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Autor: Lucae, R.
In: Zeitschrift für Bauwesen - 19 (1869); S. 294 - 306
 
Über die Macht des Raumes in der Baukunst
 
Wenn ich diesen in der Singakademie gehaltenen Vortrag in der Zeitschrift für Bauwesen hiermit dem Druck übergebe, so thue ich es nicht ohne ein gewisses Bedenken. Es handelt sich hier um eine Arbeit, die ursprünglich nicht für Architekten geschrieben ist, und nur die Meinung, daß sie, wenn auch nicht Belehrendes, so doch vielleicht manches Anregende enthalten könnte, bewog mich, sie auf den Wunsch der Redaction auch den weiteren Kreisen meiner Fachgenossen zugänglich zu machen.

Man hört so oft, wenn von Räumen die Rede ist, von ihnen sagen: sie wären gemüthlich oder ungemüthlich, heiter oder ernst, wohnlich, prächtig, feierlich und dergleichen. Unser Gefühl beruhigt sich bei dem Eindrucke und fragt mit Recht im Augenblicke der Erregung nicht danach, aus welchen Momenten sich dieselbe zusammensetzt. Nur diejenigen, die vermöge einer nach dieser Richtung feiner organisirten Empfindung berufen sind, einen Raum von bestimmtem Charakter zu schaffen - und die Kunstphilosophen - werden die Factoren kennen müssen, welche in ihrer Vereinigung zu Dem werden, was man die Wirkung - oder wie ich mir zu sagen erlaubt habe - was man die Macht des Raumes in der Baukunst nennt!
Diese Factoren sind: die Form und das Licht. Zur Form tritt, sie modificirend und ihren Einfluß wesentlich verändernd, der Maaßstab und neben dem Licht erscheint, zwar als sein unmittelbares Resultat, aber oft als selbstständiges künstlerisches Moment, die Farbe. Den Styl habe ich absichtlich nicht genannt, weil er für die Raumwirkung nach meiner Meinung einzig in sofern eine Rolle spielt, als er die vier obengenannten Kräfte in ihrer Machtstellung so oder so gegeneinander verschieben kann. Aber einen fünften gleichberechtigten Platz möchte ich ihm neben den anderen ebensowenig einräumen, als ich seine Gebundenheit an ein bestimmtes Klima zugeben kann. Ich würde zum Beweise dieser Behauptung nicht des neunzehnten Jahrhunderts bedürfen, welches in allen fünf Welttheilen Gebäude nach dem Muster der sämmtlichen Baustyle entstehen sieht. Der Styl hat vielmehr immer, indem er der Idee einer Zeit Ausdruck gegeben, nicht nur einen bestimmten Himmelsstrich, sondern mehr oder weniger den ganzen bekannten Erdkreis beherrscht.
Die Griechen haben ihre Bauweise in ihre Colonien verpflanzt, die Römer sie von Afrika und Asien bis in unsern kalten Norden hinauf als Marksteine ihrer weltbezwingenden Macht uns bis auf den heutigen Tag vor Augen gestellt. Die Gothik und die Renaissance und selbst das Rococo haben ihren Siegeslauf durch die Welt genommen, unbekümmert um Schnee und Eis und am die Sonnengluth der Tropen.
Vollends in unserer heutigen Zeit, die den modernen Architekten in den Stand setzt, über ganz andere constructive Mittel zu verfügen, als die Zeit es konnte, welche diese oder jene Bauweise zur Herrschaft brachte; heute wird der Styl die Raumwirkung nur in einem sehr geringen Maaße beeinflussen. Es wird sich wenigstens die Scala von Empfindungen, die der Raum überhaupt in uns hervorbringen kann, und zwar vom Lächerlichen bis zum Erhabenen, in den Tonarten sämmtlicher Baustyle vernehmen lassen können.
Ich sagte: vom Lächerlichen bis zum Erhabenen, und wollte damit gleichsam die Grenzen bezeichnen, bis zu welchen die Architektur in ihrem Ausdrucksvermögen nur noch heranreicht; entweder, wenn sie ihre Mittel falsch anwendet, oder wenn zu ihren raumgestaltenden Kräften, die wir uns erklären können, unsererseits noch Empfindungen kommen, die wir sonst nur göttlichen Dingen gegenüber haben.
Also Form, Licht, Farbe und Maaßstab!
Es giebt nur zwei Wege für den Gang unserer weiteren Betrachtung. Entweder wir nehmen diese Factoren, und zwar jeden einzelnen, und suchen seinen - mal stärkeren mal geringeren - Einfluß auf diesen oder jenen Raum nachzuweisen, oder wir nehmen den Raum und in einer Reihe von Fällen von seiner verschiedenen Wirkung ausgehend, prüfen wir dieselbe in ihrer jedesmaligen Abhängigkeit von den genannten vier Kräften. Der erste Weg würde dem Kunstphilosophen vielleicht mehr zusagen; der Architekt wird lieber den letzten wählen.
Denken wir uns einmal, um zunächst ein Beispiel aus unserem täglichen Leben zu nehmen, ein gewöhnliches Wohnzimmer von einer Form, wie sie in unsern Häusern gebräuchlich ist, also eine sogenannte dreifenstrige Stube von der entsprechenden Tiefe. Welche mannigfaltigen Eindrücke haben wir in den verschiedenen Häusern von diesem in seiner Form überall völlig gleichen Raume schon empfangen.
Wohlgemerkt! wir müssen hier von dem architektonischen objectiven Eindruck unsre objektive Empfindung in sofern trennen, als wir bei dieser Untersuchung den Menschen, der jedem Zimmer, das er bewohnt, ein Stück von seinem Charakter aufprägt, völlig außer Acht zu lassen haben. Geben wir uns dieser, ich möchte sagen persönlichen Eigenthümlichkeit eines Wohnraumes hin, dann wird sich das von einem bestimmten Individuum durchgeistigte Zimmer zum leeren Raume verhalten, wie ein in Musik gesetztes Gedicht zu einem Liede ohne Worte. Der architektonische Eindruck wird dadurch allerdings manchmal gesteigert werden können, ebenso oft aber auch verwischt und nicht mehr klar erkannt werden.
Ich führe Sie also in die unbewohnten nackten Räume. Woran liegt nun bei gleicher Form ihre oft so entgegengesetzte Wirkung.? Vor Allem an dem verschiedenen Lichte, welches der Raum hat. Und zwar ist nicht nur die Menge desselben, sondern auch die Art, wie es im Raume vertheilt ist, dabei von sehr großem Einflusse.
Ich nehme zuerst den am häufigsten vorkommenden Fall an. Die Fenster liegen an der langen Seite des Zimmers und nehmen mit den sich zwischen ihnen bildenden sogenannten Spiegelpfeilern diese ganze Wand ein. Ein solcher Raum wird kaum einen düsteren Eindruck machen können. Die Helligkeit des Tages erfüllt ihn bei seiner verhältnißmäßig geringen Tiefe überall so, daß sie über jede Farbenstimmung, auch über eine gradezu melancholische, dominirend, dem Raume unter allen Umständen einen freundlichen Ausdruck geben wird. Aber das Licht läuft im ganzen Zimmer herum und beleuchtet die Gegenstände fast zudringlich. Es duldet nirgends einen tiefen Schatten, und indem es seinen Gegensatz vernichtet, bringt es sich selber am seine poetische Wirkung.
Diese Räume haben ein immer gleiches conventionelles Lächeln und eignen sich deshalb in der That auch ganz besonders zum Empfang und zur Repräsentation, aber was Gemüthliches haben sie eigentlich nicht. Diesen Charakter bekommt dasselbe Zimmer aber entschieden, wenn die Fenster in der gleichen Wand wie vorhin bleiben, jedoch ganz dicht aneinander gerückt werden, so daß der Raum gewissermaaßen in eine Lichtregion in der Mitte und in zwei Schattenregionen zu beiden Seiten getheilt wird. Das heimliche poetische Helldunkel kommt hier zu seiner vollen Geltung und erweckt in uns ein Gefühl von Behaglichkeit, das wir vorhin nicht hatten. Das Licht fällt in einer breiten geschlossenen Masse ein und steigert sich selber durch die Contraste seiner Umgebung zu einem künstlerischen Moment. Wir können es haben, aber auch vermeiden, jenachdem wir es für unsere Beschäftigung, unsere Muße und unsere Stimmung wollen oder nicht brauchen können, ohne daß jedoch das Licht uns an irgend einer Stelle zu dürftig zugemessen erscheint.
Wieder völlig anders werden wir berührt, wenn das Licht an der schmalen Seite des Raumes einfällt und ihm bei seiner, für die geringe Breite nun verhältnißmäßig sehr bedeutenden Tiefe in den entfernteren Partien nicht mehr genügend durchdringt. Solche Zimmer bekommen durch ihre unsymmetrische Beleuchtung leicht etwas Unharmonisches und wirken oft, weil man das Gefühl hat, in ihnen zu wenig Licht und Luft zu haben, kastenartig und beengend. Aber reizend können sie werden in der Dämmerung, wenn an der, den Fensteröffnungen gegenüberliegenden Wand ein Kaminfeuer die Behaglichkeit des gemüthlichen Drinnen im Gegensatze zum ungemüthlichen Draußen steigert; ein Gefühl, das tiefe Zimmer immer in uns hervorzurufen pflegen.
Den gegentheiligen Eindruck aber macht derselbe Raum und der prosaische Charakter des ersten Falles wird gradezu bis zum Unwohnlichen gesteigert, wenn zu den gleichmäßig vertheilten Oeffnungen in der langen Wand noch Fenster an einer der schmalen, oder gar noch an mehreren Seiten kommen. In einem solchem Zimmer verlieren wir völlig diejenige Empfindung, die wir bei einem Wohnraume vor allen andern haben wollen, nämlich die, daß wir uns von der Außenwelt abgeschlossen fühlen, und der Sprachgebrauch nennt einen solchen Raum sehr treffend eine Laterne.
Wir haben bei dieser Betrachtung gesehen, daß für die Zimmer die Form an sich keine erhebliche Rolle spielte, sie wird aber von großem Einflusse, wenn zu ihr die Anordnung der Thüren gerechnet wird. Wohnräume von gleicher Form und Farbe, demselben Lichte und demselben Maaßstabe können wohnlich und unwohnlich auf uns wirken, jenachdem sie wenige, oder viele Thüren haben. Auch die Lage dieser raumverbindenden Oeffnungen wird von einer, beim Bauen oft unterschätzten Wichtigkeit werden. Liegen sie so, daß sie die Wandflächen in kleine unbrauchbare Stücke zerschneiden und die Passage aus einem Zimmer in das andere überall störend durch den Raum führen, dann werden sie ein sehr ungemüthliches Raummoment werden. Wir fühlen uns dann zwischen ihnen nicht heimisch. Wir haben nirgends den Rücken gedeckt und es ist uns zu Muthe, als könnten wir in jeden Augenblicke von allen Seiten einen Ueberfall erwarten.
Sind die Thüren aber entweder dicht an den Fenstern oder ganz in der Tiefe des Zimmers angeordenet, dann nimmt der Verkehr seinen Weg gewissermaaßen an stillen nischenförmigen Plätzen vorüber, die, je nach ihrer Lage, uns entweder von der Außenwelt isoliren, oder indem sie den Aufenthalt im Zimmer mehr nach den Fenstern drängen, uns mit dem Leben draußen in engere Verbindung setzen.
Wenn Sie es nicht ermüdet, möchte ich den Raum unseres täglichen Lebens auch noch in der Beziehung betrachten, wie er durch seine Farbe und seinen Maaßstab verschieden auf uns wirken kann.
Wir sprechen von ruhigen oder unruhigen Wänden und von der harmonischen oder unharmonischen Färbung eines Zimmers und fühlen uns, ja nachdem wir das Eine oder das Andere finden, von dem Raume angezogen oder abgestoßen.
Der Ungeschmack hat sich manchmal soweit verirrt, die Wände der Zimmer ganz und gar in Landschaften aufzulösen, und ich erinnere mich, einmal in einem alten, zu einem Hôtel herabgekommenen italienischen Palaste einen Palmenwald bewohnt zu haben, der mit lebensgroßen Löwen und anderen wilden Thieren bevölkert war. Dieses drastische Beispiel, die Idee eines Zimmers durch die Farbe völlig todt zu machen, gehört glücklicherweise immer nur zu den vereinzelt vorkommenden Fällen, aber die naturalistischen Blumenbouquets, die so vielfach unsere Wände bedecken, sind im Sinne der Kunst ganz ebensowenig wie jene Palmenbäume an ihrem Platze.
Ein Zimmer ist für unsere Empfindung nur solange noch ein Raum, als seine Wände, wenn auch noch so farbenprächtig, den Charakter eines aufgehängten Teppichs behalten. Es bleibt der Kunst auf ihm der weiteste Spielraum. Das ganze Reich der Natur kann zur Decoration herangezogen werden. Landschaftliche und figürliche Darstellungen können als einzelne Bildflächen, Friese, etc. die Wände beleben, ohne denselben ihren raumumschließenden Sinn im Geringsten dadurch zu nehmen. Und sie brauchen im unmittelbaren Zusammenhange mit der Baukunst und im Dienste derselben durchaus nicht ihre schöne Natürlichkeit völlig aufzugeben, nur dürfen sie nicht - ausgenommen die Fälle, in welchen durch eine motivirende architektonische Anordnung ein derartiger Effect beabsichtigt wird - so realistisch auftreten, daß sie den Eindruck machen, als ob wir sie durch eine Oeffnung in der Wand  w i r k l i c h  erblickten.
Einem strengeren Gesetze der Baukunst - und zwar ist hier ausschließlich die Pflanzenwelt gemeint - müssen sich aber die lebendigen Dinge beugen, wenn sie sich in den Rhythmus eines bestimmten Flächenmusters fügen sollen. Dann müssen sie einem Gesetze zu Liebe, das selbst ihre schönen Zufälligkeiten nicht duldet, den natürlichen malerischen Reiz aufgeben und sich mit dem Zauber einer stillen Macht begnügen, die nur wohlthuend auf uns wirkt, wenn sie nicht bemerkt sein will. Und mit diesem bescheidenen Einflusse soll sich die Farbe überhaupt in unseren Wohnräumen begnügen. Die Ruhe der Wandfläche, d. h. das entschiedene Vorherrschen einer Farbe, wird auf unsere Empfindung ebenso wohlthätig zurückwirken, als es eine Thatsache ist, daß leicht erregbare Naturen durch eine schillernde und flimmernde Tapete geradezu nervös beunruhigt werden können.
Die dominirende Farbe aber selber wird, abgesehen davon, daß ihre Einwirkung auf uns sehr von der persönlichen Sympathie von gewisse Farbentöne abhängig ist, die für den beabsichtigten Zweck eines Zimmers erwünschte Stimmung wenigstens niemals stören dürfen.
Endlich der Maaßstab. Er spielt in unserem Haus eigentlich nur dann eine zu unserem Bewußtsein kommende Rolle, wenn die Räume entweder wirklich für uns zu groß oder zu klein sind, oder wenn sie uns durch einen anderen in uns aufgenommenen Eindruck doch wenigstens so erscheinen. Die Gewohnheit kann hier die Empfindungen völlig umkehren. Jemand, der in Paris lebt, wird unsere Wohnungen leicht zu weit und hoch und darum ungemüthlich finden, während wir dort, durch einen größeren Maaßstab verwöhnt, oft das Gefühl haben werden, als müßten wir uns in einem zu engen Kleide bewegen.
Während die Baukunst, solange es sich darum handelte, was sie uns für's Haus ist, ihre Mittel, wenn auch noch so anmuthig liebenswürdig und immer schön, aber in den meistes Fällen gewissermaaßen nur spielend gebrauchte, sobald sie die Aufgabe hat, Räume zu schaffen, die mit unserem Privatleben Nichts mehr zu thun haben, sondern welche die Idee eines profanen oder heiligen allgemeinen Zweckes verkörpern sollen, erst da wird sie ihre ganze Kraft entfalten und sich der große Einfluß des Raumes oft bis zu einer wirklichen Macht steigern können.
Ich beginne mit einem Beispiel unseres allermodernsten Lebens. Wir kommen von der Reise oder wollen auf dieselbe. Uns nimmt eine Halle wie die unserer neuen Bahnhöfe auf. Wir sind in dem Riesenvestibüle einer großen Stadt, durch das Millionen in sie ein- und aus ihr ausströmen. Tausende von Menschen nimmt der Raum in einer Minute auf, um sie in der anderen nach allen Richtungen zu zerstreuen. Von einer ernsten oder heiteren, oder gar von einer feierlichen Stimmung, die der Raum an sich in uns erwecken sollte, kann wohl hier kaum die Rede sein und von einer gemüthlichen oder ungemüthlichen nur in sofern, als der Raum den Abreisenden und den Ankommenden sehr verschieden anschauen wird. Er wird mit seiner gegen die Welt gekehrten völlig offenen Seite im Gegensatz zu den geschlossenen Räumen der Stadt einen unbehaglichen und sogar einen wüsten Eindruck machen können. Den aber, der von draußen kommt, kann die mächtige Halle im Vergleich zu dem unbegrenzten Raume, durch den ihn meilenweit eben die Räder getragen haben, mit der steinernen festen Umschließung und des weitgespannten schützenden Dache trotz der gewaltigen Dimensionen - im ersten Momente wenigstens - gradezu traulich berühren.
Das Bleibende aber, was in dem Raume auf uns wirkt, ist einmal die Sicherheit, mit welcher die ungeheure Decke, nur von den Wänden zu beiden Seiten getragen, frei über unserem staunenden Auge schwebt, und das kühne Ueberwältigen der Entfernung im stützenlosen ungetheilten Raum. Mit einem Worte das Grandiose. Wir fühlen: Der geniale Geist, der diesen Raum schuf, ist derselbe, der ihn draußen in der Besiegung der Ströme und in der Durchbohrung der Alpen überwunden hat. Aber der Maaßstab übt hier fast ausschließlich seine Macht allein, wenigstens in den meisten Räumen, die bisher in dieser Richtung entstanden sind. Man hat ihnen eines so prosaischen Zweck vindiciren wollen, daß man, vereinzelte Fälle ausgenommen, die Kunst dabei fast entbehren zu können geglaubt hat, und doch würden die übrigen Raumkräfte und besonders das Licht und die Form, künstlerisch verwendet, auch diese Räume auf eine ästhetisch höhere Stufe heben können. Ohne deshalb ihre Bestimmung für eine durchaus reale Seite unseres Lebens zu einer ungesunden Idealität heraufzuschrauben, könnte man den großartigen Constructionsgedanken ihrer Deckenform zugleich in einem bedeutungsvollen Schönheitsgedanken werden lassen. Unser Auge, das sich in dem sinnverwirrenden Durcheinander der sich überall durchkreuzenden eisernen Stäbe und eisernen Taue nicht zurechtfinden kann, würde zur Ruhe kommen und genießen, wenn man unseren Blicken die einzelnen Exempel dieser in Eisen übersetzten Rechnung entzöge und uns nur das Resultat derselben, in übersichtliche Summen zu einem System geordnet, in einer schönen Form zur Anschauung brächte.  D e n n  d i e  r e i n e  s i c h t b a r e  m a t h e m a t i s c h e  C o n s t r u c t i o n  i s t  e b e n s o w e n i g  e i n e  f e r t i g e  L e i s t u n g  d e r  K u n s t,  a l s  d e r  m e n s c h l i c h e  K ö r p e r  m i t  s e i n e n  o f f e n  l i e g e n d e n  M u s k e l n  u n d  B ä n d e r n,  o d e r  g a r  n u r  s e i n  G e r i p p e  e i n  l e b e n s f ä h i g e s  G e s c h ö p f  d e r  N a t u r  i s t.
Ich führe Sie nun aus diesen Räumen, die im strengen Sinne des Kunst noch in der Entwickelung begriffen sind, in solche, in denen die vier Kräfte, die wir bei unserer Betrachtung zum Ausgangspunkte machten, nicht mehr so unvermittelt nebeneinanderstehen, sondern sich schon zu einer wohlklingenden Harmonie enger vereinigt haben.
Wir stehen vor einem Gebäude, dem die Freude auf die heitere Stirn geschrieben ist, denn es lacht uns mit seinen vielen Fenstern förmlich entgegen. Die mit plätschernden Brunnen und Orangen geschmückten Treppen laden zu keiner ernsten Feier ein. Kein mächtiges Portal will uns zum Eintritte zwingen, aber die bis zum Boden herabreichenden thürartigen Fenster gestatten ihn überall ungehindert dem Lichte und den Besuchern des Raumes. Und was will der Raum? der Lustbarkeit dienen! Er will den Sonnenschein des Lebens verkörpern, und auch, wenn er draußen fehlt, sollen wir ihn drinnen finden. Er muß an den Raum wie für immer gefesselt erscheinen und seine Wirkung bleiben, auch wenn seine momentane Ursache aufgehört hat. Er muß uns in dem Raume förmlich entgegenleuchten, und das kann er nur, wenn die Farbe hier weniger als irgendwo neben dem Lichte einen selbstständigen Einfluß üben will. Sie wird seine Strahlen möglichst ungebrochen dem Raume wiedergeben müssen, und darum hier mehr im Sinne eines hellen Tones, als mit dem Anspruche einer dominirenden Färbung aufzutreten haben.
Die Architektur ist hier in Balltoilette. Strahlen will sie, und hier und da ein lebhafter Farbenwerth soll den Zauber ihrer lichten Erscheinung nur steigern und durch den Gegensatz noch reizender machen.
Form und Maaßstab werden diesen heiteren Lichtgestalten unter den Räumen ihren Charakter nicht wesentlich geben und nehmen können. Die Form wird eben nur schön sein müssen und die Freude des Lebens - sei es, daß sie sich in Worten, in Musik, im Tanze oder an der Tafel kund giebt - nicht stören dürfen, aber sie wird nicht zwingend unsern Geist in einer bestimmten Richtung in Anspruch zu nehmen brauchen. Sie wird, um uns das Alltagsleben vergessen zu lassen, sich nicht an einen Maaßstab lehnen müssen, da uns im Gefühl unserer eigenen Kleinheit überwältigt, aber sie wird sich, abgesehen von ihrer Grundrißausdehnung, bei ihrem Aufbau in Dimensionen bewegen, die uns von der belastenden Enge des Raumes befreiten und uns mit der Wonne des Athmens erfüllen.
Wie ganz anders wieder wirkt der Zuschauerraum eines Theaters auf uns.
Der Raum soll auch hier künstlerisch ein Ganzes sein und er ist seiner Aufgabe nach doch eigentlich nur ein Halbes und nirgends giebt die Baukunst in der Erfüllung ihres Berufes so ganz sich selber auf, als hier. Denn wenn der Vorhang sich hebt und die Bühne als die bis dahin fehlende andere Hälfte des Raumes die Idee des Theaters erst zur vollständigen Erscheinung bringt: in demselben Augenblicke verliert der Zuschauerraum die künstlerische Selbstständigkeit, die er als Halbes hatte, und geht so vollständig in seiner andern Hälfte auf, daß seine Haupttugend von nun an darin besteht, ganz und gar vergessen und - vor Allem - nirgends selber gesehen zu werden.
Und doch bleibt der Zauber auch des Zuschauerraumes an sich einzig in seiner Art. Es ist nicht nur der Geist der Spannung, der Neugierde und des Geheimnißvollen, der uns in ihm beherrscht und plötzlich Tausende von Augen in eine bestimmte Richtung zwingt; es ist auch das Gefühl, in einem Raume zu sein, der nicht nur mit gleichgestimmten Menschen angefüllt ist, sondern dessen Wände sich förmlich aus ihren erwartungsvollen Gesichtern aufbauen.
Die Architektur zieht zwischen ihnen nur wenige feste Linien und begnügt sich hier mit dem bescheidenen Amte, der schöne Schemel unserer Füße zu sein. Nur am Proscenium faßt sie den Maaßstab des Raumes wieder zu einer architektonischen Einheit zusammen, aber ebenfalls ihren Schwesterkünsten dienend, will sie auch hier nur der schöne Rahmen eines schöneren Gemäldes sein. Und wie verhalten sich in diesem Raume das Licht, die Form, die Farbe und der Maaßstab zu einander.
Vor Allem vermissen wir hier - wenigstens im bisherigen Sinn - ein wichtiges Raummoment ganz, nämlich das Licht! Und doch ist in diesem Falle sein völliger Mangel, ebenso wie sonst seine Unentbehrlichkeit, ein schlagendes Charakteristicum für den specifischen Zweck des Raumes.
Denn nur dadurch, daß an die Stelle des natürlichen Lichtes die künstliche Beleuchtung tritt, wird unser modernes Theater zu dem, was es im Gegensatze zum antiken sein will - ein Geschöpf, was den hellen Tag verschläft und erst mit der Nacht sein Leben beginnt.
Wir sind im Hause des schönen Scheines und die Sonne will mit ihrer Wirklichkeit nirgends den Zauber der Täuschung stören. Statt eines großen Lichtes tausend kleine Lichter, die auf Commando den Ausdruck des Raumes heller oder dunkler stimmen, je nachdem ihn die Bühne - sein Gegenantlitz - heiterer oder ernster anschaut. Ein Apriltag ohne Sonnenschein und Regen!
Und die Farbe? Sie soll - wie in allen Räumen, die für eine künstliche Beleuchtung gedacht sind - auch hier wirken wie in einem Transparentbilde. Sie soll als ein eigenes Leben in den Körpern erscheinen, und darum sehen wir neben anderen leuchtenden Farben - wie Roth und Gelb - vor Allem der Gold und das Weiß hier vorherrschen. Das traurige kalte Blaugrün, welches unser Schauspielhaus leider bei seinem Umbau bekommen hat, würde Schinkel selber hier nicht angewendet haben.
Am meisten das architektonische Gepräge giebt aber in diesem Falle die Form.
Sie ist im Gegensatze zu der unendlichen Mannigfaltigkeit anderer Räumlichkeiten, die den gleichen Beruf haben, abgesehen von gewissen Nüancen, immer dieselbe, und ihre unvollendete Kreislinie, die unbarmherzig Proscenium abgeschnitten wird, kann wohl nicht bezeichnender, als sie es thut, architektonisch ausdrücken, daß dem Raum noch etwas fehlt.
Form und Maaßstab werden hier enger als irgendwo anders, an den Zweck gefesselt sein, und wenn sich unser Auge in jenen grandiosen Eisenbahnhallen verlieren durften, hier soll Blick und Wort den Raum überall erreichen, ausfüllen und beherrschen können.
Wenn ich Sie jetzt aus dem Theater unmittelbar in den Raum führe, der dem Cultus geweiht ist, dann thue ich es nicht, um den Reiz des Gegensatzes auszubeuten, sondern weil diese beiden Räume, so verschieden auch die Idee ist, die sie schuf, doch beide das mit einander gemein haben, eine große Masse verschiedener Menschen unter die Gewalt eines gleichen Gedanken zu zwingen.
Aber was ist ein leeres Theater?
Ohne die Macht des Wortes und ohne die Gestalten, die seinen Zuschauerraum erfüllen, ist es eine Maske ohne lebendige Augen; der Raum in seiner Oede berührt uns nicht allein unbefriedigend, sondern er ist gradezu unerträglich.
Wie anders ein Gotteshaus!
Hier ist die Macht des Raumes von seiner momentanen Zweckerfüllung völlig unabhängig. Die Idee, welche er künstlerisch ausdrückt, erfüllt ihn nicht - wie beim Theater - gleich einem Schmetterling, der, wenn er ausgeflogen ist, ein hohles Wesen zurückläßt, sondern wie ein ewiger Geist einen unsterblichen Körper.
So lange die Welt steht und die Menschen den Drang haben, ihren Göttern oder ihrem Gotte zwischen den eigenen Hütten eine Wohnung zu bauen, hat die Architektur in der Schöpfung dieses Raumes ihre höchsten Triumphe gefeiert.
Ich will Sie nicht auffordern, mit mir eine Wanderung durch ägyptische, griechische, oder römische Tempel zu machen. Ich begnüge mich, und führe Sie nur in einige Kirchen.
Die Schatten eines steinernen Säulenwaldes haben uns aufgenommen; wir befinden uns im Cölner Dom. Wie verschieden unsere religiösen Anschauungen auch sein mögen, uns beherrscht nur  e i n  Gefühl - im ersten Momente wenigstens - einen heiligen Ort betreten zu haben. Der Raum fragt uns nicht nach unserem Bekenntnisse. Er nimmt unsere Sinne befangen und versetzt uns mit unserer Einbildungskraft, im schneidenden Gegensatz zur Wirklichkeit draußen, plötzlich wie in einen schönen Traum. Unser Auge, wenn es zu den Gewölben des Hauptschiffes hinaufsieht, begreift nicht, welche unsichtbare Kraft sie in ihrer schwindelnden Höhe zusammenhält. Es blickt uns Alles fast räthselhaft an. Wir wandeln durch ein wundervolles Labyrinth von Pfeilern, zwischen denen uns überall das Licht wie durch Edelsteinteppiche entgegenglüht, bis die flimmernde Pracht der farbigen Fenster und der malerische Reiz des hundertfach getheilten Raumes am Hochaltare sich fast bis zum Ueberschwenglichen steigert. Der Raum mit seiner feierlichen Pracht nimmt trotz seines kirchlichen Ernstes unsere Phantasie so in Anspruch, dass wir aus dem Gefühle einer andächtigen Zerstreuung zur wirklich gesammelten Andacht nur kommen, wenn wir uns dieser Empfindung selber hingeben wollen.
Abgesehen davon, daß man bei einer nicht nur kritischen Betrachtung, sondern wenn man sich dem Eindrucke wirklich hingiebt, in profanen Räumen selten und in Gotteshäusern wohl nie ihre geistige Idee von dem Einflusse ihrer architektonischen Erscheinung völlig trennen kann, - abgesehen davon - möchte ich die Macht, die der Cölner Dom auf unsere Empfindung ausübt, eine feierlich-phantastische nennen. Und die Mittel, deren sich die Baukunst in diesem Falle für ihren ästhetischen Zweck bedient, bestehen, wie ich schon andeutete, darin, daß sie in dem Rahmen eines imposanten Maaßstabes bei der Gestaltung des Raumes seine Theilung durch Pfeiler betont. Unsere Phantasie wird dadurch geweckt und rege erhalten und vergrößert sich den Raum durch seine Unübersichtlichkeit fast bis zur Unabsehbarkeit! Den eigentlichen Effect erreicht die Architektur hier aber dadurch, daß sie sämmtliche Wandflächen auf die gemalten Fenster verlegt und - ich darf wohl sagen - den raffinirten Gedanken durchführt, überall das Licht in Farbe und die Farbe in Licht zu verwandeln.
Wir sind in Rom und treten in das Pantheon! Wir befinden in einem Raume, den die Baukunst ursprünglich nicht zu seinem heutigen Zwecke schuf, und doch, glaube ich, hat ihn noch Niemand betreten, der sich seines gewaltigen Eindruckes hat erwehren können.
Wir sind völlig von der Außenwelt abgeschlossen. Nichts verbindet uns mit ihr, als eine fensterlose Oeffnung oben in der mächtigen Halbkugel, die majestätisch, aber lastend auf der riesigen Rotunde steht. Wir werden zu einer gewiesen Einkehr in uns gezwungen, aber der Raum in seiner Gleichartigkeit nach allen Seiten hat etwas Beunruhigendes für unser Gefühl. Er ist ein Zauberkreis, in welchem wir den Ausweg suchen. Uns bezwingt eine Macht, aber wir wissen nicht, was sie mit uns will. Wir sind in der Gewalt einer Mystik, gegen die sich unsere freie Empfindung sträuben möchte, und obgleich wir magisch angezogen werden, sehnen wir uns zugleich hinaus und wieder unter Menschen. Dieser Raum, in den der Himmel mit seinem großen hellen Auge - ich möchte sagen - so unmittelbar hineinschaut, ist vielleicht feierlicher als irgend ein anderer, aber sein Ernst ist beinahe dämonisch und läßt uns gleichzeitig kaum zu einer Erhebung kommen.
Dieses Gefühl, welches uns im Pantheon fehlte, weil die völlige Gleichartigkeit der Form und die völlige Einheit des Lichtes - bei aller Grandiosität - unseren Gedanken kein entschiedenes Ziel gab, das Gefühl der Erhebung überwältigt uns im St. Peter in Rom.
Das Mittelschiff führt uns wie eine mächtige Straße unwillkürlich auf den Punkt hin, in welchem die Idee des ganzen Gebäudes gipfelt. Wir stehen nicht, wie im Pantheon, zugleich am Anfang und am Ende des Raumes. Wir müssen weiter. Das mächtige Tonnengewölbe leitet unsere Blicke dahin, wo die Dämmerung über uns plötzlich vor einer überirdischen Lichtgewalt zurückweicht. Ein Bewohner des Urwaldes, der nichts vom heiligen Petrus und nichts von der christlichen Religion weiß, würde, einmal über die Schwelle getreten, hier seine Füße eher nicht ruhen lassen können, bevor sie ihn nicht in die Kuppel des Michel Angelo getragen hätten.
Auch hier ein Raum, der uns von dem profanen Verkehr der Welt abschließt. Auch hier die Quelle des Lichts in einer Region, die unseren Blicken die Alltäglichkeit des Lebens entzieht.
Und doch wie verschieden unsere Empfindung hier von der im Pantheon. Hatten wir dort zwischen den ringsum festgeschlossenen Wänden das Gefühl, in einer unterirdischen imposanten Grotte zu sein, in welche an den schönen Linien ihrer Decke das Licht zu uns herabfloß, hier haben sich seine Strahlengeister unter das Riesengewölbe gedrängt und erheben es hoch - und uns mit - in ihre überirdische Heimath. Frei kann unser Blick durch die weitgeöffneten Bögen in die Kirchenschiffe schweifen und sich im Gegensatze immer von Neuem wieder die Wunder des Raumes, die sich ihm hier aufthun, zum glückseligen Bewußtsein bringen.
Auf der Basis des Satzes: "Erhaben ist nur das, dem gegenüber wir uns zugleich klein und groß empfinden", wurde uns hier von derselben Stelle aus, wie vielen der Anwesenden noch erinnerlich sein wird, mit überzeugender Klarheit entwickelt, daß der modernen Kunst der Begriff des Erhabenden verloren gegangen wäre. Und wenn der Redner ausnahmsweise der Architektur die Macht zuerkannte, eine ähnliche Empfindung in uns zu erwecken, dann übt diese Macht die Riesenkuppel des St. Peter, denn wir stehen hier unter dem Eindrucke eines Werkes von Menschenhand, welches in seiner Erscheinung an die Erhabenheit der Schöpfung streift.
Zum Schluß unserer Wanderung bitte ich Sie, mich in einen Raum zu begleiten, der so einzig in seiner Art ist, daß ich an ihm nicht vorübergehen kann, ohne noch einen Augenblick mit Ihnen einzutreten. - Es ist der Glaspalast in Sydenham bei London.
Hatten wir in der mächtigen Eisenbahnhalle, in der wir uns zuerst befanden, das Gefühl, daß sie im strengsten Sinne der Kunst noch kein vollendeter Raum ist, so besteht für uns der Zauber von Sydenham darin, daß wir in einer künstlich geschaffenen Umgebung sind, die - ich möchte sagen - schon wieder aufgehört hat, ein Raum zu sein. Wie bei einem Krystall, so giebt es auch hier kein eigentliches Innen und Außen. Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Die Schränke, die sich zwischen uns und die Landschaft gestellt hat, ist eine fast wesenlose. Wenn wir uns denken, daß man die Luft gießen könnte wie eine Flüssigkeit, dann haben wir hier die Empfindung, als hätte die freie Luft eine feste Gestalt behalten, nachdem die Form, in die sie gegossen war, ihr wieder abgenommen wurde. Wir sind in einem Stück herausgeschnittener Atmosphäre. Die Sonnenstrahlen kommen nicht durch einzelne Oeffnungen zu uns herein. Sie erfüllen den Raum mit ihrer ganzen schönen Natürlichkeit, und so ungehindert durchdringen sie ihn, daß sie jenseits seiner gläsernen Winde mit fast ungebrochener Kraft kaum einen Schatten des ungeheuren Baues auf den Wiesengrund werfen. Und sowie die Sonne einem solchen Raume das Licht nicht als etwas Besonderes und Eigenthümliches giebt und läßt, ebenso muß er sich auch damit begnügen, seine Farben von den Gegenständen außerhalb seiner Grenzen zu borgen, und darum wird er - soll er bleiben was er sein will, eine zauberhaft poetische Luftgestalt - in seiner Umgebung immer am schönsten wirken, wenn er, wie es in Sydenham der Fall ist, einen sanften Hügel in einer weiten Landschaft krönt.
Außerordentlich schwer ist es nach meiner Meinung, sich hier bei des Körperlosigkeit des Raumes den Einfluß der Form und des Maaßstabes zum klaren Bewußtsein zu bringen.
Der Gattung derartiger Räume würde die Form ihren Charakter - nämlich den des Durchsichtigen - wohl kaum nehmen oder geben können, aber in Sydenham übt sie auch an sich einen großen Reiz aus. Besonders überall da, wo sie sich wie das schöne Geäst eines blätterlosen Baumes mit klarer Silhouette gegen die Luft abhebt. In ihrer Gesammtheit wirkt sie, weil sie sich aus lauter zierlichen Theilen zusammensetzt, auf den scheinbaren Maaßstab des Baumes zurück. Denn je kleiner das Detail, desto der größer der Raum. Darum - wenn ich mir erlauben darf dies hier einzuschalten - macht z. B. der Cöllner Dom einen größeren und der St. Peter in Rom einen kleineren Eindruck, als es nach ihren wirklichen Maaßstabe bei der entgegengesetzten Ausbildung ihrer Einzelformen der Fall sein würde.
Der Maaßstab in Sydenham ist riesenhaft, aber er überwältigt uns nicht. Er läßt uns kaum zu einer erstaunenden Empfindung kommen, denn wir geben uns unter seinem Einflusse einem Zauber hin, der sich wie im Märchen von selber versteht.
Also Form, Licht, Farbe und Maaßstab! Sie machen, wie wir gesehen haben, ihre Kräfte und ihren Einfluß bei den mannigfaltigen Aufgaben der Baukunst immer und immer in einem anderen Verhältnisse zu einander geltend und der Architekt braucht sie nur dann richtig, wenn er im gegebenen Falle die eine durch die andere zu steigern versteht.
Er würde gradezu einen der größten Fehler begehen, den er in seiner Kunst begehen kann, wenn er, statt sie zu einem einheitlichen Zusammenwirken zu vereinigen, sie zu einem Kampfe gegeneinander herausfordern wollte.
Aber auch abgesehen davon, daß der eine Factor mal wichtiger oder urwichtiger für eine bestimmte Raumwirkung werden kann, wir sahen, daß sie auch in ihrer Qualität sehr verschieden von einander sind.
Die Form wird - bei allen monumentalen Räumen wenigstens - für die allgemeine ästhetische Wirkung von durchschlagender Bedeutung sein. Ihre mangelhaften Verhältnisse werden über den Zauber des Lichts, das Angenehme der Farbe und über die Großartigkeit des Maaßstabes niemals vergessen werden können. Ich würde hinzusetzen, ebensowenig als ein unproportionirter menschlicher Körper durch sein Colorit, seine bestehende Beleuchtung oder - wenn wir ihn plastisch dargestellt sähen - durch seine imponirende Größe schön werden kann - aber der Vergleich trifft nicht ganz zu, weil es in der Baukunst Fälle giebt, in denen der Maaßstab eine eximirte Stellung unter den übrigen Raumkräften einnimmt.
Hing von der Form in erster Linie die ästhetische Wirkung ab, so prägt dagegen das Licht mit zwingender Gewalt den Räumen im Allgemeinen ihren Charakter auf und darum hat sein Einfluß auf den Raum und über diesen hinaus auf die Gesammterscheinung der Gebäude für unsere Anschauung bestimmte Typen in der Baukunst geschaffen.
Denn noch mehr als die Form documentirt in erster Linie das Licht den Zweck eines Raumes. Und es verkündet ihn auch der Außenwelt, denn nicht an diesem oder jenem besonders sanctionirten Style, sondern vor Allem an dem Verhältnisse der Lichtöffnungen zu der compacten Masse des Mauerwerks erkennen wir es - und zwar schon in einer Entfernung, in der alle übrigen erklärenden Ausschmückungen noch verschwinden - ob wir ein Gefängniß, ein Museum, eine Kirche, eine Miethskaserne, oder ein vornehmes Wohnhaus vor uns haben.
Wenn ich Zweck in diesem Falle Seele nennen darf, dann ist das Licht die Seele des Raumes.
Die Farbe dagegen wird ihm noch eine specifische Stimmung  geben. Sie wird uns vor allen Dingen logisch berühren und also besonders unser Gemüth in Anspruch nehmen.
Endlich der Maaßstab!
Er ist überhaupt und in der Baukunst erst recht nichts weiter, als wir selber, denn der Mensch ist das Maaß aller Dinge. Alle sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen wirken innerhalb ihrer eigenen Gegensätze auf uns nur im Vergleich mit uns selber. Und wie ändert sich denselben Dingen gegenüber unsere Empfindung für ihre relative Größe! Räume, die uns in unserer Kindheit unermeßlich erschienen, kommen uns heute klein, unbedeutend und winzig vor, und die Gewohnheit und unsere Reflection bringt uns sogar um manche Eindrücke, die wir für dauernd gehalten hätten. Wir möchten womöglich die Unendlichkeit des Raumes erfassen, und wenn sie im gestirnten Himmelsgewölbe für unser Auge sichtbare Grenzen zu gewinnen scheint, dann fühlen wir uns zwar diesem unermeßlichsten aller Räume gegenüber nur wie ein Stäubchen, aber wir verlieren uns nicht in ihm, denn wir wissen, daß wir leben und seine Idee begreifen können.
Ich wiederhole: der Maaßstab in der Baukunst ist nur das zu unserem Bewußtsein gekommene räumliche Verhältniß unserer äußeren Person zu unserem Geist. In den Räumen unseres täglichen Lebens wollen wir, daß Geist und Körper sich ihrer Umgebung gegenüber conform fühlen, aber da, wo wir den Geist in uns feiern wollen, da drängt es uns, in einem Raume von weit übermenschlichem Maaße an unserem kleinen vergänglichen Ich die Größe unseres unvergänglichen Geistes zu messen.

Berlin den 10. Februar 1869, R. Lucae