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Autor: Scheffler, Karl
In: Dekorative Kunst - 5 (1900); S. 129 - 131
 
Sozial angewandte Kunst
 
Wenn man den Weg betrachtet, den sich die angewandten Künste in ihrer internationalen Bewegung gebahnt haben, so bemerkt man bei allen einflussreichen Führern die Tendenz, die künstlerische Arbeit im Lichte höherer sozialer Nützlichkeit zu betrachten. Künstlerische Idealität und wirtschaftliche Realität, die lange für unvereinbar, ja für feindlich galten, verbinden sich nach der Lehre dieser Führer zu einer durch Wechselwirkung bestehenden sozialen Kraft, der einseitige Kampf der Interessen findet, nach langer Zeit, wieder ein Gegengewicht, das, seiner Natur nach, sittlich ausgleichend wirkt. Das relativ Neue und das Bedeutsame dieser Lehre ist die Konstatierung des unmittelbaren Einflusses eines bethätigten Schönheitsgefühls auf die wirtschaftliche Entwicklung, seine Erklärung als soziale Macht. Die Arbeit jedes grossen Künstlers hat auch wohl Einfluss auf das wirtschaftliche Leben langer Zeiträume, weil das angehäufte künstlerische Material Anderen zur Erwerbsquelle wird, weil sich auf die immer wiederholte Reproduktion der Werke tausende von Existenzen gründen, kurz, in der mannigfaltigsten mittelbaren Weise. Die moderne angewandte Kunst aber giebt sich mit solchen unkontrollierbaren Wirkungen nicht zufrieden, sondern sie will sich, sozial organisierend, einen fest umgrenzten Spielraum schaffen, sie will nicht länger abhängig sein von den schwankenden Tendenzen des Marktes und will ihrem idealen Werte nach real gewürdigt werden. RUSKIN, der reine, grosse Mensch, wurde von sittlich-ästhetischen Empfindungen zu sozialen Anschauungen geleitet, die politisch wurden, als sie sich dem Dogma des Cobdenismus entgegenstemmten. Aesthetik und Politik! MORRIS, der erste praktische Erprober ruskinischer Ideen, stellte, indem er sich verachtungsvoll von der feilen Unselbständigkeit der gewerblichen Künste abwandte, dem Raubbau des Fabrikationssystems das erste Concretum der neuen Theorie gegenüber und machte seine persönliche Kunst zu einer Waffe wirksamster sozialer Agitation. Ihm folgten CRANE, COBDEN-SANDERSON und viele andere, und alle diese Männer gestalteten, mit der That und durch Anregung, immer vom ästhetischen Antrieb bewegt, das ganze englische Handwerk, den gesamten kunstgewerblichen Unterricht ihres Landes um. Die Kunst wurde zum Hebel, um jene gewaltige kunstwirtschaftliche Bewegung hervorzurufen, die England schon jetzt so vielen bleibenden Nutzen nach innen und aussen gebracht hat. In dieser Bewegung liegt der Keim einer Kultur, die wahrscheinlich den Beginn eines Zeitalters bezeichnet, eines Zeitalters, das der Gesellschaft gehört, wenn sie aus den Revolutionen hervorgegangen ist.
Wenn die Lehre der RUSKIN'schen Schule nicht genügend die eisernen Bedingungen der modernen Industrie berücksichtigt hat, so dass es in England der Zeit überlassen bleibt, das angefangene Werk praktisch abzurunden, so besitzt der Kontinent in HENRY VAN DE VELDE den Künstler, der mit Wort und That die letzten Konsequenzen jener Ideen zieht. Es ist hier nicht Raum, im einzelnen auf die sozialen Anschauungen dieses modernsten Künstlers einzugehen, auch liegt die Gefahr nahe, dass man den Masstab, der sich bei VAN DE VELDE an den hochgesteigerten Ansprüchen seiner willigen Künstlerschaft befestigt hat, auf Verhältnisse anwendet, wohnt er nicht passt. Dem belgischen Künstler ist, in der Geschichte der kontinentalen Nutzkünste, der Platz des Columbus gesichert, in tausend Einzelheiten wird das Gewerbe, wo es sich künstlerisch zu entwickeln strebt, auf ihn zurückkommen; aber die praktische Organisation der gewerblichen Kunst kann nur von den Bedingungen ihrer partikularen Lebensformen ausgehen, sie muss stattfinden, von Fall zu Fall, ohne theoretische Rücksicht auf einen gegebenen sozialen Gedanken.
Betrachtet man die deutsche Bewegung von diesen Standpunkten, so sieht man noch alles im ersten Anfang. Kunst und Gewerbe haben sich bei uns noch nicht von neuem gefunden. Das Handwerk ist nachhaltig geschwächt worden, weil es vor allem die Kosten des industriellen Triumphzuges hat tragen müssen, und wo es sich, um sich konkurrenzfähig zu erhalten, industriealisiert hat, ist es untüchtig geworden. Aus dem Handwerke rekrutieren sich, immer aufs neue, die Scharen der kunstgewerblichen Zeichner, das will sagen: es stösst seine besten Intelligenzen ab und überlässt sie einer Thätigkeit, von der es Vorteile für sich selbst erwartet, die ihm aber keinen dauernden Erfolg hat bringen können. Den Nutzen des kunstgewerblichen Unterrichtes, wie er seit 30 Jahren vom Staate organisiert ist, hat die Industrie, vor allem die Maschinenindustrie gehabt. Es ist ein klingender Nutzen gewesen, kein künstlerischer, ein Börsenerfolg, kein sozialer. Die masslos produzierende Imitationskunst, die so in die Breite ging, dass sie eine Zeit lang eine "nationale Blüte" inaugurierte, hat als schlimmstes Erbe der Gegenwart einen ganz neuen Stand, den der kunstgewerblichen Zeichner, hinterlassen, der nun überall und allem im Wege ist, dem Handwerker, der Industrie, der Kunst und in letzter Zeit auch sich selber. Kunststürme kommen mit der rücksichtslosen Kraft der Aequinoktialwinde. Sie fegen alles Schwache aus ihren Wegen, und wenn sie so im tiefsten wirtschaftlicher Natur sind, wie die moderne Nutzkunst, so rütteln sie an den Wurzeln der staatlich gepflanzten Parkbäume, die in ruhigen Zeiten dem "Schutze des Publikums empfohlen" waren. Dass eine selbständige wahre und moralische Kunst zu uns gekommen ist, das ist ohne Frage erfreulich, dass sie in den jungen Künstlern die denkbar besten Interpreten gefunden hat, ist ebenfalls gut; und doch liegt in dieser einfachen Thatsache ein schwerer sozialer Konflikt. Oder richtiger: der Konflikt bestand schon früher, er kommt erst jetzt zur Erscheinung.
Die kunstgewerbliche Massenerziehung der letzten drei Jahrzehnte war schädlich. Den Künstlern, den einzigen Trägern der neuen Kunst, versperrt der unnütze Zwischenstand den Weg in die Werkstellen, er hindert das Handwerk und die Industrie, sich dieser neuen Kräfte unbefangen zu bedienen, und der Zeichner selbst muss die besten Arbeitsgelegenheiten trotzdem an die Künstler abgeben. Die staatliche Erziehung bietet nicht länger Garantie für eine Existenz in dem Berufe, zu dem sie ausbildet. Die Folge ist, dass der Zeichner in der neuen Bewegung einen stärkeren Feind wittert, den er mit den Mitteln der Verzweiflung bekämpft, oder dass er diese Bewegung zu dem Niveau seiner halben Fähigkeiten herunterzieht. Das Neue wird sich trotzdem durchsetzen, denn es ist echt und geistige Bewegungen schreiten stets zu Resultaten fort; aber es wird in Deutschland einen schweren Stand haben, weil hier "so unendlich viel für das Kunstgewerbe gethan worden ist". Die Industrie kann sich leichter anpassen, denn sie ist frei und von keiner Berufstradition gehemmt; das Handwerk dagegen kann sich nicht plötzlich von dem frei machen, was es mit Eifer erst gelernt hat, von der auf den Kopf gestellten Technik und von den falschen Anschauungen über gewerbliche Kunst.
Trotz alledem muss man sich dieser Verwirrung freuen. Wohin hätte das alte System schliesslich geführt. Bei eindringlicher Betrachtung des Weges, den unser Kunstgewerbe in den letzten Decennien genommen hat, findet man Ausblicke, die weit in die Tiefen wirtschaftlicher, sozialer und selbst politischer Zusammenhänge blicken lassen. Es müsste ein Buch geschrieben werden, um alle Fäden nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik, die in der Halbkunst der vergangenen Jahrzehnte verknotet sind, zu verfolgen. Sehr bald ist dagegen das betrachtet, was die neue Kunst an sozialen Gebilden hervorzubringen im Begriffe ist. Es sind alles erst primitive Anfänge; aber sie lassen eine schöne Entwicklung hoffen.
Deutschland hat keinen Führer wie RUSKIN gehabt. Unserem Volke hat nicht, wie dem englischen die scharf umrissene Lehre eines genialen Mannes den Weg gezeigt, es war allein auf den Zwang wirtschaftlicher Notwendigkeiten angewiesen und auf die instinkkräftige Sehnsucht seiner Kunst nach ehrlicher Arbeit. Dennoch kommt das, was bei uns schon geleistet worden ist, den Ideen jener Lehren sehr nahe. Man könnte vielerlei daraus schliessen. Jedenfalls beweist es, dass die soziale Kraft der Bewegung eigen ist, und dass sie nicht auf idealistischen Theorien einzelner Führer beruht. Es haben sich in verschiedenen deutschen Städten Werkstätten für angewandte Kunst organisiert, die sich die Aufgabe gestellt haben, die gewerblichen Entwürfe der Künstler auszuführen und die ihre künstlerischen Mitarbeiter finanziell am Gewinne beteiligen. Wären es Gründungen selbstloser Mäcenaten, so wäre wenig darüber zu sagen; es sind aber rein geschäftliche Unternehmungen, eine Art von Genossenschaften. In dieser Form, deren Prinzip das vergebliche Ideal der Nationalökonomen seit langer Zeit ist, verdient die neue Kunst ihren Lebensunterhalt. Individuell in ihrem Ursprung, schliesst diese Kunst in der ersten Bethätigung schon ihre Glieder wirtschaftlich zusammen. Theorien, die lebensfähig zu machen das Aeusserste versucht worden ist, scheinen sich in einer Weise realisieren zu wollen, an die niemand vorher dachte, und die jetzt doch als der allein vernünftige und mögliche Ausgangspunkt erscheint.
Es scheint wieder ein Gefühl dafür erwacht zu sein, dass Fähigkeiten und Thätigkeiten auf einander angewiesen sind, dass es etwas giebt, das das Kapital sich nicht ohne weiteres unterthan machen, das es nicht einfach kaufen kann. Die Kunst, eine sittliche Kraft, ist als Triebfeder eingestellt. Es ist nicht wahrscheinlich, dass jeder Theilhaber dieser Unternehmen von solchen Erwägungen geleitet wird; aber es ist eben das glücklichste Zeichen der Zeit, dass jeder, der in der angewandten Kunst ernsthafte Arbeit sucht, in den Dienst der Allgemeinheit gestellt wird.
Es ist wahrscheinlich, dass sich das Handwerk einst nach ähnlichen Prinzipien, wie die Kunst sie hier befolgt, organisieren wird. Mit den Phrasen vom Befähigungsnachweis und Innungszwang ist nichts mehr zu erreichen. Nur wenn das Handwerk nach Bismarck's Wort seine "Innungen so gestaltet, dass jeder einzelne seinen Vorteil dabei findet", können diese Korporationen wieder Sinn und Zweck bekommen. Wie das zu machen sei, darüber hat der preussische Minister Miquel neulich in gedrängter Form eine Aeusserung gethan, die den Kern der Frage trifft und die an Gewicht gewinnt, weil sie von so einflussreicher Stelle erfolgt ist:
"Es gilt heute für den Handwerkerstand sich durch festen Zusammenschluss diejenigen Vorteile, soweit möglich, anzueignen, welche das Grosskapital und der Grossbetrieb vor ihm voraus haben. Tüchtige Vorbildung, gute Buchführung, energisches Mitarbeiten des Meisters in der Werkstatt, billiger Kredit durch Kreditgenossenschaften, genossenschaftlicher Einkauf von Rohmaterialien, wo es möglich ist, genossenschaftlicher Verkauf, ja, soweit die Verhältnisse es gestatten, Bildung gemeinsamer Werkstätten unter Benutzung von Dampfmaschinen und anderen Motoren, jedenfalls Verwendung in der eigenen Werkstatt - diese und ähnliche Mittel, welche die moderne Entwickelung darbietet, werden den Mittelstand auch heute noch erhalten und stärken, wie dies die ländlichen Genossenschaften täglich zeigen. Die Zeit der Privilegien und Monopole ist vorbei! Die durch die Gesetzgebung gegebenen Organisationsrahmen haben nur Wert, wenn sie durch Selbsthilfe und wirtschaftliche Energie ausgefüllt werden. Vorwärts, nicht rückwärts muss der Handwerker blicken, dann wird sein Ringen auch mehr Verständnis finden, sein Wert für die heutige Gesellschaft wird besser erkannt und sein Streben mehr als bisher auch von den übrigen Klassen der Bevölkerung unterstützt werden."
Für den Kunsthandwerker kommt zu diesen Aufgaben allgemeinerer Natur die spezielle, sich der Künstlerarbeit in ausgiebiger Weise zu bedienen. Das moderne Handwerk soll das arbeiten, was die Maschine nicht machen kann, nur darin liegt seine Existenzberechtigung. Mit der neuen individuellen Kunst hat sich dieses Gebiet beträchtlich erweitert. Oder es muss sich ausdehnen und das schaffen, was uns noch ganz fehlt: das Maschinenhandwerk. Bis jetzt giebt es nur Maschinenarbeit, aber weder eine Maschinenkunst noch ein Maschinenhandwerk. Das Kunsthandwerk wird sich im Sinne der Miquel'schen Anregung in dem Augenblicke organisieren, wo es sich von dem - paradox gesprochen - cobdenistischen Kunstgewerbe unserer der Industrie zu liebe errichteten Schulen emanzipiert und sich der neuen konservativen Kunst - konservativ im Sinne der Erhaltung und Sammlung der besten Volkskräfte - zuwendet. Das Nebeneinanderwirken von Kunst und Handwerk wird gesündere Verhältnisse schaffen als der neue Stand, der zwei in sich fertige Organismen zu einem umbilden wollte, es jemals gekonnt hat.
Wenn die Regierung die kunstwirtschaftliche Frage im Ernst angreifen will, so beseitige sie zuerst das falsche System kunstgewerblicher Ausbildung. Es ist besser, sie überlässt die angewandten Künste ganz der eigenen Kraft, als dass sie noch länger an einem Prinzip festhält, das alle Beteiligten täglich mehr als schädlich erkennen lernen.