Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Lotz, W.
In: Deutsche Bauzeitung - 2 (1886)
 
Über die Bedeutung der gothischen Baukunst für unsere Zeit *)
 
(Schluss eines Vortrages im Architekten-Verein zu Berlin.)
___
*) Wir verweisen auf unsere Anmerkung in No. 18, Seite 180 unserer Zeitung.
D. Red.


Was die heutige Baukunst betrifft, so wäre zu wünschen, dass unsere Baukünstler von dem Umhersuchen in allen Architekturen des Alterthums und der Neuzeit zurückkämen und vor allen Dingen in  e i n e m  Stile die Meisterschaft zu erreichen strebten, was nach dem Sprichworte "vita brevis, ars longa" nur dann möglich ist, wenn man einen Stil sein  e i g e n  nennen kann, und dieses ist wiederum nur möglich, wenn man die übrigen  u n g e ü b t  lässt. In der That ist es ein Zeichen der Charakterlosigkeit unserer Zeit, worin sie sich von allen früheren spezifisch unterscheidet, dass ihr der Baustil fehlt. Hier gilt es also, unter den bereits vorhandenen zu wählen. Wer den gothischen  w i r k l i c h  k e n n t,  dem kann diese Wahl keine Qual bereiten. Dem sind die Anpreisungen der Antike als der allein und ewig mustergültigen Kunstform doch nur Phrasen, die keine strengere Prüfung vertragen. Der weiss ferner, dass jede Baupraxis, die es mit der Wahrheit nicht ganz genau nimmt, an einer gewissen Unfruchtbarkeit leidet, und dass die Antike ganz wahr wieder ins Leben rufen zu wollen nicht nur unmöglich, sondern auch übermässig kostspielig sein würde. Die Baukunst ist nun einmal für das Leben da. Sobald sie gegen das Leben gleichgültig wird und leeren Ideen nachjagt, wird sie zur Spielerei und geht zu Grunde. Man würde den wohl gewiss einen Verschwender nennen, der, um einen Zweck zu erreichen, dasselbe aufwenden wollte, was sich mit der Hälfte völlig ebensogut erreichen lässt: die gothische Kunst weiss mit der Hälfte des Materials und also in gewissem Sinne auch der Arbeit auszukommen, um  d e n s e l b e n  Zweck zu erreichen wie andere Bauweisen. Jedermann würde  d e n  einen Thoren schelten, der die Eisenbahn verschmähen und auf einer griechischen Biga reisen wollte; nicht viel anders aber scheint uns  d e r  zu verfahren, welcher die eminenten Erfindungen, in deren Besitze die gothische Baukunst sich doch unbestreitbar befindet, verachtet, um antik-klassische Muster nachahmen zu können. Leider ist die mir zu Gebote stehende Zeit viel zu kurz, um die Vorzüge der gothischen Kunst auch im Einzelnen nachzuweisen. Ich muss mich begnügen, sie in folgenden Sätzen zusammenzufassen.

In der gothischen Baukunst triumphirt der Geist über die todte Materie, so dass sie nicht so sehr ihren eigenen Gesetzen als dem Geiste zu gehorchen scheint. Dies zeigt sich zunächst in der Gesammterscheinung des gothischen Kirchengebäudes. Man kann dasselbe einem Organismus vergleichen, insofern sich, wie bei diesem, der Gegensatz zwischen haltgebenden und nur umhüllenden, raumabschliessenden Theilen charakteristisch ausgeprägt findet. Auf diesem Wege wurde mit dem geringsten Aufwand an Masse die möglichst grosse Festigkeit erzielt. Es zeigt sich der Triumph des Geistes über die Materie aber auch in der Gestaltung der einzelnen Bauglieder. Nicht als ob diese Herrschaft nach Art einer neueren ästhetischen Betrachtungsweise aufgefasst werden dürfte. Einer solchen Auffassung würde die strenge Zweckmässigkeit der Theile widersprechen, wovon jeder ein bestimmtes Bedürfniss zu befriedigen vorhanden ist. Betrachten wir beispielsweise die Gesimse. Nach der ästhetischen Auffassung sind dieselben dazu bestimmt, übereinander liegende Bautheile, z. B. Stockwerke von einander zu sondern und das Gebäude oder einzelne von ihnen umschlungene Gebäudetheile gleichsam zusammenzubinden, damit sie nicht auseinanderfallen können. Es mag sein, dass in der antiken Kunst dergleichen Vorstellungen bei der Bildung gewisser Gesimse maassgebend gewesen sind. Wenn dieses in einem südlichen Klima und bei Anwendung wenig poröser Baumaterialien wie des Marmors, ungestraft geschehen konnte, so ist doch die band- oder plattenartige Gesimsform in den nordischen Gegenden um desswillen unpassend, weil auf der oberen fast wagerechten Fläche die Regentropfen auseinanderspritzen und die über dem Gesimse befindlichen Theile durchnässen. Bei den gothischen Werken bilden deshalb alle solche Gesimse oben eine schräge Fläche, an welcher das Regenwasser ruhig herabläuft, und unterhalb ist an ihnen eine starke Unterschneidung angebracht, welche das Wasser nöthigt, abzutropfen, ohne die unter dem Gesimse befindlichen Bautheile zu berühren. - In ähnlicher Weise lässt sich bei  a l l e n  Gliedern der mustergültigen gothischen Bauwerke, sollten erstere einer oberflächlichen Betrachtung auch nur zur Zierde vorhanden zu sein scheinen, ein bestimmter Zweck finden, welchem sie dienen, mithin ein Walten des Geistes, der die Materie zweckvoll gestaltet hat. So sind die sogenannten Krabben, welche den Kanten der steinernen Dächer an den gothischen Thürmen entspriessen, zugleich Staffeln, deren man sich bei Reparaturen zum Hinaufklettern an diesen steilen Thurmhelmen bedient.

Es zeigt sich aber die Herrschaft des Geistes an den Ornamenten auch noch in  a n d e r e r  Weise. Die gothische Kunst liebt es, die Verzierungen ihrer Bauten der organischen Schöpfung, und zwar vorzugsweise dem  e i n h e i m i s c h e n  Thier- und Pflanzenreiche zu entnehmen, aber nicht so, dass sie die Organismen mit allen Zufälligkeiten der Besonderheit eines einzelnen Individuums, welches gerade zur Nachahmung gedient hat, kopirt, sondern indem sie die Merkmale der Gattung, in welchen sich gleichsam ihr Charakter verkörpert, schärfer ausprägt, Nebensächliches und Zufälliges aber zurücktreten lässt. Doch diese Thätigkeit des Stilisirens ist eine Seite der gothischen Kunst, welche ja in ihrer Weise jede Kunst, welche diesen Namen verdient, mit ihr theilt. Erst unserer Zeit scheint es vorbehalten, sehr allgemein in ein ebenso stil- als geistloses Kopiren der Natur zu verfallene welches, sich die möglichst "natürliche" Wiedergabe derselben zur einzigen Aufgabe stellt. Ein geistvoller Forscher unserer Tage sagt: "Die Kunst hat einen nicht zufälligen, sondern nothwendigen, einen nicht vergänglichen, sondern ewigen Zweck, und dieser ist der: einen Vorgeschmack der ewigen Herrlichkeit zu geben, zu predigen von der ursprünglichen und ewigen Schönheit der Welt, die einst wieder erscheinen soll, wenn alles hinweggethan sein wird, was ihre Erscheinung hindert." Wir dürfen wohl sagen: keine Kunst hat diesen Zweck so vollständig erreicht, als die gothische. Durch jenes Streben nach oben, welches in allen ihren ächten Schöpfungen lebt, ist sie gleichsam eine Erscheinung des Strebens der Menschheit nach der verklärten Welt, welche die wahre Religion giebt, hat sie einen Zug ewigen Lebens an sich.

Im Zusammenhang hiermit erkennen wir nun aber den tiefsten Grund des Hin- und Herschwankens, des unsichern Suchens und nicht Findens, woran unsere  h e u t i g e  Kunst leidet. Er liegt in dem Mangel an Bewusstsein für das eigentliche Ziel des Menschenlebens, in dem nichtigen, nur für diese Welt und ihre Lust empfänglichen Sinne, welcher eine Signatur der Gegenwart ist. Es fehlt unserer Zeit allzu sehr der Glaube, es fehlt ihr das Sehnen und Streben nach der Ewigkeit, "nach Erlösung aus dieser Welt des Todes und der Hässlichkeit", welchem die wahre Kunst allein entspringen kann. Eine Folge dieses Sinnes ist der immer noch sehr empfindliche Mangel an kirchlichen Neubauten, also gerade an den höchsten Aufgaben der Baukunst, die zugleich den sämmtlichen übrigen Künsten die würdigsten Zwecke zu setzen vermögen. Daher geht die Thätigkeit der meisten Künstler in Arbeiten auf, die nur vergänglichen Zwecken dienen, also jeden höheren Schwung der Phantasie, jede wahre Erhebung der Seele lähmen. So lange diese Sinnesrichtung die Oberhand behält, ist an die Entstehung einer für unser Jahrhundert charakteristischen Baukunst gar nicht zu denken, ist die Hoffnung einen neuen Baustil aufkommen zu sehen, ein Traum, und bleibt nichts übrig, als nach wie vor bei der Vergangenheit in die Lehre zu gehen und in ihrem Geiste neues zu schaffen. Dazu zeigen die grössten Architekten unserer Zeit, unter welchen mein leider so früh abgerufener Landsmann  U n g e w i t t e r  eine ehrenvolle Stelle einnimmt, den Weg.  U n g e w i t t e r s  Bauten, seine Schriften, seine Veröffentlichungen vaterländischer Kunstwerke wie seiner eignen Entwürfe sind meines Erachtens Führer von unschätzbarem Werthe, welche den mit Ernst vorwärts strebenden Künstler in den Stand setzen können, jede Aufgabe der Baukunst in ihrer Tiefe zu erfassen und mit Ueberlegenheit zu lösen. Ich erlaube mir nur noch den Wunsch hinzuzufügen, dass ihnen dieser Erfolg in immer reicherem Maasse und wachsender Ausdehnung zu  T h e i l  werden möge.

Marburg, Dr. W. Lotz