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Autor: Meyer, Hannes
In: Das Werk - 12 (1925); 2. - S. 40 - 51
 
Die Siedelung Freidorf
 
erbaut durch Hannes Meyer, Basel
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ANSICHT AUS DER VOGELSCHAU
Phot. Ad Astra Aéro A.G.

Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf dem Flieger wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig schimmerndes Peilziel. Dem Erdkundigen ein neuer Ort auf der Siegfriedkarte, dem Bourgeois rotes Nest, dem Sovjetstern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem Eigenbrödler Zwangserziehungsanstalt, dem Privathändler Todschlagsversuch an seiner Wirtschaftsform, und dem Genossenschafter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und eine cooperative Rarität Europas: Das ist die Siedelungsgenossenschaft Freidorf. Deren Gründer Bernhard Jäggi. Deren Stifter der Verband Schweiz. Konsumvereine. Alle drei unter sich durch Personalunion verbunden. Solcherart steuerten mittelbar 360 000 konsumierende Schweizerfamilien unverzinsliche 7 500 000 Schweizerfranken zum Befreiungsversuch eines Volkstrupps, Vortrupp neuer Gesinnung, aus Formen heutiger Wirtschaft und Stadt. Man denke: 150 Familien ergreifen gleichzeitig die Stadtflucht. 620 Menschen geschieden in Geld, Geschlecht, Glauben, Güte, Gaben, Geist und Gottheit, geeint im Willen zur Lebensgemeinschaft.  620 Menschen beschliessen hinfort ein gemeinsames Leben  in gemeinsamem Hause auf gemeinsamer Erde.
So begann der Auszug »aufs Land». Halbwegs zwischen Basel und Muttenz, im Angesicht von Wartenberg und Rütihardt, die Stadtsilhouette tröstlich im Rücken, schloss man den Kaufpakt. Ein Geländedreieck, haltend 8,5 Hektaren; wirtschaftlich zu Fr. 2.60 das Quadratmeter; geologisch auf postglazialem Rheinbettkies; topographisch auf rechtem Birsufer in 278 m Höhe über Meer und relativ auf 20 m hohem Talbord; patriotisch über dem Schlachtfeld St. Jakobs; siedelungstechnisch schutzloswindig; elektrotechnisch im Bereich der Elektra Birseck, kommunal in Muttenz, kantonal in Basel-Land; verkehrstechnisch an der Ausfallstrasse Basel-Hauenstein, an der Trambahn Basel-Pratteln, an der S. B. B. Basel-Olten, an der Luftlinie Sternenfeld-Brüssel . . . Grund genug zur Weltverbundenheit. Maifreudig woben Durlips und Ackersenf am Ankaufstage einen grünen Plan über das Siedelungsgebiet zwischen autostausbiger Landstrasse und wiesenstillem Feldweg.

DieSiedlungFreidorf_2.gif (63686 Byte) DAS GENOSSENSCHAFTSHAUS    P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_3.gif (56714 Byte) HAUPTEINGANG  P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_4.gif (31513 Byte) GRUNDRISSE

DieSiedlungFreidorf_5.gif (137678 Byte) DAS GENOSSENSCHAFTSHAUS    P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_6.gif (151937 Byte) DORFPLATZ   P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_7.gif (61732 Byte) BRUNNEN   P h o t. H o f f m a n n

Man zählte 1919. Nachkriegszeit, Wilson, Kompromisse, bei denen Weltgeschichte sich und Zeitgeist gleicherweise kompromittierten. Da ward auch Freidorf zur Gartenstadt.
Hier ist alles Co-op. Co-op heisst Cooperation. Cooperation heisst Genossenschaft. Co-op die Menschen und alle Nahrung und Satzung und Kleidung und Zeitung. Co-op aller Bedarf und Herbstobst und Kraftfutter und Brennstoff und Volksschuh. Co-op alle Behausung und Schenke und Schule und Tanzsaal und Kaufladen. Co-op alle Einrichtung und Versicherung und Volkschor und Scheidemünze und Bankscheck. Co-op die Bücherstube, die Bücher darin, deren Inhalt, dessen Geist . . . und so ist diese Siedelung ein Stein und Raum gewordenes Prinzip, allseitig und allerorts unendlich angewendet, mathematische Formel, etwa (CO-OP)³ ~ . 620 Menschen bewohnen gemeinsam ein gemeinsames Haus auf

DieSiedlungFreidorf_8.gif (127527 Byte) WOHNZEILEN  P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_9.gif (50669 Byte) WOHNZEILE  P h o t. H o f f m a n n

gemeinsamer Erde: Sichern Freiland und vor des kleinen Hausbesitzes Unbestand und Verführung durch Kollektiveigentum an Boden und Bau. Sichern Heimstätte und vor der Großstadt Nomadentum durch lebenlanges, einmal vererbbares Mietrecht an Hauszelle. Sichern Selbstverwaltung sich und Entlastung verschuldetem Staate durch jedes Siedlers weitgehende Verpflichtung zur unbezahlten Mitarbeit am Gemeinwerk. Sichern Selbstbestimmung durch Siedlerversammlung mit Stimmwahl und Mitbestimmung durch Einteilung aller Erwachsenen in sieben Arbeitsgruppen für Erziehung, Betrieb, Sicherheit, Finanzen, Gesundheit, Unterhalt und Unterhaltung. Sichern Volksbildung in eigener achtstufiger Volksschule nach staatlichem Schulprogramm und dem cooperativen der Genossenschafter Pestalozzi, Zschokke, V. A. Huber. Sichern Fortbildung in genossenschaftlichem Seminar zur Ertüchtigung für die Konsumvereinspraxis. Sichern Sozialvermögen durch freiwillige Batzen-Sparkasse, welche, ausschliesslich von Schulkindern betreut, bei 10 Rappen täglichem Mitgliedsbeitrag in vierjährigem Bestehen 38 000 Franken Sparkapital äufnet.

DieSiedlungFreidorf_10.gif (275345 Byte) GÄRTEN UND LAUBEN  P h o t. H o f f m a n n

Sichern Beamtenabbau durch eigenen Siedlerdienst für Wache, Sanität, Feuerwehr und Strassenreinigung. Sichern Verbilligung des Lebens durch gemeinsamen Einkauf aller Gattung Waren und deren Absatz durch Kaufzwang jedes Mitgliedes im eigenen Laden und für jegliches Ding täglichen Lebensbedarfs. Sichern Bezugskontrolle durch Ausgabe eigenen Aluminium-Geldes und 6 - 7 prozentige Rückvergütung durch weitgehende unentgeltliche Mithilfe bei der Gütervermittlung, deren Unkosten von herkömmlich 12-14 % des Umsatzes auf 6½ % erniedrigend.

DieSiedlungFreidorf_11.gif (171324 Byte)  TRANSFORMATORENHAUS   P h o t. H o f f m a n n


DieSiedlungFreidorf_12.gif (103367 Byte) GÄRTEN    P h o t. H o f f m a n n

DieSiedlungFreidorf_13.gif (162225 Byte) TURNHALLE IM GENOSSENSCHAFTSHAUS    P h o t. H o f f m a n n

Sichern Wirtschaftlichkeit eigener Gastwirtschaft durch gemischten Regiebetrieb von Wirt und Siedelung und Sparsamkeit des Liegenschaftsunterhaltes durch eigene Wartung mit Gärtner, Schreiner, Bau- und Elektrowart. Sichern Volksfürsorge und die Unsicherheit von Leben und Tod durch Abschluss einer Kollektivversicherung aller Siedler mit 500 Fr. Sterbegeld in eines jeden Todesfall und die Heimtücke sengenden Feuers durch Obligatorium der Mobiliarversicherung. 620 Menschen bewohnen ein gemeinsames Haus auf gemeinsamer Erde, und weil der Stifter sich Zinsgenuss seines Stiftungsvermögens verbat  -   Freigeld, nicht? überweisen sie nach Abzug von Steuern und Spesen den Jahresüberschuss von beiläufig 50 000 Fr. einer «Stiftung zur Förderung von Siedelungsgenossenschaften», allwo Guttat neue Wohltat zeugen soll und künftige Freidörfer.

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DieSiedlungFreidorf_15.gif (230657 Byte) HALLE IM GENOSSENSCHAFTSHAUS   P h o t. H o f f m a n n

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Wie unruhige Vielgestalt heutiger Stadtbilder nur Niederschlag ist durcheinanderstrebender Einzelabsichten der Bewohner, so ist Freidorfs Bauanlage nur Offenbarung seines innern Geistes und Verkörperung dieses Versuches einer Lebensgemeinschaft von 150 Familien im bienenwabenähnlichen Zellenbau einer Siedelung. Derart entspricht strenger Satzung innern Aufbaues straffe Gliederung des Aeussern, Einhelligkeit der Siedler die Einheitsform der Häuser, die Gleichartigkeit und Gleichfarbigkeit der Hausblöcke und der Gleichklang der Hausteile. Denn die Stützen der Gemeinschaft wurden zu Säulen des Bauwerkes: Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit.
Ein Zellenbau im Zeilenbausystem. Im Schachbrett Land- und Wohnstrasse, Verbindungs- und Düngerweg. Verkehrs- und Leitungsbasis blieb alte St. Jakobstrasse. Querverlaufend dazu die Hauszeilen, 150 Einfamilien-Hauszellen, numeriert von 1-150. 110 Vier-, 30 Fünf-, 10 Sechszimmerhäuser mit 850, 1100-1200, 1600 Franken Jahresmiete. Alle im Spiegelbild gepaart und blockweise vereinigt zu zweit, zu viert, zu acht, zu vierzehnt. Die Blöcke geordnet zum Zeilenhof oder Platzgeviert. Und jede Bauzeile ist Sippe ohne Blutsverwandtschaft und Helferkreis treuer Nachbarschaft. Und allen Bauwerkes Gruppenbilder sind nur bauliche Variationen über ein genossenschaftliches Thema.
Ein Zellenbau. Typisiert, normalisiert, standardisiert, elektrifiziert. Mit viererlei Fenstern und viererlei Türen. Mit einziger Scheibennorm aller 1742 Fenster und mit einziger Füllungsnorm aller 1350 Zimmertüren. Mit Normaltyp der 150 Badewannen, 150 Zentralöfen, 150 Elektroherde, 150 Waschherde, 150 Elektroboiler. Mit Normalzimmerlänge, Normalzimmerhöhe, Normaltreppentritt, Normalglaslaube und Normalgartenhaus. Mit genormter Dachneigung, genormtem Dachgesims, genormtem Abfallrohr, genormter Abortgrube. Mit der Norm von Glockentaster, Ladenbeschlag, Haustürschloss, Fensterolive . . . und wo des Siedlers Sonderwunsch genormte Ausführung durchbrach, ging von ihm bezahltes Ding unentschädigt ins Eigentum Aller; Vergesellschaftung des Luxus!
Ein Zellenbau mit einem grossen Garten. Roter Reiz in grüner Ruhe. Steinernes Freundschaftsband läuft seine Mauer ringsum von Kopfbau zu Kopfbau. Grünes Schutzband folgen ihr windwärts die Kirschbäume. Wo längs der Autostrasse Freidorfs Kleinwelt das Getriebe grosser Welt berührt, legt sich als Grüngürtel die Promenade zwischen Strassenstaub und Wohnbezirk. Mit Ligusterhecke, Grasnarbe und Nussbaumallee erkämpft sie dem Staudenreich ihrer 2000 winterharten Blumen, vegetative Vertreter aller Erdteile, eine blühwillige Existenz. Der Genossenschaft Vorbehalt gilt alle Kultur von Hochstamm-Nutzbäumen, hingegen bleibt Anlage des Kleingartens dem Siedler völlig anheimgestellt. Unschwer erkennt der Menschenkundige an dessen Einteilung Siedlers Gartenkunde und Charakter, und linkisch und praktisch, und kraus und klar. Schwerer erkennbar sind Charaktergrenzen, städtisch und ländlich, in solcher Art Landbesiedelung: Ziege und Schwein sind verbannt; Schwemmkanalisation besteht! Was dem Garten nicht bekömmlich, wandert in eines Sekundenliters Menge und in ewigem Stoffwechsel durch einer Dohle Zementdarm der Birs, dem Rhein, dem Weltmeer zu.
Ein Zellenbau in stumpfem Rot. Zwar vor Anstrich schon verblasst im demokratischen Scheine protestierender Siedlerversammlung. Immerhin ein Rot. Launisch wie Föhnwetter. Abhängig von Nebelnässe, Winterschnee, Regenguss und Sonnenglast. Abhängig von des Betrachters wechselndem Standpunkt: rötlich aus Siedlergartens Froschperspektive, röter aus der Strassenräume kleinbürgerlich-achtbarem Abstand, am rötesten aus Ferne blauer Berge oder aus 1000 m hochgeschraubter Libelle Handley-Page's.. Abhängig hinwiederum von des Beschauers Stimmung und Einstellung: bald schreckhaft-brutal, bald wohligwarm, und je nachdem bleibt Missfall oder Beifall, bleibt Ungunst oder Gunst.
Ein Zellenbau. Darin allerlei Getier, Gestank und Gelärm der Schoss- und Schutzhunde, Bienenvölker, Enten, Kater und Katzen, Hähne und Hühner, Schildkröten, Karnickel, Goldfische, Motorvelos, Harmoniums, Webstühle, Klaviere, Nähmaschinen, Handorgeln, Phonographen, Teppichklopfer, Trommeln und Kanarienvögel. Darin allerlei Weltglauben der Dissidenten, Abstinenten, Anthroposophen, Athleten, Altruisten, Footballisten, Egoisten, Kommunisten, Methodisten, Konservative,Mazdaznananhänger, Gruthaner, Vegetarier, Nichtraucher und die Renegaten all dieser Richtungen. Darin allerlei Volk der Zeitungsschreiber, Schuhfabrikler, Lagerhäusler, Buchstabensetzer, Bureaukraten aller Höhengrade, Schreibmaschinistinnen, Theoretiker, Erzieher, Erzogene, Zöglinge, Kaufleute, Verkäuferinnen und das Gros der Verkauften: Kinder, Weiber, Frauen, Damen.
Heimatschutz? - lst ländliche Ansiedlung von 150 Familien nicht Grosstat an unserm Volkstum? Ist deren Obstbau, Gemüsekultur, Blumenzucht und Kleintierhaltung nicht aktive Heimatpflege? Soll solcher Art Siedelung Bewahranstalt werden altväterischer Bauform? Floh nicht mit sattsam vermiedener Stilform fernab Befremdung vor fremdartigem Tun? Steht nicht, hochgereckt und hochgeachtet, in bejahender Freileitungspolitik, jeder Leitungsmast als willkommener hölzerner Zeitgenosse im baulichen Rhythmus? lst gänzliche Elektrifikation von jedes Freidörflers Einzelhaushalt nicht pflichtgetreuer Schutz heimatlicher Unabhängigkeit? Ward Weg und Platz nicht, sorgsam unbezeichnet, träfen Volksmund zur Taufe ausgeliefert? Stehen nicht die Brunnen auf Freidorfs Plätzen und raunen, jurassisch in Stock und Trog, als steinerne Träger des Heimatgefühls?
Am 1. Dezember 1919 ward mit K. von Meyenburgs Motorfräse erster Spatenstich in des Geländes Humus modern interpretiert. Durch die Werkleute von 330 Unternehmungen und gehemmt von Streik und Baustoffmangel, Alltäglichkeiten dazumaliger Baupraxis, ward sechzehn Monate später das 150. Haus wohnbereit. Am 24. August 1921 umstanden 500 Genossenschafter, Angehörige von 24 Nationen, Spielwiese und Denkstein zur Weihe. Musiktusch, Lobrede des Bundespräsidenten, Freiwein und Freibrot, und des Volkschors Landsgemeindelied: «Alles Leben strömt aus Dir . . .» Dann verstummte Lärm der Baustelle bis anno 1922 einbrechender Frühling auf das Rechteck eines Baugerüstes stiess. Binnen wenig Monaten türmte einer Sozialen Bauhütte Arbeiterschaft den Hochbau des Genossenschaftshauses. Wenn anderswo Kirche und Schule, Kaufhaus und Gasthaus zerstreut sind, so vereint hier der Zentralbau sie alle unter sein Dach. Aussen und innen bleibt er ein fügsam Bauwesen dem Einheitsgesetze der Siedelung, und nur das verdoppelte Mass aller Dinge kennzeichnet den öffentlichen Bau. Der Mensch wird klein, betritt er den Tempel der Gemeinschaft. ln seiner Sicht schwant auch dem Laien das alles beherrschende Modul seines Spiels von Raum, Fläche, Oeffnung und Profil. lm lnnern ist Schönheitsgesetz die Folge von Grundformen des Raumes; sie geht von wagrecht zu senkrecht, von breit zu hoch, von eng zu weit, und ihr antwortet der Wandfarben Dreiklang mit Weiss -  Kobalt - Zinnober. - Ueber alledem reitet himmelhochjauchzend des Glockenspiels Turm, und kündet aus kupfernem Bauche mit c - es - f - g - a - c die ereilte Stunde und den eiligen Tod. Noch ein Gang im Zellenbau durch die Flucht seiner offenen und öffentlichen Binnenräume. Angesichts seiner «Innenarchitektur» mit Hauswand, Strassenboden und Himmelsecke und angesichts seiner «Möblierung» durch Blume, Busch und Baum formen sich dem Quergänger diese vier Raumbilder:
Die Promenade: Vorhalle eigentlich, daher die Eile. Alles läuft zur Tiefe; perspektivisch zu verstehen: Holzmaste, Telephondrähte, Wallnussbäume, Gartenmauern, Ligusterhecken, torfbraunes Zickzack der Beete, Spazierweg und darauf Leute, Kinderwagen, Zweiräder. Dazwischen rhythmischer Kampf der Wagrechten mit den Senkrechten, der Mauern und Hecken mit den Stangen und Pappeln, der Nussbaumkette und Staudenreihe mit den Kopfbauten und Gartentoren. Ach diese Gartenportale! Vertraulich und vertraut, halb Bärenzwinger, halb Klosterpforte. Mit zwei Schwarzpappeln daneben, Populus italicus, Italiener, bei jedem Luftzuge fröstelnd und wispernd.
Die Spielwiese: ein Rasenrechteck, grün und braun, Natur und Unart. Darauf eine Denksteinpyramide. Sonst alles Spiel: Kinderspiel, Linienspiel, Farbenspiel. Beidseitig eine Reihe Silberlinden in strammer Parade. Eine Steinpfostenschranke ringsum. Ein quarzsplittriger Streifen Makadam ringsum. Zur Rechten zinnenhafte Doppelhäuser und Laubenzwischenbauten, mit Glyzinengerank. Zur Linken eine »Fabrik« mit 112 Fenstern, genau gleiche Fenster, puh! Sonst gutbürgerliches Freiluftspielzimmer, mit anständigen Allüren - gewissermassen: die langen Steinbänke zur trägen Weile. Das Mal mit Wappen und Inschrift. Im Blickfeld der Brunnentrog mit «1921» und dem Buffetaufsatz eines wasserspeienden Obelisken. Dahinter grüne Gardinen einer Doppelallee von Gellerts Butterbirne. Im Strassenrahmen eine allerechteste Hans -Thoma - Schwarzwald  - Landschaft.
Der Wohnhof und der andre Wohnhof: ein langer Saal mit vierzig Türen. Saalverhältnis 1 : 4, in Metern 25 ´ 100. Vierzig Haustüren mit mausgrauen Kragsteinen darüber. Im Glasfeld über jeder Türe, als Zeichen menschlicher Berechnung, die Nummer der Einzelzelle. Zwei Rosaketten Pfirsichblüten über privatgärtnerischem Durcheinander. Darunter Bordstein mit grasgrüner Franse und lavendelblaue Wicken am Drahthag. Zwei rosafarbene Langhauswände und darauf, moderne Fassadenkletterer, Rosa excelsa und Dorothee Perkins in krauser Ranke. Radio spinnt Drahtfäden von First zu First. Zwei Kandemlampen baumeln am Querdraht von einer naturhimmelblauen Decke.
Der stille Platz: Hier ist alles Ruhe. Vier Platanen, persische Flüchtlinge, lauschen im Viereck dem Plätscherbrunnen. Drei Doppelhäuser, im Geviert gelagert. Davor drei erdbraune Teppiche mit eigensinnigem Dekor von dreissigerlei Schwertlilienblättern. Die Kammer der Irisköniginnen. Im Juni erscheinen sie allem Volke: zuerst Iris missouriensis, lanzettblättrig, spitz und spitzig, gewählt, gequält und unnahbar, ganz Amerikanerin. Hernach Maory King, gedrungen, braun und gelb, naturwüchsig und exotisch, wie eine Tahitanerin von Gaugin. Zuletzt Madame Chereau, kobaltblau gerändert, kultiviert, parfümiert, Französin von Rasse und von Auftreten. So ist Freidorf, Kind ungeklärter Zeit und vielverschränkter Verhältnisse, durchaus Kompromiss; sozial zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft, formal zwischen Stadt und Land. Reinere Individualform verkörpert, nackt und wahr und daher unleugbar schön, jeder städtische Vorort. Reinere Gemeinschaftsbindung ruft reinerer Siedelungsform. Etwa fiele Schranke von Familie zu Familie, jetzt herkömmlich - respektvoll verehrt, - so fiele mit dieser alle Einrichtung der Trennung, es fielen Gartenzäune und Scheidemauern. Es entstünden gemeinsam bewirtschaftete Gartenfelder, Fernheizwerk, Zentralboileranlage, Zentralküche. Etwa fiele geistige Bindung zum Krimskrams soeben durchlebter Stadtkultur, fiele anmassender Maßstab von Haus und Hausteil des Kleinhauses, fiele Begriff der «Strasse», der «Symmetrie», des «Details». Es entstünde in unsymmetrisch - gebrochener Haltung eine mit einzig berechtigtem Respekt vor Hygiene und Rendite aufgebaute Siedelungsform, als garten - und bautechnische Wohnmaschinerie ein Sonnenanfang, und zugleich ein Träger unmenschlicher Schönheit und Reinheit.

Hannes Meyer