint, findet sich ein hübsches Beispiel in einer Aeusserung des Vitruv, der vom Bau der frühesten dorischen Tempel »in grauer Vorzeit« sagt: »Dorus erbaute zu Argos ein Heiligthum zufällig von der Gestalt dieser (der dorischen) Ordnung und dann in derselben Ordnung auch in den übrigen Städten Achajas, obgleich damals die Berechnung der zusammenstimmenden Maassverhältnisse noch nicht entdeckt war.« (Vitr. IV. Buch, 1,5 nach Uebersetzung von Reber.) Wahrscheinlich zeigten erhaltene Tempel dieser Art zur Zeit der Entstehung einer Quellenschrift des Vitruv sehr fremdartige Verhältnisse für die Augen der späteren Zeit; wo immer aber jene Aeusserung herstammen mag, sie verkündet deutlich die ursprüngliche Ungebundenheit in der Wahl der Verhältnisse. Innerhalb der vom statischen Gefühl gezogenen Grenzen war kein Verhältniss schöner als das andere, so lange es noch kein Vorbild gab; es ging hierin den Erbauern der ersten Tempel wie heute noch dem Bauernknaben mit dem römisch-dorischen Kapitäl, so lange er noch keines gesehen hat.

Es geht aus dieser Erklärung der Schönheit der Maassverhältnisse hervor, dass es einer Form als kräftiger Faktor der Schönheit zu gute kommt, wenn die Tradition zu engen Grenzen für die Schwankungen ihrer Maassverhältnisse geführt hat. Die Anregung durch die Sinneseindrücke der neuen Formen trifft dann weit mehr der älteren Gedächtnissbilder, als wenn alle möglichen Verhältnisse zulässig sind; sie konzentrirt gleichsam die Gedächtnissbilder als Ziel der Anregung vor dem neuen Sinneseindruck, während diese im anderen Falle zerstreut stehen und nur vereinzelt getroffen werden. Angewendet auf die Säulen heisst dies: Die jonische Säule erweckt das Gefühl schöner Proportionalität in weit höherem Grad als die mittelalterlichen Säulen deshalb, weil die Tradition nur geringe Schwankungen der Maassverhältnisse der jonischen Säulen aufweist, wogegen diejenigen der mittelalterlichen Säulen zwischen den denkbar weitesten Grenzen zerflattern.

Von dem Grad des Widerpruchs hängt es ab, welche Schattirung das gestörte Schönheitsgefühl annimmt. Ist er weniger gross, so entsteht das Gefühl des abgeschwächten oder verfehlten Schönen, im Fortschreiten das des Unschönen. Erreicht aber der Widerspruch gegen die in der Seele gleichzeitig thätigen Gedächtnissbilder eine solche Grösse, dass er sehr stark in die Augen springt und mühelos zu entdecken ist, so wird der Eindruck allmählich der des Komischen, so z. B. wenn in der Karikatur ein enormer Kopf mit grösster Naturwahrheit auf einen winzigen Leib gezeichnet ist, mit dem er in Beziehung auf die Bewegung gut übereinstimmt, oder wenn die Höhe der Säulen einer jonischen Ordnung auf ein Viertel reduzirt oder aufs Dreifache gesteigert wird, während Durchmesser und Achsenweiten gleich bleiben. Das eigentlich Hässliche und das Furchtbare findet sich in der bedeutungslosen Form niemals; um diese Arten des gestörten Schönen zu erzeugen, müssen die störenden Vorstellungen Gedankenvorstellungen sein und einer grossen Zahl von harmonisch angeregten Gedächtnissbildern gegenüberstehen.


Die vorgetragene Erklärung des Wesens der architektonischen Schönheit und besonders der schönen Maassverhältnisse tritt manchen herrschenden Anschauungen entgegen. In den Gebilden allein, unabhängig vom anschauenden Geist bestehend, sollte die Schönheit niedergelegt sein; die Formen und Maasse der menschlichen Gestalt sollten schön sein, weil sie festgesetzt wurden von einem göttlichen Plan mit der Bestimmung, dass die Gestalt des Menschen den Menschen erfreuen solle; sie sollten wie alle anderen Naturgebilde geschaffen sein nach einem Idealbild und diesem im günstigen Falle nahe kommen, im ungünstigen ferner stehen, und in ähnlicher Weise dachte man sich auch Idealformen der Architektur, welchen aus einem noch unbekannten Grund die höchste Vollendung zukommen sollte, und deren Maassverhältnisse und verborgene Gesetze zu erforschen die Aufgabe der Verfeinerung unseres Gefühls wie auch das Ziel der Aesthetik sei.

Aber vergebens sucht man den Weg, auf welchem solche Idealbilder in Einklang gebracht werden könnten mit den Thatsachen der Erfahrung; vergebens ist es auch, sich vorstellen zu wollen, was die Schönheit ohne einen anschauenden Geist wäre. »Weder finster noch hell, weder laut noch still, vielmehr völlig, beziehungslos zu Licht und Klang liegt ja die Welt um uns her«; Blau wird doch erst dadurch Blau, dass die Wellen der Aetherschwingung das Auge treffen; fis wird erst dadurch fis, dass die Luftwellen an das Ohr schlagen; ohne Auge und Ohr bleiben sie Aether- und Luftbewegung und werden niemals Blau und fis. Wie sollten sie denn schon draussen im Raum schön sein, da sie draussen im Raum noch gar nicht Blau und fis sind? Wie sollten sie denn schon ohne uns und ausser uns schön sein, da sie doch erst durch uns und in uns zu Blau und fis werden? Wie sollte das Spiel von Licht und Schatten auf dem Marmor des Bildhauers schon draussen im Raum schön sein, da es doch erst in uns aus Aetherbewegung zur Empfindung von Licht und Schatten und aus Lichtempfindung zu der Vorstellung von Formen wird? Ohne das Eingreifen des menschlichen Organismus, ohne sein Hinausgreifen in die Aussenwelt gibt es keine Schönheit; nur dadurch, dass die Dinge mit ihm in Berührung treten, werden sie schön; er selber entzündet in ihnen das Licht, in dem sie ihm zu strahlen scheinen. Unvermeidlich führen diese Reflexionen zu dem Satz, dass das Schöne nur existirt als Gefühl des Schönen, dass man also niemals zur Erkenntnis seines Wesens kommen kann, ohne auch die Vorgänge in der menschlichen Seele aufzusuchen. Und fängt man damit an, so bestätigt es sich immer mehr, dass draussen im Raum keine Wunderdinge stehen, dass die Schönheit nicht ausser uns für uns fertig bereitet ist, sondern dass unser Geist selber den Aufwand bestreiten muss, der zu ihrer Erzeugung nothwendig ist. Gewiss wurden die Formen und Maasse der menschlichen Gestalt festgesetzt von einem göttlichen Plan; aber es bedurfte keiner grossen Wahl, um uns für sie zu begeistern; wir erhielten ein Wundermittel auf den Weg, das uns neben all seiner erhaltenden Kraft für unser irdisches Dasein auch für jene Formen und Maasse und noch für manches Andere erwärmt, uns aber in derselben Weise auch für andere Formen, andere Maasse erwärmen würde: es ist das Gedächtniss. »Mit diesem Trank im Leibe« sehen wir die todten und gleichgültigen Dinge draussen lebendig und schön und die Göttertochter in einer Helena; erlöschen in uns die Bilder der Vergangenheit mit Einschluss derjenigen aus den eben vergangenen Augenblicken, so stehen wir den Gebilden der Aussenwelt mit vollendeter Gleichgültigkeit gegenüber.
Eine Reihe bisher unbeantworteter, nicht hieher gehöriger Fragen ausserhalb der Architektur finden in dieser Erklärung des Schönen ihre natürliche Lösung.


Noch scheint ein Widerspruch mit den Thatsachen in der vorgetragenen Lehre vom Gefühl für die Maassverhältnisse zu stecken. Wenn die Maasse einer neuentstehenden Form damit sie gefällt - keinen Widerspruch darbieten dürfen mit den Gedächtnissbildern älterer Formen derselben Art, wie können dann bestimmte Maassverhältnisse aufhören schön zu sein, wie ist dann die Veränderung möglich, welche die meisten derselben in allen Stilgeschichten durchlaufen? Die Höhe der dorischen Säule hat z. B., nach und nach immer schlanker werdend, alle Werthe von 4 bis 6 ¾ Durchmessern angenommen; in derselben Weise sind die romanischen Thurmdächer, sowie alle Glieder des gothischen Doms fortwährend schlanker geworden, und noch manche Beispiele wären zu nennen. Mussten denn hier nicht immer die neuen Formen die gewohnten Verhältnisse der älteren verletzen, also eine Störung in die Bewegung ihrer Gedächtnissbilder bringen?

Dieser Widerspruch löst sich wie folgt: Die architektonischen Maassverhältnisse bilden eine Tradition wie die Formen selber, und gleich diesen verdanken sie ihre Schönheit dem jeweilig erreichten Zustand dieser Tradition; gleich diesen und aus denselben Ursachen wie diese wandern sie aber auch nicht unverändert durch die Zeiten. Wenn die Ermüdung des Formgefühls sich geltend macht, so dehnt sich die mässige Veränderung und Steigerung, welcher bestimmte Züge der Gebilde unterworfen werden, auch auf die Maassverhältnisse aus; man steigert auch an diesen, »was zuvor am meisten erfreut hatte« ; aber man steigert so mässig, dass das störende Gefühl des Widerspruchs gegen die alten Gedächtnissbilder nur wenig zur Wirkung gelangt. Es entsteht ein Konflikt: Die Ermüdung am Alten treibt zur Veränderung; das Gefühl des Widerspruchs mit dem Alten stellt sich ihr entgegen, und dieser Konflikt wird gelöst, indem beide Kräfte sich gleichmässig geltend machen, d. h. indem geändert wird, aber sehr wenig. Man lässt sich Widerspruch in geringem Maass gefallen, um für Aenderung in geringem Maass Raum zu haben. Was früher von den Formen im Allgemeinen gesagt wurde, das gilt nun auch als besonderer Fall von den Maassen; es sind folgende Worte: »Die Steigerung ist jedoch nicht beliebig und unbeschränkt, sondern sie findet ihre Grenzen im Formgefühl des Entwerfenden selber. Dieses ist nach dem Früheren abhängig von seinem Gedächtnissinhalt und verändert sich mit diesem, kann sich aber ebensowenig als dieser sprungweise ändern. Bei einer zu weit gehenden Umbildung der Formen ginge deren Verwandtschaft mit dem Gedächtnissinhalt verloren, und sie würden dann dem Formgefühl nicht mehr entsprechen. . . . Gedächtnissinhalt und Formgefühl treiben sich gegenseitig voran,… aber keines gestattet dem andern einen grossen Schritt.« (S. Seite 25.)

Hier eröffnet sich abermals ein interessanter Seitenblick auf die Maasse der menschlichen Gestalt. Das Bestreben nach Veränderung findet hier einen Widerstand an der immer gleichbleibenden Maasserzeugung durch die Natur; wo nun der Weg der Veränderung in einer Richtung verlegt ist, nun da muss man sich wohl mit derjenigen in anderen Richtungen begnügen, und solche andere Richtungen finden sich ja im Gewand und Schmuck des menschlichen Körpers. Daher auch hier die immerwährende Veränderung der Formen, insbesondere auch die stätige, aber endlich zu grossen Gegensätzen sich summirende Steigerung und Wiederabnahme der Maasse. Dass aber der Mensch auch die Maassverhältnisse des menschlichen Körpers allmählich verändern würde, wenn er nur könnte, das ist durch viele Thatsachen beweisbar. Würde die Natur den Ansichten der schönen Chinesinnen über die Schönheit des Fusses Folge leisten, so blieben bald nur Stelzen übrig; ebenso müsste die bei bestimmten Indianerstämmen (und in einem Theil von Frankreich) vom frühen Kindesalter an vorgenommene künstliche Verlängerung des Kopfes allmählich zu heute unglaublichen Verhältnissen führen. Bei noch anderen fremden Völkern wären noch andere solche Verschönerungen zu nennen; aber wozu in die Ferne schweifen? Auch bei uns zu Hause steht man ja sehnsüchtig zur Natur um bestimmte Veränderungen ihrer menschlichen Normalmaasse, und hätte die Sphinx kein marmornes Herz, wahrlich, die Wespenschlankheit wäre für unsere Modedame oder den jugendlichen Vertreter des seineren Wehrstandes längst kein blosses Gleichniss mehr*),

*) Das entgegengesetzte Bestreben zur Zeit des Direktoriums in Frankreich ist bekannt.


und die lieben, unendlich zarten Eidechsenhändchen aus unseren Modezeitungen könnten bald im Leben bewundert werden! Unterdess thut man, was man kann, hier im Verkleinern, dort im Vergrössern, und mit seinem Gefühl immer so, dass sich die positiven und negativen Unterschiede gegen das Normalmaass für das Auge summiren. Wie sollten auch die Gedächtnissbilder der wahren Naturgestalt einen kräftigen Einspruch erheben, wo sie nie über die Anfangsstufen hinauskommen!
Nicht nur im Leben, sogar in der bildenden Kunst ist das Bestreben erkennbar, die Maasse des Menschen zu verändern, wenn auch weit weniger als dort. Auch hier sind die Figuren allmählich schlanker geworden wie die dorischen Säulen. Schon Lysippos hat das von Polyklet festgesetzte Höhenmaass gesteigert*);

*) Lysippos nannte zwar den Polykleitos sein Muster und seinen Lehrmeister, verliess jedoch in den Verhältnissen des menschlichen Körpers den von Polykleitos aufgestellten Kanon, »indem er« - dies sind die Worte des Plinius 34, 65 - »die Körper schmächtiger und trockener darstellte, als es die älteren Meister thaten, in der Meinung, dass dadurch die Bildsäulen an Ansehen gewännen. So erlaubte er sich, auf eine neue und ganz eigenthümliche Weise von den untersetzten Gestalten der älteren Meister abzuweichen, und er sagte gewöhnlich, von jenen wären die Menschen dargestellt worden, wie sie seien, von ihm, wie sie zu sein schienen«. Dieser Ausspruch ist nun zwar schwer zu deuten; wenn die Menschen anders zu sein schienen, als sie waren, wie konnte man dann wissen, wie sie waren; Viele übersetzten deshalb willkürlich »von ihm, wie sie sein sollten«. So viel aber ist deutlich, dass Lysippos »auf eine neue und ganz eigenthümliche Weise« die Natur zu übertreffen suchte und daher mit Absicht von den früher aufgestellten Verhältnissen abging. (Nach Dr. J. Küppers, »Der Apoxyomenos des Lysipposa«.)


in der römischen Verfallperiode ging die menschliche Gestalt auf übermässig gedrungene Verhältnisse zurück, um sich im Byzantinischen und Romanischen abermals zu strecken. In der Barockzeit war allmählich ein Ideal der menschlichen Figur entstanden, das von den Naturmaassen hier im Vergrössern, dort im Verkleinern sich sehr weit entfernt hatte; übermässig starke Hüften bei den weiblichen Figuren (wie sie im Leben durch Polster angestrebt wurden), übertriebene Brustbildung bei den Männern, und bei beiden oft lächerlich kleine Köpfe. Die »klassische« Richtung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mähte den Ueberfluss weg, ohne das zu Schwache zu verändern, und so entstand die unglaubliche Gliederfeinheit im Rokokoporzellan und die ätherisch verlängerte Gestalt der Menschheit in der Kleinkunst des Stils Louis seize.

Alles das lässt deutlich erkennen, dass jenes psychologische Gesetz auch in den Maassen der menschlichen Idealgestalt eine Schwankung erzeugt und eine weit grössere Veränderung bald erreicht hätte, wenn nicht die Natur mit dem Schwergewicht ihrer unveränderlichen Mittelmaasse jede Seitenschwankung endlich lahmlegen würde. Im Gebiet der bedeutungslosen Formen fehlt ein solches Schwergewicht, daher hier die endliche Veränderung der Maassverhältnisse so gross.

Eine der bestehenden Lehren über die schönen Maassverhältnisse in der Architektur hat im sogenannten »goldenen Schnitt« ein Verhältniss aufgestellt, das die Schönheit einer Reihe von Bauwerken und anderen Gebilden der Kunst und der Natur mitbegründen soll. Der goldene Schnitt ist die Theilung einer Linie in zwei Theile derart, dass die ganze Länge sich zum grösseren Stück verhält wie dieses zum kleineren. Die Rechnung ergibt das Verhältniss 1618 zu 1000 für beide Stücke oder annähernd 8 zu 5. Man kann nun jedes der beiden Stücke wieder nach dem goldenen Schnitt theilen, überhaupt die Theilung öfters wiederholen, und man wird dadurch eine Theilung der ganzen Strecke erhalten, in welcher ein einziges Gesetz sich oft wiederholt. Zuerst wurde von A. Zeising nachgewiesen (1854), dass die Höhentheilung der Vorderseite des erwachsenen wohlproportionirten menschlichen Körpers, wie sie durch die zumeist ins Auge fallenden Punkte dargestellt ist, einer solchen Theilung entspricht, abgesehen von kleinen Schwankungen nach Geschlecht und Individuum, wie sie in der ganzen Natur gegenüber der geometrischen Regelmässigkeit zu beobachten sind. Später verfolgte Zeising das Gesetz auch an anderen Naturgebilden, am Bau der Thiere, Pflanzen und Krystalle und an den Gebilden der Architektur.

Der goldene Schnitt ist ein geometrisches Gesetz wie die Halbirung, die Dreitheilung, die gerade Linie, der Kreis, die Symmetrie u. s. w., und mag als Wirkung der bauenden Kräfte in der Natur ebensowohl verwirklicht worden sein wie diese anderen Gesetze; aber seinem Werth als herrschendes Gesetz der schönen Proportionalität in der Architektur und Natur stehen schwere Bedenken entgegen.

Vom Standpunkt der oben entwickelten Lehre aus erweckt ein solches zunächst die allmähliche Veränderung, die ein bestimmtes Verhältniss zweier Maasse durch alle Baustilgeschichten hindurch angenommen hat, und wovon diejenige der Höhe der dorischen Säule als Durchlaufen aller Werthe von 4 bis 6 ¾ Durchmessern oben als Beispiel erwähnt ist. Wir nennen nun zwar in diesem Falle 5 ½ Durchmesser das schönste Verhältniss; aber die Zahlen zeigen ja, dass es nicht für alle Zeiten das schönste war, und wenn man nicht wieder auf die in unbekannten Himmelsräumen stehende dorische Idealsäule sich berufen will; wenn man die Anschauung theilt, dass zu allen Zeiten dasselbe Gesetz das Gefühl aus den Vorstellungen ableitet, so kann man hier die Zahl 5 ½ und ebenso in anderen Fällen den goldenen Schnitt als eine absolute Regel schöner Proportionalität nicht gelten lassen. Mit anderen Worten: Die oben vorgetragene Lehre und die Annahme der goldenen Regel als Gesetz aller schönen Proportionalität sind unvereinbare Dinge.

Aber abgesehen von der Berechtigung jener Lehre wird man sich die Frage vorlegen müssen: »Soll der goldene Schnitt das einzige Gesetz sein, mit welchem schöne Maassverhältnisse, d. h. schöne Theilungen in ungleiche Theile zu Stande kommen, oder gibt es noch andere schöne Verhältnisse?« Und hier wird man nothwendig antworten müssen: »Es gibt noch andere!« Denn es macht doch z. B. auch die Rückseite des menschlichen Körpers Anspruch auf schöne Proportionalität, und hier ist gleich der erste Theilpunkt nicht zu finden, überhaupt der goldene Schnitt in keiner Weise nachweisbar. Dürfte denn auch die Gewandung des Körpers diese kostbaren Theilpunkte verhüllen, ohne etwa mit Goldschmuck oder Bandschleifen in irgend welcher diskreten Weise einen Ersatz zu schaffen, wenn sie Bedingung der schönen Proportionalität wären? Sicher ist ferner, dass manche (für uns) schöne Höhentheilung, die an gelungenen Architekturwerken nun vorhanden ist, dadurch verdorben würde, wenn man sie den nächstliegenden Theilpunkten des goldenen Maassstabs anpassen wollte. Bei einer Reihe von schönen Bauwerken gelingt es endlich durchaus nicht, sie mit ihm in Einklang zu bringen, besonders bei solchen der Renaissance, die doch gerade der Stil der schönen Maassverhältnisse sein soll.

Wenn nun aber das goldene Verhältniss nicht überall schön ist, so entfällt ein grosser Theil seiner Bedeutung, denn dass es zuweilen schön ist, das ist bei jedem anderen Verhältniss auch der Fall, also kein grosses Verdienst. Es bleibt als ungelöste Frage, wo es schön ist, und diese Frage ist ebenso schwer zu beantworten als die ursprüngliche, die man auch ohne Wissen vom goldenen Schnitt stellen kann: »Welches Verhältniss ist schön?»

Auch noch in einer anderen Form wird die Lehre ausgesprochen: »Wohlgefällig seien Raumgebilde, wenn ihre Bestandtheile irgendwie die Proportion des goldenen Schnittes verwirklichen;« eine Fassung, welche das Vorhandensein noch anderer schöner Maassverhältnisse nicht bestreitet. Aber dass auch dieser Satz - ohne weitere Erklärung ausgesprochen - unrichtig ist, leuchtet sofort ein; denn wenn am Parthenon die Säule mit dem Stylobat den »Major«, das Gebälk mit dem Giebel den »Minor« der goldenen Theilung darstellt, so wäre diese ja noch ebensogut verwirklicht, wenn das Verhältniss umgedreht würde (wie z. B. am Freiburger Münster der goldene Schnitt mit untenstehendem Minor erscheint), und doch wird Niemand behaupten wollen, dass der Parthenon mit derart gestutzten Säulen oder entsprechend überhöhtem Giebel noch schön wäre. Also müsste der Satz auch in dieser Gestalt noch näher erklärende Zusätze erhalten, die vorläufig als ungelöste Fragen seinen Werth illusorisch machen würden.

Zudem ist der Nachweis der goldenen Regel an den Architekturwerken zuweilen bedenklich genug, indem bald bis zur äusseren Giebelspitze, bald bis zur inneren, bald mit Stylobat, bald ohne, bald mit Kreuzblume, bald ohne solche gemessen wird.


Die andere oben erwähnte Seite der ästhetischen Wirkung der Bauwerke, in welcher noch deutlicher als in den Maassverhältnissen das Gedächtniss von früher Gesehenem zur Geltung gelangt, ist das Stilgefühl.

Es gibt wohl Verwandtschaften zwischen Formen eines Baustils, welche in den Formen selber begründet sind. Im Griechischen z. B. ist die wagrechte und lothrechte Richtung der Flächen und die Geradheit der Kanten, kürzer gesagt, der Anklang an den Würfel, ein solcher Zug innerer Verwandtschaft der meisten Formen, und der Abakus des dorischen Kapitäls ist in dieser Beziehung wohl im Einklang mit dem Stylobat, mit dem Architrav, mit der Deckleiste des Architravs, mit der Triglyphe, mit der Deckleiste der Triglyphe, mit den Anten u. s. f.; ebenso gehört hieher der aufstrebende Charakter, die Verzierung mit Maasswerk, die Herrschaft der schiefen Ebene und die Gemeinschaft des Spitzbogens in den gothischen Kunstformen, die Entlehnung der Pflanzenformen in den ägyptischen Säulen u. s. f. Es lässt sich auch beobachten, dass diese innere Verwandtschaft zwischen vielen Formen eines Baustils im Laufe seiner Entwicklung sich fort und fort steigert und in der Spätperiode den Höhepunkt erreicht, wie am besten die Spätgothik und das Rokoko beweisen können. Dies kommt daher, dass die Umbildungen und Steigerungen des ererbten Formenapparats, welche die Entwicklung des Baustils darstellen , aus einem einzigen erfindenden Formgefühl heraus, nämlich dem eigenthümlichen des betreffenden Volkes, entspringen; die Einheitlichkeit des erfindenden Geistes erzeugt mehr und mehr eine solche der ursprünglich aus fremden Elementen zusammengesetzten Formenwelt.

Aber eben hierin ist ja schon ausgesprochen, dass im Gegensatz zu dieser inneren Verwandtschaft immer auch Formgedanken in einem Baustil zusammengeführt sind, für welche kein innerer Grund vorhanden ist, dass sie in einen Stil zusammengehören. Dass das jonische Kapitäl gerade unter den jonischen Architrav gestellt wird, ist lediglich Sache der Tradition; es scheint uns nothwendig, weil es noch immmer so war und noch nie anders war, und in allen späteren Baustilen ist es noch deutlicher als im griechischen, wie zufällig an verschiedenen Orten entsprungene, ganz verwandtschaftslose Formgedanken in einen Stil zusammengewürfelt werden können. Die deutsche und französische Renaissance sind die stärksten Beispiele dafür.

Was solche Formen zusammenbindet, was es uns widerwärtig erscheinen lässt, wenn eine derselben stilwidrig durch eine fremde Form verdrängt wird, das ist auch hier nur das Zusammenleben im Gedächtniss, die Nothwendigkeit aus der unvermeidlichen Vörstellungsverbindung oder - kürzer gesagt - eine feinere Art von Gewohnheit. Wie uns das Zeichen »a« ein unvermeidlicher Führer zu dem Laut »a«, wie uns die Säule ein wesentlich stützendes Glied geworden ist, weil wir sie immer haben stützen sehen, wie sie uns im Widerspruch mit ihrer Gestalt zu stehen scheint, wenn sie es nicht thut, so verlangen wir das jonische Kapitäl unter dem jonischen Architrav, obgleich das dorische in rein formaler und statischer Beziehung nicht minder berechtigt wäre. Keine andere Nothwendigkeit des Zusammengehörens in einen Baustil ist auch vorhanden zwischen der Kreuzblume und dem gothischen Maasswerk, zwischen dem Sterngewölb und dem steilen Thurmhelm, zwischen der römischen Archivolte und der römisch-korinthischen Säule, zwischen der ägyptischen Pflanzensäule und ihrem Architrav.

Auch die Vorliebe des Einzelnen für bestimmte Baustile beruht auf seinem Gedächtnissinhalt. Was vor unser Auge tritt, muss einen Anschluss finden in unserem Geist, um uns zu interessiren und zu erwärmen, und dieser Anschluss kann nur im Gedächtnissinhalt geboten sein. Indem wir die Formen eines Baustils eingehend studiren und sie im Entwerfen verwerthen, erwärmen wir uns für sie und finden Schönheiten, wo zuvor keine für uns waren, weil Gedächtnissbilder angeregt werden, wo zuvor keine waren. Diejenigen, die uns in der Jugend aufgeschlossen werden, gewinnen den weitesten Raum, die grösste Kraft in unserem Gefühl. Es soll ja nicht bestritten werden, dass eine angeborene, vielleicht von einigen Generationen her auf uns vererbte Anlage sich schon im Aufnehmen und Festhalten der frühesten Bilder als Hinneigung zu bestimmten Formgedanken geltend macht und uns auch bei allen folgenden Erwerbungen noch beeinflusst; aber diese Anlage kann ihre Wirkung nur dadurch ausüben, dass die besonders zusagenden Formen auch wirklich dem Auge sich darbieten. Die letzte Ursache liegt somit doch allein in den aufgenommenen und festgehaltenen Bildern, besonders in denen, die uns erscheinen, so lange unser Formgedächtniss noch ein leeres Buch ist; sie wirken in einer nicht hoch genug anzuschlagenden Weise auf die Richtung unseres Formgefühls ein.

Trotz der Herrschaft ererbter Neigungen ist Niemand für irgend einen Baustil prädestinirt. Wir sehen noch immer Gothiker und Anhänger der Renaissance ihr architektonisches Glaubensbekenntniss mit grosser Ueberzeugung und scharfsinnigen Gründen, zuweilen auch mit unglaublich sorglosen Gefühlsäusserungen verfechten; aber noch hat man es nicht erlebt, dass Jemand durch das frühe Studium der Gothik eine Vorliebe für die Renaissance gewonnen hätte oder in der fortschreitenden Kenntniss der hellenischen Architektur ein Gothiker geworden wäre. Wohl kann man auch noch im reiferen Lebensalter aus der Formenwelt eines neustudirten Baustils ein hohes Wohlgefallen schöpfen; doch werden dadurch kaum jemals die Formgedanken der Jugend aus der ersten Stelle verdrängt.


Schon mehrfach wurde ausgesprochen, dass Schinkel keine Empfänglichkeit für die Schönheit der Gothik und Deutschrenaissance gehabt habe, und es ist hierin wohl das allgemeine Urtheil unserer Zeit niedergelegt. Wir fühlen etwas, was Schinkel denselben F ormen gegenüber nicht gefühlt, »also hat ihm hier das richtige Gefühl gefehlt«.
Diese kleine Thatsache ist ein hübscher Beleg dafür, wie unvermeidlich »das einstimmige Urtheil der Glieder eines Kreises von ihnen für Erkenntniss gehalten wird«. Anstatt einen Widerspruch darin zu entdecken, dass wir das feine Gefühl eines Meisters hoch erheben und doch zu gleicher Zeit behaupten, er habe nicht in Allem so richtig gefühlt als wir, anstatt nachzuforschen, was wir denn hier für die Ueberlegenheit unseres Gefühls gegenüber demjenigen Schinkel's ins Feld stellen könnten, entscheiden wir unbewusst nach dem Faustrecht des Daseins: »Der Lebende hat Recht.«


Einen Chinesen sah ich in Rom; die gesammten Gebäude
Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer.
Ach! so seufzt' er, die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen,
Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt,
Dass an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung
Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut.
Siehe, da glaubt' ich im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen,
Der sein luftig Gespinnst mit der soliden Natur
Ewigem Teppich vergleicht, den echten, reinen Gesunden
Krank nennt, dass ja nur er heisse, der Kranke, gesund.


Wer weiss, ob der Geist Schinkel's nicht stumm auf diesen Chinesen hinweisen würde, als einzige Antwort auf den Vorwurf unserer Zeit, er habe kein Verständniss für die Deutschrenaissance gehabt. Seine Zeit hielt sich für ebenso sicher in der Verwerfung jenes »unorganischen Schnörkelwerks«, jener übertrieben geschwellten Säulen und Pilaster, als die unsrige in deren »Verständniss«.

Aber hat nicht auch Goethe, ohne es zu wissen, den psychologischen Irrthum getheilt, den er in jenem Chinesen so vortrefflich gezeichnet, nämlich sein eigenes Formgefühl für eine Erkenntniss zu halten? Ist nicht sein Gedicht ein zweischneidiges Schwert? Könnte nicht der Hofpoet von Peking rnit gleichem Beifall seiner Nation auch vom Europäer singen:


Die gesammten Gebäude
Alter und neuerer Zeit schienen ihm gänzlich verrückt.
O ! so lacht er, die Narren, sie können es freilich nicht fassen,
Wie Pilaster von Stein tragen ein römisch' Gebälk.


Stehen wir nicht vielleicht gegenüber dem chinesischen Porzellanthurm- und Glöckchenstil oder dem indischen Pagodenstil in einem ganz ähnlichen Verhältniss wie Schinkel gegenüber der Deutschrenaissance? Haben wir nicht vielleicht eben noch »kein Verständniss« für jene fremden Schönheiten? So viel ist sicher, dass es etwas gibt, was uns die Gothik und die Deutschrenaissance und dem Indier und Chinesen seinen Pagodenstil schöner macht; es ist eben das Stilgefühl. Dieser mächtige Faktor des Schönen fehlt, wenn man einer fremden, wenn auch in sich konsequenten Formenwelt zum ersten Male gegenübertritt; er wird erst nach und nach erworben.

Uebrigens, man weiss ja nie, womit man einst aufhören wird; die Geschichte der Architektur ist noch nicht aus. Wir sind ja eben im Begriff, es zu beweisen, im besten Zug, jenen fremden Schönheiten auch eine Stätte in unserem Gedächtniss zu bereiten. Schon drängt das Formgefühl im beginnenden Ungenügen am Europäischen nach Japan, nach China, wenn auch bei uns vorerst nur im Salon, im Kunstgewerbe; bald werden wir vielleicht auch in der Architektur stilvoll finden, was vorläufig nur barock ist, und es sieht sehr danach. aus, als ob bald auch der Geist jenes Chinesen in Rom nur noch eine stumme Antwort auf Goethes Epigramm nöthig haben werde, hinweisend auf die fleissige Nachahmung und gerechte Würdigung, die Europa der Kunst seines Vaterlandes widerfahren lässt.

Der Ankündigung eines schätzenswerthen kunstgewerblichen Prachtwerks sind folgende Sätze entnommen: Vor einigen Jahren noch wurden die Kunstprodukte Japans vom grossen Publikum zwar als eigenartige Kuriositäten geschätzt; aber erst in neuerer Zeit ist der bedeutende Kunstwerth dieser Erzeugnisse allgemeiner erkannt und gewürdigt worden. In den grossen Städten der Vereinigten Staaten von Nordamerika hatten die Schaustücke der japanischen Industrie schon im vorigen Jahrzehnt ein solches Ansehen gewonnen, dass es dort zur Kennzeichnung jedes feinen Salons gehörte, einige japanische Originalstücke aufzuweisen. . . . So wurde denn der japanische Geschmack zur Mode, und das Interesse für die anfänglich nur „seltsam“ erscheinenden Schöpfungen der japanischen Kunst und Industrie wurde in raschem Fortschreiten auch in Deutschland ein allgemeines. Man begriff allmählich die gewaltige künstlerische Kraft, die unabhängige eigenartige Erfindung, welche den japanischen Erzeugnissen einen so grossen Reiz geben; man lernte allmählich, sich über die Schwächen jener bildlichen Darstellungen (den Mangel an Perspektive und die Unfähigkeit, die menschliche Figur in idealen Gestalten wiederzugeben) hinwegzusetzen; man gewann gleichzeitig das Verständniss für die erstaunliche Naturtreue und seine Beobachtung, welche uns in den Darstellungen aus der Thier- und Pflanzenwelt entgegentritt; man bewunderte die originelle Ornamentik, welche - unberührt von dem Einfluss fremder Stilarten - eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit zur Schau trägt.«

»Man begriff allmählich . . .« - «man lernte allmählich . . .« - »man gewann gleichzeitig das Verständniss . . .« - »man bewunderte . . .«. - In dieser Stufenreihe ist von dem (ungenannten) Verfasser jener Sätze ein treffendes Bild vom Werden des Stilgefühls gezeichnet.


Es mag für manchen Leser etwas Erkältendes haben, alle Schönheit der Sinnenwelt als entsprungen aus einem günstigen Zusammenwirken an sich gleichgültiger Vorstellungen, insbesondere diejenige der Architektur als das veränderliche Erzeugniss der Geometrie und der früheren Sinneseindrücke des Einzelnen zu erkennen. Ist nach vorstehender Erklärung die lebendige Sprache unseres Gefühls nicht eine Täuschung, mit welcher wir in Folge der Vorgänge in unserer Seele einen Vorzug in bestimmte Dinge der Aussenwelt verlegen, der ihnen nicht zukommt und den Andere nicht nothwendig auch in ihnen erblicken müssen, eine Illusion, die eine bestimmte Form einem jeden anderen Menschen und anderen Geschlecht wieder anders erscheinen und keines die Wahrheit sehen lässt? Wo bleibt nach diesem Allen die Würde des Schönen als eines beglückenden Begleiters im Leben, und wo bleibt zunächst in der Architektur noch ein Halt und ein Recht im Urtheil? Ist mit Aufstellung jener Thatsachen nicht die vollendete Meinungslosigkeit als der einzig berechtigte Standpunkt gegenüber dem architektonischen Schönen proklamirt?

Die Antwort auf diesen letzten Vorwurf ist zu trennen, indem sie einerseits den Genuss des Schönen, andererseits das Urtheil darüber betrifft.

In der ersten Richtung ist nicht einzusehen, wie das Wissen von der Entstehungsweise unserer Freude uns im mindesten die Freude verderben sollte. Ein Anderes ist das Gefühl gegenüber den Architekturformen, ein Anderes das Nachdenken über dieses Gefühl. Ob uns eine Form erfreut oder nicht, das ist eine Frage für sich und ganz unabhängig von unseren Gedanken über das Wesen der Schönheit. Wir geniessen in unserem Gefühl immer dieselben Früchte unserer Gedächtnissbilder und der Organisation des menschlichen Geistes, welches auch unsere Anschauung in dieser Richtung sein mag; wir können ja über unser Gefallen und Missfallen, über unsere Phantasie und unser Erfinden nicht selber bestimmen, sondern erleiden diese Seelenzustände widerstandslos wie das Wetter, gleichviel ob wir unser Gefühl für das »richtige« halten oder für das Resultat der zufällig in uns vereinigten früheren Eindrücke, gleichviel ob wir über die Schwankungen des Gefühls so oder anders denken oder gar nicht denken, gleichviel ob wir uns belehren lassen durch die Baugeschichte mit ihrem immer veränderten Formgefühl und ruhelosen Streben nach immer neuen Formen und durch alle anderen Thatsachen der Erfahrung, oder ob wir als erschrockene Rechenmeister das Resultat der Wahrscheinlichkeitsrechnung korrigiren nach unserem Gefühl des Augenblicks.

Zu erfreuen, ist der Zweck des Schönen; dass es auch beurtheilt werden muss, ist zwar nothwendig aus manchen Gründen; nicht nur für sich allein oder für die Nachwelt, sondern den Mitlebenden zum Genuss will der Künstler schaffen, und ohne Aeusserung ihres Gefallens oder Tadels ist es unmöglich, dass er diesen Zweck erreicht; aber die Kritik soll doch nur Hülfsmittel sein, um das Schöne als Ursache der Freude hervorzurufen und zu fördern, und von diesem Standpunkt aus ist es ganz überflüssig, dass irgend ein Urtheil darüber das einzig »richtige« sei; von diesem Standpunkt aus erscheinen auch nur günstige Folgerungen aus den oben entwickelten Thatsachen.

Sie verkünden zwar in der That, dass eine gerechte, objektive, allgemeingültige Beurtheilung der reinen Form nicht denkbar ist; jede vergleichende Kritik eines Architekturwerks trifft einen Faktor, der nicht kritisirt, nicht mit dem entsprechenden Faktor in einem anderen Werk verglichen werden kann. Aber sie trifft nur einen solchen Faktor; in einer überwiegenden Zahl von anderen Richtungen ist vergleichende Bewerthung möglich, nämlich in Beziehung auf die praktische Brauchbarkeit eines Entwurfs, auf die in einem späteren Abschnitt zu definirende Wahrheit seiner Architektur und auf die ungestörte »sichtbare Harmonie« seiner Formen, d. h. auf die Wahl derselben als glücklicher Kombinationen geometrischer Formgesetze. Obgleich einBestandtheil der reinen Form, ist diese Harmonie in einer Form doch für alle Augen dieselbe. Der einzige Zug, der ein objektives Urtheil nicht finden kann, ist die erreichte Verwandtschaft mit den Gedächtnissbildern des Einzelnen, insbesondere die Wahl der Maassverhältnisse und der erreichte Grad des erweckten Stilgefühls.

Aber selbst in dieser Beziehung schliessen die oben entwickelten Thatsachen ein Unheil nicht aus, sobald ein solches nicht als allgemeingültig, nicht als unumstösslich für alle Zeiten und Völker gelten will. Jeder Kreis von Personen hat das Recht, zu sagen: »Wir wollen urtheilen als Kinder unserer Zeit und unseres Landes obwohl wir wissen, dass das Urtheil anderer Zeiten und anderer Länder ein anderes wäre. Nur so werden wir unserer Zeit und unserem Lande gerecht; nur so können wir überhaupt urtheilen!« Von diesem Standpunkt aus erscheint die Unsicherheit des Urtheils auch über die reine Form schon wesentlich vermindert. Der Gedächtnissinhalt ist zwar in verschiedenen Personen verschieden, aber wie früher ausgeführt, wird die Uebereinstimmung um so grösser, je enger der Kreis, dem sie angehören. Manches im Gedächtnissinhalt ist schon allen Menschen gemeinschaftlich, mehr noch den Europäern unseres Jahrhunderts, mehr noch den Deutschen unseres Jahrzehnts. So weit aber diese Uebereinstimmung reicht, so weit ist eine gemeinsame geistige Organisation und Wirkung der Gedächtnissbilder ebensogut vorhanden, wie sie bei der ganzen Menschheit gegenüber den geometrischen Formgesetzen vorhanden ist, und das Urtheil, das aus ihr hervorgeht, hat innerhalb des gezogenen Kreises und seiner Zeit denselben Anspruch auf Gültigkeit wie dasjenige über die sichtbare Harmonie.

Alle, die z. B. den Werken des Alterthums und der Renaissance ein umfassendes Studium widmen erreichen in Beziehung auf diese Werke eine Uebereinstimmung der Gedächtnissbilder bis zu einem gewissen Grad, und man kann dann sagen, dass dieser Uebereinstimmung gewisse Grenzen der Maassverhältnisse entsprechen, über die hinauszugehen Niemand ein Recht hat, der einen solchen Baustil wählt, wenn er nicht mit vollem Recht den Vorwurf der Verletzung des Schönen erleiden will. Ja man kann hier sogar, da die Werke der Vergangenheit einen abgeschlossenen Kreis bilden, von einem gemeinsamen Ziel reden, welchem der Gedächtnissinhalt und mit ihm das Formgefühl in den verschiedenen Geistern zustrebt, indem er immer reicher wird. Wer am meisten von jenen Bauwerken gesehen und im Gedächtniss behalten, hat, ist diesem Ziel am nächsten; - »wer am meisten gelernt hat, ist am meisten Kenner« ; - »man kann kein „Verständnis“ haben, ohne etwas gelernt zu haben; - »es fällt kein Gelehrter vom Himmel«; - »ein feines Gefühl wird nicht angeboren, sondern erworben«; - »wo das Gedächtniss am reichsten, da ist das Recht zum Urtheil am grössten; wo das Gedächtniss an Bildern arm ist, da schweigt man am besten«; diese und ähnliche heilsame und längst bekannte Sätze sind die Folgerungen, die aus jener Lehre in Beziehung auf das Unheil über die reine Form hervorgehen; das heisst doch gewiss nicht die Meinungslosigkeit proklamiren!

Jedem Werk wird jeder in dieser Weise definirte Kenner sofort ansehen, ob es aus einem reichen Schatz von Gedächtnissbildern hervorgegangen ist oder ob die geistige Grundlage seines Werdens eine dürftige war. Der Unterschied zwischen bedeutenden und unbedeutenden Werken wird nicht im mindesten verwischt. Es ist nur ein bestimmtes letztes Etwas, auf welches sich das Unheil nicht ausdehnen darf, wenn es nicht unberechtigte Privatansprüche an das Kunstwerk gestellt oder die Erfüllung von fremden Ansprüchen in selbstsüchtiger Weise angegriffen haben will; erst hier fängt die Toleranz an, welche jene Lehre gebietet. Es gibt ja Beurtheiler, die nichts für berechtigt halten, als was sie selber für schön finden; für diese kann es nur zuträglich sein, wenn sie die Grundlagen ihrer Unfehlbarkeit ein wenig kennen lernen*).

*) So fällt z. B. der Engländer J. Fergusson, Verfasser einer »Geschichte der Architektur in allen Ländern«, über den Kölner Dom her, dessen Maasse ganz verfehlt seien; das Langhaus sei viel zu kurz; zum mindesten hätte bei dieser geringen Länge das Querhaus wegbleiben müssen; ein »wahre« Architekt hätte auch die Thürme um mindestens ein Drittel niedriger gemacht; selbst die Westfassade nennt er mehr das Werk eines tüchtigen Maurers als eines wirklichen Künstlers. -- Es ist deutlich: er ist die langgestreckten englischen Kathedralen mit den niedrigen Thürmen der Westfront gewöhnt, wie etwa diejenige von Lichfield; nun passen ihm die entschieden anderen, konzentrirten Kölner Verhältnisse nicht, und mit blindem Selbstgefühl verwirft er dann diese anderen Verhältnisse als gefühllos erfunden. In gleicher Weise urtheilt er über alle andere deutsche Architektur, nicht immer nur nach seinem englischen Maassgefühl, sondern oft auch mit Gift und Galle. Gibt es hierauf eine andere Antwort, als psychologisch die Ursachen festzustellen, aus denen jedem Narren seine Kappe gefällt?


Den meisten Anderen wird aber auch diese Folgerung aus der Lehre vom Gedächtnissbild nichts Neues verkünden; sie werden das gewisse letzte Etwas längst geahnt und geachtet haben, das ihnen verbietet, ihr Gefühl bis ins Kleinste hinaus als das allein richtige Urtheil zu betrachten.

Dass an einem architektonischen Entwurf die Formschönheit eine vollständige vergleichende Bewerthung nicht erfahren kann, ist übrigens noch das kleinere Uebel gegenüber dem unmittelbar einleuchtenden, dass es unmöglich ist, Formschönheit und Zweckmässigkeit und Wahrheit in allgemeingültiger Weise gegen einander abzuwägen, und dass trotzdem ein solches Abwägen in hundert Fällen, z. B. bei allen architektonischen Konkurrenzen, stattfinden muss. Man kann kaum ein grösseres Gefühl von Unsicherheit haben, als wenn man einen zweckmässigen Entwurf von geringerer formaler Schönheit und einen äusserlich schönen, aber minder zweckmässigen einer vergleichenden Bewerthung zu unterwerfen hat - es ist wie ein Abwägen zwischen Kuh und Adler -, und gegenüber dieser Unsicherheit ist diejenige aüs der subjektiven Verschiedenheit des Urtheils über die formale Schönheit eher die kleinere.
So hat also die vorgetragene Lehre vom Wesen des architektonischen Schönen durchaus nicht die tiefeinschneidenden, auflösenden Folgerungen für dessen Beurtheilung, die man auf den ersten Blick erwarten könnte, sondern im Gegentheil sehr heilsame. Sie weist das Unberechtigte mit Gründen zurück, das bisher dem Gefühl nach zurückgewiesen wurde; sie begründet überhaupt in mancher Richtung, was das unverwöhnte Gefühl bisher ohne Wissen von seinen Ursachen gesprochen hat, und es wäre ihre ernste Prüfung gewiss manchem künstlerischen Kreis zu empfehlen, den Einen zur Mässigung, den Anderen zur Tröstung.

Dass sie dem Schönen den Charakter einer Illusion des Einzelnen anheftet, ist nicht zu bestreiten; aber das ist die nothwendige Folgerung aus einer Lehre, welche Philosophie und Naturwissenschaft unabhängig von einander abgeleitet haben, nämlich aus der Lehre, dass unsere Sinneseindrücke uns nicht die Raumewelt selber (das Ding an sich) zeigen, sondern nur eine Wirkung der Raumwelt auf uns enthalten. Wenn die Welt im Raum nicht Farbe, Licht, Schall und Wärme, sondern nur Bewegung ist, so fängt der Charakter der Illusion nicht erst beim Schönen an, sondern er umfasst all' unser Vorstellen und Fühlen, und es ist kein Vorwurf gegen die vorgetragene Erklärung, dass sie in diesem Sinn die Schönheit zu einer Illusion des Einzelnen macht.

Die andere Anklage aber, dass sie die Würde des Schönen als eines beglückenden Begleiters im Leben gefährde, wäre entschieden zurückzuweisen. Nichts an dieser Erklärung verbietet, die Schönheit nach wie vor als ein Werkzeug in der erfreuenden und erziehenden Hand der Vorsehung zu erkennen; vielmehr weist die Thatsache, dass eine hochgesteigerte und von allen Störungen gereinigte Vorstellungsthätigkeit mit einem Reiz für den Menschen ausgestattet worden ist, gerade auf einen Plan der Vorsehung hin. Das Lustgefühl im Genuss des Schönen erscheint nach dieser Thatsache als die Kraft, die den menschlichen Geist zu einer für ihn günstigen Thätigkeit hintreiben soll, als das Hülfsmittel der Vorsehung zu seiner Erhaltung und Veredlung. Wie sollte auch die Schönheit an Würde verlieren, wenn sie aus einem Wunder der Aussenwelt zu einem Wunder des Geistes wird!

Aber selbst wenn es der Fall wäre, so dürfte doch erst in zweiter Linie in Frage kommen, ob das Schöne durch die Erkenntniss seines Wesens im Unheil der Menschen höher geachtet wird oder nicht, ob seine Erzeugung dadurch gefördert wird oder nicht. Die Erkenntniss der Wahrheit ist ein an sich berechtigtes Ziel, und in der Wissenschaft ein so hohes Ziel, dass man bei seiner Verfolgung nicht darum sorgen muss, ob auch andere theure Interessen ihre Rechnung dabei finden. Stellt man solche voran, so handelt man wie der Rechner, der schon vor dem Rechnen weiss, was nicht herauskommen darf, und die Rechnung danach einrichtet. Die Aufgabe der Aesthetik ist das Aufsuchen und Begründen des psychologischen Gesetzes, wodurch das Gefühl des Schönen zu Stande kommt, und das Aufzeigen der Einzelerscheinungen, welche das Wirken dieses Gesetzes in den verschiedenen Reichen des Schönen annimmt; neben diesem Ziel ist es unwesentlich, ob das Gefühl Einzelner durch die gefundene Wahrheit verletzt wird oder nicht. Will die Aesthetik wirklich eine Wissenschaft des Schönen sein, so darf es ihr keinen Kummer machen, wenn man sie nicht schön findet.



Was ist Wahrheit in der Architektur?

Ein Vortrag

Meine Herren!

Zu allen Zeiten eines lebhaften Schaffens in der Architektur macht sich ein Bestreben bemerkbar, die Aufgabe des entwerfenden Baumeisters aus einer Arbeit des unbewusst schaffenden Gefühls so viel wie möglich in eine solche der bewussten Erkenntniss umzuwandeln, mit anderen Worten, die Ursachen, auf denen für das reife Kunstunheil das Wohlgefallen an schönen Bauwerken oder Entwürfen beruht, in diesen Werken selber aufzufinden. Als eines dieser Gesetze des wahrhaft Schönen wird oft in unseren Tagen - leider zumeist ohne nähere Erklärung des unbestimmten Ausdrucks - die »Wahrheit« bezeichnet.

»Die Architektur soll wahr sein«; dieser Satz wird als eine beim Entwerfen in erster Linie zu befolgende Lehre, als die Bedingung einer »gesundem Fortentwicklung der Architektur hingestellt. »Wir sollen« - um den Wortlaut einer bezüglichen Aeusserung der jüngsten Fachlitteratur zu gebrauchen -»an diesem Prinzip, wie an dem der Zweckmässigkeit und Schönheit unverrückt festhalten, utn mit vereinter Kraft zu einer eigenen Kunst unserer Zeit und damit aus dem Bereich des Eklektizismus und der Mode zu gelangen.« Dazu aber sei »vor allem nöthig, dass der herrschenden Begriffsverwirrung über das, was gut und nicht gut, was wahr und unwahr, was schön und unschön ist, ein Ende gemacht werde«.

Zu der Frage, worin die Wahrheit der Architektur besteht und nicht besteht, und welchen Werth sie als Bestandtheil des ästhetischen Eindrucks darstellt, möchte ich heute einen Beitrag leisten.


I.
Die erste Seite dieser Wahrheit betrifft die Komposition, das Entwerfen im grossen und ganzen, und es wird hier darunter verstanden, dass das Aeussere der Gebäude der treue Ausdruck des Inneren sei.

Hiernach soll ein Gebäude die wesentlichen Züge seiner Grundrissanlage im Aeusseren zur Erscheinung bringen; insbesondere sollen die Haupträume nach Gestalt und Lage als formgebende Faktoren für die Gesammterscheinung des Bauwerks verwerthet sein, d. h, im Aeusseren sich klar aussprechen und bedeutend ankündigen.

Das Vor- und Zurücktreten der Gebäudetheile, die Anordnung von Aufbauten aller Art, die über das Dach hinauf reichen, und die Eintheilung der Fensterachsen soll der Lage der inneren Scheidewände angemessen sein. Es ist anzuerkennen, wenn bedeutende Trennungen der Raumgruppen des Inneren auch im Aeusseren zum Ausdruck gelangen. Blinde Fenster, hinter denen im Inneren eine Scheidewand an die Aussenmauer anschliesst, sind Unwahrheiten von der gröbsten Sorte, ebenso eine vortretende Mauerecke mit Verkröpfung der Gesimse im Aeusseren, der im Inneren keine Scheidewand oder andere natürliche Trennung des Raumes entspricht, endlich ein Thurm, ein höher geführter Gebäudetheil oder ein Kuppelaufbau, der im Inneren keine Unterstützung seines Umfangs durch Mauern oder konzentrische Wölbungen findet, sondern ganz oder theilweise im Hohlen sitzt, überhaupt im Grundriss nicht begründet ist. Eine minder verletzende Unwahrheit ist es, die Fenster zur Erzielung bedeutender Dimensionen der Kunstformen durch zwei oder drei Geschosse durchzuführen, so dass die innere Deckenkonstruktion die Lichtöffnungen durchschneidet und mit Holztheilen maskirt werden muss.

Es sollen keine müssigen, für den Zweck des Bauwerks entbehrlichen Räume beigezogen werden, nur um Ziermotive des Aeusseren, als offene Säulenhallen, Bogenhallen, Veranden, Thürme, Kuppeln, umrissbildende Aufbauten u. s. w., zu erhalten. Wir wollen auch, wenigstens unserem ästhetischen Bekenntniss nach, keine Fassaden mehr, die nur blosse Schaustücke sind und mit dem Durchschnitt der von ihnen verdeckten Räume weder Umriss noch Höhentheilung, sondern höchstens die Achsen der Lichtöffnungen gemein haben, wie es bei vielen Kirchenfassaden der Renaissance der Fall ist, und wenn wir bei unseren Wohnhäusern uns doch in ähnlicher Weise vergehen, indem wir die Fassade als reichgeschmückte Steinwand ohne jede architektonische Verbindung mit den kahlen Backsteinseitenmauern der Raumgruppe vorstellen, so geschieht dies eingestandenermassen nicht aus ästhetischen Gründen.

Der Formenaufwand der Aussenarchitektur soll sich abstufen nach dem Rang der Bauwerke, und am einzelnen Bauwerk nach dem Rang der Gebäudeflügel, Geschosse und Einzelräume. Bedeutende Innenräume sollen im Aeusseren durch bedeutende und reichere Architekturformen ihren Ausdruck finden, und untergeordnete Geschosse oder Einzelräume durch zurückhaltenden Schmuck sich von jenen unterscheiden. Ein häufiger Fehler in dieser Richtung ist die Auszeichnung eines, Gebäudetheils durch eine reiche und grossartige Aussenarchitektur, etwa der Symmetrie der Fassade oder der Lage in der Mittelpartie zuliebe, wenn dieser Gebäudetheil im Inneren nicht mehr Bedeutung hat als das Uebrige oder sogar Räume für untergeordnete Zwecke einschliesst.

Aber nicht nur nach dem Grad ihres Reichthums sollen die für das Aeussere gewählten Architekturformen im Einklang stehen mit dem Rang und der Bestimmung der Bauwerke. Durch die Tradition hat sich im Kreis der architektonischen Schmuckformen eine Abstufung herausgebildet, wonach die einen mehr für den Monumentalbau, andere für den Wohnhausbau, wieder andere für Gebäude zu Zwecken des werkthätigen Lebens geeignet sind. Die von Alters hergebrachten Schmuckformen sind im allgemeinen die vornehmeren. Es ist zwar lediglich die einmal angewöhnte Ideenverbindung, das leichte und endlich unvermeidliche Fortschreiten von einer Vorstellung zur anderen, was den Schmuckformen diese Verschiedenheit des Charakters verleiht, d. h. es ist nur das Vorkommen an vornehmen Bauwerken der Vergangenheit, was bestimmte Bauformen zu vornehmen gemacht hat, und andererseits die Verwerthung anderer, meist wohlfeil herzustellender Formen an bescheidenen Gebäuden, was diesen anderen Formen den Charakter der Gewöhnlichkeit verleiht; im Grad der formalen Schönheit ist dieser Unterschied nicht begründet. Aber nachdem einmal eine solche Abstufung des Ranges der Formen besteht, empfinden wir es als einen Widerspruch, wenn er nicht beachtet wird; und so verlangen wir als Wahrheit der Architektur, dass jene vornehmen Formen nicht an Gebäuden für gewöhnliche Zwecke erscheinen und dass die minderwerthigen, vergangenheitslosen den monumentalen Bauwerken fern bleiben. Ein griechischer Säulenraum vor einem Salzmagazin ist hiernach Unwahrheit, obwohl der Zweck einen bedeckten offenen Vorplatz als Laderaum wohl rechtfertigt; gothisches Maasswerk in den Fenstern einer Markthalle verletzt das Gefühl für die Wahrheit, obgleich die Grösse der Fenster hier eine Theilung der Fläche durch Steinstäbe nicht minder rechtfertigt als bei der Kirche; Konsolenreihen oder Stromschichten aus gewöhnlichen Backsteinen oder Dachgesimse mit sichtbaren profilirten Sparrenköpfen und ausgesägten Brettfriesen scheinen uns ein Widerspruch, wenn sie etwa an einem Gerichtsgebäude oder an einem fürstlichen Residenzschloss auf treten, obgleich kein innerer Grund gegen ihr Auftreten an diesen Bauwerken beizubringen ist.

Diese Macht der Gewohnheit geht sogar noch weiter. Die vorwiegende Verwendung sowohl bestimmter Baustile als bestimmter Fassadenmotive und Einzelschmuckformen an bestimmten Gattungen von Bauwerken hat es erreicht, dass uns diese Hülfsmittel der Erscheinung ebenfalls nothwendig zu den betreffenden Gebäudegattungen zu gehören scheinen und gleichsam deren Charakter angenommen haben, so dass es uns wie eine Störung der Wahrheit oder zum mindesten fremdartig vorkommt, wenn ein solcher Stil oder ein solches Fassadenmotiv oder eine solche Einzelschmuckform an einem Gebäude auftritt, das diesem Charakter widerspricht. So gibt es kirchliche und weltliche Baustile, kirchliche und festliche Motive und Schmuckformen, ebenso andere, die am Wohngebäude, andere, die am Gebäude für kriegerische Zwecke, andere, die an Industrie- und landwirthschaftlichen Bauten eingebürgert sind. Obgleich auch nur Verletzung der Gewohnheit, ist es uns zugleich mehr oder minder schwere Verletzung der Wahrheit der Architektur, wenn solche Motive, solche Schmuckformen irgendwo erscheinen, wo sie dem Gebrauch nach nicht hingehören. Freilich muss zugestanden werden, dass in dieser Richtung ein An- und Abgewöhnen möglich ist und dass die Vergangenheit manchen solchen Baustilen, Fassadenmotiven und Schmuckformen gegenüber anders gefühlt hat als wir.

Es lässt sich leicht erklären, worin die Verletzung des ästhetischen Gefühls besteht, wenn die Wahrheit verletzt wird. Die Bewegung der gleichzeitig in der Seele thätigen Vorstellungen ist gestört, und zwar wie bei der gestörten Schönheit der Maassverhältnisse oder Stilverwandtschaft durch einen Widerspruch; zwei Vorstellungen sollen gleichzeitig vom Bewusstsein erfasst werden, die neben einander nicht bestehen können; die angewöhnte Vorstellungsverbindung ruft die eine dieser Vorstellungen, der Sinneseindruck die andere ins Bewusstsein (vergl. zweiter Abschnitt, Seite 67). Dabei ist zu beobachten, dass das Gefühl des gestörten Schönen, wenn der Widerspruch sehr stark wird und leicht in die Augen springt, allmählich übergeht in das des Komischen, so dass der Widerspruch zum Witz werden kann. Dies z. B. wenn ein reiches, prächtiges Rokokoboudoir sich im Aeusseren als Blockhaus darbietet oder das Modell einer Ritterburg als Kaninchenstall verwerthet ist; auch unfreiwillige Komik dieser Art ist in der Architektur nicht selten (vergl. Seite 69).

In allen erwähnten Richtungen erscheint das Verlangen nach Wahrheit als ein klar ausgesprochenes, wenn auch oft schwer zu erfüllendes Schönheitsgesetz der architektonischen Komposition. Das Streben nach dieser Einheit des Gedankens im Inneren und Aeusseren, nach diesem ursächlich-nothwendigen Verhältniss zwischen dem Rang der Räume und ihrer äusseren Gestalt ist ein Streben nach dem Aechten, und es geht dieses Streben Hand in Hand mit demjenigen nach dem Charakter, der dem Bauwerk angemessen ist, nach dem Ausdruck seines Wesens und seiner Bestimmung durch seine äussere Erscheinung. Indem ein Entwurf die erwähnten Bedingungen der Wahrheit achtet, gestaltet er das Aeussere zum treuen Ausdruck des Inneren; er schreibt dadurch dem Bauwerk seine Bestimmung auf die Stirne und verleiht ihm den Charakter, der ihm zukommt, sei es monumentaler Ernst oder festliche Heiterkeit oder fürstliche Pracht oder kriegerischer Stolz oder einladende Wohnlichkeit oder der Eindruck des hellen bequemen Arbeitsraums oder derjenige der sicheren Bergung verwahrter Güter u. s. f. Mit all jenen Zügen der Wahrheit erfüllt sich der Satz: »Des Körpers Form ist seines Wesens Spiegel.«

So werthvoll nun aber diese Wahrheit als Gesetz der Schönheit ist, so deutlich man ihren Vorschriften gegenüber wissen kann, worauf man hinzuarbeiten hat, so steht man beim Entwerfen doch bälder oder später vor der Frage, welchen Werth dieses Schönheitsgesetz der Komposition anderen Anforderungen gegenüber darbietet. Fast immer findet sich die Forderung nach einer durchgeführten inneren Einheit der Idee des baulichen Organismus grossen Schwierigkeiten gegenübergestellt, die aus der Forderung nach Zweckmässigkeit und formaler Schönheit erwachsen. Man hört zwar oft die Ansicht, dass die Stärke des Entwerfenden sich eben darin zeigen könne und solle, durch Erfindung geeigneter Motive für den Grundriss und die Gestaltung des Aeusseren den drei Anforderungen nach Zweckmässigkeit, nach schönen Formen und Verhältnissen, sowie nach Wahrheit der Komposition zugleich zu genügen; und im allgemeinen ist diese Forderung gewiss berechtigt. Die Zahl der möglichen Kombinationen ist meistens so gross, dass man unter ihnen einen Ausweg zur Verbesserung noch unbefriedigender Seiten des Entwurfs finden kann, wenn die Zeit zum Suchen nicht zu kostbar ist, und durch Zurückgehen auf etwas andere Annahmen in ganz untergeordneten Richtungen kann man sich immer wieder neue Möglichkeiten eröffnen. Einem unabänderlich gegebenen Bauprogramm gegenüber treten aber auch Fälle ein, wo eine nach allen Seiten genügende Kombination nur durch Aenderung aller Grundlagen eines Entwurfs zu erhalten wäre und in welchen - das Erreichen jener äussersten Wahrheit des Baugedankens, wenn nicht als unmöglich, doch als unverhältnissmässig theuer und dazu als höchst undankbar nachgewiesen werden kann.

Als Beispiel hierfür möge die letzte Konkurrenz zum Reichstagshaus und die weitere Bearbeitung des erstprämiirten Entwurfs gelten. Dabei verlangte zunächst der Hauptraum, der Sitzungssaal des Reichstags, eine Auszeichnung im Aeusseren, wenn jenem Gesetz Genüge geleistet sein sollte. Aber jeder steinerne Aufbau auf diesem Saal, insbesondere eine Kuppel mit Unterbau, bereitete für die Beleuchtung des Saals, der nur mässig hoch werden durfte, grosse Schwierigkeiten, und die letzteren steigerten sich noch mehr, als der wohlberechtigte Ruf nach Tieferlegung des Saals, nach Verminderung der sechzig Stufen zu seiner Fussbodenhöhe erhoben wurde, eine praktische Bedingung, welche zugleich günstige Höhenverhältnisse für die vielen Eintrittshallen des Erdgeschosses zur Unmöglichkeit machen musste. Aber wenn nun auch die Frage der Saalbeleuchtung und seiner Auszeichnung im Aeusseren befriedigend gelöst war; die Forderung nach Wahrheit der äusseren Gestalt des Bauwerks war damit noch nicht ganz erfüllt. Das Programm verlangte auch eine Halle, das »Foyer«, fast ebenso gross als der Reichstagssaal, und bezeichnete diese Halle ausdrücklich auch als Festsaal. Dieser Raum wird also der Hauptraum des Hauses, wenn es gilt, die Einheit des Reichs durch eine Festlichkeit zu repräsentiren, während bei einer solchen Gelegenheit der grosse Sitzungssaal an Bedeutung zurücktritt. Ebenso ist der Sitzungssaal des Bundesraths, wenn auch weit kleiner, doch dem Rang nach fast ebenso wichtig als Raum des Hauses wie jener; er bildet den Mittelpunkt einer grossen zweiten Gruppe von Geschäftsräumen neben denen des Reichstags. Sowohl die Halle als der Saal des Bundesraths verlangten also nach dem Prinzip der Wahrheit entschieden auch eine ausgezeichnete Lage im Grundriss und eine bevorzugte Erscheinung im Aeusseren des Hauses.

Wie haben sich nun die Konkurrenten diesen Forderungen gegenüber verhalten? Nur wenige haben ihnen genügt; die grössere Zahl hat nur den Reichstagssaal durch einen Kuppelbau ausgezeichnet und die Halle, sowie den Saal des Bundesraths gar nicht im Aeusseren ausgesprochen; andere haben auch - der Schwierigkeit der Beleuchtung des grossen Sitzungssaals nachgebend - die Halle im Aeusseren, als Hauptraum dargestellt und den Reichstagssaal verschwiegen. Der Saal des Bundesraths aber ist in den meisten, sogar in den zwei erstprämiirten Projekten schnöde in eine Ecke des Hauses geschoben und als Gegenstück zu gewöhnlichen Räumen behandelt worden. Auch an müssigen Säulenhallen, Bogenhallen u. s. w. fehlte es nicht, sogar in prämiirten und angekauften Projekten; nicht immer wurden diese ausgiebigen Ziermittel der Fassade durch die anliegenden Erholungsräume begründet, wie im prämürten Projekt der ersten Konkurrenz (von Professor Bohnstedt).

Man nahm es also in diesem Fall weder beim Entwerfen, noch beim Beurtheilen so genau mit der Wahrheit der architektonischen Komposition; ja es scheint sogar, dass bei der Beurtheilung auf diese kaum geachtet wurde, wohl eine Folge des Umstandes, dass das Preisgericht grösserentheils aus Nichtfachmännern bestand.

Aber auch beim auszuführenden Plan wird nun die Halle im Aeusseren durch die Kuppel als Hauptraum ausgesprochen und der Reichstagssaal - soviel bis jetzt bekannt ist - mit Schweigen übergangen; ferner erheben sich nach wie vor die vier Eckbauten mit Thurmstockwerken, die ausschliesslich zur Verschönerung der Umrisslinie des Hauses dienen und hohe Prachträume des Inneren verkünden, wo keine vorhanden oder wenigstens keine verlangt sind. Man nimmt es also auch beim auszuführenden Plan mit der Wahrheit der äusseren Gestalt des Hauses nicht so genau.

Ich bin weit entfernt, dies als einen Fehler zu bezeichnen, sondern theile vollkommen die Ansicht, dass man beim auszuführenden Plan weniger auf jenen Vorzug zu achten hat als bei der Beurtheilung einer Studie oder eines Konkurrenzprojekts. Es macht hier in der That einen Unterschied, ob es sich um ein schönes Haus oder einen schönen Entwurf handelt. Der Architekt steht bei jedem grösseren Bauwerk einer Anzahl von Forderungen gegenüber, die einander zum Theil widersprechen; er muss meist von Anfang an darauf verzichten, allen gerecht zu werden, und sich begnügen, einen Ausgleich zu schaffen, der diese Ansprüche in der Reihenfolge ihrer Bedeutung befriedigt. Bei einem auszuführenden Bauwerk kann aber jene innere Einheit von Grundriss und äusserer Gestalt nicht als die erste Forderung bezeichnet werden; denn diese Einheit ist weit mehr ein Werth auf dem Papier als in der Ausführung. So lange der Gedanke eines architektonischen Entwurfs nach den Plänen studirt wird, erfasst man Inneres und Aeusseres zugleich und erfreut sich des folgerichtigen Zusammenhangs von Raumgruppirung und äusserer Erscheinung; hier bereitet die Wahrnehmung der Einheit des Baugedankens einen ächten ünd wahren Kunstgenuss und leistet einen hohen Beitrag zum ästhetischen Wohlgefallen am ganzen Werk, für den Sachverständigen sogar den höchsten; denn ohne diese Einheit ist ihm die Architektur nur Dekoration, nur schöner Wortklang ohne Gedanken.

Ist aber der Bau einmal fertig, so geht für weitaus die Meisten dieser Werth verloren; denn die Wenigsten erfassen die Gesammtidee eines Bauwerks, wenn sie es, ohne die Pläne zu sehen, betrachten oder durchwandern. Man hat zwar immer den Eindruck einer bestimmten Raumgruppirung, wenn man das Aeussere übersieht; jedes Gebäude verkündet durch sein Aeusseres eine bestimmte Raumvertheilung des Inneren. Ob aber die wirklich vorhandene Raumvertheilung übereinstimmt mit der vermeinten oder nicht, das ist für den, der nur das Aeussere betrachtet, ganz gleichgültig, wofern er nur nicht bemerkt, dass er getäuscht wird. Denn die Formschönheit des Aeusseren hat mit der Uebereinstimmung des Aeusseren und Inneren gar nichts zu thun; sie ist durchaus von anderen Bedingungen abhängig; die Harmonie der Linien, die glückliche Wahl der Verhältnisse, die günstige perspektivische Verschiebung und der lebendige Wechsel von Licht und Schatten sind Werthe für sich und werden nicht erst - wie die idealistische Aesthetik haben will - dadurch wohlgefällig, dass sie uns Vorzüge des Inneren ahnen lassen.

Auch wenn man das Innere des fertigen Hauses betrachtet, indem man es Raum für Raum durchwandert, ist eine Uebereinstimmung des Aeusseren und Inneren für die Wenigsten wahrnehmbar oder von Werth; man geniesst wohl Durchblicke und schöne perspektivische Verschiebungen als Resultat der Grundrissbildung; aber doch liefert im Inneren jeder Raum oder jede übersehbare Raumgruppe, überhaupt jeder Blick einen Kunstgenuss für sich. Die Zahl Derer, welche fähig sind, alle von den inneren und äusseren Standpunkten aufgenommenen Einzelbilder zu einer Idee des ganzen Bauwerks zu vereinigen, ist sehr klein, und diese erwählte Minderheit darf nicht beanspruchen, dass Vorzüge der Zweckmässigkeit und der Erscheinung des Aeusseren, welche Allen zu gute kommen, auf gegeben werden zu Gunsten des höheren Genusses von Wenigen.

Was würde z. B. gewonnen werden, wenn die Kuppel des Reichstagshauses auf dem Sitzungssaal ausgeführt würde anstatt auf der Halb. An Wahrheit des Baugedankens würde sicher gewonnen, die Schönheit des Entwurfs würde gesteigert; für die Schönheit des Inneren würde aber nichts gewonnen und für die des Aeusseren ginge viel verloren; die Kuppel würde vom Königsplatz aus viel zu wenig zur Geltung kommen und für jeden nicht sehr fernen Standpunkt unter dem Horizont des Hauptgesimses ganz oder grossentheils versinken. Besonders aber wäre es kaum möglich, eine gute Tagesbeleuchtung für den Saal des Reichstags zu erhalten, und in einem schlecht beleuchteten Saal wäre das Bewusstsein, dass der Mangel an Licht von der Rücksicht auf die Wahrheit der Architektur herrühre, gewiss ein schlechter Trost. Hier hatte man also wirklich die Wahl zwischen grösserer Wahrheit einerseits und grösserer Schönheit und Zweckmässigkeit andererseits, und es wird wohl Niemand bedauern, dass sie nicht zu Gunsten jener entschieden worden ist.

Häufig ist auch der Zweck eines Bauwerks ein durchaus prosaischer, so dass viele einfache Räume von mässiger Höhe aneinandergereiht und vielleicht in mehreren Stockwerken wiederholt werden müssen. Hierbei müsste das treue Darlegen des Inneren nothwendig auch eine prosaische, langweilige Gestalt des Aeusseren ergeben. In diesem Fall ist es gewiss nicht nur gestattet, sondern geboten, das Innere zu verleugnen und bedeutende Räume, überhaupt eine Abstufung im Rang der Räume vorzuspiegeln oder auch Räume in das Gebäude einzubeziehen, welche dem Zweck nach nicht nothwendig wären, aber interessante Motive für das Aeussere liefern, wofern nur diese Zuthaten dem Zweck des Hauses nicht allzu fern liegen und keine falsche Charakterdarstellung dadurch zu Stande kommt. Besser ein interessantes, hübsch vorgetragenes Märchen als ein durchaus wahrheitsgetreues Protokoll über eine langweilige Raumversammlung! »Interessirt uns, und dann macht mit den kleinen Regeln, was ihr wollt!« Dieses Rezept Lessing's ist hier eine vollgültige Anweisung auf das Recht, die Wahrheit beiseite zu setzen.

Auch die grössten Epochen der Architektur bieten uns Beispiele, dass man über das zum Zweck Nothwendige weit hinausging und überflüssige Räume in ein Bauwerk einbezog, wenn ein monumentaler Ausdruck erreicht werden sollte. Beim Dom des Mittelalters hätte z. B. für die Aufnahme der Glocken und die Ortsbezeichnung des Raums für die fernen Mitglieder der Gemeinde ein einziger Thurm ganz wohl genügt; trotzdem sehen wir bis zu fünf und sieben Thürme auftreten, ebenso statt eines Chors deren zwei. Wieviel Schönes würde hier unverkörpert geblieben sein, wenn die alten Baumeister ihre Werke nur nach dem Zweck gerichtet hätten!

Wie soll nun im Widerstreit der vielen Anforderungen an einen Entwurf diejenige nach Wahrheit der äusseren Erscheinung bewerthet werden, die einzige von allen, die nur auf dem Papier dankbar ist? Eine allgemeingültige, bestimmte Antwort auf diese Frage wird leider kaum zu finden sein. Gewiss ist es zu empfehlen, auch nach diesem Vorzug so viel als möglich zu streben; denn in diesem Streben gipfelt sich der Fortschritt der modernen architektonischen Komposition. Würden wir in diesem Streben erlahmen, so könnte sie bald zurücksinken auf jenen dilettantischen Standpunkt, den sie in vielen Entwürfen aus dem praktischen, antiakademisch gesinnten England noch heute einnimmt, und wobei sie Staat macht mit Risalitebauten, denen im Inneren keine Theilung entspricht, oder mit Kuppeln, Thürmen u. s. w., die auf einem beliebigen Komplex von Nebenräumen und Scheidewänden sitzen oder sogar ohne jede Rücksicht auf die Grundrisseintheilung im Hohlen auf Eisenbalken aufgesetzt sind. Von dieser unteren Grenze müssen wir uns ja gewiss fern halten; aber wie weit soll man der oberen entgegengehen, an welcher sich alles Andere am Entwurf nur nach der Wahrheit zu richten hätte? Der ideale, akademische Vorzug des organischen Zusammenhangs von Grundriss und äusserer Gestalt wird fast immer durch Aufgeben realer Vorzüge der Zweckmässigkeit und Formschönheit erkauft werden müssen, und das Gegeneinanderabwägen dieser Vorzüge wird immer bei verschiedenen Personen verschieden ausfallen; der Eine wird diesen, der Andere jenen höher bewerthen, ohne dass man entscheiden könnte, wer von Beiden richtig urtheilt. Zu allen Zeiten aber wird das wohlgefällige Spiel der Linien und der Schattirung das zuerst in die Augen Fallende und zumeist Bestechende sein und die praktische Zweckmässigkeit am leichtesten beurtheilt und erprobt werden können, auch nothwendig in erster Linie verlangt werden; zu allen Zeiten werden daher Förmschönheit und Zweckmässigkeit bei der Menge mehr Anklang finden und früher Dank und Lob ernten und selbst vom Sachverständigen früher gefordert werden als jener ldeale Vorzug; wer ihn zu erreichen sucht, der muss ihn »um seiner selbst willen« schätzen. Von einem so spröden Ideal wollen wir eine Wiedergeburt der Architektur in unserer aufs Positive gerichteten Zeit lieber nicht erwarten, und vermuthlich wird auch im ferneren Verlauf der Baugeschichte das Streben nach Wahrheit in der architektonischen Komposition nicht zur Errungenschaft einer unbestrittenen Kunstregel führen, sondern immer ein Schwanken sein in einer schwierigen Wahl, ein Ringen, das bald siegreich Raum gewinnt, bald ermattet, aber niemals aufhört.



II.
Ein anderes, in unseren Tagen schon wieder stark im Zurücktreten begriffenes Streben der Architektur nach Wahrheit betrifft den baulichen Schmuck, die Gliederung im einzelnen. Hier tritt uns das Schlagwort »Konstruktiv« entgegen, womit ein inniger Zusammenhang, ein ursächliches Verhältniss zwischen Konstruktion und architektonischen Schmuckformen gemeint ist. Stellen wir die hierher gehörigen, nicht immer klaren Aeusserungen der Fachlitteratur zusammen, so finden wir das Streben nach Wahrheit in dieser Richtung etwa durch die drei folgenden Sätze ausgesprochen:

¹) Die Uebertragung der gebräuchlichen Formen eines Materials auf ein anderes, z. B. derjenigen unserer Steinarchitektur auf Holz, Gusseisen, Zink oder Verputz ist verwerflich, die Nachbildung eines Materials durch ein anderes ist Unwahrheit und Täuschung.
²) Wir sollen die Konstruktion offen zeigen, nicht verhüllen, und dabei sollen die Schmuckformen der Architektur die Konstruktion idealisiren, d. h. die statische Leistung der Konstruktionstheile, die in den Massen wirkende Kraft, zum Ausdruck bringen.
³) Die Schmuckformen der Architektur sollen aus der Konstruktion hervorgehen, d. h. sie sollen aus der Bearbeitungsweise des Materials, aus der gebräuchlichen Form der unverarbeiteten Materialstücke und aus der Art ihrer Zusammenfügung als deren natürliche Folge abgeleitet werden.


1.
Für die im ersten Satz genannte Formenübertragung bietet besonders die Nachahmung der steinernen Hauptgesimse in Holz oder Zink, ferner das Herausputzen eines Fachwerkshauses mit angenagelten Fenstereinfassungen, Pflastern und Gesimsen unter Nachbildung der Steinformen ein häufiges Beispiel. Interessant ist die entgegengesetzte Fiktion, die an oberitalienischen Landhäusern vorkommt, und wobei das gemauerte und verputzte Bauwerk als Blockhaus oder Fachwerkshaus mit Bretterverschalung und ausgesägten Friesen gemalt wird, ebenso ein Kreuz- oder Tonnengewölbe in Bedielung mit profilirten Gratleisten aufgelöst erscheint. Auch der verputzte Massivbau, der in Gips oder Cement durch gezogene Gesimse, Rahmen, Archivolten, Fugen und Bossen oder durch gegossene Ornamente, Konsolen, Kapitäle, Basen u. s. w. die gebräuchlichen Steinformen anwendet, gilt für eine unwahre, vor dem strengeren Geschmack nicht berechtigte Architektur.

Wenn die Blechfläche mit Oelfarbe als Holz mit Jahresringen oder wenn Holz als Marmor gemalt wird, so ist das unbestrittenermassen Unwahrheit und in allen denjenigen Fällen entschieden verwerflich, in denen daraus ein Widerspruch zwischen dem dargestellten Material und seiner Form entsteht, so z. B. wenn ein Blechgefäss, dessen geringe Wandstärke man sieht und mit Fingern greifen kann, marmorartig lackirt oder als Holzbottich dargestellt ist. In Beziehung auf die Verwerthung bestimmter Formen an verschiedenen Materialien zugleich gelingt aber der Nachweis der Unwahrheit nicht. Auf die heute für unseren Haustein gebräuchlichen Formen haben Holz, gebrannter Thon, Metall und Verputzmaterial ganz dasselbe Anrecht wie der Stein, wenn man nicht das Recht der Verjährung, d. h, die jahrhundertelange Ausführung dieser Formen vorwiegend in Haustein, als massgebend betrachten und das aus der Vorstellungsverbindung entspringende Gefühl der Nothwendigkeit des einmal Angewöhnten geltend machen will. Weder die Erklärungs- noch die Entstehungsweise der Schmuckformen unserer, Hausteinarchitektur, dieser Platten mit ihren krönenden und tragenden Gliedern, dieser Architrave und Friese, dieser Säulen, Pilaster, Hermen, Baluster, dieser Archivolten, Umrahmungen und Bekrönungen der Fenster bietet irgend etwas, wodurch sie ausschliesslich dem Stein zugewiesen würden; auch hat keine einzige der genannten Formen mit den Eigenschaften des Steinmaterials und mit der Art seiner Bearbeitung und Zusammenfügung der Stücke zu einem Ganzen irgend etwas zu tun.

Wenn wir mit Carl Bötticher annehmen, dass die Glieder unserer Gesimse und Architrave aus den griechischen Kymatien oder Blattüberfällen, als den Symbolen des federnden Emporhaltens einer Last, ferner aus den Anthemien, den Symbolen der unbelasteten freien Endigung, endlich den Perlstäben, Heftschnüren und Bandgeflechten als den Symbolen des Bindens und Heftens entstanden seien, indem allmählich zur Abkürzung die im Dorischen aufgemalten, im Jonischen skulpirten Blätter, Palmetten, Perlen u. s. w. wegblieben, was ist denn in diesem Emporhalten durch die Blattüberfälle, was in den anderen Symbolen enthalten, das den Stein als solchen anginge und nicht in jedem anderen Material ganz dieselben Symbole verlangen müsste? Ist nicht ebenso die Kannellirung der Säulenschäfte, nach Bötticher ein von einem bestimmten Doldengewächs entlehntes Symbol des starren und unbeugsamen Widerstrebens, nach dieser Erklärungsweise ohne alle Beziehung zu einem bestimmten Material, also gleichberechtigt in Stein, Holz und Metall?

Carl Bötticher hat die Behauptung aufgestellt, dass die Griechen die Formen ihrer Tempel eben zum Zweck der symbolischen Darstellung des Wesens der Konstruktionstheile frei erfunden hätten. Wenn dies der Fall wäre, so hätten wir damit den Anfang der Entstehungsgeschichte unserer Hausteinformen, und man könnte dann immerhin sagen, wenn auch jene Symbole für alle Materialien Gültigkeit hätten, .so sind sie doch von den Griechen nur für den Haustein erfunden worden; also hat dieser wenigstens das historische Recht daran. Aber nicht einmal dieses Recht ist nachzuweisen. Die Lehre, dass die Griechen als philosophirende Baumeister ihre Formen frei erfunden hätten, ist im Widerspruch mit den neueren Forschungen, und es ist sicher, dass sie gerade jene Detailformen grossentheils von fremden Völkern übernahmen und umbildeten.

Diese Thatsache scheint mir jedoch - nebenbei gesagt nicht auszuschliessen, dass die griechischen Baumeister einer bestimmten frühen Periode den Gedanken oder vielmehr das seiner Ursache unbewusste Gefühl gehabt haben, durch jene Symbole Beziehung und Bedeutung in jede Form zu legen. Wenn Bötticher mit der einen Behauptung von der freien Erfindung nicht Recht hat, so ist das noch kein Grund, seine ganze Lehre zu verwerfen. Die Griechen können ja ganz wohl fremde Formen aufgenommen und das Prinzip jener Symbolisirung bei deren Verwerthung hinzugegeben haben. Bei der Entstehung der Völkersprachen, sassen auch keine Gelehrten zusammen, um zu überlegen, wie es mit dem Perfektum oder Futurum der Zeitwörter oder dem Dativ der Hauptwörter gehalten werden sollte, und doch weisen die Sprachformen ein einheitliches Gepräge auf, wie es der nachdenkende Verstand Einzelner unmöglich so grossartig und folgerichtig hätte erfinden können. Ganz dieselbe Erscheinung zeigt sich bei der Entstehung eines neuen Baustils; er führt die Reste alter Stiltraditionen zusammen; aber er erfasst diese Reste schöpferisch gestaltend mit einem allmählich erstarkenden, neuen Prinzip, von dem Niemand sagen kann, wer es erfunden hat und woher es kommt. Ein solches Prinzip, eine solche ohne bewusstes Wollen erfundene Grammatik einer architektonischen Formensprache scheint mir in den von Carl Bötticher entdeckten Symbolen des griechischen Tempels vorzuliegen.


Gehen wir nun dem Ursprung unserer Steinformen weiter entgegen, so geht ihre Spur in vorgriechischer Zeit zwar bald verloren; aber wir können uns der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass zahlreiche Uebertragungen von Holz-, Thon- und Metallbauformen auf den Steinbau sich durch das ganze Alterthum hindurchziehen. Schon die urälteste uns bekannte Schmuckformenreihe, das in Stein gemeisselte Lattenwerk der frühägyptischen Grabkammern, verräth sich als Nachbildung eines Holzeinbaues, der bei noch früheren Grabkammern im weichen Erdmaterial nöthig war; die Pylonen mit ihren starkgeneigten Flächen, ihren bemalten Eckrundstäben und ihrem Mangel an Sockel sind Nachbildung der zeltartigen Einfriedigung, die in vorhistorischer Zeit den Tempel oder die »Stiftshütte« bildete, und deren scenenbemalte Tücher auf einem Gerüst von geneigten und horizontalen Stangen aufgespannt und an diese mit farbigen Bändern festgeknüpft waren. Die älteren lykischen Felsfassaden sind treue Nachbildung von Holzkonstruktionsformen, und das kleinasiatisch-jonische Gebälk kann seinen Ursprung aus ihnen und ihren Vorbildern nicht verleugnen; man sieht insbesondere den Zahnschnitt in allen Stufen seines Werdens aus den Stirnen der enggelegten, über die Wand vortretenden Deckenbalken. G. Semper erklärt die persischen und medischen Säulen von Persepolis und Susa als lapidare Wiederholung der babyionisch-assyrischen, mit Erz verkleideten Holzsäulen. Noch manches andere Beispiel der Formenübertragung von fremden Stoffen auf den Stein wäre anzuführen.

Jede Annahme der Entstehung der griechisch-römischen Einzelformen durch Tradition gelangt auf langem oder kurzem Weg zu einer Bauweise in Holz und Metall als wahrscheinlicher Quelle. In der ganzen alten Baugeschichte hat - an einem Ort früher, am anderen später - eine allmähliche Verdrängung des Holzbaues durch den Steinbau stattgefunden, indem der Stein zuerst als Stützenmaterial und erst weit später als Deckenmaterial auftrat. Dabei liegt nach allen jenen Vorgängen eine Uebertragung der alten Schmuck- oder Konstruktionsformen auf das neue Material sehr nahe. Was die griechischen Gebälkformen betrifft, so theile ich die früheste, in den letzten Jahrzehnten vielfach zurückgewiesene Ansicht, dass sie erst von den Griechen selber aus den Holzformen abgeleitet wurden, wogegen die Formübertragung bei den Säulen schon früher, in Asien stattgefunden haben mag.

Es ist also nirgends ein Grund dafür aufzutreiben, dass unsere heutigen Steinformen für den Stein erfunden worden seien; es ist vielmehr weit wahrscheinlicher, dass sie ursprünglich - wenn auch in unentwickelter Gestalt - Holz- und Metallbauformen, auch wohl solche in gebranntem Thon waren und erst später auf den Stein übertragen wurden.

Aber auch wenn wir von der Erklärungs- und Entstehungsweise dieser Formen ganz absehen, weder die Eigenschaften, noch die Bearbeitungsweisen, noch die Verbindungsweisen der Stücke der Baumaterialien bieten irgend eine Möglichkeit, die Uebertragung unserer Steinformen auf Holz, Metall, gebrannten Thon, Gips, Kalkputz und Cement als unberechtigt nachzuweisen. Sollte aber je die Bearbeitungsweise über die Berechtigung einer Schmuckform den Ausschlag geben, so wäre ein glattes Gesims dem Holz oder Verputzmaterial mehr angemessen als dem Stein, ebenso die toskarische Säule und der Baluster dem Holz oder Thon mehr angemessen als dem Stein, endlich die Wandfüllung dem Holz mehr angemessen als dem Stein; denn dort ergibt sie sich als Resultat einer rationellen Verbindung der Materialstücke, hier aber nicht.

Nur eine Formengruppe lässt sich in diese Betrachtung nicht einschliessen; es ist die Rustika, die Behandlung der Steinhäupter einer Mauer oder einer Säule mit Bossen. Diese Flächenverzierung der Quadermauer, abgesehen vom Bruchbossen eine Erfindung der Römer, aber erst in der Renaissance reicher durchgebildet, also von minder hohem Alter als die übrigen Steinformen, ist aus der eigenthümlich der Steinmauer angehörigen Konstruktion abgeleitet, ist gleichsam eine Idealisirung der Technik des Mauerns und im einzelnen Fall durch die Grösse und Lage der Materialstücke bestimmt. Es wäre sinnlos, die hierher gehörige Schmuckformenreihe, die gespitzten Bossen, Spiegelbossen, Diamantbossen, Eiszapfenbossen u. s. w., auf Holz und Metall zu übertragen, wie es z. B. an Schränken der Renaissance vorkommt; es wäre wirklich Täuschung, nämlich ein Betonen von Fugen, wo keine sein können. Auch die so häufig vorkommende Ausführung der Rustika im Verputz ist im Widerspruch mit dem Material.

Allen anderen für unsere Steinarchitektur gebräuchlichen Formen gegenüber trifft dies aber nicht zu; mit ästhetischen oder stilgeschichtlichen Gewissensbissen dürfen sich also diejenigen nicht plagen, welche ein korinthisches Hauptgesims in Holz oder Gips oder Zink oder Eisenguss nachbilden; sie verletzen nur die Gewohnheit. Uebrigens nahm man es auch nie mit dem Bedenken besonders ernst und w ar immer ein wenig inkonsequent, indem man Steingesimse, Giebel und Säulenformen im kleineren Maassstab an der eichenen Hausthüre oder am Schrank des Speisezimmers nie als architektonische Unw ahrheit empfand.

Wenn ein solches Holz- oder Blechgesims mit Steinformen, ein solcher Fachwerksbau mit angenagelter Steinarchitektur uns doch verletzt, so liegen die Gründe nicht in der Entlehnung der Formen des fremden Materials, sondern in der Unfähigkeit des wohlfeilen Stoffes oder des Anstrichs, die Erscheinung des edleren, in dem wir diese Formen zu sehen gewohnt sind, zu erreichen. Der Werth eines edlen Materials ist ein wichtiger Bestandtheil der ästhetischen Wirkung, und dieser Werth ist selten zu ersetzen; nur etwa Stuckmarmor erreicht einen dem ächten Gestein näher kommenden Eindruck.

Grösser aber ist der Mangel, dass das nachbildende Material die erhaltene Form und Farbe nicht bewahrt, dass das Holz sich verzieht und endlich krumme Kanten, windschiefe Flächen und offene Kehrungsfugen darbietet, dass das Zink durch die Buckel und Beulen seiner Blechnatur sich nicht zur dauernd reinen grossen Ebene, dem Schiboleth des Steins, auf schwingen kann, dass der Verputz sich mit Flecken bedeckt und Risse bekommt, kurz, dass fast Alles, was aus minderwerthigem Stoff hergestellt wird, so bald verkommen und armselig aussieht. Würde die Täuschung vollständig und dauernd gelingen, würden wir wirklich Stein zu sehen glauben, wo Holz oder Zink oder Verputz ist, so wäre kein Grund denkbar, aus dem unser Kunstgenuss geringer sein sollte als gegenüber dem Stein. Also nicht die vermeinte Entwendung fremder Formen ist das ästhetische Vergehen, sondern die Ungeschicklichkeit, sich bei der Entwendung .erwischen zu lassen; es ist hier wie einst in Sparta. Wo das Auge nicht hinreicht, um das ächte Material zu schätzen, und wo ein frühes Schadhaftwerden nicht zu fürchten ist, da ist ein unächter Baustoff ganz am richtigen Platz. Aechte Intarsia an der Decke eines hohen Saals wäre Geldverschwendung, und lieber ein kräftiges Hauptgesims in Zink oder Holz als ein mattes, schwächliches in Stein?



2.
Was den zweiten Satz betrifft, die Konstruktion soll offen dargelegt, nicht verhüllt werden, und der architektonische Schmuck habe die Aufgabe, die in den Konstruktionsgliedern wirkende Kraft zu idealisiren, so ist er eine jener Kunstregeln, die in einer Reihe von Meisterwerken der Vergangenheit wirklich eingehalten sind und dann ganz mit Unrecht als nothwendige Bedingung, als ein Gesetz des Schönen proklamirt werden. Es ist ja gewiss, dass die griechische Architektur bis ins Kleinste ihre Konstruktion gezeigt und idealisirt hat; es ist ja deutlich, dass die Bauwerke aus der Blüthezeit der Gothik uns überall das kühne Gleichgewichtssystem ihrer Kräfte unverhüllt vor Augen legen und ihren Schmuckformen nur die eine Aufgabe gestellt zu haben scheinen, die Kraft in den Massen zu verherrlichen, ja dass sie sogar die Lichtflächen ihrer Fenster dazu benutzen, ein reizendes System von Kräften im Gleichgewicht uns vorzuführen. Wo dieser Stil keine gewölbte Decke mit ihren Rippen zeigen konnte, da verwerthete er die Dachkonstruktion, um eine statische Leistung zu zeigen und zu idealisiren; ebenso hat er die Holzbalkenlage als ausdrucksvoll geschmückte sichtbare Konstruktion mit Vorliebe ausgebildet. Beide genannten Hochperioden der Architektur lehren uns auch gewiss, dass ein hoher Beitrag zum ästhetischen Wohlgefallen dadurch geleistet wird, dass wir den ganzen Organismus der Konstruktion übersehen, d. h. die Zusammenfügung des Baukörpers aus seinen Theilen wahrnehmen und sinnreich finden, dass wir die Sicherheit des Ganzen gegen äusseren Angriff erkennen und ein System von grossen Kräften, insbesondere eine grosse schwebende Masse durch ein uns bekanntes Gesetz der Mechanik beherrscht und für die Lösung einer bedeutenden Aufgabe dienstbar gemacht sehen. Ein solches Interesse darf ja nicht als ein solches an der blossen Zweckmässigkeit bezeichnet und als ausserhalb des ästhetischen Eindrucks stehend erklärt werden. Dieser kommt durch das Zusammentreten einer grossen Zahl von Einzelwirkungen zu Stand, und das Wohlgefallen an der Konstruktion und an der symbolischen Darstellung der Kraftwirkung kann unter diesen Einzelvorstellungen eine der ersten Stellen einnehmen. Beim Ingenieur, der einer grossen Konstruktion gegenübersteht, wird dieser Theil des ästhetischen Eindrucks sogar der wesentlichste und höchste sein.

Wer aber behauptet, dieses Wohlgefallen an der Konstruktion und Kraftverherrlichung müsse vorhanden sein, wenn ein Bauwerk schön sein soll, der überlegt nicht, wieviel Schönes uns die Vergangenheit ebenfalls darbietet, in welchem dieser Theil des ästhetischen Eindrucks ganz fehlt. Sollen wir die Putzdecken der Renaissance mit ihrem unendlichen Reichthum an schönen Motiven weniger hoch stellen als die gothischen Kreuz- und Netzgewölbe, weil jene die Konstruktion der Decke verschweigen oder verhüllen und diese sie zeigen?

Die Baugeschichte zeigt uns in der Entwicklung eines jeden Stils (die Renaissance, weil sie kein neuer Stil war, ausgenommen) die Erscheinung, dass die Schmuckformen ursprünglich immer auf die Darstellung der Kraftwirkung abzielen, dass aber das ewige Einerlei dieses Erzählens vor der Kraft endlich ermüdet, und dass gleichzeitig damit an die rein formale Erscheinung der Architektur oder den Gedankengehalt des ganzen Eindrucks höhere Anforderungen gestellt werden. In der Frühzeit der Baustile ist das Wohlgefallen am Spiel der Linien und der Schattirung schwächer als dasjenige an der symbolischen Bedeutung der Formen und am Werth des Materials; später dreht sich das Verhältniss um; das Wohlgefallen am Spiel der Linien steigert sich fortwährend, und daher kommen diese höheren Ansprüche an den Reichthum der Formen und an die Schattenwirkung. Es steigert sich die Genussfähigkeit für den rein formalen Reiz der Architektur bis zu einem bestimmten Höhepunkt. Die Ursache, sowie die Unvermeidlichkeit dieser Erscheinung war mir an anderer Stelle nachzuweisen gestattet. In Folge dieses Strebens nach grösserem Reichthum treten allmählich auch solche Formen auf, welche mit der Darstellung der Kraftwirkung nichts zu thun haben, aber grösseren Reiz für das Auge bieten als die alten Formen; ausserdem werden diese letzteren so lange umgebildet, als noch eine neue Erscheinung für sie erfunden werden kann, und bei dieser Umbildung denkt man nicht mehr daran, die Darstellung der Kraftwirkung aufrecht zu erhalten. Zuletzt will man sogar von dieser gar nichts mehr wissen und fühlt nur noch den formalen Reiz der Gebilde. Schöne Beispiele für dieses Verlorengehen des Ausdrucks der Kraft bietet die erste Kunstform der Stütze, die Säule, welche sowohl im Spätrömischen als im Italienisch-Spätromanischen, als im Barockstil in die für uns vorläufig noch ungeniessbare gewundene Säule übergeht, bietet ferner der Mauerbogen im muhammedanischen Stil, der sich in feines Spitzen- und Zackenwerk verwandelt, und das Gewölbe desselben Stils, das als Stalaktitengewölb schaumartige Leichtigkeit fingirt, so dass man in Ansehung der schwachen Stützen und der scheinbar körperlosen Massen der maurischen Architektur sagen kann, sie sei endlich auf ein Verleugnen der Kraftwirkung ausgegangen. Im Romanischen sind ebenfalls späte dekorative Formen des Bogens, der Kleeblattbogen und die Auflösung in eine Zickzacklinie, an Portalen und Fenstern zu finden, in welchen der Ausdruck der Kraft verloren gegangen ist. Sehr schön ist die Verwandlung zu beobachten im Gothischen, dessen Gewölbrippen zuletzt wie zusammengeblattete Holzstäbe über die Kreuzungspunkte hinausgeführt sind, dessen späteste Steinbögen sich als gekrümmtes Astwerk darstellen, und dessen Fialen, ursprünglich der Ausdruck für die lothrechte Belastung eines Widerlagers, sich endlich biegen und neigen und in Schraubenlinien aufsteigen. Ferner sind zu nennen die verkröpften Architrave des Barockstils, besonders an Portalen und Giebeln, endlich die ganze Wand- und Deckenbehandlung des Rokokostils, welcher mit Blatt- und Blumen- und Muschelwerk und geschweiftem Stabwerk tändelt, wo früher der Mauerbossen, der Pilaster und die Archivolte oder die Gewölbrippe und Kassette war, überhaupt der Gedanken an die Wirkung der Schwerkraft mit allen möglichen übermüthigen Redensarten zu vertreiben sucht.

Jede spätere Entwicklung eines Baustils war bisher einerseits ein Uebergang in, oder wenigstens eine Annäherung an das rein Dekorative, d. h. an die Formschönheit, die nichts bedeutet, andererseits ein Raumgeben für Malerei und Skulptur. Die antike Decke mit ihren Kassetten, welche z. B. am Pantheon die Vorstellung radialer Mauerbögen mit horizontaler Verspannung erwecken, und ebenso die römische Auflösung der Mauerfläche in Bogenstellungen mit Pflastern, genügte endlich der altchristlichen Baukunst nicht mehr; Statik und Mechanik, Wandpilaster und Architrav, Archivolte und Kassetten verschwanden, und auf den glatten Wänden und Gewölben erschienen gemalt oder in Mosaik die Gestalten der Apostel und Heiligen. Ganz dieselbe Erscheinung in und nach der Gothik, in deren Spätzeit die Kraftverherrlichung endlich vom Kreuzgewölbe zum Stern- und Netzgewölbe, zu den reichsten Kräftesystemen und Figuren fortgeschritten war. Endlich hatte man auch hier genug von alledem; die aufschiessenden Pfeiler, die Gewölbrippen, die kühn verspannten Maasswerke verschwanden, und reizende, auf die glattgeputzte Fläche gemalte Arabesken oder olympische Gestalten in reichem Rahmenwerk traten auch hier an die Stelle des Abstraktums Kraft. Zur Zeit des Barockstils war man so wenig empfänglich für den Reiz der sichtbaren Konstruktion, dass man gothische Gewölbrippen einputzte, um Raum für Reliefornament und Färbe zu gewinnen.

Auch wenn wir den Grundsatz, die Konstruktion zu zeigen und zu idealisiren, heute gelten liessen, wir würden gewiss die moderne Architektur nicht lange verhindern, den Weg ins Dekorative zu gehen oder vielmehr fortzusetzen; denn sie ist ihn ein gutes Stück weit schon gegangen. Ein Zweig unserer Architektur ist allerdings noch vorhanden, in dem dies nicht zutrifft; es ist der Kirchenbau, der den gothischen Stil nicht in seiner späteren, schon überwiegend dekorativen Form, sondern in der strengeren der frühen Zeit verwerthet und demgemäss das Prinzip des Darlegens der Konstruktion und Kraftwirkung ebenso streng beobachtet, als es damals beobachtet ward. Ein langsames Fortschreiten ins Spätgothische dürfte aber allen anderen Erfahrungen nach auch hier nicht ausbleiben, wenn die Aufgaben des Kirchenbaues sich häufen würden. In allen anderen Gebieten folgen wir der Renaissance, und dabei ist auch das Fortschreiten ins Dekorative deutlich genug.

Zwischen dem Zeigen und Idealisiren der vorhandenen Konstruktion und dem Verhüllen derselben unter rein dekorativen Formen steht ein Drittes in der Mitte, das liebste Werkzeug der modernen Architektur; es ist (o geheimnissvolle Harmonie mit anderen Gebieten des Schönen!) das Idealisiren einer fingirten Konstruktion. Wenige von Denen, die nach Wahrheit im architektonischen Schmücken rufen, werden bedenken, dass die Säulen und Pilaster oder die Bogenstellungen, welche wir so gerne in flachem Relief unseren Fassaden vorsetzen und als wirksamstes Ziermotiv der äusseren, oft sogar der inneren Wandflächen verwerthen, dass diese durchaus weder aus dem inneren Organismus des Hauses, noch aus der Konstruktion der Mauer zu begründen sind. Sie täuschen, indem sie die Vorstellung erwecken, dass die Pilaster den Architrav tragen und dass das zwischenliegende Mauerwerk unbelastete Ausfüllung der hohlen Felder sei, während es doch den Mauerdruck ebenso voll erhält wie die Pilaster. Hier sind entschieden nicht vorhandene statische Verhältnisse flngirt und idealisirt, nur um den formalen Reiz der Kunstformen von Stützen, Steinbalken und Mauerbögen zu gewinnen. Niemand wird aber ernstlich die Wahrheitsliebe so weit treiben, diese Motive aus der Architektur verbannen zu wollen; denn die Arme würde dadurch den grössten Theil ihres Vermögens verlieren wir würden beim Entwerfen eines grossen monumentalen Bauwerks wie mit gefesselten Händen arbeiten, wenn uns der Reliefpilaster oder die Wandsäule und ähnliche nicht mehr ungewöhnliche Redeblumen und Wendungen der architektonischen Formensprache verboten wären. Was thut es auch, dass die Kraftübertragung in der Mauer anders ist, als die Kunstformen sie verkünden? Es könnte so sein, und das genügt! In den Vorstellungen, die das Auge im Anschauen eines solchen architektonischen Scheingerüsts uns zuführt, ist kein Widerspruch enthalten; erst unsere Reflexion bringt ihn dazu.

Das über das offene Darlegen der Konstruktion Gesagte kann wohl kaum zu der Annahme führen, dass die Schmuckformen immer Symbole der Kraftwirkung seien, wenn die Konstruktion sichtbar ist; doch ist es vielleicht von Werth, dies ausdrücklich zu verneinen und auf Beispiele sichtbarer Konstruktionen hinzuweisen bei welchen die Schmuckformen dekorativ sind. Die grössere Hälfte der letzteren gehört sogar hierher. In Haustein sind es z. B. die Wandfüllungen; in Backstein sind es die Figuren, die durch Steine verschiedener Farben gebildet werden können; in Holz sind es gesägte und geschnitzte Friese u. s. f.; die schönen Schweizer Blockhäuser, die uns Professor Gladbach vorgeführt hat, zeigen ebenfalls die Konstruktion im Aeusseren bis ins Kleinste, und doch zielen die wenigsten ihrer Schmuckformen auf die Darstellung der Kraft.



3.
Der dritte Satz, die Schmuckformen sollen aus der Konstruktion hervorgehen, ist werthvoll in seiner Einschränkung auf bestimmte Gebiete der Kunstgewerbe; in der Architektur aber hat er ebenfalls nur für ein kleines Gebiet Sinn und Berechtigung. Jedes Material hat bestimmte Bearbeitungsweisen, die dafür entweder die einzig möglichen oder wenigstens mehr dafür geeignet sind als andere, d. h. ein günstigeres Verhältniss zwischen Arbeitsaufwand und erzieltem Schmuck darbieten als diese anderen. Gebrannten Thon wird man nicht mit dem Meissel behandeln wie den Stein; Schmiedeisen wird man nur in schwachen Stäben und Blechen biegen, verdrehen, treiben und durchbrechen, nicht hobeln, schnitzen und drehen wie Holz. Auf diese Thatsache gründet sich das Vorhandensein bestimmter Materialstile; richtiger wäre es vielleicht, vom Stil bestimmter Bearbeitungsweisen zu sprechen.

Die Eigenschaften des Materials und die zweckmässigen Verfahren seiner Bearbeitung ziehen aber nur eine Grenze, über welche die Schmuckformen nicht hinaus können, ohne dass sie undauerhäft werden oder durch die betreffende Bearbeitungsweise nicht herstellbar sind; innerhalb dieser Grenzen hat man beim Entwerfen der Schmuckformen freie Wahl. Diese Grenzen sind nun bei verschiedenen Materialien sehr verschieden weit; sie sind eng beim Schmiedeisen, weiter schon beim Gusseisen, Erz, gebrannten Thon, Gyps, Kalkputz und Cement, am weitesten bei Stein und Holz. Es ergibt sich z. B. aus der Technik des Mauerns mit Backsteinen ein bestimmter Stil; hierher gehören die figurirten Verbände mit reicheren Linienmustern aus der Fugenstellung, oder mit Durchbrechung der Fläche, oder mit Farbenmustern, ferner die Gesimse aus gewöhnlichen Backsteinen, wie sie aus Rollschichten, Stromschichten, Konsolen, Friesen und kleinen Bögen zusammengebaut werden können. Beim Haustein ist die Rustika ein solcher aus der Technik abgeleiteter Stil, wie schon früher hervorgehoben wurde. Im Uebrigen lässt der Haustein besonders bei grosser Feinheit schon eine unendliche Menge verschiedener Formen in den verschiedensten Maassstäben zu. Das universale Material in Beziehung auf die Bearbeitung ist jedoch das Holz, das sich sägen, hobeln, fräsen, drehen, schnitzen, skulpiren, zu gestemmter Arbeit zusammenfügen und nach neuesten Behauptungen sogar giessen lässt, indem es mit jeder weitergehenden dieser Behandlungsweisen wieder einen ausserordentlich vergrösserten Kreis von möglichen Schmuckformen darbietet.

Es kann nun von einem Ableiten der Schmuckformen aus der Konstruktion nur bei denjenigen Materialien die Rede sein, bei denen die Bearbeitungsweise enge Grenzen für die Wahl der Schmuckformen zieht oder bei denen man sich freiwillig auf einzelne der möglichen Behandlungsweisen beschränkt, also eben z. B. beim Backsteinbau, wenn er nur parallelepipedische Steine oder einfache Formsteine verwendet, oder bei der Holzarchitektur, wenn sie sich auf das Hobeln von Ebenen, auf das Fasen und Kehlen und auf das Aussägen beschränkt und das Schnitzen und Drehen ausschliesst. Man erhält in beiden Fällen Schmuckformen zweiten Ranges, die für einfache Bauwerke ganz willkommen, aber einen monumentalen Ausdruck nicht zu liefern fähig sind, und insbesondere mit den Schmuckformen, die aus der Vergangenheit stammen, nicht wetteifern können. Verwerthet man aber in der Holzarchitektur das Schnitzen, so ist sofort ein grösserer Formenkreis erschlossen, der, wenn nicht einen monumentalen, doch schon einen recht bedeutenden Ausdruck zu liefern fähig ist, wie viele mittelalterliche Holzbauten mit Schnitzarbeit und die schon genannten Schweizer Blockhäuser beweisen. Ein Beifügen der Dreherarbeit anstatt derjenigen des Schnitzens gibt schon einen minder grossen Fortschritt; es ist wie wenn beim Holz ein konstantes Verhältniss von Arbeitsaufwand und erzieltem Ausdruck bestehen würde. Daher sieht auch die gefräste Arbeit immer so unbedeutend aus. In allen diesen Fällen ist die schmückende Form mehr oder weniger abhängig von der Konstruktion oder Bearbeitungsweise des Materials.

Ein deutliches Beispiel für diese Abhängigkeit ist auch die gestemmte Wandfläche oder Holzdecke. Hier ergreift der Schmuck die von der Konstruktion gebotenen Linien, indem er sie durch Gesimse ersetzt, ferner etwa wichtige Punkte im konstruktiven Gefüge durch Rosetten oder Diamantbossen auszeichnet, also indem er die geometrischen Formgesetze, die in der Konstruktion stecken, durch andere, die er hinzugibt, auf eine höhere Stufe der Wirkung erhebt. Hier hat also in der That die Konstruktion den Weg zur Gestaltung der Schmuckformen gewiesen und die Freiheit der Erfindung erheblich eingeschränkt. Dasselbe lässt sich sagen von der Fachwerkswand mit gefasten Hölzern und figurirter Ausmauerung der Felder, ferner von der Bretterverschalung mit profilirten Fugen oder Fugenleisten oder mit ausgesägter Endigung der Bretter, endlich von der Schmiedeisengitterarbeit, indem bei allen diesen Arbeiten die ursprüngliche Form der Rohmaterialstücke als ein Theil der späteren Konstruktion wieder erscheint und die Grundlage der Schmuckformenerfindung bildet. Auch bei den aus Haustein und Backstein gemischten F assaden, die mit dem Kontrast der Materialfarben und mit den Linien ihres Ineinandergreifens wirken, wie z. B: die Bauwerke der niederländischen Renaissance, kann dieses Ziermittel als aus der Konstruktion gewonnen erklärt werden.

Ferner liegen schon Sgraffito, Mosaik und Intarsia; das technische Verfahren schreibt hier der Formenerfindung allerdings noch immer gewisse Bedingungen vor; aber es lässt doch insofern freie Hand, als man im Verfahren selber keine Grundlage für die Zeichnung findet. Ebenso ist von jener Regel schon sehr wenig abhängig der Backsteinbau mit Verwendung reicherer Terrakotten; doch ist er noch nicht aus ihrem Bereich. Man gelangt hier schon zu grösserer Freiheit in der Wahl der Schmuckformen als bei ausschliesslicher Verwendung gewöhnlicher Backsteine; doch müssen die Ornamente noch leicht aus der Hohlform schlüpfen, auch immer ein Motiv als Reihung wiederholen, damit sich das Modelliren lohnt; alle Flächen müssen ornamentirt sein, weil das Material nicht mit der reinen Ebene wirken kann; endlich dürfen die Ausladungen nur mässig sein und nie durch plötzliches Auskragen gewonnen werden. Dadurch hat auch der Backsteinbau mit Terrakotten noch immer eine gewisse Gebundenheit, wenn auch schon der Reichthum an möglichen Motiven ausserordentlich gross und ein Anschluss an bestimmte historische Baustile möglich ist.

Geht man nun aber zum Haustein über, so werden die Grenzen, welche die Bearbeitungsweise den Schmuckformen zieht, so weit, dass die Regel sinnlos wird und dass man bei diesem Material von einem Ableiten der Form aus seinen Eigenschaften und seiner Bearbeitungsweise am besten gar nicht redet. Nachdem man ein gothisches Maasswerk und einen bossirten Quader aus einem Material und durch dieselbe Handarbeit heraushauen kann und auch bei Verbindung zweier Stücke in beiden Fällen gleich verfährt, ist die Vorschrift, die Schmuckform sei aus der Konstruktion abzuleiten, für den ganzen Hausteinbau eine leere Phrase. Denn entweder verlangt man die Ableitung der Formen aus der Arbeit des Steinhauers, und dann sagt die Vorschrift nichts Anderes, als man habe Formen zu geben, welche durch Behauen gut herstellbar und dauerhaft seien, eine Bedingung, welche offenbar noch immer eine Unendlichkeit von möglichen Formen übrig lässt und zur Formgebung selber nicht im Mindesten einen Weg weist. Oder man verlangt, dass im architektonischen Schmuck die Eigenthümlichkeit der Arbeit des Maurers, des Aneinanderfügens der Steine zur Geltung gelange; dann läuft die Vorschrift auf ein Verwerthen der Mauerfugen zum Schmuck der Fläche, also zunächst auf die Rustika hinaus, auf ein einziges, nicht gar gehaltvolles Motiv, mit dem für den heutigen Schmuckformenbedarf der Architektur unmöglich auszureichen wäre. Man dürfte dann nur noch liniiren, nur noch bossirte Mauerflächen, bossirte Pfeiler, bossirte Säulen, bossirte Umrahmungen, allenfalls auch Zinnen machen; man dürfte ferner reichere Linienmuster der Fugen aufsuchen, auch farbige Muster bilden, den Steinhäuptern Füllungen geben und sich noch andere ähnlich unschuldige Vergnügungen gönnen. Die Gesimse wären vortretende Platten mit oder ohne Kragsteinreihen. Der ganze übrige unendliche Reichthum von Formen der Hausteinarchitektur, die doch alle vornehmer und von älterem Adel sind als die Rustika, wäre nach dieser Vorschrift verurtheilt und zu beseitigen; denn alle diese Formen lassen den Gedanken an die Bearbeitungsweise des Materials und an den Steinverband gar nicht aufkommen. Ein Prinzip, das ein solches Ansinnen einschliesst, ist nicht ernst zu nehmen oder vielmehr in seine Grenzen zurückzuweisen, sobald es eine allgemeingültige Kunstregel zu sein verlangt.

Weder das offene Darlegen der Konstruktion und die Verherrlichung der Kraft durch die Schmuckformen, noch die Ableitung der letzteren aus der Konstruktion erweist sich hienach als eine nothwendige Bedingung für eine schöne Architektur. Es hat sich zwar gezeigt, dass man mit diesen Prinzipien einen günstigen ästhetischen Eindruck erhalten kann, dass sie sogar zuweilen einen sehr hohen Reiz einschliessen, und dass das erste derselben in der Frühzeit der Baustile das herrschende war; aber es hat sich ferner gezeigt, dass man -um für unser Gefühl eine günstige Wirkung zu erhalten -diese Prinzipien durchaus nicht verfolgen muss, ja dass Vieles, was zum Schönsten der Vergangenheit gehört, entgegen diesen Prinzipien entstanden ist. Entweder ist Vieles, was wir mit allen Zeitgenossen heute als schön empfinden, nicht schön, oder sie enthalten keine Bedingung des wahrhaft Schönen.

Um aber die drei Lehrsätze über das Schlagwort »Konstruktiv« nicht ungerecht zu beurtheilen, empfiehlt es sich, noch einen Blick auf die modernen Ingenieurbauten und auf diejenigen Konstruktionen im Hochbau zu werfen, welche in der Vergangenheit keinen Vorgang gehabt haben, also besonders auf die gemauerten Werke im Eisenbahnbau und die grösseren Eisenkonstruktionen im Brückenbau und Hochbau. Hier findet sich ein auffallender Gegensatz zu allem, was aus der Geschichte der Hochbautradition sich ergeben hat. Es ist wie wenn die Entwicklung des architektonischen Schmückens derartiger Bauwerke ganz in derselben Weise mit dem Zeigen der Konstruktion und mit dem Ausdruck der in ihren Theilen thatsächlich vorhandenen Kraftwirkung beginnen müsste, wie der Hochbau in den Baustilen der Vergangenheit damit begonnen hat. Das Ansetzen der durch die Tradition auf uns gekommenen alten Schmuckformen an diese Werke neuer Art gibt etwas Unzulängliches, oft sogar Unleidliches. Eine Säulenordnung an einem Tunnelportal würde uns ganz am unrechten Ort aufgestellt scheinen; es wäre etwas Kleinliches darin. Hier wollen wir in der That zuerst die Konstruktion sehen und den Eindruck der genügenden Standfähigkeit und Sicherheit gegen äusseren Angriff, sowie der knappen, auf dem kürzesten Weg erreichten Zweckmässigkeit haben; jedes Verhüllen der Konstruktion oder jedes Verkünden einer anderen als der vorhandenen Konstruktion würde uns diesen Eindruck stören und wäre daher zuwider. Ausserdem sind uns hier in der That diejenigen Schmuckformen die liebsten, welche kurzer Hand aus der Bearbeitung abgeleitet sind. Beim Stein ist uns daher die Rustika für solche Bauwerke ganz willkommen, ebenso die Zinnen und die Kragsteinreihen, die ja auch aus der Technik des Mauerns unmittelbar hervorgehen. Etwas weniger ablehnend gegen die alten Formen verhalten sich zwar die Brücken in Stein, indem sie Archivolten und reicher ausgebildete Schlusssteine für ihre Bögen und ebenso reicher profilirte Krönungsund Kämpfergesimse zulassen; aber die Archivolte bietet ja doch auch die Darstellung der Kraft, wenn sie auch nicht aus jener Technik abgeleitet ist; ferner ist die Steinbrücke eine Konstruktion, die auch der Vergangenheit angehört und die Entwicklung der überlieferten Schmuckformen von Alters her mitgemacht hat. Somit ist in ihr keine Ausnahme vorhanden.

Auch das Schmücken einer grossen Eisenkonstruktion ist eine sehr spröde Aufgabe, und mit den Formen der alten Schmiedeisentechnik kommt man hier meistens auch nicht gut an. Wenn wir an eine grosse Eisenbrücke oder an ein Hallendach in Eisen die Blechrosetten, Zierschilder, Flacheisenranken, verdrehten Quadrateisen und das ausgeschnittene und getriebene Laubwerk ansetzen, das die Kunstschmiedearbeiten der Renaissance darbieten, so werden wir zu guter Letzt meistens finden, dass die reine rohe Konstruktion ebenso schön oder schöner sei als eine derart geschmückte. Im kleinen Maassstab verschwindet allerdings die ästhetische Starrköpfigkeit des Schmiedeisens, wie manche moderne Treppen, kleine Brücken u. s. w. beweisen, die mit jenen alten dekorativen Mitteln der Schmiedeisenarbeit geschmückt werden und günstig wirken; aber diese kleinen Konstruktionen gehören auch nicht zu denen, die keinen Vorgang in der Vergangenheit haben, es liegt also auch hier keine Ausnahme vor.

Worauf dieser überraschende Gegensatz, dieses Ablehnen der überlieferten Schmuckformen durch die grossen, neuartigen Konstruktionen unserer Zeit beruht, ist wohl schwer herauszufinden; die Thatsache dieser Ablehnung ist aber nicht zu bestreiten, und es fühlt sie wohl am meisten der Ingenieur.

Mag für diese Konstruktionen immerhin der Schmuck - wo man ihn haben will - auf dem Weg der Benützung von Zufälligkeiten in der Form oder Verbindungsweise der Materialstücke gesucht werden; für den Hochbau in Stein und Holz aber wären jene drei Sätze über die vermeintliche Wahrheit im architektonischen Sehmücken eine überflüssige Fessel, die wir uns selbst anlegen würden, ein vergeblicher Versuch, unserer Architektur den Weg zu verlegen, den sie nach allen Vorgängen anderer Epochen wahrscheinlich einschlagen oder vielmehr fortsetzen wird.

Was ich als Schlusswort anfügen möchte, werden Sie zwar deutlich genug zwischen meinen Worten herausgehört haben; aber das Zusammenfassen mag doch nicht überflüssig sein. Die Grundsätze, die irgend eine Zeit aus irgend welchen Werken der Vergangenheit ableitet, verrathen nicht das Geheimniss des Schönen, sondern nur das Formgefühl dieser Zeit oder vielmehr Derjenigen, welche die Ableitung vollziehen. Es ist »im Grund der Herren eigner Geist«, was sie als Geist der Schönheit aus den Gebilden herausziehen und in Grundsätzen niederlegen. Derartige Kunstregeln sind begleitende Musik zur jeweiligen Richtung der Architektur; ändert sich der Charakter dieses Textes, so ändert sich auch der Charakter der Musik. Auch zur Zeit des üppigsten Barockstils war man nicht verlegen um Grundsätze, durch welche das völlig Maasslose gerechtfertigt werden konnte, als das Formgefühl ins Maasslose geschritten war. Die Entwicklung der Architektur richtet sich nicht nach unseren Gedanken über das Schöne, sondern nach dem stetig fortschreitenden Umschwung des Formgefühls in den Geistern, der aus psychologischen Ursachen unvermeidlich und oft lange Zeit unbewusst sich vollzieht; er geht seinen Weg wie eine elementare Gewalt, und die Grundsätze der Menschen über das Schöne der Architektur, die sie aus den Werken der Vergangenheit sich ableiten, richten und ändern sich nach diesem Weg von einer Generation zur andern.



Worauf beruht die Wirkung des edlen Materials in der Architektur und im Kunstgewerbe?

Ein Vortrag

Meine Herren!

Die Frage, die ich heute zu beantworten die Ehre habe, ist nicht nur eine fachwissenschaftliche, sondern auch eine psychologische, und ihre Bedeutung erstreckt sich über die Grenzen der schmückenden Künste weit hinaus. Denn nicht nur in der Architektur und im Kunstgewerbe, sondern in allen Gebieten der sichtbaren Form erscheint die Thatsache, dass wir die Gebilde ausserordentlich verschieden hoch bewerthen je nach den Eigenschaften der Oberfläche, mit der sie uns entgegentreten. Aber in der Architektur sind uns clie Vergleichungen näher gelegt und häufiger nahe gelegt als in allen andern Gebieten. Hier haben wir am meisten Gelegenheit, die Verschiedenheit der Wirkung einer Form zu beobachten, wenn sie in verschiedenen Baustoffen ausgeführt ist. Wie arm ist bei der sorgfältigsten Herstellung der Formen und bei genau denselben Formen eine Fassade in Cement oder in Kalkputz gegenüber einer solchen in Sandstein! Wie viel schwächer aber auch eine Säule in Sandstein gegenüber einer solchen in weissem Marmor! Wie bedeutend wechselt der Eindruck einer und derselben Form, hergestellt in Tannenholz, Eichenholz oder polirtem Ahornholz! Wie überlegen ferner der rothe Porphyr gegenüber dem gebrannten Thon, obgleich dieser meist weit feuriger in der Farbe! Welchen bedeutenden Eindruck bietet uns ein Monument aus polirtem Syenit! Wie genügsam sind wir hier in unsern Ansprüchen an Form; wie schätzen wir sogar gerade die einfachen Formen hier am höchsten, weil sie uns im Genuss der Vorzüge des herrlichen Materials am wenigsten stören, Wie bedeutend schon die einzige, strenge makellose Ebene an einen Granitblock angeschliffen! ja sogar wie echt und edel der ganz rauhe Granitblock, wenn er - soeben zersprengt - uns sein Inneres in aller Frische und Reinheit vor Augen stellt, etwa gegenüber einem geborstenen Block aus Cementguss!

In gesteigerten Gegensätzen finden sich die Wunder des Materials im Kunstgewerbe, dessen Gebilde durch die Vorzüge der Silber- oder Gold- oder Erzfläche, der feinen textilen Stoffe, des Elfenbeins, des Ebenholzes, der Perlen und Edelsteine die höchsten Wirkungen erreichen. Auf einer Fläche von benigen Quadratmillimetern vermag uns hier der Smaragd, der Rubin, der Diamant in Verbindung mit jenen Metallen einen so überraschend hohen Eindruck zu bieten, dass wir uns gestehen müssen, auch im edlen Material liegt das Geheimniss des Schönen!

Die Frage nach den Ursachen unseres Wohlgefallens an all' diesen edlen Stoffen liegt sehr nahe; sie bildet einen Theil der uralten Frage nach den Ursachen unseres Wohlgefallens am Schönen überhaupt. Aber gerade in dem Gebiet des Schönen, in das unsere Frage gehört, in das überhaupt Architektur und Kunstgewerbe gehören, im Gebiet der reinen Formen, welche kein Abbild von Werken der Natur bieten wollen, welche ohne Erinnerung an andere Vorstellungen, ohne Erweckung von Gedanken gefallen wollen, gerade in diesem Gebiet sind die Resultate der Aesthetik am ärmsten, ja fast gleich Null.

Die moderne Aesthetik scheidet sich in zwei Lager, in die idealistische und formalistische Richtung. Jene behauptet, das ästhetisch Wirksame in den Kunstwerken sei der Gedankengehalt, während die formalistische Richtung den Grund des Schönen im Zusammenwirken bestimmter Verhältnisse, meist Zahlenverhältnisse, findet, welche unter allen Umständen, bei jedem Vorkommen an irgend einem Gebilde gefallen sollen und daher »die wohlgefälligen Urverhältnisse« genannt werden. Beide Richtungen geben gleich wenig Auskunft über die psychologischen Ursachen unserer Freude am edlen Material; die Einen wollen sie nicht geben, die Andern können es nicht.

Der idealistischen Aesthetik ist das Schöne der »Sinnen Schein der Idee«, ein göttlicher Urgedanke in körperlicher Erscheinung. Den Reiz der Farbe und des Glanzes achtet sie gering; er gehört noch in der Sinne Schranken; er ist an sich nur angenehm, noch nicht ästhetisch. Ungestört will sie ihre Pfade aufwärts wandeln zur Unendlichkeit; daher verbannt sie den gedankenlos-fröhlichen Eindruck jener edlen Stoffe in eine ferne Provinz jenseits der Grenzen des wahren Schönen, über welche nicht die Aesthetik, sondern die Naturwissenschaft und die Physiologie Rechenschaft zu geben habe.

Die formalistische Richtung bestreitet zuJar nicht, dass die Wirkung der Oberfläche in das Gebiet der Aesthetik gehöre; welches aber die wohlgefälligen Urverhältnisse seien, die hier zusammenwirken, hat sie noch nicht beantwortet, ja noch nicht einmal zur Frage gestellt, indem sie noch immer vergebens die Urverhältnisse in andern Gebieten zu suchen im Begriff ist, wo das Finden weit nothwendiger wäre. Es ist auch schwer einzusehen, wie in der Erscheinung einer polirten Granitfläche oder einer Diamantfasette mit jenen Urverhältnissen anzukommen sein soll.

Dieser Misserfolg der Aesthetik in Beziehung auf unsere Frage und überhaupt auf alles, was in das Gebiet der reinen Form gehört, ist um so mehr zu bedauern, als gerade hier nicht nur eine praktische Verwerthbarkeit einer Entdeckung am ehesten zu hoffen, sondern auch das Wissen von den Ursachen unseres Gefühls am interessantesten wäre. Warum uns Julius Cäsar und Wallenstein erschüttern, warum uns die Assunta des Tizian hinreisst, das ist uns nicht unbegreiflich; hier wissen wir, dass es Gedanken sind, auf denen unser Gefühl beruht, und überall sonst im Leben heftet sich ja Gefühl an den Gedanken. In der Freude an der reinen Form aber fehlt jeder Gedanke; hier erfreuen oder missfallen uns die Gebilde scheinbar ohne dass wir irgend eine Geistesthätigkeit dazu geben; wir erleiden hier unser Gefühl völlig im Unbewussten; daher erscheint es hier weit weniger begreiflich, zweit wunderbarer als in jenen andern Fällen, die zu zergliedern bisher der Aesthetik gelang.

Dass Sie heute eine volle Lösung der schwierigen Frage des Formschönen auch von mir nicht erwarten dürfen, werde ich kaum zu sagen nöthig haben; dazu würde ohnehin ein Vortrag nicht genug Raum bieten. Aber ich hoffe wenigste zugleich mit der Beantwortung unserer engeren Frage ein Stück weit des Wegs mit ihnen zu gehen, auf welchem wie ich glaube - eine Lösung gefunden werden wird, und das zu·vermuthende Endresultat wenigstens im Umriss anzudeuten.

Der Stifter der formalistischen Aesthetik, Herbart, empfiehlt als erstes Mittel zur Auffindung jener Urverhältnisse die sorgfältige Analyse der Gebilde auf die Vorstellungen, die erwecken. Auch ohne die schönen Urverhältnisse suchen wollen und ohne von der formalistischen Lehre überzeugt zu sein, muss man dieses Verfahren als das einzig für die Aesthetik Erfolg versprechende anerkennen. Wir wissen, dass überall im Leben Freude oder Trauer eines Augenblicks auf den Vorstellungen beruht, die in diesem Augenblick klar oder minder klar in der Seele thätig sind. Das muss auch im Gefühl des Schönen zutreffen; auch dieses Gefühl muss auf einem Zusammenwirken von Vorstellungen beruhen, die das Anschauen der Gebilde unmittelbar oder durch Erinnerung an früher Erlebtes in uns erweckt. Geht man nach dieser Anleitung Herbart's an die Zergliederung der Vorstellungen, die im Anschauen der edlen Stoffe zusammenwirken, so findet sich günstiger Weise, dass hier eine solche Zergliederung sehr weit geführt werden kann, wogegen sie bei den meisten andern Gebilden, die auch zur reinen Form gehören, bald auf Schwierigkeiten stösst.

Zunächst sind zwei Vorzüge des edlen Materials zu nennen, die von der Erinnerung an frühere Vorstellungen herrühren, also von einer Erinnerung, die nicht in jeder Person vorauszusetzen und als intellektuelles Wohlgefallen vom Uebrigen zu scheiden ist. Wir haben bei den edlen Gesteinsarten, Metallen, textilen Stoffen u. s. w. ein Gefühl für die Härte oder die Geschmeidigkeit oder die Kraft des Widerstandes bei mächtigem Druck; wir wissen vom Ausdauern im Wasser oder Feuer; wir haben die Erinnerung an die Schwere beim Wiegen in der Hand, oder die glatte Kälte oder die Weichheit und Feinheit der Tastempfindung, alles abgeleitet aus früheren Erfahrungen an denselben Stoffen. Was wir von solchen Vorstellungen physikalischer Vorzüge durch frühere Sinueseindrücke in uns aufgenommen haben, bildet beim Anschauen der Fläche einen mehr oder minder klaren oder ganz unbewussten Bestandtheil im Vorstellungsleben und hat damit einen unleugbaren Einfluss auf das Gefühl. Wir haben z. B. einer Haustein- und einer Putzfläche gegenübergestellt die Erinnerung, dass diese letztere schon bei einer schwachen mechanischen Einwirkung zerreisst und abfällt, dass sie den Schlagregen leicht ansaugt und verwittert, wogegen uns beim Stein immer vorschwebt, dass er auch einen kräftigen Stoss ohne Schaden ertragen kann und im Wasser aushält, und schon dieser Vorstellung ist ein Theil der günstigeren Wirkung der Formen in Haustein zuzuschreiben. Ein dem Regen ausgesetztes Putzornament bietet eine lebhaft störende Vorstellung neben denen seiner formalen Reize und lässt diese nicht recht zur Geltung gelangen. Die Mitwirkung solcher Vorstellungen im Gefühl ist zwar meist unbewusst, aber darum doch nicht gering anzuschlagen. Wie ist in unseren Augen das unscheinbare Platin auf immer veredelt, nachdem wir es im Feuer seine edlen Genossen haben überdauern sehen!

Als die zweite derartige Vorstellung ist der hohe konventionelle Werth der edlen Materialien, besonders des Goldes, der Edelsteine und der kostbaren Gewandstoffe zu nennen. Das Gold gewinnt - in allem Ernst gesprochen - entschieden an Schönheit durch das Wissen, dass man sich etwas dafür kaufen kann, und dass die Schönheit der Kleidung nach dem, was sie kostet, ebensosehr bewerthet wird als nach dem Geschmack, den man dabei entwickelt, das ist unseren Frauen nur zu gut bekannt. Dieses Wissen vom hohen konventionellen Werth tritt im Anschauen der edlen Stoffe ganz ebenso als klarer oder unbewusster Bestandtheil ins Vorstellungsleben ein, wie die eben erwähnten Erinnerungen an physikalische Vorzüge, und hat ebenso unleugbar einen Einfluss auf das Gefühl. Der hohe Tauschwerth erhöht auch den Schönheitswerth. Im ganzen Alterthum ist der theure Kaufpreis des Goldes, des Elfenbeins, der Edelsteine und edlen Hölzer, des Porphyrs u. s. w. ein Vorzug gewesen, der ihnen den wichtigen Platz in der Architektur und Bildnerei miterobert und den Gebilden, die aus ihnen bestanden, Bewunderung mitverliehen hat. Man lese nur etwa den Bericht über die bauliche und kunstgewerbliche Thätigkeit Salomo's im Buch der Könige: »Und der König Salomo liess machen zweihundert Schilde vom besten Golde; sechshundert Stück Goldes that er zu einem Schild. Und dreihundert Tartschen vom besten Gold, je drei Pfund Goldes zu einer Tartsche.« - »Und der König liess machen von Ebenholz Pfeiler im Hause des Herrn und im Hause des Königs, und Harfen und Psalter für die Sänger. Es kam nicht mehr solch' Ebenholz, ward auch nicht gesehen bis auf diesen Tag.« - »Und der König machte einen grossen Stuhl von Elfenbein und überzog ihn mit dem edelsten Golde « u. s. f. Ueber die Form dieser Schilde, Tartschen, Säulen und Harfen oder dieses chryselephantinen Throns erfahren wir leider nichts; diese war offenbar weniger wichtig. Auch alle anderen Aeusserungen des orientalischen Alterthums stimmen darin überein, dass die Freude an solchen Kunstschätzen sich zunächst nach dem Tauschwerth des Materials richtete. Welche Fülle von Gold und Perlen ist als Hintergrund der lebenslustigen Gestalten und der Feen und Geister verschwendet in den Märchen von Tausend und einer Nacht; aber weit häufiger ist dabei doch der fabelhafte Werth hervorgehoben als der hohe Reiz fürs Auge. Im Homer ist zwar das Künstlerische immer vorangestellt, wenn er etwa einen Schild oder eine Rüstung beschreibt; aber auch hier findet sich noch immer viel von jenem orientalischen Zug der Bewunderung des Kostbaren, und hochwerthige Glanzlichter aus Gold, Silber und Elektron sind allerorten aufgesetzt. Auch die Götterbilder der Griechen aus Gold und Elfenbein, mit den Augen aus Edelsteinen, zeigen ja deuilich das Bestreben, den Reiz unendlicher Kostbarkeit des Materials im Zusämmenklang der höheren Schönheiten mitertönen zu lassen. Dann im Nibelungenlied, wie mancher gute Schild von Golde roth, wie mancher lichte Stein auf Schwertes Knauf oder auf dem Saum der kostbaren Gewänder aus Arabia, und dazu die zwölf Wagen, die nichts anderes tragen »denn nur Gestein und Gold«, der Nibelungen Hort!

Den interessantesten Beleg für den Einfluss des Wissens vom konventionellen Werth bietet aber der seltsame Gebrauch der kunstwelken spätrömischen Zeit, ein edles Material, etwa Gold oder Schildpatt, unter einem gewöhnlichen zu verstecken, um im Verborgenen jenen Werth zu steigern, ohne das der kostbarsten Oberflächen überdrüssige Auge noch ferner mit solchen zu ermüden.


Ein weiterer Vorzug jener Stoffe führt uns zwar schon in das Gebiet der reinen Form, ist aber doch auch noch von der eigentlichen Wirkung der Oberfläche zu unterscheiden. Das edle Material ist fähig, alle Gebilde mit weit grösserer Annnäherung an die stereometrische Idealform, d. h. an die vom Entwerfenden gedachte Form, zu liefern als das gewöhnliche. Was wir etwa beim gebrannten Thon eine Ebene nennen, das ist noch weit entfernt, es zu sein, das ist, genau oder mit dem Mikroskop betrachtet, eine Landschaft mit unendlich vielen kleinen Hügeln und Thälern, ganz abgesehen davon, dass es als Ganzes immer ein wenig windschief oder gewölbt ist. Was wir beim Gusseisen eine gerade Kante nennen, ist einmal höchst selten gerade, sondern meist ein wenig verzogen, ist auch keine Kante, sondern ein kleiner Abrundungscylinder, der bald stärker bald schwächer gekrümmt und ebenfalls mit unregelmässigen Hügeln und Thälern besetzt ist. Wie anders dagegen die Ebene und Kante schon beim Marmor, wie abermals anders beim Diamant!

Jede Gesteinsart zieht durch ihr feineres oder gröberes Korn eine gewisse Grenze der Annäherung an die strenge Ebene und Kante, über die man nicht hinauskommt; jede schreibt ferner einen bestimmten Maassstab für die Gesimsgliederung und das Ornament vor, dessen Feinheit nicht überschritten werden kann, ohne dass die gewünschte Zierform in ihr Zerrbild umschlägt, Und da ist denn deutlich zu beobachten, dass uns ein Material in dem Maass edler erscheint, als es die stereometrische Idealform erreicht hat. Den anschaulichsten Beleg hierfür liefert das Mauerwerk in Backstein mit den verschiedenen Graden der Feinheit, in welchen es ausgeführt wird, liefert ferner der Wandverputz in seinen Abstufungen vom rauhen Bewurf bis zum polirten Kalkstuck, liefert endlich der Oelfarbanstrich von der gewöhnlichen Ausführung bis zu der gespachtelten und geschliffenen. Alle feineren Grade dieser Arbeitsgattungen beruhen auf dem Gefühl, dass der Eindruck um so schöner wird, je mehr es gelingt, die Ebene zur wahren Ebene, die Kante zur wahren geraden Linie zu machen, und beim edlen Material gelingt dies eben weit mehr.

So beruht die Ueberlegenheit der Marmorarchitektur über diejenige in Sandstein, und die vornehmere Wirkung der Sandsteinarchitektur gegenüber derjenigen in gebranntem Thon grossentheils auf der weitergehenden Annäherung an die wahre Ebene und Kante, überhaupt auf der grösseren Reinheit der Formen. In gebrannten Steinen erscheint jede Gesimskante durch die häufige Unterbrechung mit Stossfugen als eine hin und her zitternde Linie, wenn auch der einzelne Stein noch so sorgfältig hergestellt ist; ebenso weist das Streiflicht der Sonne über einer Backsteinmauer immer geringe Verdrehungen der Steine gegenüber der Idealfläche nach. Wenn nach und nach unser Verblendmauerwerk in Backstein einen solchen Grad der Vollendung erreicht, dass sein Eindruck hinter dem der geschliffenen Quadermauer nicht mehr allzuviel zurückbleibt, so ist leicht erkennbar, dass dieser Fortschritt nur auf grösserer Annäherung an die Idealform beruht. Die malerische Unregelmässigkeit zerbröckelter Oberflächen und schiefer verwitterter Kanten kann auf dem Bild günstig wirken; kann an einem alten Bauwerk oder einer Ruine günstig wirken; aber man darf sich dadurch nicht beirren lassen; eine gemalte Unregelmässigkeit ist keine Unregelmässigkeit, und was die Zeit an einem Bauwerk verändert hat, bildet in unserem Gefühl eine Rechnung für sich ; dagegen wird ein neues Werk durch Unregelmässigkeiten in der Ausführung nicht malerisch interessanter, sondern als architektonische Leistung ordinär.

Ein überzeugendes Beispiel für die Abhängigkeit der Formenwirkung von ihrer Annäherung an die Idealform liefert endlich das Gusseisen, das in Folge des Schwindmaasses alle Formen stumpfer wiedergibt, als sie modellirt waren, dabei immer etwas verzogen, und das daher mit allem Aufwand an Ornament ein undankbares Material ist. Was ist ein Ornament in weissem Marmor, und was ist es abgegossen in Eisen!

Mit den hier gemeinten Unzulänglichkeiten gegenüber der Idealform ist nicht zu verwechseln eine absichtlich rauhe Behandlung der Fläche, etwa im sogenannten Besenwurf oder in der Architektur der Rustika, wie man sie benützt, um an den Fassaden von unten nach oben eine Entwicklung vom Kräftigen zum Feinen zu erreichen. Hier ist die Idealform keine glatte Ebene, sondern eine gesetzmässig gegliederte. Ebensowenig ist an diejenigen Störungen der Form zu denken, welche von der Unbeständigkeit des gewöhnlichen Materials in Kälte, Hitze und Regen herrühren, z. B, an Risse und Flecken alter Putz- und Cementflächen, Ausschwitzungen auf Backsteinmauern, Schwinden und Verziehen der Flächen und Kanten des weichen Holzes u. s. f. Diese Veränderungen der Form setzen zwar gewiss das minderewerthige Material am meisten in unserem Unheil herab; aber sie gehören als zufällige Mängel der Gebilde nicht hierher.


Es ist sicher, dass den drei betrachteten Vorzügen der edlen Stoffe, der Werthschätzung ihrer bedeutenden physikalischen Eigenschaften, dem Wissen von ihrem hohen Tauschwerth und der Fähigkeit der grösseren Annäherung an die Idealform, ein sehr grosser Theil ihrer schönen Wirkung und der Ueberlegenheit der Formen, die aus ihnen bestehen, zu verdanken ist; aber die Frühzeitigkeit, mit welcher die Freude am Glänzenden und Farbenreichen im Kindesalter erscheint, noch ehe man von jenen Vorzügen eine Ahnung hat, lässt erkennen, dass diese Wirkung der Hauptsache nach andere Quellen ohne alle Reflexion haben muss. Der Eindruck der Oberfläche ist durch diese Thatsache als an sich wohlgefällig nachgewiesen. Um auch diesen Eindruck zu zergliedern, empfiehlt es sich, konkrete Beispiele zu wählen, und ich möchte daher Ihre Aufmerksamkeit lenken auf polirte rechteckige Platten aus Achat, Jaspis oder Malachit.

Auf der Fläche der Malachitplatte erscheinen rundliche Figuren verschiedener Grösse und mit unregelmässig gekrümmtem Umfang aneinandergedrängt, selten etwas einspringende Winkel und grössere Länge nach einer Richtung darbietend. Als Inneres dieser Figuren finden wir viele schmale konzentrische, stätig sich bald ein wenig erbreiternde, bald zusammenziehende Streifen, deren Farben sich zwischen lebhaftem Weissgrün, ja fast Weiss und Tiefdunkelgrün bewegen und hie und da sanfte Uebergänge, meist aber sehr scharfgezeichnete Grenzlinien mit kräftigen Kontrasten darbieten. Im einzelnen Streifen ändert sich die Farbe nicht. Die Zwickel, die zwischen den Figuren übrig bleiben, setzen die Reihe der Streifen fort und bilden dadurch konzentrische Figuren mit konkav gekrümmten Seiten und ausspringenden Winkeln. Das ganze Liniensystem erscheint wie eine Höhenkurvenzeichnung eines vielgipfeligen Hügels und verräth sich deutlich als ein Durchschnitt nierenförmiger Massen, die aus verschiedenfarbigen und verschiedendicken konzentrischen Schalen bestehen. Etwas andere Zeichnungen und andere Farben, aber dieselben Kontraste der Streifen bieten Achat und Jaspis.

Die hier zusammenwirkenden Vorstellungen lassen sich nun leicht ausscheiden; es sind die folgenden:

1) Die Ebene; - hätten wir etwa eine Kugel oder Vase vorausgesetzt, so wäre hier eine Vorstellung zu nennen, in welcher mehr geometrische Formgesetze enthalten sind als in der Ebene.
2) Die Zeichnung oder das beschriebene System der Linien.
3) Die Kontraste der Flächen, die durch die hellen und dunklen Streifen gebildet werden.
4) Der Reiz der Farbe, nämlich des Grün mit allen Abstufungen bis zu Weiss.
5) Der Glanz.
6) Das Durchscheinen der oberflächlichen Schichte; dieses ist nur in geringem Grad vorhanden; aber es ist vorhanden.
7) Das längliche Rechteck als Umrisslinie.

Man kann nun günstigerweise einen um den anderen dieser Eindrücke sich herausgenommen denken und beurtheilen, welchen Schönheitswerth er an sich darbietet und in welchem Maass er durch sein Hinzutreten die Schönheit des Ganzen steigert.

Nehmen wir zuerst den Glanz heraus. Er ist offenbar an sich wenig werth. Tauchen wir ein Stück Thon in Firniss oder betrachten wir ein ordinäres grün glasirtes Töpfergeschirr, so haben wir reichlichen Glanz, und doch ist der Eindruck ein ganz geringer. Vergleichen wir aber die polirte Malachitplatte mit der zuvor unpolirten, nur eben geschafften, so findet sich, dass der an sich werthlose Glanz hier eine ganz ausserordentliche Steigerung der Wirkung hervorbringt.

Die zweite herausgegriffene Einzelvorstellung mag die Zeichnung sein, das System der Linien, die auf der Platte so weich hinzufliessen scheinen. Wir können sie ja genau auf Papier herauszeichnen; schwieriger würde dies allerdings werden bei Granit oder edlem Serpentin. Zwar folgen wir dann noch immer gerne dem stätigen An- und Abschwellen des Linienzugs und seinen sanften Wendungen und Rückkehrkurven; aber das Vergnügen ist doch ein sehr armes. Offenbar ist auch dieses Liniensystem an sich - auf Papier herausgetragen - nur wenig werth. Hält man aber neben die gezeichnete Malachitplatte eine gleichmässig gefärbte ohne jede Zeichnung oder auch nur eine solche ohne scharfe Grenzlinien zwischen den verschieden hellen Streifen, so findet sich wieder, dass dem an sich fast werthlosen Faktor ein hoher Beitrag zur Schönheit zu verdanken ist.

Was der Reiz der Farbe der Malachitplatte an sich werth ist, lässt sich beurtheilen, wenn man ein neutrales Grün als Wasserfarbe auf glattes Papier aufträgt. Das dürfte zunächst als eine gewagte Behauptung erscheinen; denn auch ohne Politur ist die Farbe des Malachits eine so tiefe, flüssige, dass jede Wasserfarbe auf Papier trocken und stumpf daneben aussieht. Aber dieser Farbreiz ist eben nicht allein dem Farbton zu verdanken, sondern einestheils einem seideartigen Glanz, der auch dem unpolirten Malachit noch immer zu eigen ist, anderentheils einem leichten Durchscheinen der oberflächlichen Schichte. Wir erhalten die grünen Lichtstrahlen nicht nur von der Oberfläche, sondern auch ein wenig aus der Tiefe der Masse, wenn auch nur einen Bruchtheil eines Millimeters, und dieser Thatsache entspricht - wie später auszuführen sein wird - immer jener flüssige, volle Charakter der Körperfarbe, den farbigdurchsichtige Stoffe am stärksten zeigen können und den die Wasserfarbe auf Papier nie erreicht. Es mag zunächst als Beleg für diese Behauptung an die Farbe eines tiefen, klaren Wassers erinnert werden, bei dem wir in weit stärkerem Maass die Strahlen des Körperlichts aus der Tiefe erhalten und bei dem jenes Flüssige der grünen oder blauen Farbe noch in höherem Maass vorhanden ist.

Es gibt nach H. Helmholtz keine anderen Eigenschaften der Farbe als Farbton, Grad der Abschwächung durch Weiss und Lichtstärke, und diese drei Eigenschaften lassen sich mit geeigneten Wasserfarben auf dem Papier ebenso erreichen, wie sie der Malachit darbietet. Hierin liegt der Beweis für die soeben aufgestellte Behauptung; was uns das Grün der unpolirten Malachitplatte noch immer als ein so viel schöneres Grün erscheinen lässt als das auf dem Papier, das ist nicht das Verdienst der Farbe, sondern der Mithülfe des Seideglanzes und des Durchscheinens; in diesem schönen Grün geniessen wir schon zwei oder drei der früher aufgezählten Vorstellungen im Zusammenwirken begriffen, und es ergibt sich nun leicht, dass auch die Farbe der Malachitplatte an sich und das Durchscheinen an sich nur ein geringes Wohlgefallen zu erzeugen fähig sind.

Was aber von der Wirkung der Malachitplatte übrig bleibt, wenn wir den Reiz der Farbe und des Durchscheinens wegnehmen, das kann sie uns anschaulich machen in - ihrer Photographie; wenn diese schön eben und glatt aufgezogen wird, so hat sie Alles, was die Malachitplatte bietet, ausgenommen Farbe und Durchscheinen. Auch hier ergibt die Vergleichung mit dem Original, dass die Schönheit ihre Flügel verliert, wenn jene zwei an sich schwachen Faktoren fallen.

Was endlich das Rechteck und die Ebene zur Wirkung beitragen, lässt sich aus der Vergleichung der ebenen, rechteckigen, unpolirten Malachitplatte mit einem ebenen, unregelmässig abgegrenzten, beziehungsweise mit einem ganz unbearbeiteten Stück des Minerals ableiten. Diese Vergleichung ergibt, dass die strenge ungestörte Ebene eine der stärksten mitwirkenden Vorstellungen ist. Bei reicheren Formen wird natürlich - bis zu einer gewissen Grenze - dieser Faktor noch stärker, sogar leicht zu stark. Dass aber auch die strenge Ebene an sich nicht allzuviel werth ist, das kann etwa die Ebene auf trockenem Thon uns lehren.

Viele interessante .Blicke auf andere Mineralien wären hier noch möglich; aber sie würden immer dasselbe Resultat ergeben, das schon die Malachitplatte deutlich verkündet. Sie lehrt uns, dass jede Einzelvorstellung, die sie erweckt, obgleich an sich wenig werth, durch ihr Zusammentreten, durch ihre Gleichzeitigkeit mit den übrigen eine hohe Wirkung erzielt. Nach einander erscheinend, lassen sie das Auge ungerührt; durch ihre Vereinigung werden sie stark. Indem man zur Ebene die Zeichnung, zu dieser den Kontrast heller und dunkler Flächen, dann den Reiz der Farbe, endlich den des Durchscheinens und des Glanzes fügt, sieht man die Schonheft entspringen und wachsen und sich vollenden. Wie in der Mathematik die Grössen sich mit einander multipliziren lediglich durch ihr Nebeneinandertreten, so erzeugen jene Einzelvorstellungen, als an sich arme psychologische Faktoren, lediglich durch ihr Zusammentreten im Bewusstsein das unverhältnissmässig viel reichere psychologische Produkt des Schönen.


Haben wir aber auch in diesen Faktoren schon wirkliche, nicht weiter zerlegbare Primzahlen vor uns; sind in jenen Vorstellungen die letzten Elemente der Schönheit unserer Malachitplatte gefunden? Nein, bei einer derselben, bei dem System der konzentrischen Linien, ergibt sich ja sofort, dass sie noch aus mehreren Elementen zusammengesetzt ist; auch bei einer zweiten findet sich bald, dass sie noch weiter theilbar ist, nämlich beim Glanz.

W. Wundt erklärt auf Grund schöner Experimente den Glanz als die gleichzeitige Wahrnehmung einer Fläche und eines von dieser Fläche gespiegelten Bildes. Wenn wir z. B. bei Tage die polirte Malachitplatte in geeigneter Lage zwischen Fenster und Auge bringen, so sehen wir auf ihr ein ziemlich deutliches Bild des Fensterkreuzes, ohne dass wir jedoch ganz aufhören würden, in diesem Biid die Zeichnung und die grüne Farbe der Platte auch zu sehen. Je deutlicher wir das Fensterkreuz sehen, desto weniger deutlich sehen wir die Zeichnung und desto stärker ist der Glanz; bei dem schwachen Glanz etwa einer matten Goldplatte würde nur noch ein sehr verschwommenes Bild des Fensters, dagegen die Goldfläche selber sehr deutlich erscheinen. Wir erhalten also immer zweierlei Licht von einer glänzenden Fläche, einerseits gespiegeltes oder Glanzlicht, das im allgemeinen in der Farbe der Lichtquelle erscheint, also bei Tage weiss, bei Lampenlicht gelb ist, und andererseits das Licht, das der Körper zeigt, wenn er nicht glänzt, und das man die Körperfarbe oder das Körperlicht nennt. Die beiden Lichter sind immer verschiedenfarbig; das Glanzlicht ist - wie schon erwähnt - bei den meisten Körpern weiss; nur bei Gold, Kupfer, Messing, ferner bei den Anilinfarben, bei goldblonden Haaren, bei bestimmten Vogelfedern, bei den Flügeldecken des Goldkäfers u. s. w. ist es farbig, und zwar meist entschieden andersfarbig als das Körperlicht. Dieser Glanz durch Zusammenwirken zweier wirklicher Farben ist der schönere; er heisst Metallglanz, am schönsten wird er, wenn zwei mässig stark kontrastirende Farben, z. B. Grün und Gelb, zusammenwirken, wie eben der Goldkäfer, aber auch der sogenannte stereoskopische Glanz beweisen kann. Zu diesen schönsten Arten des Glanzes gehört nun derjenige unserer Malachitplatte nicht; sie hat kaltes weisses Glanzlicht, sogenannten Glasglanz. Aber die Thatsache, die wir brauchen, bietet sie doch; wir sehen den unbekannten Faktor »Glanz« sich zerlegen in weisses Licht und grünes Licht, also in zwei einfachere, besser bekannte Faktoren. Schon an sich, abgesehen von seinem Beitrag zur Wirkung jener Platte, ist der Glanz und zumeist der Metallglanz, ein hübscher Beleg dafür, wie das Wohlgefällige eines Sinneseindrucks zu Stande kommt aus dem Zusammenwirken minderwerthiger, einfacher Vorstellungen oder Empfindungen.

Aehnlich wie mit dem Glanz verhält es sich mit dem Durchscheinen; es besteht beim Malachit darin, dass wir die grünen Strahlen aus verschiedenen Tiefen der Masse, vielleicht bis zu einem Viertel- oder halben Millimeter, erhalten, und dass diese Strahlen um so tiefer grün sind, je grösser die Tiefe, aus der sie kommen. Dadurch löst sich auch der unbekannte Faktor »Durchscheinen« in einfachere Elemente auf. Die Zerlegung auch dieses Faktors liefert aber ausserdem schon an sich einen Beleg für die Wohlgefälligkeit des Zusammenwirkens vieler gleichzeitiger Vorstellungs- und Empfindungselemente und zwar in folgender Weise:

Alle Körper sind durchscheinend; es fragt sich nur bis zu welcher Dicke. Die mindest durchscheinenden sind die Metalle. Könnte man aus allen Körpern ebene Platten bilden und alle im dunklen Raum vor dieselbe Lichtquelle halten, so liesse sich für jeden eine Dicke der Platte bestimmen, bei welcher das durchdringende Licht eben noch wahrgenommen wird. Während die Platte bei Silber nach Quincke nur 9 Hunderttausendstelmillimeter, bei Gold 16 zur Dicke hätte, wäre nach ganz unmaassgeblicher Schätzung Thon und Asphalt vielleicht ¼ Millimeter, Malachit ½ Millimeter, Tannenholz 4 bis 5 Mlillimeter, Schwefel ebenso, karrarischer Marmor und weisses Wachs einige Centimeter, Gletschereis einige Meter, klares Wasser vielleicht 100 Meter dick, und fast alle durchgedrungenen Lichter wären farbig. So dick diese Platten wären, so tief dringt das Licht auch bei grösserer Dicke in die betreffenden Körper ein, also auch in diejenigen, die wir gewöhnlich als undurchscheinend bezeichnen, und durch innere Brechung und Reflexion kehrt es zurück, soweit es nicht vom Körper absorbirt wird. Ein Theil wird schon ganz aussen zurückgeworfen, ein anderer Theil nahe der Oberfläche, ein dritter Theil noch tiefer u. s. f. Der Grad der Farbentiefe eines jeden zurückkehrenden und ins Auge gelangenden Lichtstrahls richtet sich nach der Länge des Wegs, den er im Körper durchlaufen hat; wir erhalten daher im Körperlicht stark durchscheinender Stoffe eine andere Kollektion verschieden farbentiefer Strahlen, von Weiss bis zu einem bestimmten Maximalwerth der Farbe, als von sehr wenig durchscheinenden desselben Farbtons, obgleich die aus allen Strahlen resultirenden Mittelwerthe bei beiden Stoffen dieselben sind. Wo grössere Wege der Lichtstrahlen vorkommen, da ist die grössere Abstufung, die grössere Vielheit verschiedener Lichtempfindungen im Körperlicht vereinigt; bei frühe zurückgeworfenen Strahlen sind die Grenzen enger und das Licht grösstentheils von derselben Farbentiefe. Die Erfahrung lehrt aber, dass uns die Körperfarbe stark durchscheinender Stoffe weit schöner, flüssiger, voller erscheint als bei gering durchscheinenden, wofür das Blau oder Blaugrün eines tiefen klaren Gebirgswassers im Granitbett immer der beste Beweis, wofür aber auch Bernstein, Schildpatt, Horn und farbige Glasflüsse in dicken Schichten anschauliche Beispiele. Es findet sich also auch im engen Gebiet des Durchscheinens ein Beleg für die früher abgeleitete Thatsache, dass der grösseren Vielheit der gleichzeitigen Vorstellungen der höherwerthige Eindruck entspricht. Es scheint, dass wir. mit unbewusster Abstraktion im Anschauen der Körper spüren, aus welcher Tiefe ihrer Masse jeder Lichtstrahl kommt, der in unser Auge gelangt, indem wir das Körperlicht auf seine Zusammensetzung aus verschieden tief gefärbten Strahlen analysiren, wie wir nach W. Wundt den Glanz analysiren, und dass auch hier ein reicheres Resultat dieser Analyse im gesteigerten Gefühl für die Farbe des tiefer durchscheinenden Körpers ihren Ausdruck findet.

Die Elemente des Durchscheinens anschaulich zu machen, sind übrigens diejenigen Körper mehr geeignet, welche das Licht noch in erheblicher Dicke durch und durch dringen lassen, ohne durchsichtig zu sein, z. B. Porzellan, karrarischer Marmor, Alabaster, weisses Wachs, undurchsichtiger Bernstein, trübe Glasflüsse u. s. f.; auch darf man, um die bedeutende Wirkung dieser stärkeren Grade des Durchscheinens zu beobachten, keine Ebene nehmen, sondern eine Fläche mit Schattirung. Dabei zeigt sich, dass die Lichtflächen weniger hell werden, als bei nicht durchscheinenden Körpern derselben Farbe, weil mehr Licht vom Körper verschluckt wird als bei diesen. Alle Uebergänge der Beleuchtungsgrade werden dadurch schon auf der Lichtseite weicher, sanfter. Aber noch stärker ist die Wirkung im Schatten, weil hier das aus der Tiefe kommende Licht neben dem schwachen Körperlicht weit mehr zur Geltung gelangt und die bei undurchsichtigen Körpern harten und kräftigen Schattentöne abschwächt, indem es ihnen wieder das Flüssige, Milde verleiht, das immer den aus der Tiefe kommenden Lichtstrahl charakterisirt. Die Schatten werden auch weit gleichmässiger, denn zugleich mit der Abschwächung der dunklen Stellen werden die Reflexe, die den Schatten gliedern, weniger hell, indem auch das von der Reflexquelle erhaltene Licht stärker verschluckt wird. Darin liegt z. B. der Grund der Ueberlegenheit von weissem Marmor gegenüber Gyps; die Schatten bilden bei jenem grosse ruhige Massen; bei Gyps sind sie, abgesehen von der trockenen Härte, bald viel dunkler, bald durch vorlaute Reflexe zerrissen.

Beim karrarischen Marmor, und mehr noch beim Alabaster, geht das Durchscheinen so weit, dass bei kleinen Objekten kein Schatten mehr wirklicher Schatten und keine Form mehr deutlich ist, eine Verminderung der Vorstellungskombination, durch die der Adel des zarten Materials in eine Schwachheit umschlägt; es sieht Alles aus, wie aus weissem Zucker gegossen. Die Italiener verwerthen dieses starke Durchscheinen zu allerlei Spielereien. Auf der Ausstellung in Antwerpen war eine weibliche Büste mit einem Schleier vor dem Gesicht in karrarischem Marmor ausgestellt; dabei war das Durchscheinen des marmornen Schleiers - wie bei der sogenannten Lithophanie - benützt, um in der Seiten- und Schrägansicht die Formen des Gesichts, besonders die Profillinie, von dem eckigen zum Theil weit vortretenden Faltenwurf des von der Hand angespannten Schleiers zu trennen. Der hübsche Einfall war mit der grössten Virtuosität durchgeführt und fand allseitiges Interesse; aber das Durchscheinen des Materials ging noch weiter als gut war; denn auch bestimmte Partien des Kopfes selber waren etwas durchscheinend, ein Mangel, der nur durch die Wahl eines grösseren Maassstabs der Büste vermieden worden wäre. Je grösser die Dimensionen der Werke in diesem Material, desto mehr gelangen seine Vorzüge zur Geltung.

Je nach dem Grad des Durchscheinens ist die Abschwächung der Lichter und Schatten stärker oder weniger stark. Der schon genannte gegossene weisse Zucker ist ein Beispiel stärkster Abschwächung; er sieht im Schatten fast ebenso hell aus wie im Licht; etwas weniger stark nähern sich Licht und Schatten im Blatt der weissen Lilie und bei dünnen Alabasterplatten.

In den Schattenflächen lässt sich auch am besten beobachten, dass das durchgedrungene Licht meist entschieden andere Färbung zeigt als der Körper im gewöhnlichen Licht. Das Durchscheinen des kanarischen Marmors in dünnen Schichten im Körperschatten zeigt z. B. eine schöne gelbliche Färbung, deren Ton weit wärmer ist als derjenige der lichtbestrahlten Flächen und mit der wachsenden Dicke oder Veränderung der Flächenrichtung durch sanfte Uebergänge an den bläulichen Ton der übrigen Schattenflächen anschliesst. Auch Porzellan zeigt diesen Kontrast der Farbe in den stärker durchscheinenden Schattenflächen gegen die übrigen und gewinnt dadurch seine Ueberlegenheit über das wenig durchscheinende Steingut, das härtere und eintönige Schatten darbietet, auch härter glänzt.

So löst sich also auch dieser zweite Fall des Durchscheinens, bei welchem das Licht durch und durch den Körper durchstrahlt, in ein Zusammenwirken einfacher Farbempfindungen auf.
Wo immer wir ein Gebilde betrachten, das durch ein edles Material uns erfreut, da findet sich dieses Zusammenwirken von vielen gleichzeitigen Vorstellungen und. Lichtempfindungen wieder, die an sich nur einen geringen Eindruck liefern und durch ihre Vereinigung stark werden. Je mehr solcher Elemente zusammenwirken, desto stärker der Eindruck; freilich sind nicht alle Elemente von gleich grosser Wirkung. Einzelne der genannten können fehlen, wenn andere dafür auf treten oder andere der genannten um so reicher werden. In den farbigen Edelsteinen fehlt z. B. die Zeichnung auf der Fläche; dafür aber erscheint die reiche Form der Fasettirung mit einer Menge von formalen Vorstellungen und eine Fülle von Kontrasten heller und dunkler Flächen; insbesondere aber ist hier das Zusammenwirken der Lichtgattungen aufs höchste gesteigert, indem aussen reflektirte weisse Glanzlichter und innen reflektirte, tief farbig leuchtende Glanzlichter verschiedener Stärke zum Körperlicht und durchscheinenden Licht treten. Ist ein Stein ganz durchsichtig, so fehlt das Körperlicht. Schon der Wein im Glas zeigt ja die vielen verschiedenfarbigen inneren Lichter und das äussere weisse Glanzlicht, die sich bei jeder Bewegung des Auges ändern. Beim Opal und bei den Perlen liegt das Zusammenwirken vieler Lichter ebenfalls offen da. Beim Diamant fehlt wegen der vollkommenen Durchsichtigkeit auch das Körperlicht; dafür erscheinen die inneren und äusseren Glanzlichter in zahlreichen Kontrasten, und eine Fläche wirft in Folge des starken Lichtbrechungsvermögens eine besonders grosse Lichtmenge ins Auge, die schon als weisses Licht einen bedeutenden Faktor der Vorstellungskombination bildet. Bei günstiger Stellung des Steins zum Auge beginnt aber diese Fläche zu funkeln, d. h. rasch nach einander die lichtesten und doch feurigsten Farben zu zeigen, und wenn sich das Auge oder der Stein bewegt, so geht dieses Farbenspielen rasch von einer Fasette auf die andere über.

Das Funkeln, das am schönsten bei den Fixsternen der Winternacht zu beobachten ist, erreicht seine Wirkung auf das Gefühl dadurch, dass mehrere der aufeinanderfolgenden farbigen Lichter zugleich im Bewusstsein stehen. Jeder Sinneseindruck nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch; mag auch ein Licht noch so rasch nach dem Aufblitzen wieder erlöschen, in unserer Empfindung geht es unter eine gemisse Zeitdauer nicht herunter, worauf z. B. die Vorstellungen des Blitzes als Linie und des feurigen Kreises gegenüber der rasch geschwungenen glühenden Kohle beruhen. Die Farbeneindrücke des Funkelns folgen nun einander so rasch, dass der eine im Bewusstsein noch andauert, während schon der andere oder gar der dritte und vierte bewusst geworden ist; die Aufmerksamkeit ist zwar immer beim letzten, aber einige der vorangegangenen sind darum noch nicht vom Bewusstsein verlassen, sondern nur in geringeren, allmählich abnehmenden Graden der Deutlichkeit bewusst. So erweckt also auch das Funkeln eine Vielheit gleichzeitiger Lichtempfindungen.

Wo immer wir zwei gleichgeformte Gebilde finden, von denen das eine edler wirkt, da ist immer einer der genannten Faktoren mehr vorhanden oder stärker vorhanden als beim anderen. Es ist besonders oft der verschiedene Grad des Durchscheinens der Oberflächen, was die Verschiedenwerthigkeit erzeugt. Hierauf scheint unter anderem zu beruhen der vornehmere Eindruck des Sandsteins gegenüber gleichfarbigem Cement oder gefärbter Tünche. In den Sandstein dringt das Licht durch die Quarzkörner tief ein; der Cement dagegen, selbst wenn mit viel quarzigem Sand bereitet, bildet aussen immer eine Kruste ohne Sand, so dass kein Sandkorn freiliegt; ebenso ist es mit der Farbschichte, die man auf den Verputz legt. Diese Kruste oder Kalkfarbschichte ist sehr wenig durchscheinend und zeigt dementsprechend, verglichen mit der Steinfläche, ein trockenes, stumpfes Ansehen. Auch im Schatten ist der Sandstein, wie der Marmor gegenüber dem Gyps, durchsichtiger, bläulicher, milder als der Cement. Man hat in manchen Städten den Gebrauch, die Werksteine nach dem Versetzen mit einem Lehmanstrich gegen Kalkflecken zu schützen, und es ist zu beobachten, dass derart behandelte Hausteinfassaden auch bei angestrengtester Reinigung nie mehr die schöne, durchsichtige, ursprüngliche Farbe des Steins wieder gewinnen, sondern immer etwas Ockerartiges, Stumpfes behalten. Das kommt von einer dünnen Lehmschichte, die in den Vertiefungen des Gefüges sich auf die Quarzkörner gesetzt hat und dem Lichtstrahl den Weg nach innen und wieder zurück verlegt. Dadurch hat man einen jener Faktoren zerstört, auf deren Zusammenw irken die Schönheit der Oberfläche beruht.

Das bekannte Verfahren, den Gypsguss mit Stearin oder Paraffin zu tränken, macht, abgesehen von der Veränderung der Farbe, die Schattirung sichtlich weicher, marmorartiger. Dieser Vorzug rührt von einer veränderten Lichtbrechung im Innern; die ursprünglich nur Luft einschliessenden Poren füllen sich mit Paraffin, und die Masse wird dadurch stärker durchscheinend, wie Papier, das Oel ansaugt. Es tritt also hier als Ursache des edleren Aussehens eine reichere Kollektion von Lichtstrahlen auf.

Auch die Blätter der Blumen, weiss oder farbig, verdanken ihr frisches, zartes Aussehen und ihre Ueberlegenheit über die bestgelungene Nachbildung im Putzladen zumeist dem durchscheinenden Licht. Dieses spielt in der Zellenflüssigkeit und ist so stark, dass auch weder grelle Beleuchtung noch tiefer Schatten auftritt. Das Weiche und doch Intensive der Farben ist auch hier grossentheils auf Rechnung des durch und durch dringenden Lichtes zu setzen. Dabei ist das Verschwommene der plastischen Form, das mit dem starken Durchscheinen wegen der kraftlosen Schatten unvermeidlich hereinkommt, glücklich überwunden durch die unübertreffliche Schärfe der Zeichnung, mit der die Rippen und Adern in schwachem Farbenkontrast eingetragen sind. Die anmuthigen Gestalten der Blumen bilden überhaupt eine schon weit reichere Kombination gleichzeitiger Vorstellungen als die Malachitplatte; denn ausser dem Zusammenwirken von Körperlicht, Glanzlicht, durchscheinendem Licht, Farbreiz, Farbenkontrast und Zeichnung bieten sie noch die Vorstellung der gesetzmässigen Wölbung ihrer Blattflächen, die Symmetrie ihrer Umrisse und das schöne geometrische Formgesetz ihrer strahlenförmigen Ordnung um einen Mittelpunkt. Hier gestaltet die Natur mit fröhlicher Vollstimmigkeit aller Mittel des Formschönen.

Ich darf mir nicht gestatten, noch für weitere, selbst naheliegende solche Betrachtungen Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen; denn Sie werden längst die Kernfrage bereit haben: Was lernen wir aus dieser Geschichte über die seelischen Ursachen des Gefühls für die bedeutungslose schöne Form?

Von einem so engbegrenzten Gebiet aus, wie das heute durchstreifte, dürfen wir selbstverständlich grosse Schlüsse nicht wagen; unsere Zergliederung der Vorstellungen war ja auch nicht vollständig; die Ebene, das Rechteck und die Zeichnung mussten wir auf sich beruhen lassen. Doch können wir sagen, dass wir eine wichtige Bedingung des Formschönen - freilich scheint es vorläufig noch nicht die einzige zu sein, die es erfordert - nunmehr deutlich vor uns liegen sehen. Wir sehen es hervorgehen aus einer Vielheit von einfachen Vorstellungen, die in ungestörter Gleichzeitigkeit in der Seele thätig sind, und sehen es mit der Zahl der vereinigten Vorstellungen wachsen. Denn was uns hierüber die Malachitplatte gelehrt hat, das findet sich in allem Schönen wieder; das bestätigt unter anderem die Musik. Der einfache musikalische Ton ist leer und uninteressant; erst die Klangfarbe, das heisst die Begleitung mit Obertönen, macht ihn brauchbar in der Musik, und diejenigen Instrumente sind die werthvollsten, bei denen die Obertöne möglichst vollzählig auftreten. Reicher wird die Musik erst dadurch, dass sie im Accord einen Ton mit anderen Tönen, in der Melodie eine Tonfolge mit einem Rhythmus oder einer Folge von Zeitmaassen begleitet, und in ihren reichsten Formen, in der Fuge oder im vielstimmigen Satz überhaupt, wirft sie viele Tonfolgen und Rhythmen zugleich in die Seele des Hörers und steigert mit der wachsenden Zahl der Stimmen und Instrumente ihre Wirkung ins Grenzenlose.

Was die Malachitplatte gelehrt hat, das bestätigt endlich das Gedicht, indem es irgend einen Sinn, den es uns mittheilen will, durch ein Spiel von regelmässig wechselnden Zeitmaassen und von gleichlautenden Silben begleitet. Was ist an sich die Folge von Zeitmaassen werth, die im Metrum erscheint; was ist an sich der Gleichklang zweier Silben werth, der im Reim erscheint, und welche Wirkung üben sie aus, indem sie in der dichterischen Sprache sich zum Gedanken gesellen! Wie leuchtet »unter dem Hammerschlag und Dröhnen deutsch-hellenischer Kamönen«, oder auch mit blossen Jamben und Trochäen in Verbindung mit dem Reim, so mancher herzlich geringe, wenn auch nicht gerade »alte, kranke, allerhässlichste Gedanke«! Ist hier nicht genau dieselbe Erscheinung wieder, die bei der Malachitplatte sich ergab? Was könnte den Dichter veranlassen, seinen Gedanken mit dem Klingklang aufeinanderklappender Laute, mit dem Kinderspiel des regelmässigen Silbenfalls zu begleiten, die mit dem Gedanken gar nichts zu thun haben, wenn nicht die Thatsache, dass wir diese leicht zu erfassenden Vorstellungen noch mit ins Bewusstsein hereinnehmen können, ohne dass wir im Denken jenes Gedankens gestört werden, und wenn nicht das Gefühl, dass eine solche Steigerung der Geistesthätigkeit des Augenblicks auch unser Wohlgefallen erhöht? Wir lernen aus all' diesem, dass es dem menschlichen Geist gegeben ist, in vielen Provinzen seines Reichs zu gleicher Zeit zu verweilen und zu ernten, und erkennen in dieser vielumfassenden Geisteskraft, in dieser hochgesteigerten Vorstellungsthätigkeit des Augenblicks den Ursprung unseres Gefühls für das Schöne.

Man findet die Schönheit häufig erklärt als »die Einheit in der Mannigfaltigkeit.« Dass sie immer eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungselementen darbietet, ist ganz richtig; aber man kann dieser Definition keinen hohen Werth beimessen, so lange nicht erklärt ist, was unter jener wunderwirkenden »Einheit« zu verstehen sei. Ohne eine solche Erklärung ist offenbar nur ein neues Räthsel statt eines alten geboten; ohne eine solche Erklärung passt diese Definition des Schönen ebensogut auf einen Kramladen als auf eine Symphonie oder eine Domfassade. Sollte nun nicht diese »Einheit« damit erreicht sein, dass eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in einem Moment und zwar in jedem Moment der Wahrnehmung in der Seele gleichzeitig thätig ist? Die zuvor erhaltenen Resultate sprechen kräftig dafür; andere Untersuchungen machen es mir gewiss.

Es gab einmal eine Lehre von der »Einheit des Bewusstseins«, dahin lautend, dass der Mensch immer nur eine Vorstellung in einem bestimmten Augenblick haben könne. Diese Lehre ist entschieden falsch; wenn wir in der Anschauung der Malachitplatte die Ebene, die Zeichnung, die Farben u. s. w. gleichzeitig erkennen, wenn wir in der musikalischen Fuge viele Melodien zugleich verfolgen oder wenigstens geniessen und dabei noch in Privatgedanken versunken dasitzen können, wenn wir auf der Bühne die Figur, die Handlung, das Mienenspiel des Künstlers zugleich mit seiner Sprache, also zugleich mit Wortlauten, Metrum und Gedanken erfassen, so ist das nicht eine Vorstellung, sondern es sind viele, ja oft sogar sehr viele. Es findet auch keine »Verschmelzung« statt; wie sollten sich Zeitmaassvorstellungen mit Gedanken verschmelzen? Ueberhaupt hat die Lehre mit der Annahme einer solchen Verschmelzung keinen Sinn; denn man nennt dann eben alles zusammen, was im Bewusstsein ist, eine Vorstellung und kann dann nicht fehl gehen. Doch ist allerdings die Zahl der gleichzeitig möglichen Vorstellungen beschränkt; auch kann man nicht ganz beliebige zugleich im Bewusstsein haben, sondern es bedarf einer gewissen Auswahl, wenn die Vorstellungen einander nicht vom Bewusstsein ausschliessen sollen. Diese Auswahl so zu treffen, dass uns jeder Moment eine grosse Vielheit gleichzeitiger Vorstellungen bietet, das ist die Aufgabe, die im Schönen gelöst ist.

Verschiedene Besonderheiten unterscheiden diese gegenüber dem Schönen auftretende Vielheit von anderen Arten der hochgesteigerten Vorstellungsthätigkeit, wovon eine dem wissenschaftlichen Denken entspricht. Auch das Gefühl des Hässlichen und des Lächerlichen ist auf ein solches Maximum der Vorstellungsthätigkeit gegründet; von ihnen unterscheidet sich dasjenige des Schönen durch die Reinigung von Störungen jeder Art. Je grösser die Zahl der gleichzeitig in der Seele thätigen Vorstellungen, je lebhafter die Grade ihres Bewusstseins, desto stärker ist das Gefühl; je weniger störende Vorstellungen sich unter jenen befinden, desto reiner, desto ästhetischer ist das Gefühl. Es findet in der Empfindung des zusammengesetzten musikalischen Klanges einen besonderen Fall und zugleich ein treffendes Gleichniss.

Den Nachweis dieses allgemeinen Gesetzes der Schönheit vorausgesetzt, erscheint die anfangs berührte Streitfrage der idealistischen und formalistischen Aesthetik, ob der Gehalt, ob die Form das ästhetisch Wirksame sei, in einem neuen Licht. Sie wäre hiernach dahin entschieden, dass zwar der Gehalt für sich, die Form für sich ästhetisch wirksam sein kann, dass aber beide nur in Betracht kommen als Faktorengruppen eines Produkts, dass sie beide die höchste Wirksamkeit erst dann erreichen, wenn sie gleichzeitig erscheinen. Gerade der Streit war der Irrthum; nicht nur der Gehalt, nicht nur die Form, sondern die Summirung oder vielmehr die Multiplikation, die sie in ihrer Umfassung durch ein Bewusstsein erleiden, erreicht ein Maximum der Vorstellungsthätigkeit der Seele, erreicht jenen höchsten Wellenschlag im Geistesleben, der sich als das Gefühl des Schönen uns verkündet.



Ueber ein neuentdecktes Gesetz der Formästhetik

Ein Vortrag

Meine Herren!

Haben Sie mich nur nicht im Verdacht, nun zum allgemeinen Erstaunen ein neuerfundenes ästhetisches Geheimmittel für den entwerfenden Architekten auf den Tisch des Hauses niederlegen zu wollen! Eine solche Erwartung würde sich bald enttäuscht finden. Nichts von goldenem Schnitt oder anderem Zauber für schöne Maassverhältnisse, die. ja gewöhnlich den Gegenstand einer ästhetischen Untersuchung der Architekturformen bilden! Es ist vielmehr ausschliesslich graue Theorie, was ich Ihnen heute zu bieten wage; es betrifft die Maassverhältnisse nicht im mindesten, und wenn es mir später einmal gestattet sein wird, über die Schönheit des Maasses in der Architektur an dieser Stelle zu sprechen, so hoffe ich sogar, Sie zu überzeugen, dass allgemeingültige, praktisch verwerthbare Schönheitsregeln in dieser Beziehung gar nicht aufgestellt werden können, es sei denn da, wo wir sie schon haben (wie etwa bei den Säulenordnungen), und wo sie das festgehaltene Resultat einer alten Tradition sind, ganz wie etwa bei einem historischen Kostüm. Ich halte mit einem Wort das Wohlgefallen an bestimmten Maassverhältnissen in der Architektur für etwas Anerzogenes und damit der Schwankung und persönlichen Verschiedenheit des Gefühls Unterworfenes, ohne dass Jemand sein Gefühl in dieser Beziehung für das allein richtige halten dürfte.*)

*) S. hierüber den zweiten Abschnitt: »Wie entsteht die Schönheit der Maassverhältnisse und das Stilgefühl?«


Mit der heute zum Vorwurf genommenen Seite der architektonischen Schönheit befinden wir uns dagegen auf unerschütterlichem, von keiner Mode und Geschmacksverschiedenheit der Einzelnen berührtem Boden und werden nur sicherstehende und immer gleichbleibende Thatsachen der Erfahrung zu erklären haben.

Wenn man das Geheimniss der architektonischen Schönheit nur in den Maassverhältnissen sucht, wie es bisher geschah, so vergisst man, dass der Grundgedanke einer Form schon vorhanden sein muss, ehe die Wahl der Maassverhältnisse vollzogen werden kann. Um eine jonische Säule mit schönen Maassen auszustatten, muss man doch zuvor den Gedanken der jonischen Säule haben; man muss wissen, dass man auf das rechtwinklige Parallelepiped der Plinthe den reichprofilirten Drehungskörper der Basis, den kanellirten Cylinder des Schaftes und die Kapitälform mit den Voluten setzen will. Gewiss ist nun ein grosser erster Theil der Schönheit einer solchen Säule in dem statischen Gefühl begründet, das sie erweckt, in der Vorstellung, dass die bedeutende widerstehende Kraft eines edlen Materials in ihrer Masse nach oben strebt, und dass sie als Glied eines grösseren Ganzen wie ein beseeltes Wesen ihre Bürde trägt. Gewiss auch steckt ein zweiter Theil der Schönheit in den Maassverhältnissen der Säule; ja es ist dies gerade bei der jonischen Säule in besonders hohem Grad der Fall; schon eine geringe Veränderung der Verhältnisse scheint uns hier die Schönheit empfindlich zu verletzen. Dass aber auch der Grundgedanke der Säule, d. h. die Gestalt und Aufeinanderfolge der zuvor beschriebenen stereometrischen Gebilde einen grossen Theil der Schönheit enthält, darüber kann kein Zweifel bestehen. Gibt es doch Gebilde, bei denen der geometrische oder stereometrische Gedanke das Einzige ist, was sie darbieten, und die doch schön sind. Nehmen Sie etwa das Pentagramm, das Diagonalensystem des regelmässigen Fünfecks, so haben Sie eine Figur, die keine Gedanken hervorruft - wenigstens wenn man Göthe's »Faust« nicht gelesen hat -, bei der es auch keine Wahl der Maassverhältnisse gibt, denn das strenge Bildungsgesetz der Figur lässt nichts zu wählen übrig, als die absolute Grösse des Ganzen, und doch ist diese Figur gefällig und schön. Hier ist es ja unbestreitbar, dass in ihrem geometrischen Gesetz schon das ganze Geheimniss ihrer Schönheit stecken muss.

Nun, diese letzte, diese grundlegende Seite der architektonischen Schönheit ist es, deren Wesen ich Ihnen heute enthüllen möchte. Sie ist nicht von der Mode oder dem Geschmack des Einzelnen abhängig, wie die Maassverhältnisse und die Vorliebe für eine Stilrichtung; sie ist vielmehr das Gemeingut aller Baustile, aller schönen Gebilde der Natur und der Menschenhand. Sie gefällt den Kindern wie den Alten, den Wilden wie den Gebildeten; um sich ihrer zu erfreuen, hat der Mensch eine ästhetische Erziehung nicht nothwendig. Wie der Reiz der Spektralfarbe, wie der Glanz des Goldes und der Perlen, wie die Schönheit der polirten Platten aus Achat, Jaspis oder Malachit für Alle schön ist, wie in der Musik bestimmte Tonverbindungen für Alle harmonisch sind, so ist auch in jeder architektonischen Form ein Grundgedanke niedergelegt, der unabhängig von den gewählten Maassen und Stilrichtungen, wie von den statischen Vorstellungen, welche die Form hervorrufen kann, für Alle schön ist, und ich möchte Ihnen heute nicht nur die letzten Elemente dieser grundlegenden Formgedanken vorführen, sondern auch das Gesetz, nach welchem die Elemente in diesen sich ordnen.

Ich gestatte mir anzuschliessen an das Resultat des Vortrags, den ich über die Wirkung des edlen Materials in der Architektur früher hier zu halten die Ehre hatte. Am Beispiel einer polirten rechteckigen Malachitplatte ergab sich damals, dass der überaus feine Eindruck, den diese und andere Schmucksteine erwecken, zu Stande kommt durch das Zusammenwirken oder gleichzeitige Auffassen von sieben an sich ziemlich gleichgültigen Eindrücken, nämlich der Ebene, der rechteckigen Umrisslinie, der Zeichnung oder des Liniensystems auf der Platte, der Kontraste heller und dunkler Streifen, der Farbe, des Glanzes und eines leichten Grades von Durchscheinen. Es liess sich immer ein Gebilde denken, dem einer dieser Eindrücke fehlte, und indem wir dieses Gebilde verglichen mit der vollendeten Platte, ergab sich leicht, wie wenig der Eindruck an sich werth war, und wieviel er zur Schönheit der Platte beitrug. Wir liessen nach einander all' diese Eindrücke herzutreten und sahen dabei die Schönheit der Platte entspringen und wachsen und sich vollenden. Einzeln erscheinend, lassen sie das Auge ungerührt; dadurch aber, dass wir die Vorstellung der Platte nur gewinnen, indem wir alle sieben Einzelvorstellungen zugleich in uns aufnehmen, dadurch erwecken sie ein Wohlgefallen. Es ist wie beim elektrischen Strom; drücken wir die Kraft der Ströme aus sieben Drähten in einen einzigen Draht hinein, so kommt dieser zum Glühen, und er leuchtet um so heller, je mehr der Ströme wir hinzufügen.

Dieselbe Erscheinung fanden wir wieder in der Musik mit ihren Obertönen und Accorden, mit ihrer Vereinigung von Klang und Rhythmus, ihrer Vielstimmigkeit im Gesang und Orchester, ebenso im Gedicht, das den Sinn, den es uns darbietet, begleitet durch die leicht aufzufassenden Vorstellungen eines regelmässigen Spiels von Zeitmaassen und gleichlautenden Silben, und es war mit grosser Wahrscheinlichkeit zu schliessen, dass das Geheimniss der Schönheit zu suchen sei in der Erhöhung der Geistesthätigkeit des Augenblicks, in der Gleichzeitigkeit einer besonders grossen Zahl von an sich gleichgültigen Vorstellungen. Ich sage: »von gleichgültigen Vorstellungen«, d. h. es darf nichts Bemühendes, Widersprechendes oder Widerwärtiges in den zahlreichen, gleichzeitig in der Seele bewegten Vorstellungen enthalten sein, sonst geht das Gefühl des Schönen über in das des Unschönen oder Lächerlichen oder Hässlichen. Ausdrücklich war auch hinzuzufügen, dass nicht beliebig viele Vorstellungen und nicht beliebig geartete Vorstellungen neben einander im Bewusstsein stehen können, sondern dass es einer gewissen Auswahl bedarf, wenn die Vorstellungen einander nicht unmöglich machen sollen. Ein Gedanke z. B. leidet keinen zweiten Gedanken neben sich im Bewusstsein, wohl aber Wortklang, Musik, Farbenwährnehmung u. s. f. Manche Erklärung würde auch hinzuzufügen sein, um die aufgestellte Behauptung über das Wesen der Schönheit im Gebiet des Gedankenschönen greifbar und einleuchtend zu machen; aber heute gilt unsere Untersuchung nur der Form an sich.

Fragen wir nun, welche Vorstellungen in den geometrischen und stereometrischen Grundgedanken der gefälligen linearen Figuren und architektonischen Formen zusammenwirken, so führt auch hier die Zergliederung rasch zu einem Resultät. Wie das Gehör in den Tonhöhen, Vokalen, Konsonanten und Zeitmaassen grundlegende Vorstellungen hat, die aus der Erfahrung abstrahirt sind, und aus denen sich alle reicheren Gebilde der hörbaren Welt zusammensetzen, so hat auch die menschliche Raumanschauung aus Allem, was dem Auge begegnet, eine Anzahl von Grundbegriffen abgeleitet, die als Elemente aller reicheren Raumgebilde immer wiederkehren. Die für uns werthvollen dieser Begriffe sind die gerade Linie, der Kreisbogen, die stätigen Linien mit veränderlicher Krümmung, besonders Ellipse, Spirallinie und Wellenlinie, der Parallellauf gerader oder gekrümmter Linien, der Strahlenbüschel oder das strahlenförmige Auseinanderlaufen gerader oder gekrümmter Linien, die Reihung, d. h. die Wiederholung kongruenter und gleichgerichteter Gebilde in gleichen Abständen, die Wechselreihung oder die regelmässige Abwechslung von zwei Gebilden, wie im Perlstab, Eierstab, Herzblattstab; die Wandelreihung oder die Wiederholung der Gebilde mit gesetzmässiger Verjüngung der Maasse und Abstände, wie sie z. B. in der Perspektive und in vielen Naturgebilden zur Geltung gelangt, die unendlich häufige zweiseitige Symmetrie, die kreisförmige Reihung, d. h. die kongruente Wiederholung bestimmter Gebilde auf einem System von Radien mit gleichen Centriwinkeln, das Motiv aller Rosetten und sternförmigen Figuren, mit dem besonderen Fall der vielachsigen oder kaleidoskopischen Symmetrie, die »Häufung« oder die kongruente und gleichgerichtete Wiederholung einer bestimmten Figur auf den Knotenpunkten eines Dreiecknetzes oder Quadratnetzes oder Raütennetzes u. s. f, wie sie z. B. bei Tapeten, Kassettendecken, vielen kunstgewerblichen Flächenmustern und figurirten Backsteinverbänden auftritt, endlich die Wandelhäufung, welche aus der Häufung in derselben Weise durch gesetzmässig veränderte Wiederholung hervorgeht wie die Wandelreihung aus der Reihung und wofür etwa die perspektivische Darstellung eines figurirten Plattenbodens oder die Kassettirung einer kreisförmigen oder elliptischen Decke ein Beispiel.

Wie wir nun die Vorstellung der polirten Malachitplatte nur gewinnen, indem wir ihre sieben Einzelvorstellungen zugleich erfassen, so gewinnen wir die Vorstellung aller architektonischen und ornamentalen Grundgedanken nur dadurch, dass wir uns in der Anschauung derselben eine Anzahl jener Grundbegriffe der Raumanschauung zugleich vorstellen.

Beim Viertelstab als Gesimselement stellen wir uns, indem der Blick in der Richtung des Gesimses fortschreitet, fortwährend gleichzeitig vor: den Kreisbogen als unverändert sich wiederholendes Profil und die gerade Linie als Weg des Fortschreitens. Haben wir ein vollständiges, zunächst glattes Gesims, so tritt eine aus geraden und gebogenen Stücken zusammengesetzte Linie an die Stelle des Quadranten und der Parallellinienzug an die Stelle der geraden Linie. Wird der Viertelstab etwa als Eierstab skulpirt, so treten nicht nur die Vorstellungen neuer Linien hinzu, sondern auch diejenige der Reihung oder vielmehr Wechselreihung, ferner diejenige der Symmetrie. Ist der Viertelstab nicht geradlinig, sondern etwa der Echinus eines römisch-dorischen Kapitäls oder ein Glied einer Archivolte, so tritt an die Stelle der Vorstellung der geraden Linie diejenige des Kreises. In der jonischen Volute verbindet sich die Vorstellung der Spirallinie mit denjenigen des Strahlenbüschels und der zusammengesetzten Profillinie normal zur Spirale. Im kanellirten Säulenschaft erscheinen die Kreislinien des Säulengrundrisses und des einzelnen Kanals kombinirt mit der Wechselreihung der Kanäle und Stege wie mit dem Parallellauf der lothrechten Linien. Jede Zergliederung der architektonischen Schmuckformen, der Gesimse, Umrahmungen, Bossirungen, Füllungen, Flächenmuster aller Art, Pilaster, Säulen u. s. f führt auf eine Anzahl jener Grundbegriffe, ohne dass ein unauflösbarer Rest übrig bliebe, und ein Formgedanke erweist sich als um so reicher, je mehr solcher geometrischen Formgesetze bei Vorstellung des Ganzen zugleich vorgestellt werden müssen; ebenso ist deutlich, dass ein Gebilde eine erhebliche Steigerung seiner Wirkung erfährt, sobald ein neues Formgesetz hinzutritt. Vergleichen wir etwa ein vollendetes gothisches Fenstermaasswerk mit einem solchen, das nur mit einfachen Linien statt der Stäbe gezeichnet ist, so findet sich, dass hier das hinzutretende Gesetz des Parallellaufs dasselbe Wunder wirkt wie bei der Malachitplatte das Hinzutreten der Farbe oder des Glanzes zu den übrigen Einzelvorstellungen.

Wie in den schmückenden Formen selber, so erscheinen die Grundbegriffe der Raumanschauung wieder, wenn es gilt, die Kunstformen zu ganzen Fassaden zu vereinigen. Jedes Gruppiren der Fenster und Portale auf der Fassade, jede lothrechte Theilung durch Lisenen, Pilaster und Säulen muss Gebrauch machen von der Reihung oder Wechselreihung oder Symmetrie, wenn die Gliederung befriedigen soll.

Ebenso treten endlich die Formgesetze in der Gesammtanlage der Bauwerke, in den Baumassen zu Tage, indem deren Reiz auf der gleichzeitigen Vorstellung von Grundriss und Aufriss beruht. Ein monumentaler Grundriss ist schon ohne seine Bedeutung als Grundriss ein schönes Gebilde; man betrachte etwa denjenigen des Pantheon oder Kolosseum, oder der Thermen des Caracalla, oder des Kölner Doms mit seinem Kapellenkranz im Chor, oder die Einzelgrundrisse seiner Thurmgeschosse, oder den Grundriss der Peterskirche oder der Ste. Madeleine in Paris; alle diese Grundrisse sind an sich schöne Gebilde und verrathen in jedem kleinsten Theil das Zusammenwirken jener Gesetze des Formschönen. Aber nicht nur auf dem Papier sind sie schön, sondern sie lassen sich auch hören als wichtige Stimme, ja oft als Melodie in der »Musik des Auges«, in der perspektivischen Erscheinung. Ueberall wo das Auge mehrere Seiten eines Bauwerks von einem Punkte aus, zugleich umfassen kann, da wirken Grundriss und Aufriss in der Erscheinung zusammen, derart, dass man den Reiz jedes einzelnen herausfühlt und besonders die Grundrissfigur im Geist ergänzt aus den wenigen Linien, die sie dem Auge zuwendet. Dieses Vorstellen der Grundrissfigur wird besonders lebhaft bei hochliegenden, von grossen Lichtöffnungen durchbrochenen Theilen, bei Thurmgeschossen und -Pyramiden, bei Kuppeln und Laternen; diese Theile sieht man oft unter so steilem Sehwinkel, dass sie in den Grundrissmaassen weniger verkürzt erscheinen als in den lothrechten, und sie bieten dann durch dieses ungewöhnliche Vorherrschen des Grundplans und seiner Formgesetze einen eigenartigen Reiz. Ebenso gelangt in jedem bedeutenden Innenraum der Grundriss zur lebhaftesten Mitwirkung, besonders ansprechend dann, wenn er aus einem System von Gewölbrippen erst entziffert werden muss.

Und so ist es denn auch bei den architektonischen Gebilden mit Einschluss der kunstgewerblichen Erzeugnisse deutlich, dass ihre grundlegende Schönheit hervorgeht aus dem gleichzeitigen Erfassen einer besonders grossen Zahl von formalen Einzelvorstellungen, die an sich nur wenig Werth haben. Wie nun im Gedicht der Gedanke an Kraft und Schönheit zu gewinnen scheint, wenn sich die unbedeutenden formalen Vorstellungen von Versmaass und Reim zu ihm gesellen, so erhebt sich auch der einfache Gedankengehalt der Architekturformen, der Gedanke der statischen Leistung, die eine Säule, ein Architrav, ein Mauerbogen, eine Gewölbrippe zu vollbringen hat, zu weit höherer Bedeutung und Lebendigkeit, wenn eine reiche Gruppe jeher Formgesetze mitvorgestellt werden muss, als bei einem schmucklosen Konstruktionsglied derselben Art. Aus diesem Grund wird die Erechtheionsäule zum beseelten Geschöpf, und erweckt der Gurtbogen oder Strebebogen der gothischen Kathedrale das Gefühl der grössten elastischen Kraft. In derselben Weise verbinden sich etwa im Akanthusornament die formalen Vorstellungen mit derjenigen des organischen Wachsthums und verleihen dadurch dem tollten Material scheinbar ein höheres Leben, als es selbst die Natur zu verkünden vermag. Also auch in der ganzen Architektur die Erscheinung, dass die an sich geringes erthigen oder gleichgültigen Vorstellungen zu leuchten und zu erfreuen beginnen, wenn sie gleichzeitig und in grösserer Zahl ins Bewusstsein treten.


Der eingeschlagene Weg der Zergliederung der schönen Vorstellungswelt führt nun noch einen Schritt weiter und in seiner Durchführung zu einem gemeinsamen Gesetz, nach welchem wir unzweifelhaft die bedeutungslosen Formen in allen Gebieten des Schönen wohlgefällig finden. Dieses Gesetz ist dasselbe für die architektonischen Grundgedanken und gefälligen linearen Figuren wie für den Reiz der musikalischen Töne und Accorde, wie für das Versmaass in allen seinen Gestalten, wie für den Reim als Endreim, Assonanz und Kehrreim, wie für die Alliteration, wie für den musikalischen Rhythmus, wie für die Bewegungsformen des Tanzes. Soweit das von der formalistischen Aesthetik gestellte Problem, äusserlich erkennbare Merkmale oder mathematische Beziehungen zwischen den Elementen der Gebilde als Ursachen unseres Wohlgefallens aufzufinden - soweit dieses Problem überhaupt lösbar ist, dürfte es mit dem gefundenen Gesetz gelöst sein. Dass sie, verleitet durch die Verhältnisse der Schwingungszahlen harmonischer Töne in der Musik, auch ein mathematisches Gesetz für die schönen Maassverhältnisse in der Architektur und in den Naturgebilden verwirklicht glaubt, das halte ich - wie schon ausgesprochen - für einen Irrthum; nach meiner Ueberzeugung ist in dieser Richtung nichts mathematisch Gesetzmässiges zu finden.

In dem nun zu formulirenden Satz, den ich das »Reihengesetz« genannt habe, ist natürlich nicht das Geheimniss aller Schönheit zu suchen; er bildet vielmehr nur einen besonderen Fall des zuvor angedeuteten allgemeinen Gesetzes, und zwar denjenigen Fall, in welchem ein Gebilde gefällt, ohne Gedanken zu erwecken und ohne Abbildung anderer Gebilde zu sein, überhaupt ohne an andere Gebilde zu erinnern.

Nennt man alles, was in einem bestimmten Moment der Auffassung sichtbarer oder hörbarer Gebilde gleichzeitig vorgestellt wird, eine »Kombination«, nennt man ferner die Aufeinanderfolge irgend welcher gleichgestalteter Vorstellungselemente eine »Reihe«, (Beispiel a a a a . . .), nennt man endlich die deutliche Verschiedenheit gleichzeitiger oder auf einanderfolgender Vorstellungselemente gleicher Art einen »Kontrast« (Beispiel a und o), so lautet das Gesetz wie folgt:

1) Die Schönheit der bedeutungslosen Formen beruht auf der Kombination von Reihen.
2) Die Störung einer solchen Reihe ist eine Störung der Kombination und damit eine Störung der Schönheit.
3) Bilden die Glieder kombinirter Reihen unter sich Kontraste, so erhöhen diese die Schönheit und Mannigfaltigkeit der Formen; dagegen ist Verschiedenheit ohne Verbindung mit Reihen wirkungslos.

Das sieht nun zunächst sehr abstrakt aus; aber es wird rasch Gestalt gewinnen, wenn ich die Gültigkeit des Gesetzes für die fernerliegenden Schönheitsgebiete flüchtig beleuchte flüchtig, weil ja nur die Gleichartigkeit der dort auftretenden Erscheinungen mit denen in der Architektur nachzuweisen ist.*).

*) Die eingehende Darstellung aller Erscheinungsweisen des Reihengesetzes ist in Arbeit.


Der musikalische Ton unterscheidet sich bekanntlich vom regellosen Geräusch dadurch, dass seine Luftschwingungen durchaus gleichgestaltet aufeinanderfolgen, also nach unserer Definition eine »Reihe« bilden, während beim regellosen Geräusch die Schwingungen, verschieden lang und verschieden stark, gesetzlos wechseln. Wenn uns nun der musikalische Ton, schon als einzelne Note gehört, in einer Weise erfreuen kann, die das regellose Geräusch nie erreicht und um so weniger erreicht, je mehr es sich vom musikalischen Metall entfernt, so kann die Ursache der Verschiedenheit unseres Gefühls doch nur in dem liegen, was den musikalischen Ton vom Geräusch unterscheidet, also in der Reihe, welche die Luftschwingung bei jenem bildet. Der musikalische Ton ist aber nie ein einfacher Ton, sondern immer von Obertönen begleitet, d. h. von Tönen, deren Schwingungszahl ein Vielfaches der seinigen ist; er enthält also immer eine Kombination von regelmässigen Luftschwingungen und damit eine Kombination von Reihen. Der Ton ist erfahrungsgemäss um so klangfarbiger, um so schöner, je vollzähliger die Obertöne auftreten, also je reicher die Kombination, wie schöne menschliche Gesangstimmen, ferner die Töne der Harfe und Orgel beweisen. In der Gesangstimme und mehr noch in der Sprechstimme laufen auch regellose Geräusche und schwache gestörte Reihen neben den Reihen des musikalischen Tons her, ohne erheblich zu schaden; erst wenn die Störungen überwiegen, wird die Stimme klanglos, unsympathisch. Dass die Schönheit, das Metall des musikalischen Tons auf der Regelmässigkeit seiner Luftschwingungen beruhe, ist keine neue Behauptung; nur wurde diese Thatsache noch nicht als besonderer Fall eines allgemeinen Gesetzes der bedeutungslosen Formen erkannt.

Erklingen mehrere Töne zugleich, so harmoniren sie, wie ebenfalls bekannt, nur dann, wenn die Schwingungszahlen in einem einfachen Verhältniss stehen, und zwar innerhalb der Oktave in den Verhältnissen 1 : 2 (Oktave), 2 : 3 (Quinte), 3 : 4 (Quarte), 3 : 5 (Sexte), 4 : 5 (grosse Terz), 5 : 6 (kleine Terz). Auch diese Thatsache ergibt sich als nothwendige Folgerung aus dem Reihengesetz. Nach H. Helmholtz erfassen wir den Schall durch einen Apparat von mitschwingenden Nervenfasern im Ohr, den sogenannten Corti'schen Bögen; jeder von diesen etwa 3000 Bögen ist auf einen anderen Ton gestimmt, und je nachdem diese oder jene Fasergruppe schwingt, vernehmen wir diesen oder jenen Ton. Es ist auch kaum ein anderes Hülfsmittel denkbar, womit die Natur den äusseren Bewegungsvorgang der Luftschwingung in einen inneren Bewegungsvorgang im Gehörnerven umsetzen könnte, als ein mitschwingender Apparat, gleichviel ob die Corti'schen Bögen dieser Apparat sein mögen oder nicht. Aus den mechanischen Gesetzen des Mitschwingens lässt sich nun nachweisen, dass bei zwei Tönen mit komplizirtem Verhältniss der Schwingungszahlen bestimmte Fasern von beiden Tönen zugleich derart bewegt werden, dass ihre Schwingung unregelmässig wird und eine gestörte Reihe bildet, während bei einem einfachen Verhältniss auch diejenigen Fasern, welche von beiden Tönen zugleich erschüttert werden, periodisch, also im Charakter der Reihe, schwingen. Bei einfachem Verhältniss wird somit die Reihenkombination reicher, bei komplizirtem Verhältniss wird sie gestört. Die Dissonanz ist das Unlustgefühl darüber, dass gestörte Reihen von Schallempfindungselementen in der Kombination der Reihen mitlaufen; die Harmonie ist neben dem ungestörten Genuss mehrerer gleichzeitiger Töne auch das Gefühl für ihr Zusammenwirken in neuen Reihen. Sogar alle feinen Schattirungen und Grade der Harmonie und Dissonanz, wie sie als Thatsachen der Erfahrung vorliegen, lassen sich unter Voraussetzung des mitschwingenden Apparates aus dem Reihengesetz begründen, z. B. die minder vollkommene Harmonie der Terzen, ebenso der Unterschied von Dur und Moll.
Das Entstehen von Harmonie und Dissonanz beim Zusammentreten mehrerer Töne ist eine alte, vielerörterte Frage. Die Zahlenverhältnisse hatte man ja längst; aber damit war das Geheimniss, warum hier dieses, dort jenes Gefühl entsteht, noch nicht gelöst. Auch das Reihengesetz vermag natürlich die »Grenzen unseres Naturerkennens« nicht zu überspringen und hier das Erscheinen von Lust und Unlust zu begründen; aber es verkündet wenigstens, dass die Thatsache der musikalischen Harmonie und Dissonanz nur ein besonderer Fall einer mehrumfassenden Erscheinung sei, und wer weiss, ob unser Naturerkennen über diese Stufe überhaupt irgendwo hinauskommt!

Der Reiz der eigenartigen Gliederung der Zeit, die wir im Versmaass erkennen, und die im Gedicht so bedeutende Wirkung hervorruft, erweist sich besonders deutlich als dem Reihengesetz entsprechend. Die Reihen sind hier von Zeitabschnitten gebildet und zwar von den Zeitlängen der Strophen, der Halbstrophen, der Zeilen, der Versfüsse, der langen Silben, der kurzen Silben. Man kann leicht jedes Gedicht auf die neben einander herlaufenden Reihen von Zeitmaassen untersuchen, und ich habe z. B. für das Versmaass der Gesänge Schartenmayer's 8 Reihen und 2 Kontraste, für den Hexameter 4 Reihen und 3 Kontraste, für den Wechsel von Hexameter und Pentameter 9 Reihen und 7 Kontraste, für die Sapphische Strophenreihe 8 Reihen und 4 Kontraste , für die alte Nibelungenstrophe 5 Reihen und 7 Kontraste gefunden. Die moderne Nibelungenstrophe verdankt ihr etwas langweiliges Versmaass der Verminderung der Kontraste auf 2; nach unserem heutigen Gefühl ist sie nicht zu ihrem Vortheil auf gleiche Füsse gestellt. Dass auch beim Metrum der Reiz auf der Gliederung . der Zeit in kombinirte Reihen und Kontraste beruht, ist klar; diese machen ausschliesslich das Versmaass, also machen sie es auch wohlgefällig.

Der musikalische Rhythmus hat als Glieder seiner kombinirten Reihen die Zeitabschnitte der Perioden, Sätze, Takte, halben, Viertels-, Achtelsnoten u. s. f Von den strengeren Versmaassen unterscheidet er sich wesentlich dadurch, dass er auch unregelmässig auftretende Kontraste neben den Reihen aufweist, wogegen bei jenen Versmaassen alle Kontraste regelmässig wiederkehren. Die unregelmässigen Kontraste im musikalischen Rhythmus entstehen dadurch, dass in den verschiedenen Takten die Achtels-, Viertels- oder halben Noten zu verschiedenen Zeitmaassfiguren zusammengestellt sind, wogegen im Metrum die Versfüsse immer gleichgebaut erscheinen. Hier gewinnt also eine gewisse Freiheit der Zeiteintheilung neben der gesetzmässigen Gliederung in Reihen Raum, und auf dieser Freiheit beruht das leichtere Hinschreiten, die höhere Schönheit im musikalischen Rhythmus gegenüber dem starren Versmaass. Uebrigens findet man beim Zergliedern ganzer musikalischer Sätze und Perioden, dass nicht jeder Takt willkürlich anders gebaut ist, sondern dass sich die Takte in zwei, drei oder mehr Gruppen von verwandten oder gleichgebauten Zeitmaassfiguren scheiden lassen, und innerhalb jeder solchen Gruppe ist es nun wieder das Reihengesetz, was den Reiz der Verwandtschaft der Takte begründet. Denn wo Verwandtschaft ist, da ist Wiederholung bestimmter Züge, und wo Wiederholung bestimmter Züge ist, da ist nach der auf gestellten Definition auch eine »Reihe«. Strenge Wiederholung ist Reihe allein; Aehnlichkeit ist Reihe mit Kontrast; je tiefer verborgen, je räthselhafter die Aehnlichkeit, desto mehr Kontrast ist mit der Wiederholung oder Reihe verbunden.

Es gibt eine Gruppe von Versmaassen, welche den Uebergang vom strengeren Metrum zum musikalischen Rhythmus darstellen; es sind diejenigen; bei welchen zwei- und dreitheilige Versfüsse (Trochäen und Daktylen) beliebig abwechseln dürfen. Ich erinnere an das Reiterlied aus Wallenstein »Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd . . .« oder an das Frühlingslied: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus . . . « Diese Versmaasse haben schon ohne Gesangstimme etwas freier Hinschreitendes, Marschartiges, fast Musikalisches, und alle anderen Versmaasse gleicher Art sind von ähnlichem Charakter. Im höchsten Grad erscheint dieser in der alten Nibelungenstrophe, da diese auch eintheilige Versfüsse, nur bestehend aus einer langen Silbe, mit den zwei anderen abwechseln lässt (z. B.: »Da sprach jämmerliche der todtwunde Mann: Wollt Ihr, König edele , Treuen echt begahn . . . « ). Auch bei diesen freieren Versmaassen sind es die unregelmässig wiederkehrenden Kontraste zwischen den Versfüssen, beziehungsweise Zeilen und Halbzeilen , was ihnen den halbmusikalischen Charakter verleiht, und in der That besteht nur ein Unterschied des Grades zwischen ihnen und dem musikalischen Rhythmus. Stellen wir ihre verschiedenen Zeitabschnitte, die Glieder ihrer kombinirten Reihen, denen der Musik gegenüber, die Zeitmaassfiguren ihrer Versfüsse denen der Takte gegenüber, die Kontraste ihrer Versfüsse denen zwischen den Zeitmaassfiguren der Takte gegenüber, so findet sich überall die Gleichartigkeit der Erscheinungen und als einziger Unterschied eine grössere Mannigfaltigkeit der Musik nach allen drei Richtungen.

Was den Reim der dichterischen Sprache betrifft, so hat zwar die »Reihe« der Reimlaute gewöhnlich nur zwei Glieder, die sich mit dem wesentlichen Kontrast verschiedener Anlaute der Reimsilben verbinden; nur italienische und andere fremde Reimstrophen haben eine drei-, vier- und mehrmalige Wiederkehr der Reimlaute, wie z. B. die Terzine, das Sonet, die Stanze und Ghasele. Aber auch die nur zweigliederige Reihe von Reimlauten leistet einen grossen Beitrag zur Vorstellungskombination, und zwar dadurch, dass sie während der ganzen Zeit vom fragenden bis zum antw ortenden Reimlaut im Bewusstsein ist, wenn auch nur in geringerem Klarheitsgrad. Man wartet auf den antwortenden Reim, also ist die Reimsilbe im Bewusstsein. Damit ist in dieser ganzen Zeit eine Vorstellung mehr im Bewusstsein, als ohne den Reim darin wäre. Bei der sogenannten verschränkten und gekreuzten Reimstellung (ab ab und ab ba) sind zwei Reihen von Reimlauten zugleich im Bewusstsein, wenigstens in der Zeit der dritten Zeile.

Unmittelbar deutlich ist der Charakter der Reihe am Kehrreim oder Refrain, der regelmässigen Wiederkehr derselben Verse am Schluss aller Strophen; er ist ein ungemein wirksames Mittel der ernsten wie der komischen Dichtung besonders dann, wenn sich Gedanke und Reim der Kehrreimverse an immer wieder andere Gedanken und Reimlaute der Strophen als deren natürliche, immer gleichbleibende Folgerung und Lösung anschliessen.

Wie um das Reihengesetz auch nach der letzten denkbaren Richtung der dichterischen Sprache zu verkörpern, erscheint ferner die Alliteration oder mehrmalige Wiederkehr derselben Anlaute in jeder Zeile, wie z. B. in dem Hexameter: »Melde den Mann mir, Muse, den Vielgewandten, der vielfach . . . « Sie ist eine uralte Schmuckform der Sprache und schon in ägyptischen Hieroglyphen niedergelegt. Auch ist ihr zuzurechnen der 119. Psalm, in dessen hebräischem Original die 8 ersten Verse mit a beginnen, dann 8 mit b, 8 mit c u. s. w. folgen, bis mit 8mal 22 Versen alle hebräischen Buchstaben verwerthet sind; endlich waren die altdeutschen Gesänge, z. B. das Hildebrandslied und der Heliand, alliterirend. In der naueren Poesie durch die stärkere Schmuckform des Endreims überholt, findet die Alliteration doch noch immer vereinzelte Anwendung, besonders zum Zweck der Klangmalerei. Ihre Laute bilden zwar je nur eine Reihe; aber es ist zu bedenken, dass immer Versmaassreihen mitkombinirt sind.

Und endlich die Figuren unserer Tänze, wenigstens der Rundtänze! Wie können wohl ernsthafte Leute auf den Gedanken kommen, ihre Beine in so zweckloser Weise nach strengen Vorschriften zu bewegen und sich dabei um ihre Achse zu drehen? Das Reihengesetz gibt die Antwort; meine Herren, ein deutscher Walzer hat 7 Reihen und 3 Kontraste, die Polka 8 Reihen und 2 Kontraste, die Polka-Mazurka 12 Reihen und 3 Kontraste! 6 verschiedene Einzelbewegungen erscheinen in unseren gebräuchlichsten Rundtänzen in den verschiedensten Weisen kombinirt und zu Reihen und Kontrasten zusammengestellt!

Wahrscheinlich ist auch der leuchtende Reiz des Spektralfarbenbandes auf dunkler Wand einer Kombination von Reihen der noch unbekannten Empfindungselemente des Auges zu verdanken, wogegen im weissen Licht die Reihenkombination fehlen würde oder ärmer wäre; aber der Mangel einer sicheren Theorie der Lichtempfindung bildet hier für den Nachweis des Reihengesetzes eine Schranke.

Es ist gewiss interessant, in den entlegensten Gebieten des Schönen immer dieselbe. Ursache unseres Wohlgefallens an den grundlegenden Gebilden zu erkennen, und gerade die Thatsache dieser Gemeinsamkeit des Reihengesetzes für die bedeutungslosen Formen der verschiedensten Art bürgt ja dafür, dass es wirklich das Gemeinsame erfasst, das wir in allen diesen F ormen als schön empfinden. Musste nicht mit jedem neuen Gebiet, in dem es nachgewiesen werden konnte, die Wahrscheinlichkeit wachsen, dass auch die reiche Welt des Auges keine Ausnahme bilden, dass das Reihengesetz sich auch als Erzeuger der Schönheit bei den elementaren sichtbaren Formen erproben werde? Gewiss, und diese Erwartung erfüllt sich in überzeugender Weise.

Es hat sich früher gefunden, dass in jeder architektonischen Grundform eine Anzahl der früher aufgezählten Begriffe der Raumanschauung, gerade Linie, Kreis, Reihung, Symmetrie u. s. f., zusammenwirken. Jeder solche Grundbegriff lässt sich nun als eine Kombination von Reihen nachweisen, und damit muss dann jede Verbindung mehrerer solcher Grundbegriffe eine noch weit reichere Kombination von Reihen sein.

Als einfachste Glieder dieser Reihen erscheinen die drei Vorstellungselemente des Auges: Maasse, Richtungen und Richtungsänderungen oder Winkelgrössen; alle anderen Vorstellungen des Auges sind, abgesehen von der Farbempfindung, aus diesen Elementen zusammengesetzt.

Ganz unmittelbar anschaulich ist die Gültigkeit des Reihengesetzes in der »Reihung«, dem höchst werthvollen Motiv, das in Architektur und Kunstgewerbe in unendlich vielfältiger Weise Gestalt annimmt. Bei der gothischen Krabbenreihe z. B. wiederholt sich nicht nur die Vorstellung der Krabben selber, sondern auch diejenige ihrer Entfernung und Richtung, wodurch, ganz abgesehen von ihrer Form und von der geraden Linie, auf der sie sitzen, schon 3 Reihen in dieser Reihung kombinirt erscheinen. Bei der nicht minder häufigen »Wechselreihung«, wofür etwa der Perlstab mit je zwei Scheibchen zwischen den Perlen als Beispiel dienen möge, treten zu diesen 3 Reihen noch 3 weitere, gebildet durch die Einzelformen und die gleichgebauten Gruppen, in welche sie sich zusammenfassen lassen.

Während in den Abständen der Einzelgebilde, einer Reihung und Wechselreihung das Maass in Reihen geordnet auftritt, erscheinen die zwei anderen Vorstellungselemente des Auges in den schönen Linien. Wenn uns die gerade Linie oder stätige Kurve als Hauptbestandtheil aller schönen Formen gefällt, die unstätigen Linien aber gleichgültig lassen, so kann der Grund unseres Wohlgefallens - dieser Schluss kann auch hier nicht fehlgehen - nur in dem liegen, was die stätige Linie von der unstätigen unterscheidet. Das ist aber eben, wie sogleich nachgewiesen werden soll, wieder der Charakter der Reihe gegenüber einer gesetzlosen Aufeinanderfolge verschiedener Grössen. Die Ylathematik leitet viele Wahrheiten der Kurvenlehre dadurch ab, dass sie die Kurven in äusserst kleine, gleich grosse, gerade Abschnitte, die »Kurvenelemente«, zerlegt und die Beziehung zwischen aufeinanderfolgenden Elementen beobachtet. Wenden wir dieses Verfahren an, so ist es das Verhalten der Winkel zwischen den aufeinanderfolgenden Richtungen der Elemente, was die stätige Linie von der unstätigen unterscheidet. Bei der letzteren folgen diese Winkel ganz gesetzlos auf einander; sie sind bald gross, bald klein, bald positiv, bald negativ. Nehmen wir dagegen einen Kreisbogen, so sind sie alle gleich gross, bilden also eine Reihe. Der Kreisbogen ist also eine »Reihe« von Richtungsänderungen, die das Auge bei seinem Durchlaufen in äusserst kleinen Zeitabschnitten erfasst, ganz wie das Ohr im musikalischen Ton eine »Reihe« von Luftstössen erfasst. (Ich bemerke, dass die Physiologie unzweifelhaft sichergestellt hat, dass das Auge eine Linie rasch durchläuft, um deren Vorstellung zu gewinnen.) Bei der geraden Linie bietet jedes Element dem Auge die Wiederholung der Richtung des vorhergehenden; die gerade Linie ist also eine Reihe von Richtungen.

Bei den Kurven veränderlicher Krümmung, z. B. bei der Ellipse, Parabel, Spirallinie und Wellenlinie wie allen geschwungenen Linien der Ornamentik, bilden zwar die Elementenwinkel selber keine Reihe, aber die Stätigkeit der Linien beruht doch auf einer solchen. Es kommt hier ein neuer Begriff herein, der in der reichen Erscheinungswelt des Auges ausserordentlich oft wiederkehrt; es ist die »Wandelreihe«, eine Aufeinanderfolge gleichartiger Vorstellungselemente in der Form a0 a1 a2 a3 . . . derart, dass jedes VorstelIungselement aus dem vorhergehenden durch dasselbe Gesetz der Veränderung abgeleitet erscheint. Nehmen Sie etwa eine Schnur aus kugelförmigen Perlen, deren Durchmesser vom Anfang bis zur Mitte allmählich zunehmen und dann wieder ab­nehmen (früher »Wandelreihung« genannt), so bilden die Durchmesser eine Aufeinanderfolge der angegebenen Art. Aus der Definition dieser Wandelreihen geht hervor, dass auch in ihnen eine Vorstellung von Augenblick zu Augenblick unverändert sich wiederholt, nämlich das Gesetz der Veränderung. Die Wirkungsakte dieses Gesetzes beim Fortschreiten des Auges von einem Glied zum nächsten bilden hier eine Reihe, während die Glieder selbst sich ändern, also jedes einen Kontrast zu dem vorhergehenden herbeiführt. Indem wir eine Wandelreihe erfassen, nehmen wir also in jedem Augenblick gleichzeitig wahr ein Reihenglied und einen Kontrast. Auch als eine regelmässige Wiederholung desselben Kontrastes, d. h. als eine »Reihe« von Kontrasten, lässt sich die Wandelreihe erklären. Nach beiden Auffassungsweisen erscheint sie als die »Kombination« einer Reihe mit einem Kontrast und ist als solche ein reicheres Gebilde als die streng wiederholende Reihe. Die Naturgebilde sind fast ausschliesslich mit Wandelreihen aufgebaut; ich erinnere an das Akazienblatt, an die Kornähre, an die Vogelfeder, an die Zeichnung des Perlhuhns u. s. f.; ebenso gehört hierher die perspektivische Darstellung, die alle wiederholenden Reihen der Wirklichkeit in ihren Bildern zu Wandelreihen macht, so z. B. die Maasse der Säulenreihe und Fensterreihe oder der Zahnschnitte und Perlstäbe oder der Kassettendecken und Plattenböden in schräger Ansicht.

Gerade die Perspektive ist ein reizender Beweis dafür, dass wir das Gesetz der Verjüngung in unserer Vorstellung loszulösen wissen von dem wiederholten Gebilde; in den ungleich grossen Maassen des Bildes erblicken wir gleich grosse im Raum, und das Gesetz ihrer Verjüngung stellen wir uns getrennt vor als nebenherlaufende Wirkung der wachsenden Entfernung vom Auge. Die Perspektive lässt ferner erkennen, dass wir für die Vorstellung eines solchen Wandelreihengesetzes ungemein bildungsfähig sind; denn ein geübtes Auge findet auch sehr kleine Fehler in der perspektivischen Verjüngung sofort heraus.

Auch beim Schall gibt es Wandelreihen, aber das Gefühl für ihre Gesetzlichkeit ist hier minder empfindlich. Beispiele bieten das Diminuendo und Crescendo der Tonstärke in der Musik, ebenso der Gesang der Vögel und bestimmter wilder Völkerschaften, dessen Tonhöhen vielfach mit einem stätigen Uebergang von einer Tonstufe zur anderen steigen und fallen.

Unsere Musik stellt die Töne auf deutlich verschiedene, unveränderliche Höhenstufen, um entschiedene Kontraste daraus zu gewinnen.

Kehren wir nun zu den Kurven veränderlicher Krümmung zurück, die zur Einführung des Begriffs der Wandelreihe den Anlass gegeben haben, so ist leicht zu erkennen, dass sie Wandelreihen von Richtungsänderungen sind. Wir fühlen beim Durchlaufen der Kurve, dass dasselbe konstant wirkende Gesetz den vierten Elementenwinkel aus dem dritten ableitet, das diesen aus dem zureiten und den zweiten aus dem ersten abgeleitet hatte. Das Gesetz der Veränderung ist auch hier die Vorstellung, die sich von Augenblick zu Augenblick regelmässig wiederholt, also die Reihe bildet. Wir fühlen es mit Hülfe einer blitzschnellen unbewussten Abstraktion, oder vielmehr diese Abstraktion ist selbst das Gefühl der Gesetzmässigkeit der Linie. Es kann ja kein Zweifel darüber bestehen, dass wir in der Stätigkeit und schönen Krümmung der Linie uns das Gesetz der Richtungsänderung in derselben Weise aneignen wie in der Perspektive dasjenige der Verjüngung; denn bleibt nach irgend einem Kurvenelement der Wirkungsakt des Gesetzes zu Gunsten einer Zufälligkeit aus, so erkennen wir dies sofort; die Kurve und ihre Schönheit sind dann verletzt. Schon wenn im Korbbogen zwei Kreise stark verschiedener Krümmung aneinanderstossen, und sei er auch von der sichersten Hand gezeichnet, so findet das geübte Auge den Sprung von einem Gesetz zum anderen hier so sicher heraus wie dort den Fehler in der Perspektive. Die Mathematik erkämpft ein solches Kurvengesetz auf langer Gedankenstrasse; das Formgefühl erhascht es im Flug, freilich ohne seine Formel entziffern zu können und ohne über eine gewisse Grenze der Empfindlichkeit für geringe Störungen hinauszukommen.

Warum sollte ich die zugemessene Zeit noch länger mit Ableitungen verbrauchen! Sie haben ja sicher schon die Ueberzeugung gewonnen, dass das Reihengesetz auch in der Raumwelt schaltet und waltet, und würde ich alle denkbaren geometrischen Formgesetze oder Grundbegriffe der Raumanschauung, deren es etwa 40 sind, vor Ihnen zergliedern, so würden Sie immer wieder erkennen, dass jedes solche Gesetz in kombinirte Reihen und Kontraste aufgelöst werden kann. Es sei mir nur noch gestattet, Ihnen die wichtigeren Resultate meiner Analyse jener Begriffe vorzulegen.

Die gerade Linie ist eine »Reihe« von Richtungen.
Der Kreisbogen ist eine »Reihe« von Richtungsänderungen und zugleich eine Wandelreihe von Richtungen.
Die Kurven veränderlicher Krümmung sind Wandel reihen sowohl von Richtungsänderungen als von Richtungen.
Die geradlinige Reihung fügt zu den Reihen, die das einzelne Gebilde darbietet, noch 5 weitere, die geradlinige Wandelreihung noch 3 Reihen und 2 Wandelreihen.
Der Parallellauf oder äquidistante Verlauf beliebiger stätiger Linien hat 3 Reihen, von denen bei gekrümmten Linien 2 in Wandelreihen übergehen. Die Zeichnung unserer früher betrachteten Malachit- oder Achatplatte und ebenso diejenige der Jahresringe des Baumstammes hat 3 Wandelreihen, da hier auch die Entfernung der gleichlaufenden Kurven sich stätig verändert.
Die Radialreihung unsymmetrischer Gebilde fügt zu den Reihen, die das wiederholte Gebilde an sich darbietet, 5 Reihen und eine Wandelreihe.
Die unendlich häufige zweiseitige Symmetrie fügt zu den Reihen, die eine Hälfte darbietet, 3 Reihen und einen Kontrast. Schon der unregelmässige, symmetrisch abgeklatschte Dintenklex, mit dem die liebe Schuljugend ihre Uebungen in der praktischen Aesthetik so gern beginnt, hat also 3 Reihen und einen Kontrast.
Die vielachsige oder kaleidoskopische Symmetrie, das reiche Grundmotiv der meisten Rosetten und sternförmigen Figuren, hat 9 Reihen, eine Wandelreihe und einen Kontrast, abgesehen von denjenigen Reihen, die von der Figur im einzelnen Sektor geboten werden.
Der Vollkreis als allseitige Symmetrie hat 5 Reihen, eine Wandelreihe und einen Kontrast,
Die Spirallinie 2 Reihen, 4 Wandelreihen, einen Kontrast,
Die Wellenlinie 8 Reihen, 1 Wandelreihe und 2 Kon traste. Hogarth hat sie bekanntlich für die wahre Schönheits linie erklärt; der Reichthum ihrer Kombination ist mit dieser Werthschätzung nicht übel im Einklang.
Die Häufung oder tapetenartige Wiederholung einer Figur fügt zu deren Reihen 8 weitere; bei den Wandelhäufungen gehen je nach der Art derselben mehr oder weniger von diesen 8 Reihen in Wandelreihen über.
Die Ebene hat 4 Reihen,
Die Cylinderfläche veränderlich gekrümmter Leitlinie 3 Reihen und eine Wandelreihe.
Die nach allen Richtungen stätig gekrümmte Fläche, wofür der wellenförmige Wiesengrund oder das Schneefeld ein Beispiel, hat als Kombination einer Kurve veränderlicher Krümmung mit einer stätig veränderlichen Kurve 4 Wandelreihen.
Die Kugel hat 7 Reihen, 3 Wandelreihen, einen Kontrast.
Bei unserem Pentagramm lassen sich etwa 12 Reihen auffinden; hier kommt aber die Thatsache herein, dass die Figur in verschiedenen Weisen aufgefasst werden kann, so dass bald diese, bald jene Reihen, aber schwerlich je alle 12 zugleich im Bewusstsein zusammenwirken werden.

Der zweite Satz des Reihengesetzes, nach dem die Störung einer einmal wahrgenommenen Reihe eine Störung der ganzen Vorstellungskombination und damit eine Störung der Schönheit ist, dieser Satz ist an den linearen und Raumgebilden sehr anschaulich nachweisbar. Wenn wir etwa die 5 Linien eines Pentagramms oder Fünfecks ganz unregelmässig ziehen, so dass keine Reihe begonnen wird, so entsteht eine gleichgültige Figur. Ziehen wir aber 4 Linien dem regelmässigen Pentagramm oder Fünfeck entsprechend, die fünfte dagegen krumm oder in etwas anderer Richteng, oder stören wir in irgend einer anderen Weise eine Seite oder eine Spitze, so entsteht nicht mehr eine nur gleichgültige, sondern eine entschieden missfällige Figur. Ebenso ist eine ganz unstätige Linie nur gleichgültig, ein Kreis oder eine Ellipse reit einer schlecht gezeichneten Stelle aber unschön, ganz wie beim Schall das unregelmässige Geräusch im allgemeinen weder wohlgefällig noch unangenehm ist, die Dissonanz musikalischer Töne äber recht widerwärtig sein kann. In diesen einfachen Gebilden mit ihren gestörten Reihen liegen die Anfangsstufen des Unschönen und Hässlichen; auch bei den höherstehenden Erscheinungen der sichtbaren und hörbaren Welt und im Reich des Gedankens ist das Hässliche nichts anderes als ein Schönes oder wenigstens Interessantes, von widerwärtigen Vorstellungen begleitet, und es ist meist nicht schwer herauszufinden, worin sein Schönes und Widerw ärtiges besteht.

Bei der früheren Untersuchung der Wirkung edler Materialien hatte sich ergeben, dass ein architektonisches oder kunstgewerbliches Gebilde um so schöner ist, je mehr seine Ebenen zu wahren Ebenen, seine Kanten zu wahren geraden Linien geworden sind, und dass auch in dieser grösseren Annäherung an die »stereometrische Idealform« ein wichtiger Grund der Vornehmheit der Gebilde aus edlem Material zu suchen sei. Diese Thatsache erklärt sich aus dem Reihengesetz in einfacher Weise. Alle Unzulänglichkeiten der Idealform gegenüber sind ja nichts anderes als kleine oder gröbere Störungen der Reihen, die in jener kombinirt sind. Die gerade Linie ist ja keine ungestörte Reihe von Richtungen mehr, wenn sie als Kante in Sandstein durch die kleinen Hohlräume der Masse hundertfach unterbrochen ist und runde Quarzkörner in ihrem Weg findet, oder wenn sie gar als Gesimskants in gebrannten Steinen nach jeder Fuge wieder eine etwas andere Richtung einschlägt. Nach dem Grad der Störung ihrer Reihe richtet sich nun der Grad der Störung des Eindrucks; daher ist die gerade Linie auf Sandstein edler als auf gebrannten Steinen, an Marmor edler als an Sandstein, am geschliffenen Diamant edler als an Marmor, und was von der geraden Linie gilt, das wiederholt sich bei der Kurve, bei der Ebene, bei der gewölbten Fläche, bei der ganzen Idealform überhaupt. Je unvollkommener die Annäherung an diese, desto stärker finden sich die in ihr kombinirten Reihen gestört oder wenigstens an Deutlichkeit vermindert, desto minderwerthiger wird folgerichtig der Eindruck. Auch in dieser Beziehung liegt dieselbe Erscheinung vor wie beim musikalischen Klang, der um so edler wird, je reiner seine Reihen sind, je mehr es gelingt, auch die geringsten störenden Geräusche zu unterdrücken, die etwa mitlaufen könnten.


Jedes beliebige Gebilde der Architektur und der Kunstgewerbe hat sich als schön erwiesen durch das gleichzeitige Erfassen einer grösseren Zahl jener früher aufgezählten Grundbegriffe der Raumanschauung, und nun ist jeder solche Grundbegriff eine Kombination von Reihen und Kontrasten. So sind denn diese die letzten Elemente auch für die schöne Raumwelt, sofern sie schön ist ohne Erweckung von Gedanken und ohne Mithülfe der Erinnerung an andere Gebilde. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass auch hier die kombinirten Reihen die Züge sind, an denen unser Wohlgefallen hängt; denn sie enthalten ja das ganze Bildungsgesetz der Formen, und auch hier lässt sich ja zum unwiderlegbaren Beweis des Reihengesetzes folgern, dass die Formen ohne ihr Bildungsgesetz nicht schön wären, weil sie ohne dasselbe nicht wären; die Reihen machen ausschliesslich die Gebilde, also machen sie die Gebilde auch wohlgefällig, soweit sie als bedeutungslose Formen es überhaupt sind. Jede Erklärung des Wohlgefallens an den Grundformen der Architektur muss deren mathematische Bildungsgesetze als Erklärungsgrund benützen, wenn sie überzeugen soll; das ist eine Forderung des Verstandes. Dass das Reihengesetz diese Forderung erfüllt, dass in ihm als Grund der Schönheit behauptet wird, alles, was an den Gebilden ist, und nicht nur der eine oder andere Zug, dass es alle Formgesetze, die ein Gebilde erzeugen, zu umschliessen und mit seiner Sprache auszudrücken vermag, mit einer Sprache, die auch den Aufbau des schönen Klanges, der musikalischen Rhythmen, der Versmaasse, des Reims, der Alliteration und der schönen Bewegungsformen mit gleichlautenden Worten verkündet, das ist seine Feuerprobe, das ist die Bürgschaft dafür, dass es in den Reihenkombinationen das Gemeinsame aller bedeutungslosen schönen Formen wirklich erfasst. Nehmen wir dieser ganzen reichen Welt des Auges ihre Reihen weg, so zerfällt sie in formlosen Staub!

Freilich sind mit den Reihenkombinationen zunächst nur die Bausteine der Schönheit auf dem Werkplatz zugerichtet, und es bedarf noch eines ordnenden Geistes, der ihre Aufeinanderfolge verzeichnet, ihre Maasse einander anpasst und sie zum Ausdruck wählt für die Kräftewirkung in den Massen oder anderen Gedankengehalt. Dieser Geist ist der Stil.

Er muss der versteinerten oder klingenden oder automatisch hinschreitenden oder leuchtenden Mathematik eine Seele verleihen, und es ist mir vielleicht später einmal gestattet, über dieses Geheimniss der höheren Schönheit hier zu sprechen. Aber so viel ist heute schon zu sagen möglich, dass auch noch in der Stilschönheit das Reihengesetz zur Mitwirkung gelangt, und zwar in der Architektur in gemeinschaftlichen geometrischen Zügen vieler in einen Stil zusammengehöriger Formen. Hier ist als nächstliegendes Beispiel zu nennen der Anklang an den Würfel, der durch die meisten Formendes griechischen Stils hindurchgeht und sie dengothischen so entschieden entgegenstellt. Die Stufen am Stylobat, der Abakus des dorischen Kapitäls, der Architrav und seine Deckplatte, die Leiste der Tropfenregula, der Fries, die Triglyphen, die Deckplatte der Triglyphen, die Mutulenplatten, die jonischen Zahnschnitte und Architravblätter, die Kranzplatten, alle diese F ormen sind ja durch ihre stereometrischen Züge lebhaft unter sich und mit dem Würfel verwandt, und indem sich diese Züge beim Fortschreiten des Auges von einer solchen Form zur anderen immer wiederfinden, erscheint auch hier eine Reihenkombination. In hervorragender Weise ist ein Stil durch geometrische Verwandtschaft seiner Formen der gothische Stil; ein Zug inniger Zusammengehörigkeit verbindet die meisten derselben auch für den Laien in der Baukunst, und zwar besonders in der Schattirung der Blüthezeit und Spätperiode.

Auch in der Musik bleibt das Reihengesetz nicht beim einzelnen Klang stehen, sondern es wirkt bei der Bildung der Melodie in derselben Weise mit wie bei der Bildung der Baustile. Beim Zergliedern einer Melodie findet sich, dass wenige Urmotive in immer neu veränderter Weise, aber noch immer mit deutlicher Verwandtschaft sich wiederholen, bald auf höhere Tonstufe gesetzt, bald in den Notenwerthen verlängert oder verkürzt, bald mit Erweiterung oder Verengerung der Intervalle, bald durch angesetzte Töne verlängert oder durch Weglassen vorhandener verkürzt u. s. w.; ebenso ist zu erinnern an die Nachahmung eines von einer Stimme vorgetragenen Motivs oder Satzes durch eine andere Stimme. Diese tieferliegenden oder deutlichen Aehnlichkeiten beruhen alle auf Reihen, die mit mehr oder weniger und immer mit neuen Kontrasten verbunden sind; aber es sei ausdrücklich wiederholt, dass nicht die ganze Schönheit der Melodie in dieser äusserlich erkennbaren Verwandtschaft der Motive, also im Reihengesetz begründet ist, so wenig als in der Architektur die ganze Stilverwandtschaft auf geometrisch gleichartigen Zügen.

Werfen wir noch einen Blick auf die sichtbaren Naturgebilde, so findet sich, dass bei diesen das Reihengesetz in etwas anderer Weise der Erzeuger der grundlegenden Schönheit ist als in den Werken der Menschenhand. Nicht nur sind in jenen - wie schon erwähnt - in überwiegender Weise Wandelreihen kombinirt, während die Architektur mehr mit den wiederholenden Reihen arbeitet, sondern die Natur hält sich nicht einmal streng an die gesetzlichen Maasse. Ich habe z. B. bei Vermessung eines beliebig ausgewählten Akazienblattes Schwankungen von durchschnittlich 4 Prozent, im Maximum von 14 Prozent gegenüber den nächstliegenden strengen Wandelreihen gefunden. Diese Schwankungen rühren von der ungleichmässigen Einwirkung der Aussenwelt auf die verschiedenen Theile der Gebilde während des Wachsens her. Der Hauptunterschied gegenüber dem Gestalten der Menschenhand liegt aber darin, dass die Natur meist viel Gesetzloses unter die Reihenkombinationen hineinwirft, wie z. B. in den Krystallen meist nur die Richtung der Ebenen und Kanten dem Reihengesetz entspricht, während im übrigen ihre Lage gesetzlos ist, also eine willkürliche Folge von Maassen in die Kombination mit einschliesst. Die zufällig wechselnden Formelemente überwiegen oft sogar derart, dass sie das Wiederholte verhüllen und unauffindbar machen, so dass man das Gesetz nicht mehr erkennen, sondern nur noch fühlen kann. Sehr schöne Beispiele dieser Art bieten das Fell des Tigers, die Zeichnung der Granitfläche, die Eisblumen auf den Fensterscheiben, die feinen Verzweigungen des winterlich kahlen Baumes, die Wellenfläche der stürmischen oder gekräuselten See. Der wohlthuende Eindruck der vielgegliederten Gleichmässigkeit und des sicheren einheitlichen Maassstabs in einer Fülle scheinbar willkürlicher Formen ist nachweisbar auch hier den kombinirten Reihen zu verdanken; aber es wäre schwierig, deren Glieder zu nennen.

Noch in anderer Weise als früher angegeben, lässt sich zu Gunsten des Reihengesetzes nachweisen , dass ihm eine erschöpfende Zergliederung unseres Vorstellens rein formaler Gebilde zu Grunde liegt. Es steckt eine Art von Methode des Unendlichkleinen, von höherer Analysis der Psychologie darin. Wie die höhere Analysis etwa das Bildungsgesetz und die Gestalt einer ganzen Kurve verkündet, indem sie die Beziehung zweier unendlich kleiner aufeinanderfolgender Abschnitte in einen mathematischen Ausdruck fasst, und wie sie aus diesem Ausdruck mit immer gleichbleibenden Operationen weithinausgreifende Thatsachen ableitet, so erscheint im Reihengesetz als Grundlage des Behaupteten die gegenseitige Beziehung zweier unendlich kleiner oder wenigstens kleiner aufeinanderfolgender Abschnitte des Vorstellungslebens. Bei der Vergleichung zweier solcher Momente sind nur drei Resultate denkbar: entweder findet man nur Wiederholung, oder nur Veränderung, oder Veränderung neben Wiederholung. Die beiden Elemente Wiederholung und Veränderung erscheinen im Reihengesetz in den Worten »Reihe« und »Kontrast« wieder (denn Veränderung verbunden mit Wiederholung ist eben Kontrast), und das Gesetz verkündet nun mit Benützung dieser Ausdrücke, welche Beziehung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Momenten des Vorstellungslebens stattfinden muss, wenn ein ästhetisches Wohlgefallen an der reinen Form oder die Störung eines solchen entstehen soll*).

*) Wiederholung und Kontrast wirken auch als Elemente der Schönheit in den MaassverhäItnissen der Architektur, unbeschadet der im zweiten Abschnitt behaupteten Entstehungsweise dieser Schönheit durch Anregung von Gedächtnissbildern. Wo das Auge viele aus freier Wahl hervorgegangene Maasse nach einander zu sammeln hat, um die Vorstellung einer bedeutungslosen Form zu gewinnen, da fordert es entweder zweifellose Wiederholung oder entschiedenen Kontrast zwischen je zweien derselben; alle unentschiedenen Verhältnisse sind bemühend, weil sie nicht deutlich genug entweder den Wiederholungen oder den Kontrasten zufallen. Auch der Reiz einer schönen Silhouette der Gebäudemassen oder einzelnen Kunstformen beruht zunächst auf dem kräftigen und überraschenden Gegeneinandersetzen verschiedener Richtungen und Maasse, verbunden mit der häufigen Wiederkehr der lothrechten Richtung; minder wesentlich, wenn auch immer willkommen ist hier die unbewusste oder bewusste Erinnerung an früher Geschautes. Diese mühelose Augenfälligkeit aller Gegensätze und Verwandtschaften der Theile, diese Deutlichkeit von Klein und Gross, von Hoch und Nieder, von Hell und Dunkel u. s. f. ist eine Bedingung der wohlgefälligen Wirkung nicht nur für die bedeutungslosen Raumformen, sondern auch für die Farbenharmonie, für Metrum und Rhythmus, für die Zeitmaasse der Worte und Satztheile der ungebundenen Sprache, für den Wechsel ihrer Vokale und Konsonanten und endlich für das Spiel der musikalischen Intervalle. In diesem Sinn greift das Reihengesetz auch noch hinüber in die scheinbar gesetzlosen Züge der Gebilde, indem auch diese Züge, als reine Formen betrachtet, sich auflösen in eine freie Aufeinanderfolge von deutlichen Wiederholungen und Kontrasten.


Haben Sie für Ihr künstlerisches Schaffen in der Architektur ein Rezept aus meinen Worten gewonnen? Gewiss nein! Und bei dem in Aussicht genommenen Vortrag über die Schönheit der Maassverhältnisse werden Sie ein solches ebensowenig gewinnen; ja Sie werden - wenn es mir gelingt, Sie zu überzeugen - das Aufsuchen eines solchen für fruchtlos halten. Das Gefühl wird sein Recht als alleiniger Erzeuger und Richter des Schönen hier behaupten. Die psychologischen Bedingungen des ästhetischen Wohlgefallens an den Architekturwerken sind so verwickelte, sie enthalten so viel, was erst durch Tradition an die Menschheit und durch Erziehung an den Einzelnen angeflogen ist, dass sie sich kaum jemals zu dauernd in Geltung bleibenden Regeln werden verarbeiten lassen. Die Aesthetik der Architektur - ich spreche nicht von der Kunstlehre - wird sich mit dem Gedanken versöhnen müssen, eine »reine Wissenschaft« zu bleiben. Warum sollte es ihr auch schwer werden; ist doch die Erkenntniss der Ursachen unseres Gefühls auch ohne Frucht für das künstlerische Schaffen ein schätzbares Gut; ist es doch selbst ein hoher ästhetischer Genuss, eine Reihe scheinbar verwandtschaftslos nebeneinanderstehender Thatsachen der Sinnenwelt plötzlich als die Verkörperung eines einzigen Gesetzes zu erkennen!



Zusatz für den Leser
Für die Hörer der zwei letzten Vorträge war die Kenntniss der früheren Abschnitte dieses Buches nicht vorauszusetzen, daher bestimmte Wiederholungen. Der Leser aber wird in der Wirkung des edlen Materials und im Reihengesetz eine neue Aeusserung des ihm schon bekannten allgemeinen Gesetzes der Schönheit gewiss mit Interesse verfolgt haben. Nur wird er noch die Frage erheben: »Warum müssen die fosmalen Vorstellungen, die nach dem allgemeinen Satz in besonders grosser Zahl im Schönen vereinigt auftreten, gerade Reihen sein; könnten nicht auch andere Vorstellungen sich so zahlreich zusammenfinden?« Die Antwort dürfte etwa die folgende sein:

Die Kraft der Seele, eine Anzahl von Vorstellungen verschiedener Klarheitsgrade gleichzeitig in sich zu haben, ist bei verschiedenen lebenden Wesen ausserordentlich verschieden gross. Während alle niedere Kreatur schwerlich die Vorstellung eines Dreiecks zusammenbringt, indem ihr bei Vorstellung der einen Seite immer wieder die der anderen entschlüpft, wenn sie überhaupt eine gerade Linie sich vorstellen kann, müssen wir den höheren Thieren schon ein starkes Vorstellungsvermögen und Gedächtniss für Raumformen und damit eine grössere Umfassungskraft vieler Vorstellungen zuerkennen, sonst könnte der Hund nicht meilenweit den Weg nach Hause wiederfinden, oder der Adler aus Wolkenhöhe herab in einer vielgestaltigen Gebirgswelt seinen Felsen von anderen unterscheiden, während er doch gleichzeitig für die Fiugbewegung und -richtung sorgen muss. Weitaus die grösste Kraft der Umfassung vieler Vorstellungen hat nun der Mensch; er kann sie für einzelne Vorstellungsgebiete durch Uebung ausserordentlich steigern; aber auch bei ihm kommt sie über eine gewisse Grenze nicht hinaus, und der früher aufgestellte allgemeine Satz über das Gefühl des Schönen sagt nun aus, dass es auftrete bei einer besonders günstigen Ausnützung dieser Kraft zu einer hochgesteigerten, durch keine mitlaufende Störung getrübten Vorstellungsthätigkeit.

Ein einmal wahrgenommener und dann unverändert andauernder oder sich regelmässig wiederholender Eindruck nimmt nur noch wenig von dieser Kraft in Anspruch, wie eine schon im Schwingen begriffene Glocke bedeutend weniger Kraft zur Fortsetzung ihrer Bewegung in Anspruch nimmt als eine erst anzuläutende zu deren Beginn. Schon unser Gehen und Athmen ist hierfür ein Beweis; ist ein langsames Gehen einmal begonnen, so können wir es fast unbewusst fortsetzen; es hindert uns an anderen Vorstellungen nicht; erst bei besonders Wichtigen Gedanken bleiben wir unbewusst stehen. Ganz in derselben Weise und aus demselben Grund nehmen die »Reihen« der Vorstellungselemente, einmal begonnen, nur noch wenig Bewusstsein in Anspruch; es ist möglich, deren sehr viele gleichzeitig im Bewusstsein zu haben, ohne dass dieses gehindert wäre, sich auf andere Urstellungen, andere Gedanken zu richten , wogegen ein formaler Eindruck, der sich fortwährend in unvorhergesehener Weise verändert, weit mehr von jener seelischen Kraft verbraucht. Daher sind die kombinirten Reihen das natürliche Mittel, die Gesammtsumme der in der Seele gleichzeitig thätigen formalen Vorstellungen möglichst hoch zu treiben, wogegen viele gesetzlos wechselnde Eindrücke gar nicht gleichzeitig erfasst werden können.

Die geistige Arbeit der Aneignung oder der Gestaltung des Gedächtnissbildes, von welcher im Früheren (S. 16) die Rede war, ist dort grösser und fruchtbarer als hier. Das ist aber nicht nur darin begründet, dass von den Reihen eine grössere Zahl zugleich im Bewusstsein stehen kann, sondern auch in der Thatsache, dass die Reihen als oftmalige Wiederholung gleichgestalteter Vorstellungselemente sich leichter und rascher dem Gedächiniss einprägen als ein gesetzlos veränderliclier Eindruck. Ein solcher haftet erfahrungsgemäss weit schwerer im Gedächtniss; der bleibende Gewinn davon ist geringer. Daher haben die Reihenkombinationen auch dann den Vorzug, wenn ein Gebilde ausschliesslich aus nur wenigen Reihen besteht, also die umfassende Kraft des Bewusstseins nur zum kleinen Theil in Anspruch nimmt. Eine schön geschwungene Linie, allein stehend, erfordert z. B. nicht viel von dieser Kraft, und wenn sie uns besser gefällt als die unstätige, gesetzlos veränderliche Linie, so beruht dies darauf, dass ihr Gedächtnissbild sich rascher in uns gestaltet. Diesen Vorzug verdankt sie aber ihrer Eigenschaft als Reihenkombination.

So oder ähnlich dürfte das Reihengesetz als ein besonderer Fall. des allgemeinen Satzes über das Gefühl des Schönen zu erklären sein.

In überraschend einfacher Weise ergibt es sich auch als ein besonderer Fall der früher entwickelten Lehre von der Anregung der Gedächtnissbilder durch verwandte Sinneseindrücke. Wenn in der »Reihe« ein Vorstellungselement das vorangegangene wiederholt, so ist dies ja auch nichts anderes als eine Anregung des Gedächtnissbildes, das dieses vorangegangene Element hinterlassen hat, und zwar die einfachste Form der Anregung.

Der früher (S. 64 und 67) nur für die siphtbaren Formen ausgesprochene, aber in der ganzen Sinnenwelt gültige Satz, dass die störungslose Anregung möglichst vieler Gedächtnissbilder das Gefühl des Schönen erzeuge oder miterzeuge, gelangt also im Reihengesetz in der Weise zur Wirkung, dass die angeregten Gedächtnissbilder nur von den unmittelbar vorangegangenen Augenblicken herstammen, während früher von solchen die Rede war, die schon länger im Gedächtniss ruhen. Während diese letzteren im allgemeinen das zufällige Besitzthum des Einzelnen sind und also das mit ihrer Anregung erweckte Gefühl nicht nothwendig auch in anderen Personen erwachen muss, kommen die Gedächtnissbilder der vorangegangenen Augenblicke erst im Anschauen und Anhören der Kunstwerke selber zu Stand; sie sind also bei allen anschauenden und anhörenden Personen dieselben. Daher erwecken die Reihenkombinationen als musikalischer Klang, Accord, Versmaass, Reim, Rhythmus, Farbe, Glanz und Kombinationen geometrischer Formgesetze in allen Menschen dasselbe Wohlgefallen.

Selbst das im ersten Abschnitt aus den Gedächtnissbildern begründete Gesetz der Ermüdung findet sich in den Reihenkombinationen, d. h. bei den kurzlebenden Gedächtnissbildern des Augenblicks wieder, indem zu lange Reihen, zu oftmalige Wiederholungen derselben Vorstellungselemente allmählich langweilen. In der Front mit hundert gleichgebauten Fenstern, im Gedicht mit hundert gleichgebauten Strophen, im endlos unverändert anhaltenden musikalischen Klang finden wir gleichermassen zu viel des Schönen geboten. Auch hier erreicht die oftmalige Wiederholung einer Vorstellung endlich einen solchen Grad der Vollendung ihres Gedächtnissbildes, dass jede fernere Wiederholung oder Andaner des Sinneseindrucks keinen Fortschritt mehr hervorbringt. Die umfassende Kraft des Bewusstseins wird dann in Anspruch genommen nach wie vor; aber sie ist fruchtlos geworden; sie kann keine Arbeit mehr für die Gestaltung des Bildes leisten, und der Aufwand ohne Gewinn für den geistigen Bilderschatz ist auch hier der Grund der Ermüdung des Gefühls.

Mit dieser Einfügung des Reihengesetzes in die Lehre vom Gedächtnissbild, die sich ja selbst in ungezwungener Weise in den allgemeinen Satz einordnet, vermeidet die hier ausgesprochene Erklärung des Schönen den Vorwurf des Dualismus; denn auch der Gedankengehalt der sichtbaren oder hörbaren Gebilde beruht ja auf dem Gedächtnissinhalt. Sie verkündet als Grund der Schönheit eine höhere Einheit, welche sich anders in der bedeutungslosen Form, anders im Inhaltschönen verkörpert. So einfach und zugleich so umfassend könnte auch diese Einheit nicht mehr gedacht werden, als in einem hochgesteigerten, ungestörten Genuss des Vorstellungslebens oder »Empfangen von Gütern des Geistes«.