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Autor: Scheffler, Karl
In: Dekorative Kunst - 8 (1901); S. 397 - 407
 
Meditationen über das Ornament
 
Jeder ist Ornamentiker: in seiner Schrift; und doch wissen wir von der Art, wie ornamentale Schöpfungen im Geiste des Künstlers vor sich gehen, fast nichts. Man liebt ein schönes Linienspiel, trotzdem es nichts erzählt, dann und wann zeichnet man auch im halben Bewusstsein Liniengespinnste und Ornamentspiele vor sich hin, wie man etwa eine Melodie summt oder ein Lied pfeift; doch das Geheimnis ist damit nicht gelöst. Das Selbstverständliche im Leben pflegt ja in der Regel das Mystische zu sein, weil das uns ganz natürlich Scheinende nicht ein Produkt der Logik, sondern der autokratischen Instinkte ist.
In dem Streit unserer Tage, ob das Ornament floral oder linear sein solle, ist ein wichtiges Argument kaum vorgebracht. MEIER-GRAEFE hat es einmal in diesen Blättern angedeutet, als er von LEMMEN sprach. Es ist der Vergleich der Handschrift eines Künstlers mit seinen Ornamenten, seines Unbewussten mit dem Bewussten. Nichts kann nun interessanter sein, als ein Studium der merkwürdigen Verwandtschaft der Schrift- und Ornamentzeichen unserer modernen Nutzkünstler. Ein Vergleich ist mir möglich gewesen bei VAN DE VELDE, LEMMEN, BEHRENS und vielen andern, deren künstlerische Ausdrucksform weniger prägnant ist. ECKMANN und ENDELL, zwei besonders lehrreiche Persönlichkeiten, fehlen mir leider. In VAN DE VELDE'S Schrift ist alles Energie. Die Buchstaben sind gewissermassen auf ihren Ursprung zurückgeführt; aber neben der primitiven, eckigen, eigensinnigen Ausdrucksform, die nur das Notwendigste andeutet, steht oft unvermittelt ein kleiner dekorativer Schwung, der verrät, wie die ornamentalen Zuckungen der Hand vom Verstand und von der Liebe zur Phrasenlosigkeit gebändigt worden sind. Es ist die charaktervollste Handschrift, die mir je begegnet ist. LEMMEN'S Schrift ist dieser verwandt; doch ist sie unfertiger, weniger diszipliniert, nicht gleichmässig kräftig, sondern ruckweis energisch, und einzelne Buchstaben lösen sich unorganisch, als kleine selbständige Ornamente vom Ganzen ab. LEMMEN hat mehr weichen Schwung im Handgelenk als VAN DE VELDE; aber ihr fehlt die straffe Selbstzucht der Logik. In seiner Schrift wie in seinen Ornamenten ist alles mehr Impromptu, der organische Fluss ist häufig unterbrochen. Dieser ist wieder ganz bei BEHRENS vorhanden, den es auch in den Fingern juckt, mit der Feder zeichnerisch umherzufahren. Einzelne seiner grossen lateinischen Buchstaben sind vollkommene, schöne Ornamente. Jedes Wort ist nur eine verschlungene Linie; er setzt nie ab. Seine Schrift ist gross, deutlich, aufrichtig und ehrlich bis in den letzten Punkt, sie ist repräsentativ und verrät Freude am Prächtigen. Manches ist schlechthin schön. -

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Die Schlussfolgerung aus solchen Vergleichen liegt nahe. Die Graphologie ist eine ernsthafte Wissenschaft geworden, sie versteht es zuweilen mit verblüffender Sicherheit, von der Schrift auf den Charakter zu schliessen. Man muss also auch vom Ornament auf die Individualität des Künstlers raten können. Das thut, mehr oder weniger bewusst, auch jeder Feinsinnige. Wenn dem so ist, müssen wesentliche Teile ornamentaler Schöpfungen aus Gefühlslinien und Temperamentskurven bestehen. Daraus ergiebt sich dann weiter: dass das Gefühl ebenso lebhaft mit der Linie operiert wie z. B. mit der Musik und dass, wie jeder Seelenregung eine bestimmte Tonfolge entspricht (siehe: HELMHOLTZ: "Die Lehre von den Tonempfindungen") gewissen Empfindungen auch ganz bestimmte Linien antworten.
Ich habe mit verschiedenen Personen einen Versuch gemacht. Ich wählte solche - nicht Maler - die fähig sind, sich mit Hilfe der Phantasie in ein dramatisch gespanntes Gefühl hineinzureden, gab ihnen einen Zeichenstift, mit der Weisung, sich eine ausgesprochene Stimmung zu suggerieren, z. B. die der Energie, Sinnlichkeit, Müdigkeit u. s. w. und dann, auf dem Punkte der höchsten Intensität, das Gefühl mit dem Zeichenstift in einer unter dem Zwange der Notwendigkeit stehenden Linie oder Bewegung zu entladen.

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Die Resultate sind sehr merkwürdig. Es herrscht immer dieselbe Tendenz. Die Linie der Energie z. B. ist nicht, wie man wohl denken möchte, eine Gerade, sondern eine wagerecht fortschreitende Bewegung, etwa wie ein deutsches, sehr lang gezogenes und abgerundetes m. Es ist wie Atemholen in der Linie. Ist sie nur aus der Gewohnheit des Schreibens zu erklären? Ich glaube nicht. Es ist die Wappenlinie der modernen Ornamentik, die damit unter einem guten Zeichen steht. Die Bewegung der geschlechtlichen Sinnlichkeit ist noch charakteristischer; nur ist der Gegenstand etwas heikel zu erklären. Es ergab sich stets eine mehr oder weniger zittrige Spirale, die, von aussen sich verjüngend, in einem Punkte mit starkem Druck endigt. Es ist, meinem Gefühl nach, hierin der männliche Drang nach dem Zielpunkt der zeugenden Kraft illustriert. Es ist die Urform der Volute, die durch die ganze Ornamentgeschichte geht, vor allem durch die sinnenfrohe Kunst der romanischen Völker, der Renaissance. Man kann die Beispiele vervielfältigen und es gewährt grosse Freude, solches Liniengestammel dann mit fertigen Ornamenten zu vergleichen. Nur eins muss stets bedacht werden: einen andern Wert, wie den für die Erkenntnis haben solche Experimente nicht; Ausgangspunkt für die künstlerische Produktion können sie  n i e  sein.

Die ornamentalen Spielereien in der Schrift sind natürlich nicht im geringsten künstlerisch; es muss zum Instinkt der Verstand, der feste Boden des Gesetzes hinzukommen. Nichts ist gesetzmässiger, organischer als ein gutes Ornament; aber es ist unbeweisbar. Wir müssen wieder mitten in die Metaphysik hinein.
Das architektonisch angewandte Ornament hat die Aufgabe, indem es schmückt, das erregte, sehr anspruchsvolle Kausalitätsbedürfnis zu befriedigen. Da giebt es irgendwo etwas zu stützen, zu umklammern, zu verbinden - nur scheinbar, denn in Wahrheit thut es das Material; aber das genügt dem Menschen nicht, er will nicht nur wissen, dass ein Lagerndes gestützt, ein Strebendes gehalten ist, sondern sehen, wie es geschieht und da der tote Stoff das statische Geheimnis nicht preisgiebt, so dichtet der Künstler dem Material menschliche Instinkte an: das ist dann Kunst. Eine erhabene Lüge, nichts weiter; eine Paraphrase über die eigenen Instinkte.

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Dieser Vorgang entdeckt uns aber das Gesetz. Denn was ist der Instinkt für das Gleichmass der wirkenden Kräfte anderes, als ein Schwingungsgefühl der Harmonie unseres Körperbaues, als ein wohliger Reiz der sicher in sich ruhenden körperlichen Architektur. Man frage einen rechten Künstler, wie er Ornamente entwirft oder man sehe ihm zu: er erlebt sie! Er sitzt, in sich versunken, vor dem Blatt und wägt als ein auf seinen Instinkt Horchender jede Linie mit Balancierbewegungen nach. Er suggeriert seiner Phantasie das Gefühl des Stützens oder Tragens - und flugs zieht er die Linie, die seine Empfindung auslöst; er turnt mit den Armen, als tanze er auf dem Seil - und gleich hat er einer Kurve das symmetrische Gegenspiel gefunden. So entstehen gute Ornamente - originelle. Weil das Gesetz uns allen aber gleichermassen eingeboren ist, empfindet der Laie die schöpferische That des Künstlers lebhaft nach.
Da nun dieselben Kräfte unsern Körper und alles Organische nach gleichen Gesetzen bauen, so sehen wir überall Ornamente, wo das uns Verwandte sich manifestiert, unser Organismus ist gewissermassen ein Instrument, dessen Saiten in Mitschwingung versetzt werden. Ein Tropfen Tinte in ein Glas Wasser gespritzt, Zigarrenrauch in ruhiger Luft, die Welle, die Pflanze, eine wehende Fahne, die Photographie einer Moräne, Knochenbildungen und Muskelstränge - kurz: überall sind Ornamente. Die Symmetrie ist immer angenehm, weil wir selbst symmetrisch gebaut sind, der Rhythmus berührt uns freudig, weil alles in uns, vom klopfenden Herzen bis zum eilenden Schritt rhythmisch ist und wir dem die Zeit teilenden Tempo ein solches, das den Raum gliedert, als Gleichnis entgegenzustellen trachten. Der Kreis ist das ewig schöne und vollkommene Ornament, weil in ihm der denkbar sinnfälligste Ausgleich zweier Kräfte - der centrifugalen und centripetalen - stattfindet.

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Der grosse, einzige Bautrieb, der alle Dinge geschaffen, hat auch uns nach demselben Richtmass gebaut; darum ist uns das Gesetz, wo wir ein Zipfelchen davon sehen, verwandt, das heisst: schön. So tanzt die ganze Schöpfung um uns, mit uns im gleichen Rhythmus.
Die Grenze zieht der Intellekt. Den Kreis verstehen wir mit einem Blick, auch die doppelt gebogene Linie ist noch ein Wohlklang. Viel weiter reichen unsere stumpfen Sinne nicht. Darum sind die niederen Organismen so viel bessere Anregungen für Ornamente als die höheren, komplizierteren. Unser Empfinden reagiert - bildlich gesprochen - nur auf reine Schwingungsverhältnisse. Ein Pflanzengebilde ist als Ganzes viel zu mannigfaltig für den Kunstsinn; es wird auch nie rein künstlerisch genossen, sondern philosophisch dazu. Die Blume mit rhythmisch geordneten Blättern, das einzelne Blatt, die grosse Linie des Stengels, das ist noch ornamental, weil im Tiefsten unseren Sinnen verwandt - verständlich; aber wir müssten tausendmal schärfere Sinnesorgane haben, um mit dem ersten Blick - und in der Kunst ist der erste Blick alles - die unendlich sich kreuzenden Gesetze zu umfassen, die in einem höheren Organismus thätig sind. Einen Fortschritt der Menschheit scheint es hierin nicht zu geben, es herrscht das physikalische Gesetz, dass an Kraft verloren geht, was an Vielfältigkeit gewonnen wird, und umgekehrt. Die Ornamentlehre ist nebenbei unserm Begriffsvermögen ein Exempel "für, was drein geht und nicht drein geht".
Die Abstraktion ist also das eigentliche Gebiet des Ornamentikers. Diese merkwürdigen Kunstgebilde sind in Wahrheit tabellarische Linien der ewigen Weltstatik, Paraphrasen über eingeborene Instinkte, Versuche, die grosse Kausalität der Weltarchitektur im Verkleinerungsspiegel aufzufangen, ein fröhlicher Tanz mit der Hand - alles das zugleich.

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Die Schöpfungswahl des Künstlers ist unendlich; aber in jedem einzelnen Falle steht er unter dem Zwange seiner Vorstellungen, seine Linien sind dann entweder notwendig oder sie taugen nichts. Eine Willkür giebt es streng genommen nicht; Instinkt und Temperament schliessen einen festen Bund, der allen Werken organisch motivierende Kraft verleiht. Der Gedanke, irgendwo ein Ornament anzubringen, kann absurd sein, es kann sich um eine Zwecklosigkeit auf einem Blatt Papier handeln: in sich muss doch alles geschlossen sein, eins muss das andere bedingen, die freie architektonische Phantasie muss den Notwendigkeiten der Tektonik folgen.

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Der geniale Ornamentiker, der Medium genug ist, um die ewigen Gesetze mit heissem Temperament aus den Tiefen des Instinktes heraufzubeschwören, ist sehr selten. Es scheint, dass die Bedingungen für ihn am Anfange einer Epoche schöpferischen Vermögens besonders günstig liegen. Er entdeckt dann alles aufs neue, findet verloren gegangene Wahrheiten wieder und erlöst, als Exponent der Volksseele, eine lange verschwiegene Sehnsucht. Auch hier gilt das Wort, dass alles schon gedacht worden sei, dass es nur darauf ankäme zu versuchen, es noch einmal zu denken. Die Zeit erweitert eine neue Ornamentnorm dann bald zur Stiltype. Es handelt sich stets nur um wenige einfache Grundformen, in denen das Temperament der ganzen Zeit sich spiegelt; diese werden tausendfältig variiert und ausgeschmückt. Dass der künstlerische Besitz des Genies unter viele kleine Talente geteilt werden muss, bevor der Nation ein Stil reift, scheint eine Notwendigkeit zu sein und es geht darum nicht an, darüber zu schelten. Die architektonischen Künste brauchen viele Arbeiter. So selten die geniale Begabung in der Ornamentkunst ist, so verbreitet sind die nachempfindenden, femininen, die aus einer Andeutung ein Ganzes zu machen wissen. Vor allem die frischen, von Gedankenblässe gar nicht angekränkelten Talente, die nur dem gymnastischen Drange des Handgelenkes zu folgen brauchen, um linearen Wohlklang zu erzeugen, sind reichlich vorhanden. In ihrem Schaffen ist immer noch viel Originalität, weil Temperament darin ist.

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Schlechte Ornamente entstehen schematisch. Die geistlosen Nachahmer spekulieren vor allem auf den unzerstörbaren Zauber der Symmetrie. Irgend ein Krixelkraxel, im Spiegel verdoppelt, sieht schon dekorativ aus. Spiegel und Pauspapier sind die vornehmsten Werkzeuge dieser Strauchdiebe. Sie setzen ihr Spiegelglas quer über eine fremde Zeichnung und es präsentiert sich ihnen ein neues Ornament. Aber scharfe Augen sehen es, wenn etwas auf solchen Diebeswegen gefunden ist: es ist stets ein Aneinanderreihen, die organische Folge fehlt. So ist die Manier der hunderttausend Dilettanten, die Industrie und Gewerbe mit "Entwürfen" versorgen. Gerade der "moderne Stil" ist ein gefundenes Fressen für die armen Zeichnerlein; mit der abstrakten Linie lässt sich alles machen.
Mehr oder weniger dilettantisch ist auch das florale Ornament, wie es allgemein verbreitet ist. Man wende nicht die Gotik und Renaissance ein. Dort ist alles tektonisch konsequent und die stark stilisierten Pflanzenformen sind nur als Gleichnis für das Gesetz benützt, oder sie bekränzen naturalistisch das feste ornamentale Gerippe wie im Rokoko. Man kann natürlich auch von der Pflanze ausgehen; aber ebensogut von einer Qualle, einem Wellenspiel, einer Klexographie oder - vom Instinkt allein.

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Die Blume wird als Anregung stets am beliebtesten sein, weil das Gesetzmässige in ihr so rein, keusch und übersichtlich ist und unser Empfinden daneben so viele herzliche Beziehungen zu diesem Wunder der Schöpfung unterhält. Der Naturalismus im Ornament scheint eine gute Schule: ohne England gäbe es vielleicht keinen VAN DE VELDE. Ein starker Beweis gegen die naturalistische Ornamentkunst liegt aber in den Thatsachen, dass die alten Völker am liebsten mit geometrischen Figuren operierten und dass die Griechen, ein Volk, das sein ganzes Leben überreich mit Blumen schmückte, mit feinem Takt alles Florale aus ihrer Kunst fernhielten.

Die Gegenwart experimentiert noch; wir erleben den frühesten Anfang eines neuen Stils. Nur in solcher Zeit, wo jeder Laie latent an den Kunstevolutionen beteiligt ist, können Meditationen, wie diese, überhaupt geschrieben werden - und sogar Leser finden. Das Problem liegt in der Luft und die heitere Sinnenfreude, die ohne heftiges Nachdenken geniesst, kann sich erst ausleben, wenn es gelöst sein wird. Wir sehen schon die ersten Resultate. VAN DE VELDE ist als Ornamentiker ein Treffer der Kunstgeschichte. Er ist das individualisierte Gesetz, ein Instrument der Notwendigkeit. Seine Genialität besteht aus einer einzigen fixen Idee; aber die ist erhaben und fruchtbar wie der Nil. Von den Geheimnissen der Tradition und der Völkerpsychologie, die in der seltsamen inneren Verwandtschaft aller moderner Ornamentiker zu Tage treten, sei diesesmal abgesehen; sonst sprengt der Stoff die Spalten. Es sei nur darauf hingewiesen, wie gleichmässig das Empfinden der ganzen Zeit ist. Das giebt gute Hoffnungen. Wie freudig sind auch die sogenannten "Ausschreitungen" zu begrüssen, z. B. ENDELL'S wild gewordene Linienkunst. Diese Impressionen eines hungrigen Auges, die dem Fanatismus des jungen Uebereifers, der Kraftprobe arbeitswütiger Instinkte entspringen, sind der Most, aus dem sicher ein trinkbarer Wein wird. Die Philister mögen auf den Rücken fallen und ruhig liegen bleiben.