Von Professor FRIEDRICH OSTENDORF,
Karlsruhe. *)
*)
Festvortrag auf dem Schinkelfeste des Architektenvereins zu Berlin.
Solange es eine deutsche Baukunst gibt, von Karls des Großen
Tagen
an, hat der
Architekt zur vergangenen, also zu seiner Zeit schon geschichtlichen
Architektur in einem bestimmten Verhältnis gestanden. Dieses
Verhältnis ist
aber im Laufe der Zeiten ein sehr verschiedenes gewesen.
Wenn wir einmal im Fluge den langen Zeitraum von nun 1100
Jahren durchmessen, so finden wir die Architekten der
frühesten Steinbauten —
soweit sie Deutsche und nicht, wie gelegentlich, Ausländer
waren — da sie mit
der eigenen germanischen Bautradition, nämlich dem Holzbau,
diesen
Aufgaben
gegenüber nichts anfangen konnten, durchaus abhängig
von der historischen Kunst
der Römer, — dies Wort im weitesten Sinne genommen
—, der Römer, denen sie
nicht nur die Vermittlung der beiden Bautypen, des basilikalen und
zentralen
Systems, verdanken, sondern auch (ihnen und ihren lebenden Nachfahren)
die
Kenntnis der Technik des Steinbaus. Es waren vielgereiste, gelehrte und
kenntnisreiche Männer, die zu den besten der Zeit
gehörten: nur solche konnten
ja auch in jenen Tagen, da die Grundlage erst für die weitere
Entwicklung
gelegt werden mußte, da von Tradition also noch nicht die
Rede sein konnte, die
Baumeister sein.
Allmählich wurde das anders. Wenn durch jene Männer
was die Baukunst der späten
Antike an räumlichen Bildungen, an Konstruktionen und an
Formen besaß, der
jungen germanischen Welt vermittelt wurde, wenn so das Erbe einer sehr
kultivierten niedergehenden Welt in die Hände eines ganz
jungen und fast noch
barbarischen, aber hoch begabten Volkes gelegt wurde, so war damit die
Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Stiles gegeben.
Der entwickelte
sich nun und mit ihm eine Bautradition, innerhalb deren jeder stand und
an die
sich jeder bis zu einem gewissen Grade gebunden erachtete. An die
Stelle der
gelehrten Kenntnis der fremden überlieferten Baukunst trat die
eigene
Tradition; an die Stelle jener gelehrten und angesehenen Architekten
als
einfache Volksgenossen die heimischen Baumeister.
Der
Einbruch der gotischen Kunst in Deutschland hat daran
nichts geändert. Die neuen Konstruktionen und Formen wurden
aufgenommen, ohne
daß die Tradition eine wirklich merkliche
Erschütterung erfahren hätte. Und je
weiter die Zeit voran schritt, um so stärker wurde die
Tradition, um so breiter
das ein für allemale feststehende Wissen um die Raumbildungen,
die
Konstruktionen und Formen, um so tüchtiger die Gesamtleistung,
um so geringer
aber auch die Leistung des einzelnen Baumeisters. lm 15. Jahrhundert
war von
irgendwelcher gelehrten Bildung dieses Baumeisters längst
nicht mehr die Rede;
er war ein biederer Handwerker geworden, wie denn ja auch die
Dichtkunst unter
das Handwerk gegangen war. Er wußte um das, was er zu machen
hatte, sehr gut
Bescheid; aber er war seiner Aufgabe gewachsen nicht deshalb, weil er
in
eigener Entwicklung ein denkender Architekt geworden war, sondern weil
die
breite und umfassende Tradition ihm die Mittel an die Hand gab; nicht
deshalb,
weil er über ihr stand, sondern weil er in ihr stand. So war
vom 9. bis zum 15.
Jahrhundert, da doch im Anfang das Verhältnis zur Historie der
Baukunst alles
bedeutet hatte, zum Schluß dieses Verhältnis den
Baumeistern fast ganz abhanden
gekommen.
Da
brach zu Beginn des 16. Jahrhunderts die in Italien
inzwischen zur Entwicklung gekommene Kunst der Renaissance auch in
Deutschland
sich Bahn. Diese Kunst hatte sich im Gegensatz zu der geltenden
Tradition auf
Grund von gelehrten antiquarischen Studien durchgesetzt. Für
sie war das
Verhältnis zur Historie alles, war die historische
römische Baukunst die
Grundlage; Raumbildungen und Formen der mittelalterlichen Kunst sollten
durch
solche der römischen Kunst ersetzt werden. Durch das eifrige
Studium einmal der
antiken Denkmäler und dann des überlieferten
technischen Schrifttums der
Antike, d. h. vor allem des Vitruv, suchte man die Anschauung, wie sie
die
römischen Architekten gehabt haben mochten, wieder zu
gewinnen, und man
gelangte wirklich auch dahin. Es verlohnt heute, wo sich ein solch
törichtes
Geschrei um einen neuen Stil hören läßt,
und wo man mit der durch nichts zu
begründenden Behauptung auftritt, daß unsere moderne
Zeit in moderne Formen auch
ihre Gebäude kleiden müsse, wirklich darauf
hinzuweisen, daß im 15. und 16.
Jahrhundert der neue Stil für die — der
Vergangenheit gegenüber —
verhältnismäßig modernste Zeit, die die
neuere Geschichte erlebt hat, dem
gelehrten Studium einer alten Baukunst zu verdanken war, und
daß die wirklich
großen Architekten jener Zeit von vornherein nicht etwa
darauf ausgingen, aus
neuen Formen — wie es die moderne Architektur anstrebt
— sich ein neues Kleid
zu schaffen, also auf etwas Äußerliches,
Modenhaftes, sondern darauf, eine als
groß und würdig erkannte Anschauung von der Baukunst
wieder zu gewinnen, und
sich dabei durchaus begnügten, mit den alten, peinlich genau
nachgebildeten
Formen ihre neuen Aufgaben zu behandeln.
So
ganz einfach und glatt konnte aber die Entwicklung der
Renaissancekunst doch nicht vor sich gehen. Da es sich dabei um einen
offenbaren Bruch mit der Tradition und um die Einführung neuer
Formen handelte,
war zunächst dem Dilettantismus das Tor weit geöffnet
worden. Und der hat sich
in den früheren Zeiten denn auch breit genug gemacht. Es ist
bekannt, welcher
Wert im 15. Jahrhundert überall in Italien den Formen
beigemessen wurde, wie es
oft genügte, daß jemand ein schönes
Kapitäl meißelte, um ihn zu einem begehrten
Architekten zu machen, wie der Ersatz des alten schönen
Sparrenabschlusses des
Florentiner Palastes durch ein dem antiken Gebälk
nachgebildetes Gesims —
wodurch der Palazzo Strozzi eigentlich verdorben wurde —
Cronaca berühmt
machte, und wie man überhaupt so häufig an den Formen
hängen blieb und durch
Nebeneinanderreihen von schönen Formen schon zu einem
Architekturwerk zu kommen
vermeinte. Es ist von je her so gewesen, daß in den Zeiten,
da die Formen im
Vordergrund des Interesses stehen, der Sinn für das
Wesentliche der Architektur
verloren zu gehen droht. Diese Erscheinung läßt sich
in Deutschland schon im
13. Jahrhundert feststellen, als die gotische Kunst mit ihren Formen
eindrang:
nur daß damals von einem Bruch der Tradition nicht die Rede
sein konnte und
eben deshalb die Unsicherheit der Anschauung rasch überwunden
wurde. In solchen
Zeiten aber, in denen die Begriffe und Anschauungen über die
Baukunst
erschüttert sind, werden immer die kleineren Geister, die
für eine selbständige
Betätigung nicht disponiert sind und die sonst durch die
feststehende Tradition
gebunden und auf dem rechten Wege gehalten werden, zu Extratouren
geneigt
erscheinen, womit sie eben ihre Selbständigkeit zu
dokumentieren vermeinen. Es
kommt dann alles auf die wenigen großen klaren Köpfe
an, die das Ziel erkennen
und die Anschauungen und Begriffe wieder feststellen. Die
führende Rolle fällt
nun wieder, wie in jenen frühesten Zeiten des Beginnes der
eigentlichen
occidentalen Baukunst, den gelehrten Architekten zu, die aus den
Studien heraus
sich eine feste Anschauung geschaffen haben und das Ziel der Bewegung
klar vor
sich sehen.
An
solchen hat es in Italien im 15. und 16. Jahrhundert ja
gewiß nicht gefehlt. Die Alberti, Bramante, Palladio, Vignola
haben das Schiff
der Baukunst sicher gesteuert und es aus den stürmischen und
nebligen Engen
heraus und auf den rechten Kurs gebracht. Diese Schüler der
Antike und des
Vitruv haben die Grundlage für die ganze weitere Entwicklung
gelegt, eine
Grundlage, die auch für unsere Zeit noch zu Recht besteht und
noch durch keine neue
hat ersetzt werden können.
Von
dieser Grundlage wird ja noch ausführlicher zu sprechen
sein. Es liegt mir aber daran, den Vielen gegenüber, die von
der glänzenden
Entwicklung der modernsten Architektur sich überzeugt halten,
schon hier einen
Beweis dafür zu nennen, daß wir in der Tat nicht im
geringsten über die
Anschauung, die jene Männer geprägt haben,
hinweggekommen sind, wenn man die
Dinge bei rechtem Lichte sieht. Ich bitte Sie, nur einmal an die
Aufgaben des
Stadtbaus zu denken, die uns heute allen am Herzen liegen. Es ist ja
sehr
bekannt, daß schon Alberti im 4. und 8. Kapitel seines Buches
de re
aedificatoria auf Grund seiner Studien der monumentalen und
literarischen
Antike sich durchaus klar über das Grundprinzip aller
Stadtanlage ausspricht, nämlich
darüber, daß es sich darum handelt, in den
Straßen und Plätzen äußere
Räume zu
schaffen, deren Wände die Häuser, deren Boden das
Pflaster abgeben und für
deren Decke der Herrgott im Himmel gesorgt hat, und daß von
jener Zeit an
dieses Grundprinzip bis zum Jahre 1800 etwa unerschüttert fort
Bestand gehabt
hat. Dann ging es mit jeder künstlerischen Anschauung
über den Stadtbau
vollständig verloren und ist erst auf dem Umwege über
das Studium der
mittelalterlichen Kunst, die dieses Prinzip gar nicht hatte,
allmählich wieder
gewonnen worden, steht aber noch heute durchaus nicht in solcher
Klarheit fest
wie zu jenen frühen Zeiten der Renaissance.
Oder
wenden Sie sich zu der Gartenkunst und vergegenwärtigen
Sie sich, daß auf der von jenen Renaissancekünstlern
geschaffenen Grundlage Le
Nôtre zu der großen Auffassung des Gartens als
einer Gruppe von Räumen
gelangte, deren Wände die Bäume und Häuser,
deren Boden die schöne Buntheit der
Parterres, die Rasen und Wege, und deren Decke wieder der Himmel
bildet, und
dann denken Sie daran, welche Verworrenheit der Begriffe und
Anschauungen über
diese Dinge heute vorhanden ist und daß wir ganz
allmählich erst wieder zu
einiger Klarheit uns durchzuringen bemühen. Und wie es um
diese Dinge steht, so
steht es im Grunde genommen ja auch um die Bildung der Räume
und der Gebäude.
Nur daß wir von den Straßen, Plätzen und
Gärten beweisen können, daß sie bis
etwa vor 20 Jahren als Kunstwerke gar nicht mehr aufgefaßt
wurden und daher als
solche auch nicht mehr entstanden, während man das von den
Räumen und Gebäuden
nicht so bald zugeben wird. Es ist aber doch merkwürdig und
für die moderne
Entwicklung verdächtig, daß, während irgend
welche Klarheit über die
grundlegenden Anschauungen von architektonischen Dingen noch fehlte,
und eben
weil diese Hauptsache fehlte, ohne daß der Fehler empfunden
wurde, schon das
Streben sich geltend machte, die wild und zuchtlos
emporschießenden
architektonischen Gebilde in neue bis dahin ungekannte Formen zu
kleiden, daß
also der in unsicheren Zeiten immer wieder auftauchende und seit den
Tagen der
Renaissance nie mehr ganz zurückgedrängte
Dilettantismus sich weiter als je
zuvor vorzudrängen begann.
Die
weitere Analyse modernster Zustände wollen wir
hinausschieben und zunächst noch einmal unsere Blicke
rückwärts wenden, um zu
sehen, wie man sich mit jener in Italien für die Baukunst
gewonnenen Grundlage
diesseits der Alpen auseinandersetzte. Was war nun eigentlich gewonnen
worden?
Ideen-Wettbewerbsentwurf zur Gestaltung der Straßenecke
zwischen Lipsiusstraße und Stübelallee in Dresden
mit Gedächtnisdenkmal für Constantin Lipsius
Architekt Professor RICHARD MICHEL, B. D: A., Görlitz
Jagdschloß des Geh. Kommerzienrats von
FRIEDLÄNDER-FULD in Groß-Gorschütz,
Oberschlesien
Architekt WILLIAM MÜLLER
Jagdschloß des Geh. Kommerzienrats von
FRIEDLÄNDER-FULD in Groß-Gorschütz,
Oberschlesien
Jagdhaus des Prinzen HONENLOHE-INGELFINGEN bei Koschentin,
Oberschlesien
Architekt WILLIAM MÜLLER
Landhaus des Generaldirektors Wachsmann auf Emmagrube, Oberschlesien
Grabmal Kannengießer in Prenzlau
Architekt WILLIAM
MÜLLER
Man hatte die mittelalterlichen Formen bei Seite gelegt und an ihre
Stelle die Formen der römischen Antike gesetzt. Das bedeutete
aber
natürlich nicht die neugeschaffene Grundlage. Man hatte aber
auch für
den
Entwurf die mittelalterliche Anschauung aufgegeben und war zur
Anschauung der
antiken Kunst zurückgekehrt oder vielmehr vorwärts
geschritten zu einer
einfacheren und größeren Anschauung. Zugleich hatte
man das Feld des
Architekten erweitert und außer für die inneren
Räume und das Äußere
der
Gebäude auch für die äußeren
Räume — die Straßen Plätze,
Höfe und
Gärten —
einen architektonischen auf eine einfache Erscheinungsform gerichteten
Entwurf
gefordert. Das war ein außerordentlicher Fortschritt in
künstlerischer
Beziehung.
Um
das recht zu verstehen, müssen wir uns jeweils nebeneinander
vorstellen etwa den Dom in Köln und St. Peter in Rom in der
ursprünglichen
Gestalt — beide Bauten nach ihrem Innenraum und der
äußeren Erscheinung — etwa
die Kaiserburg von Gelnhausen und das Schloß von Caprarola
nach ihrer äußeren
Erscheinung, den Marktplatz von Nürnberg und den Kapitolsplatz
zu Rom.
Die
mittelalterliche Kirche finden wir aus manchen Teilen
zusammengesetzt, in der Hauptsache etwa aus Chor, Kreuzschiff Schiff
und Turm,
aus Teilen, die nicht unbedingt aufeinander, angewiesen sind, denn es
können ja
etwa das Kreuzschiff oder die Türme oder auch die Chorapside
— wie das oft
vorkommt — fehlen. Sie stellt also innerlich und
äußerlich ein sehr
kompliziertes Gebilde dar — weil man in den
frühesten Zeiten der deutschen
Baukunst nicht anders konnte als einen in der alten und ausgelebten
Römerkultur
vorhandenen, schon reichlich komplizierten Bautypus —
nämlich den der
dreischiffigen Basilika — zu übernehmen, weil man
dann nicht nur nicht von ihm
losgekommen war, sondern ihn bei den mannigfach im Laufe der weiteren
Entwicklung an ihn herantretenden Anforderungen immer noch verwickelter
zu
gestalten gezwungen war. Diesen Typus stellten die
Renaissancekünstler fest
entschlossen in die zweite Linie und setzten den zentral gebildeten
Raum als
ihr Ideal an seine Stelle. Da haben wir — z. B. bei
St. Peter in der von
Michel Angelo geplanten Art — dem komplizierten
mittelalterlichen Bau gegenüber
ein Gebäude von vollständiger Einheitlichkeit, bei
dem jeder Teil auf den
anderen angewiesen und keiner hinwegzudenken ist, wirklich bei aller
Großartigkeit der Ausführung einen Bau von einer
denkbar einfachen
Erscheinungsform. Und deshalb steht nun die Renaissancekirche
— ganz allgemein
genommen und von dem einzelnen Bauwerk abgesehen — in einem
künstlerischen Betracht
höher als die mittelalterliche, weil sie mehr als jene aus
einer klaren Idee
heraus geboren ist. Der einfache Zentralbau der Renaissance ist nach
seiner
inneren und äußeren Erscheinung fest und sicher in
der Idee zu fassen für den
komplizierten Bau des Mittelalters bedarf es einer ganzen Reihe
räumlicher
Vorstellungen nebeneinander, sodaß das Bauwerk, in der Idee
nicht mit derselben
Klarheit begriffen werden kann. Nur aus der Idee heraus und niemals auf
dem
Papier kann aber als Kunstwerk ein Bauwerk entstehen.
In
der Kaiserburg von Gelnhausen finden wir innerhalb der
Mauer eine Reihe von verschiedenen Bauten: einen Bergfried, den
Palasbau, den
Torbau mit der Kapelle, einen Torturm und manche andere heute
verschwundene,
jeden in sich abgerundet und zu besonderer charakteristischer
Erscheinung
gebracht, jeden für einen besonderen Zweck des Lebens
bestimmt, wie es so die
germanische Bautradition an die Hand gab. Wenn später, wie
etwa bei der Burg,
die der Magdeburgische Erzbischof gegen den Schluß des
Mittelalters in Halle
sich erbaute, diese einzelnen Bauten mehr noch zusammenwachsen, als es
in
Gelnhausen der Fall ist, so bleibt es doch immer bei einer Gruppe von
Bauwerken. Für diese Gruppe bedarf es einer Reihe von
Vorstellungen
nebeneinander. Um wie viel klarer ist in der Idee da doch das
Schloß von
Caprarola zu fassen, in dessen Baukörper alles das, was jene
einzelnen Bauten
enthielten, zusammengefaßt wurde, und um wie viel
größer ist da die Wirkung —
nicht nur deshalb, weil die absolute Größe eine
bedeutendere ist, sondern
deshalb, weil eben statt eines halben Dutzends verschiedener Bauten ein
einheitlicher errichtet wurde.
Auf
dem rechteckigen Marktplatz zu Nürnberg stehen viele
Häuser, ehemals
mit hohen Dächern, steht die Frauenkirche mit ihrer reichen
Westfront und an
der Nordwestecke der »schöne Brunnen«. Der
Platz wurde, wie überall die Plätze
der mittelalterlichen Städte in Deutschland, angelegt wie ihn
das Bedürfnis
erforderte, ohne jede ästhetische Überlegung. Da aber
alle Bauten in jenen Zeiten
der festen Tradition gut gerieten, jeder einzelne in welchem Grade
immer ein
Kunstwerk war, und jedes neu hinzukommende Bauwerk mit Geschmack
angeordnet
wurde, zeigte der Platz zu Anfang des 16. Jahrhunderts sicher ein sehr
reizvolles Bild. Er war gewiß ein Kunstwerk, aber eines von
besonderer Art:
nicht von einem Künstler und nicht aus einer Idee heraus
geschaffen, sondern
zusammengewachsen aus einer ganzen Reihe von einzelnen Kunstwerken.
Diesem
Platze wollen Sie nun in Gedanken den Kapitolsplatz
gegenüberstellen. Den
Nürnberger Platz können Sie in der Idee niemals
festhalten; nur des Gewirres
von Dächern, des bunten schönen Bildes werden Sie
sich erinnern können; dagegen
ist es Ihnen möglich, von dem Kapitolsplatz eine durchaus
klare Vorstellung zu haben,
weil er, wie er ist, aus der klaren Idee eines Künstlers
hervorgegangen ist.
Hier ist der Fortschritt, den die Bewegung der Renaissance bedeutet,
ohne
weiteres klar; denn wenn auch weiterhin überall die
Plätze von der Art des
Nürnberger Marktplatzes häufiger als die anderen sein
werden, so bleibt es doch
bestehen, daß die Renaissance zuerst wieder den Platz als ein
einheitliches
Kunstwerk aufgefaßt hat.
Als
nun im 16. Jahrhundert die Welle der Renaissancebewegung
auch über die Alpen herüberdrang, wurde doch der
wesentlichste Inhalt, eben die
neue Grundlage für die Anschauung architektonischer Dinge,
zunächst am
wenigsten wirksam. Wie das in solchen Dingen so zu gehen pflegt machte
sich
diese mächtige Umwälzung anfangs nur als eine Mode
bemerkbar, und es hat wohl
50 Jahre gedauert, bis man über die Formen hinaus zum Inhalt
der neuen Kunst
gelangte. Wenn man so zunächst, wie man es gewohnt war, den
Entwurf auf die
mittelalterliche Art betrieb und ihn nur in ein Kleid der modischen
Renaissanceformen einkleidete, oder wenn man gar bei der
natürlich auch hier
wieder auftretenden Überschätzung der neuen Formen
über diesen den eigentlichen
Inhalt fast ganz vergaß — es gibt gerade im 16.
Jahrhundert außerordentlich
viel mittelmäßige und schlechte Bauwerke —
so zeigen doch schon die Bauten von
Hieronymus Lotter und Georg Riedinger, die Augustusburg um 1570 und das
Aschaffenburger Schloß um 1610, daß jene in Italien
festgestellte Grundlage,
die ja von allen Formen unabhängig ist, fortan auch
für die deutsche Architektur
— bei aller Selbstständigkeit, die sie der
italienischen gegenüber bewahrte —
gelten sollte. Diese Erscheinung wäre schlechterdings nicht
denkbar, wenn die
deutschen Architekten jener Zeit — anders als ihre Vorfahren
im 15. Jahrhundert
— sich nicht wieder in ein Verhältnis zur Geschichte
der Baukunst gebracht
hätten, wenn sie nicht, wie ihre italienischen Fachgenossen,
historische
Studien der römischen Kunst gemacht hätten, sei es,
daß sie selbst, wie
Heinrich Schickhardt, Josef Furttenbach, Elias Holl, Studienreisen nach
Italien
unternahmen, sei es, daß sie in den Büchern des
Virtuv und mehr wohl noch der
italienischen Theoretiker, insbesondere des Serlio und Palladio,
Belehrung
suchten und fanden. Es waren fortan wie in Italien so auch in
Deutschland wieder
die gelehrten Architekten, die der Kunst ihre besondere Richtung gaben,
die die
vorhandene Tradition beherrschten und langsam auch wandelten, innerhalb
deren
die vielen mittelmäßigen und kleinen Geister quasi
gezwungenermaßen zum
Ordentlichen und wohl auch zum Guten geleitet wurden.
Und
so ist es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geblieben.
Da trat abermals ein rascher Wechsel in den Formen ein. Seit der Mitte
des
Jahrhunderts waren durch die Publikationen Le Roys, Stuarts und Revetts
und die
über Paestum die griechischen Denkmäler in ihren
besonderen, von den römischen
doch sehr abweichenden Formen bekannt geworden. Die Wissenschaft konnte
nachweisen, daß die römischen Formen auf diese neu
entdeckten griechischen
zurückzuführen waren, und folgerte ohne weiteres dann
daraus, daß die
abgeleiteten die minder wertvollen seien. Zuerst unter den
Architekturbüchern
in Jaques- Francois Blondel`s Cours d' architecture von 1771 wurden sie
als
Formen neben den bisher gebräuchlichen Ordnungen
aufgeführt, ohne daß dort ein
großes Aufheben davon gemacht wird. Wenn der schon
älter gewordene berühmte
Architekt darüber auch als über eine
Modeangelegenheit hinweggehen zu können
meinte, so stellte sich in der Folge doch heraus, daß diese
Formen zu etwas
Außerordentlichem berufen waren, nämlich dazu, der
alten Baukunst das Grab zu
graben.
(Schluß
folgt.)
Der
Architekt und die
Historie
Von Professor FRIEDRICH
OSTENDORF, Karlsruhe.
(Schluß aus Heft 15, Seite 286).
Wir
haben gesehen, daß die Baukunst immer dann in eine kritische
Lage hineingeriet
und geraten mußte, wenn neue Formen plötzlich auf
den Plan traten, deshalb,
weil sich naturgemäß diesen neuen Formen das
Interesse in einer bis dahin
unerhörten Weise zuwandte, da doch die gebräuchlichen
alten Formen als ganz
gemeine und geläufige Dinge kaum besondere Beachtung fanden,
und weil über
diesem vorwiegenden Interesse an den Formen dann immer der wesentliche
Inhalt
der architektonischen Überlieferung, die Anschauung vom
Entwerfen, vergessen zu
werden drohte. Das war schon im 13. Jahrhundert in Deutschland so
gewesen, wenn
die Gefahr bei der sicheren Fortführung der Tradition damals
auch nicht allzugroß
wurde. lm 15. Jahrhundert in Italien, im 16. in Deutschland wurde die
Lage
indessen ungleich bedenklicher; aber auch diesmal wieder wurde die
Gefahr noch
abgewendet, ja die Baukunst ging aus ihr größer und
schöner als sie vorher war
hervor. Das war dem ganz außerordentlichen und fest auf das
Wesentliche
gerichteten Willen der vielen großen Architekten der
italienischen Renaissance
zu danken und ganz besonders den großen Theoretikern:
Alberti, Serlio,
Palladio. Immerhin hatte man hüben und drüben 50
Jahre der Unklarheit
durchzumachen, und der Dilettantismus hatte sein Haupt hoch genug
erheben
dürfen. Zu Ende des 18. Jahrhunderts traf die Formenkrankheit
aber nicht mehr
den gesunden und kräftigen Organismus, den sie im 15. und 16.
Jahrhundert fand.
Er zeigte zwar äußerlich noch keine Spuren des
Zerfalls, nur etwa ein wenig
Greisenhaftigkeit, aber es war doch nichts, gar nichts mehr von dem
Elan und
der Jugendstärke da, die im 15. Jahrhundert die Krankheit
hatte überwinden
können. Und die trat nun viel bösartiger auf als
jemals zuvor.
Die
Einführung der gotischen Formen in Deutschland war
ausschließlich Sache der Architekten gewesen, von denen
besonders die jüngeren
ein Interesse daran haben mochten, sich ihrer zu bedienen, da sie mit
dem neuen
Stil natürlich, wie das überall so ist, das Publikum
und damit die Bauherren
auf ihre Seite bekamen. An der Formenwandlung des 15. Jahrhunderts in
Italien
nahm die ganze gebildete Welt teil, weil sie im innigsten Zusammenhange
stand
mit der großen kulturellen Bewegung der Zeit. Sie
hätte deshalb auch ungleich
schlimmer für die Baukunst wirken müssen, wenn auf
der anderen Seite nicht eben
jene außerordentlich starken Kräfte der Theoretiker
vorhanden gewesen wären.
Das Eindringen der römischen Formen in Deutschland bedeutet
zunächst nicht viel
mehr als eine Modesache, der die Wissenschaft ein wenig sekundierte. Zu
Ende
des 18. Jahrhunderts aber stand hinter den griechischen Formen eine
mächtig
aufgeschossene Wissenschaft und eine alles umfassende Literatur. Da
konnte sich
die Baukunst ihrer nicht — wie es ihr bisher den neuen Formen
gegenüber auf die
Dauer doch stets gelungen war — erwehren. Sie konnte sie,
selbst zu schwach
dazu geworden, nicht mehr absorbieren und zu einem ihrer
Gestaltungsmittel
machen, wie es die Formen bis dahin in gesunden Zeiten stets gewesen
waren.
Diese griechischen Formen waren nun da und pochten auf ihr durch die
Wissenschaft
bewiesenes und von der Literatur gefordertes selbständiges
Recht. Sie drangen
ein in die Architektur, die sie nicht zurückweisen durfte und
doch nicht in
sich aufnehmen und unterjochen konnte. So ging allmählich denn
die Baukunst zu
Grunde, und die Formen blieben ohne Baukunst bestehen.
Das
ist die Tragödie, die sich vor etwa 100 Jahren in
Deutschland — wie überhaupt im ganzen Okzident
— abgespielt hat. Hier etwas
früher, dort etwas später. Das Resultat war aber
überall dasselbe.
Die
große alte Baukunst war tot. Es hatte aber niemand Acht
darauf, weil sie, wie jener tote Feldherr in der Schlacht, immer noch
eingekleidet auf dem Markt und auf den Straßen erschien. Es
erschien natürlich
nur das Kleid, man sah nur die antiken Formen. Aber man
gewöhnte sich bald
daran, diese von der Wissenschaft und Literatur aufgeblasenen, an sich
so
unwichtigen Dinge für die Sache selbst zu nehmen. So ging es
eine ganze Reihe
von Jahren.
Aber
was früher an dem lebendigen Körper der Baukunst sich
immer vollzogen hatte, ein allmählicher Wandel der Formen, der
der Modelaune
des Publikums Genüge tat, war an dem toten Leibe
unmöglich. Die Formen blieben
stets dieselben, — so wurde man ihrer
überdrüssig. Man ahnte jetzt wohl, daß
keine wirkliche Baukunst mehr dahinter steckte. Und nun hätte
man gar nichts
mehr gehabt, wenn nicht auch weiterhin die Literatur und die
Wissenschaft sich
ins Mittel gelegt hätten.
Man
suchte nach einer neuen Architektur. In der Zeit der
Herrschaft der griechischen Formen hatte man vergessen, daß
ein Bauwerk im
Sinne der alten Kunst die Verkörperung einer
künstlerischen Idee mit dem
Gestaltungsmittel der Formen ist, und hatte sich daran
gewöhnt, eine
Zusammenstellung von schönen Formen schon für ein
Kunstwerk zu halten. Da man
mit den griechischen zu einer neuen Kunst nicht mehr zu gelangen hoffen
konnte,
versuchte man es mit anderen, mit denen der altchristlichen oder
lombardisch- romanischen
Kunst, mit den »reinen« Formen der italienischen
Renaissance, die man den
ausgearteten und mißachteten des Barocks
gegenüberstellte, mit denen der
romanischen und gotischen Kunst des deutschen Mittelalters, nach der
Wiederaufrichtung des deutschen Reiches mit den Formen der deutschen
Renaissance, dann wieder nach erneuertem und gründlicherem
wissenschaftlichen
Studium mit den romanischen und gotischen und Renaissanceformen, dann
mit den
früher verachteten Formen des Barocks; dann schalt man auf
alte historische
Formen und erfand neue, dann wieder kamen die Formen von 1800. Aber
überall und
immer nur beschäftigte man sich mit den Formen und also nur
mit dem Kleide.
Dieser Hexensabbat reicht bis dicht an die Schwelle des 20.
Jahrhunderts heran
und hält gutenteils ja noch heute an.
Und
jedesmal, wenn man von Neuem begann, hatte man doch
gedacht, nun endlich in das ersehnte Land der neuen Kunst einreiten zu
können;
und jedesmal wieder erwies sich das Bemühen als erfolglos,
weil man das Pferd
beim Schwanze anstatt beim Kopfe aufgezäumt hatte. Solange man
von den Formen
ausging, war keinerlei Besserung der Lage zu erwarten, auch dann nicht,
wenn
man an Stelle der historischen sogenannte moderne, d. h. neu erfundene
setzen
wollte.
Endlich
sind uns denn doch die Schuppen von den Augen
gefallen. Die Wissenschaft und zwar im wesentlichen das von den
Architekten
selbst getriebene genauere Studium der alten Kunst hat der Architektur
diesen
großen Dienst der Aufklärung geleistet. Man sah nun,
daß man sich immer nur mit
dem Kleide anstatt mit dem Wesen der Sache beschäftigt hatte.
Man übersah auch
die Lage der Architektur und fand, daß sie
einigermaßen trostlos war. Aber es
war ja schon ein außerordentlicher Fortschritt, daß
man wirklich bis zum
Wesentlichen durchgedrungen war.
Die
alte Baukunst war tot. Man konnte feststellen, daß alle
Anschauungen und Begriffe, die früher gegolten, verloren
gegangen waren, daß
man ganz vergessen hatte, was unter einem Entwurf zu verstehen sei, ja,
daß man
nach 100 Jahren, was doch ganz ungeheuerlich klingt, nicht einmal mehr
wußte,
daß eine Straße, ein Platz, ein Garten Dinge sind,
die vom Architekten als
Kunstwerke entworfen werden müssen.
Da
man aber nun doch zu einem Überschauen der Lage gelangt
war, konnte man auch wieder vorwärts kommen. Man
mußte sich jetzt der Tatsache
erinnern, daß es zu allen Zeiten der Unsicherheit und
Verworrenheit, damals in
den Uranfängen deutscher Kunst und im 15. und 16. Jahrhundert
in Italien und
Deutschland, der gebildete und gelehrte Baukünstler gewesen
war, der, wenn man
mir einmal diesen Ausdruck gestatten will, den Karren aus dem Dreck
herausgezogen hat, und man mußte folgern, daß
unserer Zeit weit mehr als der
sogenannte geniale aber undisziplinierte Architekt der gebildete und
gelehrte
Fachmann not tut und frommt, der durch ein eifrig betriebenes Studium
sich
Klarheit verschafft hat über die Anschauungen und Begriffe
seiner Kunst und das
Ziel deutlich vor sich sieht, weit mehr als ein Wendel Dieterlein, ein
Josef
Furttenbach.
Diese
Klarheit über die Anschauung und das Ziel kann der
Architekt in der zeitgenössischen Architektur
natürlich nicht finden, weil ihr
alle positiven gemeinsamen Züge fehlen. Einzig das Studium der
Historie kann
ihm — wie allen seinen Vorfahren in den kritischen Zeiten
— wie vor allem den
Architekten des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien und Deutschland
— hier
weiterhelfen.
Es
verlohnt wohl, einmal festzustellen, wie dieses
historische Studium in älterer und neuerer Zeit betrieben
wurde.
Wie
es in den Anfängen der deutschen Baukunst damit aussah,
wissen wir nicht recht. Es wird aber schon ein sehr sachliches gewesen
sein, da
ohne ein solches gerade die frühesten Monumente in dem bis
dahin ganz
unbebauten deutschen Lande nicht zu erklären sein
würden. Aus dem 13.
Jahrhundert ist uns bekanntlich das Skizzenbuch Vilars de Honecort,
eines
französischen Architekten, erhalten. Darin sind nun
— wie das für jene Zeit
einer gesicherten Bautradition selbstverständlich —
keine historischen Studien,
sondern solche über die zeitgenössische Kunst zu
finden. Was der reisende
Baumeister unterwegs an Interessantem findet, das zeichnet er in
durchaus
sachlicher Weise im Grundriß, im Aufriß oder bei
den im Grundriß polygonal
gestalteten Baukörpern in dem bei den mittelalterlichen
Architekten
gebräuchlichen perspektivischen Aufriß auf. Wie im
15. und 16. Jahrhundert die
Architekten in Italien ihre historischen Studien betrieben, wissen wir
sehr
genau. Mit dem Maßstab in der Hand haben sie, einer nach dem
andern, die
Brunellesco, Bramante, Raphael, Palladio, Vignola und viele andere, die
Ruinen
Roms durchstöbert, die Grundrisse und Schnitte der
Räume und die Ansichten der
Bauten aufgemessen und gezeichnet, die Verhältnisse
festzustellen versucht, die
Einzelheiten, die Formen der Säulen und Gesimse skizziert und
gemessen. Eine
sachlichere Art des Arbeitens als die, wie sie von diesen gang
großen Künstlern
betrieben wurde, läßt sich nicht denken. Vor allem
in den Büchern Serlios,
Palladios, Vignolas und Scamozzis sind die Resultate dieses Studiums
für die
Jünger der Architektur niedergelegt. Die deutschen Architekten
des 16. und
weiter die des 17. und 18. Jahrhunderts haben die von den Italienern
gewonnenen
Resultate hingenommen, haben mehr aus deren Büchern die
Historie der Baukunst
und nach ihren Werken die Baukunst studiert, als daß sie
selbst sich mit den
römischen Monumenten beschäftigt hätten.
Nach der Herausgabe jener Werke der Italiener
erübrigte sich ja auch das eigene Studium, da nun schon wieder
eine gesicherte
Bautradition vorhanden war, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
anhält.
Die
Bücher über die griechische Baukunst sind nun von
einer
bis dahin nicht bekannten Art. Diese griechischen Bauten wurden nicht
von
bedeutenden Architekten aufgemessen und gezeichnet, — wie im
16. Jahrhundert
die römischen —, die sich durch solches Studium eine
Anschauung von dem Wesen
der antiken Kunst erwerben wollten, nicht also mit einem
architektonischen
Interesse, sondern von irgendwelchen architektonisch gebildeten
Männern — Le
Roy z. B. nennt sich Historiograph an der Kgl. Architekturakademie zu
Paris —
und mit einem archaeologischen, d. h. in erster Linie
wissenschaftlichen Interesse.
Dann
kommen die verworrenen Zustände des 19. Jahrhunderts.
Die deutschen Architekten pilgerten wohl mehr als je zuvor nach
Italien, aber
sie studierten dort die historische Architektur in anderer Weise als es
früher
geschah, da sie den Sinn für das Wesentliche verloren hatten.
Das zeigen vor
allem ihre dort zustande gekommenen zeichnerischen Arbeiten. Wenn die
Zeitgenossen Bramantes und Palladios Grundrisse und Ansichten und
Schnitte
zeichneten und Einzelformen, um die antike Anschauung von der Baukunst
wieder
zu gewinnen, so zeichneten oder malten die Architekten des 19.
Jahrhunderts
interessante Situationen, Motive, und wenn sie wirklich
maßstäbliche Aufnahmen
machten, so geschah das kaum jemals in einer auf die Baukunst
gerichteten
Absicht, es war dann vielmehr die Geschichte der Baukunst, in deren
Dienst sie
sich stellten. Über diese Arbeitsweise haben sich die
Architekten, die später
das Heil der Baukunst in der mittelalterlichen Kunst suchen zu
müssen glaubten,
mit einigem Recht lustig gemacht. Aber sie haben das Studium der alten
Baukunst, wenn auch anders, doch auch wieder nicht richtig betrieben.
Man
wollte jetzt keine Motive mehr zeichnen, sondern zeichnete Formen, fast
ausschließlich Formen, allerdings
maßstäblich, wie denn ja auch an den
Lehranstalten die mittelalterliche Architektur in einer Konstruktions-
und
Formenlehre gelehrt wurde. Es ist da von den Gesimsen,
Kapitälen, Gewölben usw.
ausführlich und gründlich geredet worden, wenig oder
gar nicht aber von dem,
was eigentlich das Wesen der Sache ausmacht, von der Anschauung, die
die alte
Zeit vom Entwurf hatte. Schließlich halten die
Anhänger der sogenannten
modernen Architektur wohl in überwiegender Mehrzahl ein
gründlicheres Studium
der Historie für überflüssig, wenn nicht
für schädlich.
Wenn
wir uns auf diesen Standpunkt stellen wollten, wäre die
Frage des Verhältnisses des Architekten von heute zur Historie
der Baukunst
einfach gelöst. Wir würden uns ebensowenig darum zu
kümmern brauchen, wie die
Architekten des späteren Mittelalters. Entspricht aber der
heutige Zustand der
Baukunst dem glücklichen Zustand jener alten Zeit? Ist auch
nur irgend etwas
von der selbstverständlichen Sicherheit vorhanden, die jene
Zeit auszeichnete,
in der durch eine feste Tradition die ganze Architektenschaft gebunden
war und
alles auf dasselbe klar erkannte Ziel losging? Ist nicht vielmehr heute
das
Gegenteil von alledem gerade das charakteristische Zeichen der Zeit?
Hat es
irgend jemals eine Zeit gegeben, in der die gesamte architektonische
Produktion
ein so wirres Bild zeigte wie heute? Wenn wir in eine
Architekturausstellung
gehen oder eine Fachzeitschrift durchblättern, müssen
wir bei einigem
Nachdenken zu einem von den zwei folgenden Schlüssen kommen:
entweder wir
werden sagen müssen, daß eine unglaubliche
Urteilslosigkeit in
architektonischen Dingen heute herrscht, oder aber resigniert gestehen,
daß
irgend welche Gesetzmäßigkeit für die
Baukunst nicht vorhanden ist, und daß man
daher Gutes und Schlechtes, das eine und das andere, hinnehmen
müsse, wie es
gerade entsteht. Da aber alle geistige Tätigkeit des Menschen
gesetzmäßig
geschieht, ist mit dem zweiten Schluß nichts anzufangen, und
es bleibt nichts
übrig, als eben die vollständige Urteilslosigkeit
unserer Zeit in diesen Dingen
festzustellen. Durch sie ist der unerquickliche Zustand, in dem wir uns
befinden, hervorgerufen worden. Wenn in alten Zeiten mit einer
gesicherten
Tradition ein Vergleich der Leistungen möglich war, da sie ja
alle, wenn auch
noch so verschieden, doch geistig eng verwandt waren und also das Gute
und
Hervorragende herausgefunden werden konnte, so ist heute von solchem
Vergleichen nicht mehr die Rede. Daher sind denn auch von vornherein
die
Wettbewerbe, die in besseren Zeiten zu einer Auswahl des Guten und
Besten
wirklich hätten führen können, zu einer
Einrichtung von sehr zweifelhaftem Wert
geworden, bei der, im Ganzen genommen, noch sehr wenig herausgekommen
ist und
die das Niveau der Kunst gewiß nicht gehoben hat. Jeder
Anfänger glaubt sich in
solcher Zeit zum Höchsten berufen und berechtigt, die
sorgfältige Lebensarbeit
des Älteren zu schmähen. Jeglicher Respekt, jede
Achtung und Schätzung
gründlicher Arbeit geht in solcher Zeit des unsicheren Urteils
verloren. Viel
einfacher als durch wirkliche Leistungen kommt unter solchen
Verhältnissen der
Architekt zu Ansehen, wenn er sich der Presse anvertraut und durch sie
seine
Taten ausrufen läßt. Die aber steht
natürlich ihrer ganzen Art nach auf der
Seite des Neuen und Modischen, mag es Wert haben oder nicht. Die
einfache und
anständige Leistung wird dann von Scribenten, die auch nicht
die geringste
Vorstellung von dem Wesen architektonischer Dinge haben, als unmodern
oder
unpersönlich leichten Sinnes abgetan, als ob es sich um irgend
eine Dutzendware
handelte.
Haben
wir es mit alledem nun wirklich so herrlich weit
gebracht, wie man uns einreden will? Haben wir nicht vielmehr allen
Grund,
Einkehr zu halten, die Lage zu überschauen und auf ihre
Besserung zu sinnen?
Und da drängt sich uns das Studium der Geschichte der Baukunst
auf, das ja auch
früher schon, wenn es etwas bunt und unordentlich zuging,
klärend und reinigend
gewirkt hat.
Aber
wie sollen wir diese Geschichte studieren?
Es
ist früher oft davon die Rede gewesen, daß man die
alten
Monumente jeglicher Art studieren müsse, um wieder zu einer
gesunden Bautechnik
zu gelangen. Das ist z. Zt. gewiß richtig gewesen, und auch
heute noch ist in
dieser Hinsicht sicher vieles zu lernen. Wir sind aber in den letzten
Jahrzehnten ohne Zweifel da ganz erheblich weiter gekommen, und es gibt
im Augenblick
wichtigere Dinge wie gerade dieses.
Es
ist weiter oft gesagt worden, daß man mit der Historie
sich beschäftigen müsse, um die Formen kennen zu
lernen, um eine allgemein
verständliche, bequem zu handhabende Sprache zur
Verfügung zu haben als Gestaltungsmittel,
um die baukünstlerischen Ideen in die Wirklichkeit zu bringen.
Dieses Mittel
muß man natürlich haben und sich seiner ganz
selbstverständlich wie der
Sprache, in der man die Gedanken ausdrückt, bedienen
können. Man hat es seit
dem letzten raschen Wechsel der Formen zu Ende des 18. Jahrhunderts an
den
verschiedensten Stellen der Geschichte gesucht und hat sich dann auch
bemüht,
an die Stelle der geschichtlichen neue, sogenannte moderne Formen zu
setzen.
Das Verkehrte bei all diesem Streben war, daß man anstatt
einer Baukunst deren
Formen suchte. Daß man, anstatt sich um das Wesen zu
bemühen, an dem Kleide
hängen blieb und das für die Sache selbst nahm.
Hinsichtlich dieser
Überschätzung der Formen und der dadurch bedingten
Vernachlässigung der eigentlichen
Grundlage der Baukunst unterscheiden sich die modernsten Architekten um
keines
Haares Breite von ihren Vorgängern, die mittelalterlich oder
renaissanceistisch
bauten. Auf den richtigen Weg ist man am spätesten gekommen.
Erst nachdem alles
andere durchprobiert war, hat man versucht, an der Stelle wieder
anzubinden, wo
vor 100 Jahren der Faden abgerissen worden war, hat man die Formen des
späten
18. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Nicht als ob diese Formen
schöner und
besser wären als irgend welche anderen — es
wäre ja auch richtig gewesen, sie
wieder hervorzuziehen, wenn sie minder gut wären —
sie sind aber noch heute
allgemein verständlich — was z. B. die
mittelalterlichen Formen keineswegs sind
— und lassen sich ohne jede Schwierigkeit für alle
unsere Bauaufgaben anwenden;
sie sind außerdem einfach, und nach dem wilden formalen
Durcheinander, das wir
in den letzten 80 Jahren erlebt haben, wird man ja überhaupt
so wenig Formen
als denkbar und diese so einfach wie möglich verwenden wollen.
Aber auch die
Formen können wie die Bautechnik nicht das letzte sein, das
wir von dem Studium
der Geschichte der Baukunst erwarten.
Was
uns Not tut und worüber wir in der zeitgenössischen
Produktion vergeblich nach einer Auskunft suchen würden,
worüber uns die Geschichte
aber, wenn wir es ernst nehmen, sicher und gründlich belehrt,
das ist ein
tieferer Einblick in das architektonische Schaffen, die Antwort auf die
Frage,
was unter dem Entwerfen zu verstehen sei.
Damit,
daß man heute das Bauwerk in die Formen des ausgehenden
18. Jahrhunderts kleidet, ist natürlich nichts geleistet. Wenn
nur an diese
Äußerlichkeit gedacht wird, so kommt das auf
dasselbe heraus wie früher, da die
Bauten antik oder gotisch formiert wurden, nämlich auf eine
neue Mode, die die
moderne Pseudoarchitektur durchzumachen hätte. Nicht an der
Oberfläche dürfen
wir suchen, wenn wir durch das Studium der Historie der Kunst das
Fundament
zurückgewinnen wollen. Es ist schon nötig, tiefer zu
graben und eindringlicher
zu forschen.
Wenn
wir uns aber keine Mühe verdrießen lassen, so finden
wir am Ende auch die Antwort auf jene Frage, was denn Entwerfen
heißt, daß es
nämlich bedeutet, auf Grund einer Durchdenkung und
Verarbeitung des
Bauprogramms — das Situation und Raumerfordernis
umfaßt — eine künstlerische
Idee des Bauwerks im Geiste fassen. Entwerfen hat also mit Zeichnen
nichts zu
tun. Zeichnen kann zur Vorbereitung des Entwerfens nötig sein,
insofern damit
das verwickeltere Bauprogramm geklärt werden kann. Zeichnen
kann man alles,
auch das Komplizierteste und Verworrenste. Entwerfen, d. h. vor dem
geistigen
Auge sehen, kann man nur das dem Wesen nach Einfache, das dann in
seiner
formalen Gestaltung freilich ja sehr reich sein kann. Wenn wir es sehr
präzis
ausdrücken wollen, so heißt also Entwerfen:
für ein gegebenes Bauprogramm die
dem Wesen nach einfachste Erscheinungsform finden.
In
der Tat hat diese Auffassung vom Entwerfen zu allen guten
Zeiten der Baukunst gegolten: in der griechischen und
römischen Antike wie im
Mittelalter und in den späteren Zeiten. Oder gibt es etwas,
das im Verhältnis
zum Bauprogramm dem Wesen nach einfacher wäre als die
berühmtesten Monumente
der Baukunst, als der Parthenon, das Colosseum, der Palazzo Pitti, St.
Peter in
Rom, das Schloß von Caprarola, das Schloß in
Aschaffenburg? Und wenn uns die
großen mittelalterlichen Bauten dieser Definition des
Begriffes Entwerfen sich
nicht zu fügen scheinen, so gilt es doch nur, deren Geschichte
gründlicher und
tiefer zu fassen, um zu sehen, daß sie auch für
diese gegolten hat. Man wolle sich
daran erinnern, daß für die mittelalterliche Kirche
aus der späten Antike ein
komplizierter Bautypus übernommen werden mußte, und
daß man von diesem
geheiligten Typus nicht lassen konnte; daß daher die
mittelalterliche Kirche
kein einheitlicher Bau und keiner von absoluter Einfachheit werden
konnte, daß
sie vielmehr aus mehreren Bauteilen zusammengesetzt werden
mußte. Wenn man das
in Betracht zieht und noch daran denkt, daß die komplizierten
Konstruktionen
der Gotik zu ihrer Zeit etwas ganz geläufiges waren, so ist
auch der Kölner
Domchor als die dem Wesen nach einfachste Erscheinungsform für
ein gegebenes
Bauprogramm anzusprechen. Und jedenfalls ist er nicht gezeichnet,
sondern
entworfen, d. h. er ist nicht auf dem Papier, sondern auf Grund einer
klaren
künstlerischen Idee entstanden.
Aber
nicht immer und zu allen Zeiten hat man das Entwerfen
richtig verstanden. Zwischen den guten Zeiten der Baukunst, in denen
die
Anschauungen über die architektonischen Dinge absolut sicher
sind, liegen
andere, in denen diese Anschauungen schwankend werden. Das sind die
Zeiten des
Übergangs, von denen ich schon gesprochen habe. Die Zeiten, in
denen neue
Formen aufkommen, und in denen dann diesen Formen ein
übertriebener Wert
beigemessen wird. In diesen Zeiten — im 13. Jahrhundert in
Deutschland, im 15.
in Italien, im 16. in Deutschland — vergessen die Architekten
das Entwerfen,
das Fassen der künstlerischen Ideen und fangen an zu zeichnen
den Formen zu
Liebe. Das sind die Zeiten der papiernen Bauten.
Diese
sind im Laufe der Geschichte immer länger geworden. Im
13. Jahrhundert dauerte diese Zeit nur etwa 2 Jahrzehnte, im 16. deren
5, im
19. Jahrhundert schon 10 und wir stecken eigentlich noch darin, oder
beginnen
doch gerade erst, uns wieder herauszuwinden. Und nur dann werden wir
aus dieser
papierenen Zeit heraus und zu einer neuen Baukunst gelangen, wenn wir
die
Lehre, die uns das gründlichste Studium der Historie gibt, die
Definition des
Entwerfens, zu einer allgemein anerkannten Grundlage architektonischer
Betätigung machen können. *)
*)
Diese Gedanken sind weiter fortgeführt in einem in
diesen Tagen bei W. Ernst & Sohn in Berlin erschienenen Buche:
Die Theorie
des Entwerfens von Prof. Fr. Ostendorf. I. Band. Einführung.
Mit vielen
Abbildungen.
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