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Autor: Mies van der Rohe, Ludwig
In: Bauwelt - (1977); 33. - S. 1087; (Vortrag auf der öffentlichen Tagung des B.D.A. am 12. Dezember 1923 in Berlin)
 
Gelöste Aufgaben
 
Eine Forderung an unser Bauwesen

Auf dem Lande ist es ein selbstverständlicher Brauch, einen mit Unkraut überwucherten Acker umzupflügen ohne Rücksicht auf die paar Halme, die noch die Kraft fanden, sich zu entwickeln. Uns bleibt auch keine andere Wahl, erstreben wir wirklich eine neue Baugesinnung.

Ihnen allen ist zwar der Zustand unserer Bauten bekannt, und doch möchte ich Sie noch an den Kurfürstendamm und Dahlem erinnern, um Ihnen den ganzen steingewordenen Irrsinn vor Augen zu halten. Ich habe mich vergeblich bemüht, den Sinn dieser Bauten zu erkennen. Sie sind weder wohnlich, wirtschaftlich noch zweckmäßig, und doch sollten sie Heimstätten sein für Menschen unserer Zeit.

Man hat uns nicht sehr hoch eingeschätzt, wenn man wirklich glaubte, daß diese Kästen unsere Lebensbedingungen erfüllen könnten. Man hat nicht versucht, die ganz anders gearteten Bedürfnisse elementar zu erfassen und zu gestalten. Die inneren Notwendigkeiten wurden übersehen, und man glaubt, mit einem gewandten Jonglieren historischer Mittel auszukommen. Der Zustand dieser Bauten ist verlogen, dumm und verletzend.

Wir fordern im Gegensatz hierzu für Bauten unserer Tage:
unbedingte Wahrhaftigkeit und Verzicht auf allen formalen Schwindel.

Wir fordern weiter:
daß bei der Planung von Wohnhausbauten ausschließlich von der Organisation des Wohnens ausgegangen wird.

Ein rationeller Wirtschaftsbetrieb ist anzustreben, und die Anwendung neuer technischer Mittel ist eine selbstverständliche Voraussetzung.
Erfüllen wir diese Forderungen, dann ist das Wohnhaus unserer Zeit gestaltet.
Da das Miethaus nur eine Vielheit von Einzelwohnungen ist, so bildet sich auch hier aus der Art und Anzahl derselben der Hausorganismus. Dieser bestimmt die Wohnblockgestaltung.
Ich kann Ihnen keine Abbildungen neuer Bauten zeigen, die diesen Forderungen entsprechen. Denn auch die neuen Versuche sind über formale Dinge nicht hinausgegangen.
Um Ihre Blicke über die historischen und ästhetischen Schutthaufen Europas hinweg auf das Elementare und Zweckvolle des Wohnhausbaues zu lenken, habe ich Abbildungen von Bauten zusammengestellt, die außerhalb des griechisch-römischen Kulturkreises liegen. Ich habe dies mit Absicht getan, weil mir ein Axthieb in Hildesheim näher liegt, als ein Meißelschlag in Athen. Ich zeige Ihnen nun Wohnhausbauten, die eindeutig aus Zweck und Material gestaltet sind.

Bild 1 (ein Indianerzelt). Das ist die typische Wohnung eines Nomaden. Leicht und transportabel.
Bild 2 (Blatthütte). Das ist die Blatthütte eines Indianers. Haben Sie schon etwas Vollkommeneres gesehen an Zweckerfüllung und Materialbehandlung? Ist das nicht eine Potenzierung des Urwaldschattens?
Bild 3 (ein Eskimohaus). Jetzt führe ich Sie in Nacht und Eis. Moos und Seehundfelle sind hier Baumaterial geworden. Walroßrippen bilden die Dachkonstruktion.
Bild 4 (Schneehütte). Wir gehen noch weiter nördlich. Die Wohnung eines Zentraleskimos. Hier sind nur Schnee und Eis. Und doch baut der Mensch.
Bild 5 (Sommerzelt eines Eskimos). Dieser Bursche hat auch eine Sommervilla. Das Baumaterial sind Haut und Knochen. Aus der Stille und Einsamkeit des Nordens führe ich Sie in das kriegerische mittelalterliche Flandern.
Bild 6 (Schloß der Grafen von Flandern in Gent). Hier ist das Wohnhaus zur Festung geworden.
Bild 7 (Bauernhof). In der niederdeutschen Tiefebene steht das Haus des deutschen Bauern. Auch seine Lebensbedingungen mit Wohnung, Stall und Scheune erfüllen sich in diesem Bau.
Was ich an Bildern zeigte, entsprach in allen Teilen dem Bedürfnis ihrer Bewohner. Nichts anderes fordern wir für uns. Nur zeitgemäße Mittel.
Da es keine Bauten gibt, die so restlos den Bedürfnissen des heutigen Menschen entsprechen, kann ich Ihnen nur aus einem verwandten Gebiet einen Bau zeigen, der neuzeitlich empfunden und die Bedingungen erfüllt, die ich auch für unsere Wohnhausbauten ersehne und erstrebe.
Bild 8 (Passagierdampfschiff Imperator). Hier sehen Sie eine schwimmende Massenwohnung aus den Bedürfnissen und den Mitteln unserer Zeit gestaltet.

Hier frage ich wieder: Haben Sie schon etwas Vollkommeneres gesehen an Zweckerfüllung und Materialgerechtigkeit? Zu benei¬den wären wir, hätten wir Bauten, die unseren festländischen Bedingungen in gleicher Weise gerecht würden. Erst wenn wir so elementar die Bedürfnisse und Mittel unserer Zeit erleben, haben wir eine neue Baugesinnung.
Den Sinn für diese Dinge zu wecken, ist der Zweck meiner kurzen Rede.

(Vortrag auf der öffentlichen Tagung des B.D.A. am 12. Dezember 1923 in Berlin.)