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Autor: Prestel, Jacob
In: Der Architekt - 7 (1901); S. 45 - 46
 
Neue Motive der Architektur
 
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Allseitiges Streben nach frisch belebenden Motiven in dem Gebiete der Kunst, welches in unserer jüngsten Welt zu einem krankhaften Haschen nach Niedagewesenem im Gebiete der Artistik sich auswuchs, legt auch der strengen Wissenschaft die Frage zur Beantwortung vor, ob und wie es der Architektur überhaupt ermöglicht sei, neue Ideen im Gebiete der Monumentalweise zu ersinnen und zu verwirklichen. Bei der Erläuterung dieses schwierigen Problems muss vor allem betont werden, dass nach der Erfahrung der Weltgeschichte die Kunst eine verjüngte Wesenheit der Architektur niemals aus einer Variation ihrer decorativen Argumente allein, als vielmehr nur auf Grundlage einer anders gestalteten Verbindung ihren zugehörigen Raumesideen erbildet hat. Indem in der Zeit die frisch gestaltete bauliche Conception für ihr tektonisches Gerüste eine seinem Organismus entsprechende Kundgebung der Formaltypen verlangt, muss die Kunst aus dem universellen Gebiete der architektonischen Formensprache die entsprechenden Formlaute entlehnen, und wird aus dieser Verschmelzung der ornamentalen Elemente mit den neuen Raumesgedanken eine verjüngte Stilversion sich allmählich entfalten. Wenn auf diesem in allen Kunstperioden sich wiederholenden Processe die Stilgeschichte sich entwickelte, so hat im gleichen Sinne jede willkürliche Abweichung von jener naturgemäßen Entwicklung, insbesondere jedes gehaltlose Spiel mit den formalen Typen zur Corruption der Stile geführt, gleichwie die erschlaffende, zu neuen Variationen der Raumesideen nicht mehr befähigte Phantasie der Zeiten zum Manirismus und Verfalle der Stilversionen leiten musste.

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Auf die Frage, welche Bahn unserer heutigen Architektur zur Begründung neu belebender Motive sich darbiete, kann allein mit dem Hinweis auf die  i n t e r n a t i o n a l e  c l a s s i s c h e  W e i s e  als die ewig unermessliche Fundgrube ästhetisch geistiger Ideen hingewiesen werden. Ihre aus dem artistischen Geiste der ganzen poläarktischen Welt zusammengefügten baulichen Elemente, welche in den Monumentalschöpfungen der hellenischen Könige durch die Combination der orientalischen Raumesmotive mit der hellenischen Stilistik eine Fülle baulicher Gedanken rhythmisch vereinten, die in Romas Weltarchitektur zu concreter Formensprache reifen sollten, hat zugleich alle jene Probleme im Principe gelöst, welche als fruchtbringende Factoren für die fernste Zukunft der Baukunst fortbestehen. So hat dereinst die christliche Weise von der gräcoitalischen Almamater das Basilika-Hallenschema und das Centralkuppelsystem ererbt und aus ihrer ästhetischen Vermählung die weite mittelalterliche Kunst erschaffen. Nachdem die mit dem System des Rundbogens organisch verwachsenen romanischen Versionen ihre Abklärung gefunden hatten, strebte die Baukunst nicht neue Systeme, doch weitere Plangedanken zu entfalten, und erfüllte der Spitzbogen jene Function, welche die weitgehendsten Verbindungen des Hallenschemas gestattete, wie zugleich der in dem Maßwerke plastisch geoffenbarte Structurgedanke die stilistische Tendenz der Gothik bedingte.

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Der Renaissance als der verjüngten Tochter Romas erwuchs, neben ihrem Zurückgreifen und Verwendung der decorativen Elemente der Antike, zunächst aus der Combination des tonnengewölbten Saales der altitalischen Kunst mit dem bestehenden kirchlichen Planschema ihr bahnbrechendes Grundmotiv, und feiert dieselbe in der organischen Vereinigung dieser neuen Planidee mit der Kuppel den Zenith ihrer künstlerischen Erscheinung. Durch die Accomodierung mit den classisch formalen Argumenten bezeichnet zugleich die Renaissance ein Fortschreiten auf dem Wege der objectiven Entwickelung der Architektur, indem dieselbe deren internationale Formensymbolik in ihrem Wesen weiter leitete. Da ihre Meister diese Bahn wohl mit feinem künstlerischen Gefühle, doch weniger geklärtem Bewusstsein verfolgten, und bald nicht mehr in der organisch sich entwickelnden Raumescombination, sondern in dem Spiele der formalen Elemente Neues zu erfinden strebten, fiel die Monumentalweise von der Pseudoarchitektur der Scheinfaçaden in das Schnörkelwesen des Zopfes, und fand in dem Formengewirre des Rococos ihren zur Weiterentfaltung unfruchtbaren Abschluss.

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Unsere heutige Zeit, welcher zur objectiven Kunstbetrachtung eine reichlich genügende Fülle archäologischen Materiales zur Seite steht, hat ihr angebahntes Ziel nicht erreicht, indem man vielfach zu einseitig besondere Kunsttendenzen verfolgte, hierauf in einem unfruchtbaren Specialistenthum sich verlor, oder, einer Mode des Augenblickes huldigend, ohne psychologischen Zusammenhang von dem Culte einer bevorzugten Stilerscheinung zum anderen übersprang und auf solche Weise jene Prämissen zu vergessen begann, auf welchen jede bedeutsame Kundgebung der Architektur, deren Erkenntnis allein aus der vergleichenden Anschauung der Stilistik gefolgert zu werden vermag, sich aufrichten kann. Wie man bei den mannigfachen neueren baulichen Richtungen schmerzlich eine leitende geistige Idee vermisst, so leiden die einzelnen Gebilde nicht minder an einer Gedankenarmuth der Raumesmotive, indem die heutzutage keineswegs reiche Auswahl der landläufigen Vorbilder prototypisch stets wiederkehrt und der Wechsel der Erscheinungen nur mehr in der verschiedenartigen Überkleisterung mit den ornamentalen Elementen älterer, meist zusammengehöriger Stilarten besteht. An Stelle des Fortschreitens auf diesem unheilbringenden Wege muss unsere Baukunst die Erneuerung frischer Lebensgeister in der Aufnahme neuer Raumesideen suchen, welche dieselbe, wie bemerkt, in dem Zurückgehen auf die artistisch objective Bahn der antiken Weltarchitektur finden wird. Nun birgt die  i n t e r n a t i o n a l e  A n t i k e,  neben ihrer logischen Formensymbolik, ein für unsere Jetztzeit ebenso fruchtbringendes wie unbekanntes Motiv, nämlich das des  e u r h y t h m i s c h  b e h e r r s c h t e n  b a u l i c h e n  C o m p o s i t s.  Dasselbe beruht in der harmonischen Zusammenstellung eines aus verschiedenen Elementen bestehenden Baucomplexes mit Einschluss der umgebenden Natur nach vorher ästhetisch berechnetem Plane, und fand der einst in der Anlage der neu geschaffenen Städte Alexanders wie der Diadochenzeit seine nie wieder erreichte gewaltige Manifestation. Seine für unsere Tage vorbildliche Prägung erhielt das Motiv in der organisch zusammengeordneten Bauanlage der römischen Villa, neben welcher der Kaiserpalast mit seinen durch Arcaden und Gartenanlagen vereinten, dem privaten, gesellschaftlichen und staatlichen Leben, wie dem religiösen Culte geweihten Prachtbauten eine Fülle baulicher Ideen darbietet, deren einzelne Baugruppen für sich allein schon als anregende Momente genügen dürften.

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Eine durch das Studium der antiken Ruinen und Überlieferung der Autoren erneute Erkenntnis des künstlerischen Princips jener Art der Baugattung dürfte den sicheren Anhaltspunkt bieten, das  c o m p o s i t e  b a u l i c h e  M o t i v  wieder als bewusstes künstlerisches Moment in die Architektur einzuführen. Aus dem rhythmisch geschaffenen Einklange zusammengeordneter Baugruppen mit Zuordnung der umgebenden Natur unter das System der baulichen Composition würden, im Gegensatze zu der einheitlichen Kolossalmasse der heutigen Monumentalgebilde, wie der eng aneinandergeschichteten Privatpaläste oder nüchtern nebeneinander gestellten Villen, wieder neue mit wechselndem Bilde und regem Leben erfüllte bauliche Compositionen verjüngend die Architektur bereichern. Gleichzeitig mit diesem Siege der  h a r m o n i s c h e n  W e c h s e l w i r k u n g  g e t r e n n t e r  B a u g e b i l d e  über die heute üblichen isoliert gestalteten Baukörper würde untrüglich die Architektur zugleich eine geziemend eigenartige neue Gestaltung ihrer Formaltypen erschaffen, wie die übrigen bildenden Künste, vornehmlich die Plastik, in den erweiterten, frei disponierten Bauanlagen wieder die ihr geziemende reiche Entfaltung und das rhythmische Zusammenwirken mit der Baukunst finden würde.

Dr. J. Prestel