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Autor: Lichtwark, Alfred
In: Berlin; Cassirer (1899); - 181 S.
 
Palastfenster und Flügeltür
 
ERNST UND ELISABETH KALKMANN
IN FREUNDSCHAFT GEWIDMET

VORWORT

In Deutschland ist das Antlitz der künstlerischen Bildung immer noch nach Athen und Rom oder nach London und Paris gerichtet. Dort sind wir zu Hause, dort wissen wir genau Bescheid, dort holen wir uns die Maasse, mit denen wir das Unsere missmessen, und die Meinungen, aus denen wir das Unsere missverstehen. Die Beschäftigung mit deutschen Dingen ist um so weniger beliebt, je näher sie liegen und je wichtiger sie deshalb eigentlich sind. Das weitsichtig gewordene deutsche Auge weilt am liebsten am fernsten Horizont, und gern schweift die Phantasie noch darüber hinaus. An einer Zeitungsnotiz über Ausgrabungen in Chaldäa berauschen sich Millionen deutscher Zeitungsleser. Aber das regt niemand auf, dass überall in Deutschland gerade in unseren Tagen eine köstliche heimische Bauweise zu Grunde geht, die für unsere künstlerische Zukunft wichtiger ist als alles, was unter den Trümmern Ninivehs verborgen liegt. Wenn schon der Grundstoff des  D e u t s c h e n  in unserer künstlerischen Bildung schwach vertreten ist, so pflegt der des  H e i m a t l i c h e n  ganz zu fehlen. Eine gesunde künstlerische Bildung müsste aber in München auf münchnerischem, in Nürnberg auf nürnbergischem, in Hamburg auf hamburgischem Boden stehen. In Hamburg wäre es besonders nötig. Denn da sich in der Malerei und Architektur die höchste Bildung in Hamburg bisher nicht erwerben lässt, bleiben die Begabungen, die Hamburg hervorbringt, dem Einfluss der zufällig gewählten auswärtigen Lehranstalten überlassen. Was sie dort gelernt haben, bringen sie mit und wenden sie an. Alle Versuche, eine heimische Tradition zu bilden, sind darüber in die Brüche gegangen.

Wenn ein auswärtiger Künstler nach Hamburg kommt, setzt ihn das architektonische Gesamtbild der modernen Stadt zunächst in Verwirrung. Er sieht Nachbildungen von allem, was irgendwo in der Welt Geltung hat. Aber das Hamburgische fehlt. Es findet sich schliesslich nur aus älterer Zeit in der Michaeliskirche, der St. Georger Kirche, den "Sonninschen" Häusern, den Schiffer- und Fischerhäusern der Umgebung. Aber gerade dies zieht den  K ü n s t l e r  an. An der Beobachtung dieser alten heimischen Kunst sollte bei uns das Interesse des Laien für die Architektur geweckt werden. Den Anfang müsste er jedoch nicht mit den Monumentalbauten, sondern mit den Wohnhäusern machen. Denn in der Architektur - wie in der bildenden Kunst überhaupt - pflegen bei unserer Erziehung die Elementarklassen übersprungen zu werden. Der gebildete Deutsche kann in der Architektur meistens über alle die Dinge mitreden, auf die es eigentlich gar nicht ankommt, Säulenordnungen, Stilfragen und dergleichen, und seine Teilnahme, sein Verständnis und sein Gefühl versagen, sowie an die grundlegenden Fragen gerührt wird. Architektur sind aber nicht nur der Markusdom und die Peterskirche, der Palazzo Pitti und der Louvre, sondern ebensogut das schlichte bürgerliche Wohnhaus, ja, für uns noch mehr, denn das Hemd ist uns näher als der Rock. Wollen wir der kommenden Generation eine künstlerische Bildung geben, die praktisch wirksam wird, so muss im architektonischen Teil mit den Elementen der bürgerlichen und der heimatlichen Baukunst angefangen werden. Zuerst sollte vorhanden sein, was das Leben gebraucht. Die architektonische Bildung des Deutschen muss beim Fischer- und Schifferhaus, beim Bauern- und Bürgerhaus seiner nächsten Heimat anfangen. Dass er die Schönheit dieser Grundformen unserer Baukunst verstehen, fühlen und lieben lernt, ist wichtiger für ihn und für die deutsche Kunst, als dass er über den griechischen Tempel oder den Florentiner Palast Bescheid weiss.

An die Grundlagen des Bedürfnisses und an die überall vorhandene, aber fast schon verwischte örtliche Überlieferung möchten die hier zusammengestellten Aufsätze erinnern. Sie wenden sich nicht an den Fachmann, sondern an den Laien. Ihr Zweck ist nicht Belehrung, sondern Anregung. Sie gehen deshalb nicht vom Allgemeinen und Fernen, sondern vom Naheliegenden und Lokalen aus; sie streben keine systematische Abrundung und Vollständigkeit an, sie versuchen vielmehr, beim Hausbau und bei der Hauseinrichtung auf einige Hauptpunkte hinzuweisen, an denen die eigene Arbeit beginnen kann. Der Inhalt geht zum grössten Teil auf eine Reihe öffentlicher Vorträge zurück, die ich unter dem Gesamttitel:  E i n f ü h r u n g  i n  d i e  m o d e r n e  K u n s t  und  d i e  K u n s t  a l s  w i r t s c h a f t l i c h e  M a c h t  1891 und 1892 in der Kunsthalle gehalten habe. Im Laufe der nächsten Jahre erschienen die Aufsätze im  P a n,  im  K u n s t w a r t,  in der  d e k o r a t i v e n  K u n s t  und im  J a h r b u c h  d e r  G e s e l l s c h a f t  h a m b u r g i s c h e r  K u n s t f r e u n d e.  Im allgemeinen liegen die Zustände von 1890 bis 1895 der Betrachtung zu Grunde. Manches, was damals frommer Wunsch war, ist heute schon Erfüllung.
Lichtwark


ERSTER TEIL

PALASTFENSTER
UND
FLÜGELTHÜR

Unsere bürgerliche Architektur hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren sehr grosse, aber leider sehr einseitige Fortschritte gemacht. Denn während die Einrichtungen in Keller und Küche, in Bade und Schlafzimmer allem, was unseren Vätern in ihrer Jugend genügen musste, unendlich überlegen sind, hat die Durchbildung der Wohn- und Gesellschaftsräume keinerlei wesentliche Verbesserung erfahren. Sie sind weder praktischer noch schöner geworden, ja, es will mir scheinen, als ob im Grunde das künstlerische Niveau eher noch gesunken wäre. Die falsche Fährte, die unsere bürgerliche Baukunst in unserem Jahrhundert bei vermehrtem Wohlstand der Bevölkerung eingeschlagen hatte, wurde weiter verfolgt, und die Nachahmung fürstlicher Pracht, anfangs ein beklagenswertes Missverständnis, ist zu systematischer Barbarei ausgeartet. Wollen wir zu gesünderen Zuständen zurückkehren, so müssen wir die Punkte zu erkennen suchen, wo die Besserung einzusetzen hat. Es ist dies nicht zunächst das Kunstgewerbe, auch nicht der Stil, mit dem die Fassade verziert wird, denn er ist für das Innere, auf das es ankommt, völlig gleichgültig. Den Ausschlag giebt die Gestaltung und Beleuchtung der Innenräume. Diese aber ist abhängig von der Behandlung der Fenster und Thüren, und wenn unsere Baukunst unzulänglich ist und trotz aller stilistischen Totensprünge nicht vom Flecke kommt, so rührt es von der principiellen Verkehrtheit der Anlage der Licht- und Verkehrsöffnungen her. Wir dürfen eine Wendung zum Besseren nicht vom Architekten allein erwarten. Mehr als jeder andere Künstler ist er abhängig von den Bedürfnissen, dem Geschmack und dem guten Willen seiner Auftraggeber. Es gilt deshalb, zunächst im deutschen Bürgerstande die Erkenntnis zu verbreiten, dass neunzig Prozent der Räume in unseren Neubauten beim besten Willen und bei Aufwand grosser Mittel behaglich - geschweige denn künstlerisch - nicht eingerichtet werden können, weil Fenster und Thüren es nicht gestatten.

Das Fenster gehört zugleich dem Aussen- und dem Innenbau an. Es ist der Angelpunkt, um den sich der Entwurf des Baumeisters dreht - oder drehen sollte. In der Fassade bildet es die rhythmisch verteilten Dunkelheiten, die mächtiger als alle Säulen, Ornamente und Gesimse den Charakter bestimmen. Wenn aus der Ferne gesehen alle Schmuckformen in die Masse der reflektierenden Wand zurückgesunken sind, sprechen immer noch die dunklen Flecke der Fenster, die kein Licht zurückstrahlen. Und im Innenraum kommen weder Estrich, Wand, Decke noch Thür gegen das Fenster auf. Es steht unter ihnen wie ein lebendiges Wesen unter leblosen Dingen und hat an sich Gewalt, den Raum gross oder klein, behaglich oder widerwärtig, künstlerisch oder banal erscheinen zu lassen. Unsere moderne Architektur aber gefällt sich in einer auffallenden Nichtachtung gerade dieses ausdrucksvollsten Baugliedes. Sie kennt im Grunde nur noch eine Form, die des italienischen Palastfensters, und hat alle die mannigfaltigen Bildungen aufgegeben, die in den letzten Jahrhunderten dem Bedürfnis unseres Klimas, unserer Lebensgewohnheiten und unserer künstlerischen Empfindung entsprossen waren. Das Fenster wird ausschliesslich als ein Teil der Fassade aufgefasst, wo es mit den Säulen und dem Gebälk als ornamentale Schmuckform rangiert. Es hat nicht mehr die Form und Grösse, die der Raum verlangt, den es erhellen soll, sondern es muss sich nach dem Rhythmus des Fassadenschemas richten. Es sitzt nicht mehr an der Stelle, wo der Innenraum es braucht, sondern da, wo die Fassade es nötig hat.

Ob es mit romanischem Rundbogen, mit gotischem Spitzbogen oder Eselsrücken, ob es mit geradem Sturz oder in orientalischer Hufeisenform - die ja auch vorkommt - abgeschlossen wird, bleibt sich ganz gleich. Und je mehr Fenster ein Zimmer hat, desto höher wird es geschätzt. Das einfensterige Zimmer kommt nur bei kleinen Wohnungen als Notbehelf vor. Die Gewöhnung an unsere unwirtlichen Zustände ist so fest eingewurzelt, dass das Publikum keine anderen als zweifensterige Zimmer haben will. Auch dieser Fluch, der auf unserer bürgerlichen Architektur lastet, geht auf die Nachahmung der regelmässigen Fassade des italienischen Palastes zurück. Es ist mir mehrfach vorgekommen, dass namhafte Architekten diesen Sachverhalt rundweg geleugnet haben. Das breite nordische Fenster mit hoher Fensterbank als einzige Lichtquelle existiere nur in der Einbildung. Wie muss der Unterricht auf unseren Bauschulen beschaffen sein, wenn so wichtige und offenbare Thatsachen gänzlich unbekannt sind? Wenn der exotische Charakter der schmalen hohen Fenster unseres Bürgerhauses geleugnet wird, so ist das gerade so, wie wenn einer, der nur unser heutiges Deutsch kennt, behaupten wolle, die Fremdwörter wären deutschen Ursprungs. Wenn die Möglichkeit vorhanden wäre, dass die Fenster aller der stolzen Paläste unserer Grossstädte nach dem Bedürfnis der Innenräume umgebaut würden, unsere ganze Architektur hätte mit einem Schlage ein anderes Gesicht, denn die Tyrannei der Fassade, die als ein Ding an sich und nicht als Ausdruck des Grundrisses behandelt wird, wäre gebrochen. Es gäbe kein Wohnhaus mit Säulen mehr.

Der leitende Architekt einer grossen norddeutschen Stadt hat vor nicht langer Zeit in einer öffentlichen Versammlung gestanden, dass er es längst aufgegeben habe, sich um die Ausgestaltung der Innenräume zu kümmern. Jede Anstrengung sei verlorene Liebesmüh. Sobald der Architekt das Haus verlassen habe, zöge der Tapezier ein, und diesem Selbstherrscher zu begegnen, habe er seine Kraft je länger je mehr erlahmen gefühlt. Damit hatte der alte Herr den Finger auf die schwärende Stelle gelegt. Der grösste Feind unserer Innen- und damit unserer Aussenarchitektur ist heute die Stoffgardine. Im Augenblick, wo sie fortfällt oder nur zurückgezogen wird und in geraden Falten zur Seite herunterhängt, muss an die Umgestaltung des Fensters Hand gelegt werden, denn die Langeweile der Fensterform und die Schablonenhaftigkeit in der Behandlung der Fensterlaibung sind nur zu ertragen, solange die ganze Geschichte mit dem Liebesmantel der Stoffgardine verhüllt wird. Ist das Fenster erst wieder frei, so versteht sich von selbst, dass seine Form wieder Problem wird und dass die Profile des Holzwerkes und der Anstrich einer erneuten Aufmerksamkeit bedürfen. Wie köstlich wurden in alten Lübecker, Lüneburger und Hamburger Häusern - um das mir Nächstliegende zu nennen - die Stützen der breiten Fenster ausgebildet! Zur Renaissancezeit mit geschnitzten Basen und Kapitellen, später als lustige Holzsäulen mit geschnitzten und vergoldeten Kapitellen, und die Profile waren so zart und originell, wie bei den feinsten Möbeln. Das dunkle Zimmer hat schliesslich dazu geführt, dass das Holzwerk des Fensters dunkel holzfarben, unter Umständen sogar schwarz gestrichen wurde. Nur die kleinen Leute, wie die Fischer und Schiffer am Nord- und Ostseestrand, die ihre naive Freude an der Farbe nicht aufgeben, sind der alten Gewohnheit treu geblieben, ihre Fenster weiss oder in irgend einer anderen kräftigen Farbe zu streichen.

Ein breites unverhülltes Fenster mit weissem, rotem, grünem oder blauem Anstrich der Rahmen, der Laibung und der Fensterbank wird in Zukunft den Ausgangspunkt für den farbigen Aufbau des Innenraumes abgeben. Fällt die Gardine, so bietet sich die Möglichkeit, eine alte untergegangene Vorrichtung wieder zu Ehren zu bringen und als Mittel zur Erzielung künstlerischer Wirkungen wieder zu verwenden. Das sind die äusseren und inneren Fensterladen. Für die Ausbildung der Fassade sind die äusseren Fensterladen von allerhöchstem Wert. Sie sind als koloristische Mächte die geschworenen Feinde der Klebearchitektur. Eine Fassade mit grünen, blauen oder roten Fensterläden  k a n n  nur koloristisch ausgebaut werden. Was für wunderbare Wirkungen diese Motive ermöglichen, lässt sich noch heute überall, wo es keine akademisch gebildeten Architekten giebt, z. B. in der Fischer- und Schifferarchitektur der Dörfer an der Unterelbe und der Bergstädte des Harzes beobachten. Sind die Wände weiss gestrichen, so erhalten die Läden den Ton des Ochsenblutes, bei roten Ziegelwänden wird ein sattes Grün bevorzugt, ist der Wandanstrich nach Gelb oder Grün getönt, so erfindet die Phantasie die passenden dunkelblauen, dunkelgrünen oder dunkelroten Töne für die Fensterläden. Im Innenraum machen die Fensterläden die Roll- und Schiebevorrichtungen überflüssig, die, wie aller Behang, einer künstlerischen Durchbildung des Rahmenwerkes im Wege stehen. Auf diese Reste einer untergehenden heimischen Kultur muss immer wieder hingewiesen werden. Die Engländer haben ihr bürgerliches Wohnhaus auf der Basis der Cottage, des einfachen Landhauses, aufgebaut, indem sie alle künstlerischen Keime mit grosser Vorsicht und Umsicht und mit höchstem Geschmack entwickelt haben. Unser Landhaus, das wir mit pompösen klingendem Namen Villa zu nennen pflegen, steckt bis über die Ohren im Akademismus, und statt plattdeutsch, fränkisch, schwäbisch oder thüringisch zu reden, stammelt es ein wüstes Gemisch von Italienisch und Griechisch.

Als eine Nachahmung der französischen Fensteranlagen dürfen die meist viel zu niedrigen Fensterbänke angesehen werden. In Frankreich behandelt man das Fenster gern als Thür, durch die man auf den Balkon hinaustritt. Die Scheiben gehen dann meist bis auf den Boden. Derartige Anlagen in Räumen nachzubilden, die auch im Winter benutzt werden sollen, verbietet bei uns das Klima. Sie sind auch in Frankreich ein Import aus Italien. Solange die französische Architektur selbständig und naiv war, hielt sie im Norden zum breiten Fenster und zur hohen Fensterbank. Da wir nun seit einer Generation überall ausser den früher üblichen Tüllgardinen auch noch schwere Stoffgardinen verwenden, und da die Sitte besteht, diese oben dicht zuzuziehen und sie nur unten, eben oberhalb der Fensterbänke zurückzunehmen, so haben unsere Zimmer ein durchaus falsches Licht. Alle Helligkeit sammelt sich auf dem kleinen Fleck des Fussbodens vor der niedrigen Fensterbank, auch weiterhin ist der Fussboden die hellste Masse. Die Wände erhalten von ihm reflektiertes Licht, soweit sie nicht ganz dunkel bleiben. Unsere Möbel können dabei nicht zur Wirkung kommen, von den Bildern gar nicht zu reden. Es kommt dann noch hinzu, dass die beiden Fenster, ohne die man nicht glaubt auskommen zu können, zusammen ein zerrissenes, unruhiges Licht geben, das sich mit dem einheitlichen Lichteinfall des einen nordischen Fensters nicht vergleichen lässt. Und wie die Lebewesen, die sich in dunklen Höhlen aufhalten, schwachsichtig oder blind werden, so hat sich auch unsere Zimmerausstattung der Lichtlosigkeit angepasst. Sie kann die Helligkeit, die zur Reinmachezeit durch die unverhüllten Fenster fällt, gar nicht mehr vertragen, weder der Form noch der Farbe nach, und die Hausfrauen müssen sich beeilen, die Dämmerung, in der sich unsere Möbel wohl fühlen, wiederherzustellen. Wenn wir uns entschliessen, zu den hohen Fensterbänken zurückzukehren, wäre der Bann gebrochen. Hohe Fensterbänke vertragen sich weder mit dem Format unserer Fenster, noch mit der Form unserer Gardinen.

Die Fenster müssten sofort breiter werden, wenn überhaupt noch Licht ins Zimmer fallen soll, und damit wäre der Anschluss an die alte heimische Tradition der Zimmerbeleuchtung wieder gewonnen. Im ganzen Norden herrschte der Grundsatz, möglichst viel Licht einzulassen, zugleich aber auch den behaglichen Abschluss nach aussen durch die hohe Fensterbank zu betonen. Die Fensterwand, der ungemütlichste, zerrissenste Platz in unseren Zimmern, ist bei hohen Fensterbänken der gemütlichste. Es geht kein Stückchen Wand mehr verloren. In den modernen Zimmern haben nur die Füsse gutes Licht, die es gar nicht brauchen, in den alten hatte es der Kopf. Wie viel feiner in solchen Räumen die Beleuchtung ist, haben unsere Maler weit eher entdeckt, als unsere Architekten und unser Publikum. Eine Zeitlang war der Hintergrund eines breiten Fensters mit hoher Fensterbank und ohne Gardinen der eiserne Bestand für den Maler von Innenräumen. Dass die Maler die Poesie des nordischen Fensters schon gefühlt und ausgedrückt haben, ist ein grosser Trost. Auf Bildern mag das Publikum sie jetzt schon leiden, nun wird es auch bald in Wirklichkeit sie vertragen und lieben lernen, und ist es erst so weit, dann ist die Sache der heimischen Architektur gewonnen. Für ihre Ateliers sind die Maler längst zum alten nordischen Grundgesetz der breiten Fenster mit hohen Fensterbänken zurückgekehrt. Und in diesen gutbeleuchteten Räumen malen sie Bilder, die nachher in unseren schlechtbeleuchteten Zimmern mit den starken Reflexen vom Fussboden zur Wirkung kommen sollen, ein unerträglicher Widerspruch. Wenn man heute in den Gartenvorstädten Berlins die ersten vereinzelten Versuche nordischer Fenster sieht, wird man den Gedanken nicht los, wie viel Mühe der Architekt gehabt haben mag, seinen Auftraggeber oder dessen Frau zu überreden.

Wäre unser Publikum daraufhin erzogen, sich in jedem Falle deutlich vorzustellen, wie die Räume, die der Architekt zeichnet, nachher aussehen werden, dann würden sicherlich eine ganze Reihe von Fensterformen und Kombinationen in Wegfall kommen. Wo jetzt einmal eine breitere Fensteröffnung aus Rücksicht auf die Gestaltung der Fassade angelegt wird, pflegt man sie durch eine oder zwei als Stützen hineingestellte Säulen zu verderben. Von aussen mögen sie sich als Ornament ganz gut machen, solange man die Fassade eben nur als Spiel der zeichnenden Phantasie ansieht. Aber nach innen wirken sie entsetzlich und würden nicht zu ertragen sein, wenn der Tapezier nicht mit drei Fach Wollgardinen einspränge. Stützen, die so stark sind, dass sie durch die Reflexe der Fensterlaibung nicht mehr aufgehellt werden, und die als Schatten erscheinen, geben durch den Kontrast den fatalen Effekt des grellen Lichteinfalles. Noch beleidigender wirken die kleinen Erker mit drei Fach Fenstern, einem in der Mitte und zweien schräge zur Seite. Arme Augen, die gezwungen sind, das Licht, das diese Anlage giebt, zu ertragen. Es gehört zu den rätselhaftesten Ereignissen der Weltgeschichte, wie jemand auf die Thorheit dieser Anlage kommen, und wie sie in den eisernen Bestand der architektonischen Formensprache aufgenommen werden konnte. Auch die Erker sind zum Besten des Innenraumes da, nicht bloss zum Schmuck der Fassade. Alles, was man über diese Dinge sagen kann, ist von Grund aus trivial. Aber es ist tragisch, dass es gesagt werden muss.

Was unsere Zimmer dann aber völlig unbewohnbar macht, ist der Mangel an Wandfläche und an Ecken. Es ist schon viel, wenn ein Zimmer eine grosse ungebrochene Wand enthält. Wer in eine neue Wohnung zieht, hat sich regelmässig mit der Unzulänglichkeit der Wandfläche herumzuschlagen. Er kann seine Möbel nicht stellen und seine Bilder nicht hängen. Eine Ecke nimmt der Ofen, zwei Ecken nehmen die Fenster, die vierte geht durch eine Thür verloren. Die zierliche und bequeme Form der Eckschränke musste aufgegeben werden, das behagliche Eckarrangement des Sofas kann sich bei uns nicht einbürgern. Unser Zimmer ohne Ecken und Wände löst das Problem des berühmten Messers ohne Griff, dem die Klinge fehlt. Schon die deutschen Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts verlangen bei uns, dass jedes Zimmer mindestens zwei Ausgänge habe. Begründet wird diese Forderung mit dem Hinweis, es könnte für den Bewohner der Fall eintreten, dass er seiner Toilette wegen oder aus anderen Ursachen das Zimmer schnell auf einem zweiten Eingange zu verlassen hätte. Auch in unserem Jahrhundert hört man diese Begründung wiederholen, die auf den traurigen Kulturzustand des Sichgehenlassens hinweist. Wer sein Schlafzimmer verlässt, muss sich vor aller Welt sehen lassen können. Diese Rücksicht auf schlechte Angewohnheiten ist die eine Ursache der vielen Thüren in deutschen Zimmern. Eine zweite ist: die Nachahmung fürstlichen Lebenszuschnittes. Man will möglichst viele ineinander gehende Zimmer haben, eine Enfilade, wie sie in den Schlössern angestrebt wurde. Auch hier liegt ein Missverständnis vor. Freilich liegen die Säle und Zimmer der Schlösser in langer Reihe, und jedes hat nahe am Fenster zwei Thüren. Aber der Raum zwischen diesen Thüren und der Rückwand ist ganz intakt, und er war es, der zum eigentlichen Aufenthalte diente. Die Passage wurde an der kalten Fensterseite des Zimmers durch den Raum geleitet, um die darin Weilenden nicht zu belästigen. Führte hinten eine Thüre nach dem Korridor, was der Bequemlichkeit wegen hier und da vorkam, so war's immer eine Tapetenthür, die das behagliche Gefühl der Abgeschlossenheit nicht zerstörte. Und bei der Grösse der Räume fielen die Flügelthüren am Fenster nicht ins Gewicht, der Platz am Fenster diente nicht zum Aufenthalt, was bei der Beurteilung der Palastzimmer nicht vergessen werden darf. Man kann sich leicht vorstellen, wie angenehm geschützt und sicher man sich in diesen Prunksälen selbst bei grossen Gesellschaften fühlte. Der Verkehr an der Fensterseite entlang störte niemand von denen, die sich weiter hinten im Saal aufhielten. Bei uns fordert das Gesetz, dass die Flügelthüren mitten in die Wände gelegt werden, so dass bei einer Enfilade von Zimmern nur die beiden äusseren einen ruhigen Aufenthalt bieten. Für unser tägliches Leben wären freilich die Thüren in der Nähe der Fenster noch störender. Zwei Fenster, die fast die ganze Fensterwand füllen, zwei Thüren nahe an den Fenstern: gäbe es wohl eine grössere Thorheit für unsere Wohnzimmer?

Im Palast war diese Anlage rationell, weil die Fensterwand nicht gebraucht wurde. Heute ist geradeswegs umgekehrt von der Benutzung des Fensterplatzes auszugehen. Die Thüren sollten möglichst weit vom Fenster entfernt liegen, denn beim Lesen und Arbeiten will man dem Fenster nahe sein und dort nicht durch die Aus- und Eingehenden gestört sein. Die dritte Ursache der verschwenderischen Ausbildung der Thüren in unseren Wohnräumen ist die fatale Rücksicht auf grosse Gesellschaften. Man macht sich das tägliche Leben zur Qual, um ein paarmal im Winter durch geöffnete Flügelthüren Grossräumigkeit heucheln zu können. Und was für Flügelthüren! Zwei Flügel gelten für sehr mässig, die Regel sind schon Faltthüren aus sechs Teilen, die eine ganze Wand einnehmen. Sind sie geschlossen, so ist mit den beiden Räumen, die sie verbinden, gar nichts anzufangen. Das Ungeheuer von Thür lässt nichts neben sich aufkommen. Sind sie offen, so nehmen sie ein gut Stück Wand in Anspruch. Die Flügelthüren sind für den Innenraum zum Ornament an sich geworden wie die Fenster für die Fassade. Mir sind Fälle bekannt, wo der Architekt majestätische, aber blinde Flügelthüren rein der Symmetrie halber als Schmuck angebracht hat. Sollte man nicht denken, das Zimmer müsste eigentlich in erster Linie für das Behagen des täglichen Aufenthaltes angelegt sein? Gehen wir von diesem Standpunkte aus, so genügt  e i n e  Thür in den allermeisten Fällen vollständig. E i n e  Thür weit vom Fenster entfernt und  e i n  Fenster mit hoher Fensterbank, das giebt den behaglichen Innenraum, den wir gar nicht mehr kennen. Wir brauchen nur das englische Haus anzusehen, um zu erkennen, dass sich's sehr wohl in solchen Räumen hausen lässt. Für das Wohnhaus kennt der Engländer im Princip das Ineinandergehen der Zimmer nicht. Das Wohnzimmer liegt für sich, zum Esszimmer muss man über den Korridor oder durch die Halle. Grosse Gesellschaften in solchem Hause zu geben, wäre unmöglich, wenn nicht die Halle - das Treppenhaus - als Wohnraum eingerichtet wäre. Für das tägliche Leben und für die intimere Geselligkeit hat diese Anordnung unendliche Annehmlichkeit. Eine Hamburger Familie, die sich in England nach dem Plane eines hamburgischen Architekten ein Haus hatte bauen lassen, bekam, wenn bei Gesellschaften alle Flügelthüren offen standen, von ihren Gästen jedesmal den verwunderten Ausruf zu hören: Wie prächtig - aber wie ungemütlich! Man ist dort eben daran gewöhnt, dass das Zimmer ein Gefühl der Abgeschlossenheit erweckt. In Amerika hat man in jüngster Zeit die aufschlagenden sperrigen Thürflügel, die wir durch die Einrichtung der Schiebethüren unschädlich zu machen suchen, ganz einfach weggelassen. Das ist jedenfalls rationell gehandelt, denn die Schiebethüren sind vom hygienischen Standpunkt aus mehr als bedenklich.

Häuser sind zum Bewohnen, nicht zum Besehen da, hat vor dreihundert Jahren Baco den Engländern zugerufen. Für unsere deutsche Architektur ist das immer noch kein Gemeinplatz geworden. Nur das Geschäftshaus, dieser neue Organismus, hat seine starken und unabweisbaren Bedürfnisse geltend zu machen gewusst. Im Monumentalbau wie im Privatbau herrscht die akademische Gedankenlosigkeit nach wie vor. Auch uns stände der Weg zu einer bewohnbaren Architektur noch offen, den die Engländer mit der künstlerischen Entwickelung der Baugedanken (nicht der Ornamente) ihrer alten bürgerlichen und ländlichen Architektur beschritten haben, wenn nur nicht die übermächtige Gewöhnung an eine verwerfliche Tradition und die ästhetische und praktische Bedürfnislosigkeit unseres Publikums jedes Bemühen lahm legte. Möchte es gelingen, Unzufriedenheit mit der Monotonie der Palastfenster und Misstrauen gegen die Schönheit der Flügelthüren in die Herzen zu säen! Das Ideal für ein behagliches Zimmer zum Wohnen ist ein Fenster - so gross wie möglich - und eine Thür - so klein wie möglich.


BÜRGERLICHE BAUKUNST

Wir Deutschen sind ein unpraktisches Volk. Wenn wir nach langem Ringen und auf manchen Umwegen ein Ziel erreichen, pflegt es eine geschlagene Stunde zu spät zu sein. Fast ein Jahrhundert lang haben wir gelassen zugesehen, wie der wertvollste alte Kunstbesitz aus Kirchen, Klöstern, Ratshäusern und alten Schlössern vom Handel in die ausländische Kulturwelt entführt wurde. Heute wird jedes wurmstichige Kruzifix, jeder morsche Grabstein im Reich inventarisiert, und wir beschränken uns nicht darauf, in den Hauptstädten das Allerbeste an noch erreichbaren Altsachen zu sammeln, sondern errichten fast in jeder Provinzialstadt kostbare Monumentalbauten, um allerlei Bodenrummel, dessen Wert zu dem des Museumsbaues in keinem Verhältnis steht, prunkhaft aufzustellen. Wo er dann als ewiges Vorbild die Begriffe verwirrt. Und während wir - zu spät - uns um die Rettung und Erhaltung von toten Dingen aus abgestorbenen Zeitaltern bemühen, die zum allergrössten Teil kaum den Historiker angehen, lassen wir die noch lebendigen und lebensfähigen Ausläufer einer jüngstvergangenen Kulturepoche zu Grunde richten. Überall studiert man das alte deutsche Bauernhaus und legt die Ergebnisse in dicken Bänden für den Gebrauch des Archäologen nieder. Hat man aber davon gehört, dass die Bauschulen, auf denen die Maurermeister gebildet werden, die die Bauernhäuser umbauen oder neu aufführen sollen, ihre Zöglinge anhalten, nach Möglichkeit die praktischen und künstlerischen Gedanken des alten Bauernhauses als Ausgangspunkt zu nehmen? Im Gegenteil, man füttert sie, wie der Augenschein lehrt, allerorten mit derselben zeitlosen Kunst. Und noch schlimmer steht es überall mit der bürgerlichen Baukunst. Jede Provinz besitzt aus dem vergangenen Jahrhundert, wenn nicht aus noch älterer Zeit, ihre eigenartigen künstlerischen Ausdrucksmittel für die Bedürfnisse des bürgerlichen Wohnhauses. Vor einem Jahrzehnt wiesen die kleineren Städte noch überall den einheitlichen Charakter einer gediegenen bodenwüchsigen Bauweise auf. Und heute erleben wir an allen Ecken und Enden, wie von den Bauschulen und Akademien ein unverantwortlich armseliger, unverständiger neuer Geschmack eindringt - wenn man es Geschmack nennen will -, das Vorhandene zerstört und an die Stelle einer gediegenen Tradition den charakterlosen Mischmasch unverstanden zusammengestohlener oder handwerksmässig aus einer spielerigen Technik entwickelter Formen setzt. In meiner engeren Heimat sehe ich das Unheil seit Jahren seinen Gang gehen. Was ist aus Blankenese geworden, dessen reiche einheimische Architektur alle Motive enthielt, aus denen ein verständiger Architekt das moderne bürgerliche Landhaus unserer Zeit hätte entwickeln können! Architekten und Maurermeister haben an Stelle der wundervollen, malerischen Fischer- und Schifferarchitektur die ödesten, plattesten Ausgeburten jeglicher Art von Akademismus gesetzt. Warum können die Engländer eine heimische Bauweise am Leben erhalten und weiterentwickeln nach den Bedürfnissen jedes neuen Geschlechtes, und warum können wir es nicht?

Bei uns wird beständig experimentiert. Ich weiss nicht, ob es in Norddeutschland eine Bauakademie oder Bauschule giebt, die nicht Architektur an sich lehrt, Antike, Gotik, Renaissance, sondern für den Hausbau auf die überall noch vorhandene Grundlage der heimischen bürgerlichen Bauweise hinleitet, ihre reichen, entwickelungsfähigen Kunstmittel betont, studiert und weiterzubilden versucht. Es steht zu fürchten, dass es wieder einmal zu spät ist , wenn unsere Theoretiker aus dem fernen Reich der Gotik und der Renaissance bis zu der uns zunächst liegenden Zeit vorgedrungen sind. Seit einer Reihe von Jahren habe ich die Zustände am Nordabhang des Harzes zu beobachten Gelegenheit gehabt. Sie liefern ein typisches Beispiel für das, was in ganz Norddeutschland geschieht und unterlassen wird. Vor allem bieten die beiden fast verschmolzenen Bergstädte Klausthal und Zellerfeld ein lebendiges Bild dessen, was noch vorhanden ist an altem, gesundem Leben, und was sich an öder Geschmacklosigkeit einzudrängen beginnt. Es ist ein lieblicher Fleck Erde, dessen Schönheit nicht den Ruhm hat, den sie verdient. Wer von Goslar aus das meilenweit sich dehnende Waldgebiet hinaufsteigt, kommt dicht vor Zellerfeld auf einen breiten Fussweg, der, fest und wohlgepflegt wie in einem Stadtpark, vom Spiegelthal aus durch den Fichtenwald bergan führt. Auch dieser Wald hat etwas Parkartiges. Der Wind streicht durch die schüttern über die Halden verteilten Bäume, und das Sonnenlicht dringt ungehindert überall bis zum Boden, wo es im dichten Unterholz die silberigen Rückseiten der Himbeerblätter aufleuchten lässt. Von der letzten Biegung aus sieht man die Fichtenstämme eine hohe grüne Masse überschneiden, ein paar Schritte, und man tritt wie durch eine Hausthür aus dem Walde auf die ungeheure, sanftansteigende Fläche der Zellerfelder Wiesen.

In leichter Wendung der Bewegung der Bodenfläche angeschmiegt, strebt der helle Weg auf die Höhe, wo die lichte Unendlichkeit des Himmelsraumes sich aufthut. Ein Kind könnte meinen, der Pfad führe direkt in den Himmel hinein. Luft und Licht spielen um diese Wiesenkuppe anders als in den Thälern oder auf den bewaldeten Bergen. Nicht zweimal habe ich dieselbe Stimmung angetroffen. Bei klarer Luft erscheint der Himmelsraum tiefer als anderswo. Weisse feste Wolken, die nahebei vorüberziehen, haben etwas von persönlichem Dasein. Man möchte sie grüssen. In pathetischer Plastik bauen sich die dunklen schweren Gewitterhimmel auf, wo sich ihre ganze Konstruktion überblicken lässt, und wenn ein durchsonnter Nebel die Riesenkuppe einhüllt, dehnen und strecken sich die Formen der Mäher und Heuwagen in phantastischem Schattenriss. Die Farbe aber wechselt auf dem Wiesengelände fast so oft und so stark, wie auf einer Wasserfläche. Morgens im Tau schimmert es bläulich, mittags dehnt es sich in tiefem Grün, beim Sonnenuntergang erscheint es wie von sattem Orange übergossen. Erst von der Bank auf der Kuppe aus sieht man die beiden Städte liegen. Zellerfeld breit gelagert den sanften Abhang hinab, Klausthal jenseits der Senkung, die der Zellbach durchfliesst, in langem Strassenzuge den Berg hinansteigend, den die Windmühle krönt. Der Ausblick ist sehr schön. Dicht zusammengedrängt liegen die Häuserreihen mit rotem Ziegel- oder schwarzem Schieferdach, vom dicken Grün der Baumkronen durchsetzt. Rings umher erstrecken sich die Wiesen über das sanfte Hügelgelände, das in der Ferne von blauen Waldhügeln eingeschlossen wird, Nach allen Seiten führen von dem Städtekomplex die dunklen Streifen der Alleen über das Wiesengelände. Auch diese Landschaft trägt bei jedem anderen Licht einen anderen Charakter. Bald ist sie tonig zu einer ruhigen Einheit gestimmt, bald treten die Wiesenflächen in leuchtendem Grün gegen ein starkes Blau der Waldberge heraus, während die Dächer mit scharfem Rot aus den Baummassen lugen. Ostwind und Westwind rufen hier so starke Gegensätze der Stimmung hervor, wie nur an der Nordseeküste: unter dem Westwind ist alles tonig und weich, der Ostwind bringt alle Farben stark und leuchtend heraus, aber ohne Härte.

Als ich den Weg zur Kuppe das erste Mal hinanstieg, war ich gespannt, ob in den beiden Bergstädten, den alten Kulturcentren der Umgebung, noch ein Rest einer alteinheimischen Architektur vorhanden sein, und wie sie sich zu dem Charakter dieser Landschaft verhalten möchte. Nach der Erfahrung in anderen Städten durfte ich erwarten, dass von Berlin aus der Cementbau mit abstrakten Fassaden und vielen schlechten Ornamenten in deutscher Renaissance und Rokoko, und von Hannover der Rohbau mit Ornamenten von gelben Ziegeln, mit Türmchen und Giebelchen und mit den kleinlichen Dächern in scheusslichem rotvioletten englischen Schiefer eingedrungen sei, von denen ein einziges imstande ist, das Antlitz einer ganzen Landschaft zu schänden. Von der Kuppe aus war nichts davon zu erkennen. Die Kirche von Zellerfeld ragte mit einem schlichten monumentalen Kupferdach über Dächern und Baumwipfeln empor, und ihr Dachreiter erhob sich darüber in so zierlicher Silhouette, wie sie sich bei Schieferdächern überhaupt nicht erreichen lässt. - Ich musste mich bei dem reizvollen Gebilde wieder einmal fragen: woher kommt die Vorliebe unserer Architektur für das Schieferdach? Sachverständige sagen aus, dass bei einem Monumentalbau das Kupferdach nicht wesentlich teurer ist, angesichts der Erhaltungskosten sogar billiger. Die Wiedereinführung des Kupferdaches wäre für die ganze Kirchenbaukunst eine Erlösung. Wer den Turm mit Kupfer bekleidet und nicht mit Schiefer deckt oder als Backsteinpyramide aufführt, muss zu einer edleren Ausbildung der Silhouette gelangen, und wer im Dach die eine grosse Masse der grünen Farbe des Kupfers hat, ist gezwungen, die Wand als ernste schlichte Masse dagegen zu setzen, mit einem Wort, auf Monumentalität auszugehen. Auch das Ziegeldach hat die Eigenschaft, nach Einfachheit und Ruhe auch in der Behandlung der Fassade zu drängen.

So eng verbunden, so verschieden sind die beiden Bergstädte in der Anlage und im Aufbau. Zellerfeld wirkt wie eine ganz moderne Stadt. Es ist in grosse, rechteckige Baublöcke geteilt, die sehr breiten Strassen sind mit Alleen von alten Bergahornbäumen eingefasst, die Häuser sind alle gross und palastartig. Das Centrum bildet die prächtige Kirche, die sich mit ihren Sandsteinquadern, ihrem Kupferdach und zierlichem Dachreiter von den Ziegeldächern und verschalten Wänden der Wohnhäuser als Monument abhebt. Inwendig ist sie sehr restauriert. Sie liegt der Länge nach zwischen dem weiträumigen, von Bäumen umgebenen Marktplatz und den sogenannten "Terrassen", dem alten Kirchhof, wie es scheint. Dieselbe eigenartige Disposition kommt in Klausthal wieder vor. Der moderne Charakter dieser Stadtanlage schreibt sich vom Wiederaufbau der Stadt nach dem furchtbaren Brande von 1672 her. Damals wurde das alte natürlich gewachsene Strassennetz aufgegeben und durch den regelmässigen Stadtplan ersetzt. Aber man wusste damals noch Städte zu bauen. Der Marktplatz mit seinen geschlossenen Wänden und den an den Seiten entlangführenden Strassen bezeugt es. Klausthal hat einen ganz verschiedenartigen Grundriss. Es steigt mit einer einzigen langen Strasse vom Zellbach den sanften breiten Hügel hinan und lagert sich oben und auf dem jenseitigen Abhang mit einem geräumigen Strassennetz um Kirche, Marktplatz und den ehemaligen Kirchhof. Aber die Strassen sind durchweg baumlos, die Wipfel, die man aus der Ferne die Häuserreihen begleiten sieht, ragen aus den Höfen auf. Älter als die Steinkirche von Zellerfeld ist die von Klausthal (erbaut 1642), in demselben Stil errichtet wie die Wohnhäuser. Man sieht von aussen nur die graugrün gestrichene Bretterverschalung unter dem grauen Schieferdach. Hohe Fenster in weissgestrichenen Rahmen machen die Fläche lebendig, Dachreiter und Turm, dicht hintereinander, krönen das Dach mit ihrer kräftigen Silhouette.

Was der Anblik der roten und schwärzlichen Dächer in den grünen Baumkuppen aus der Ferne versprach, hält die Behandlung der Häuserwände; in der That liegen in Klausthal und Zellerfeld die Daten einer sehr charakteristischen, mit reichen Mitteln ausgestatteten bürgerlichen Baukunst vor, die sich mit sehr feiner Empfindung dem Charakter der Landschaft einfügt.
Aber es ist der letzte Moment, eine Vorstellung von der alten Eigenart zu gewinnen. Überall lassen sich die ersten Spuren eines neuen Geschmackes erkennen, der sacht und scheinbar harmlos auftretend in wenigen Jahren das Alte bis auf die letzten Spuren beseitigt haben wird. Vieles ist schon verschwunden und kann nur noch durch den Rückschluss aus dem Zustande der Hinterhäuser und der Architektur verstreuter einzelner Höfe als ehemals auch im Strassenbau vorhanden erkannt werden. Das kommende Geschlecht wird, wenn nicht Einhalt geschieht, keine Ahnung mehr haben, wie schön die Städte einmal gewesen sind. Warum sollte es den einsamen Bergstädten schliesslich anders ergehen als so vielen anderen Städten und Städtchen in Norddeutschland? Wie heute die Dinge liegen, wüsste ich kein besseres Beispiel, zu studieren, wie die Umwandlung vor sich geht. Denn die Bewohner sind nicht reich. Ein praktisches Bedürfnis für den Umbau liegt selten vor, was geschieht, entsteht lediglich aus einer Veränderung des ästhetischen Bedürfnisses. Man will Neues und sucht es nicht in der Umwandlung und Ausbildung der vorhandenen, sondern durch den Import neuer Gedanken zu erreichen. Der heutige Zustand ist nicht so alt, wie es scheinen mag. Ziegeldach und Schieferdach sind erst durch den Einfluss der Versicherungsgesellschaften, also seit der Mitte unseres Jahrhunderts, an die Stelle des früher hier allgemein verbreiteten Schindeldaches getreten. Auch die regelmässige, auf das Vorbild des italienischen Palastes zurückgehende Verteilung gleich grosser einzelner Fenster ist wohl kaum älter als ein Jahrhundert. In der Zellerfelder Apotheke, die aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts stammt, sind die Fenster noch zu breiten Gruppen zusammengeschlossen, und an der Nordseite des Marktes steht nicht weit davon noch ein Haus, dessen Fensteranlage den älteren Typus vertritt, der nicht auf die äussere Regelmässigkeit der Fassade ausgeht, sondern auf die angemessene Beleuchtung der Innenräume. Breite nordische Fenster, die viel Licht einlassen, sitzen genau da, wo das Zimmer sie braucht. Eine Abbildung des Hauses würde uns heute den Eindruck eines ganz modernen englischen Wohnhauses machen, wie es sich im Anschluss an altenglische Vorbilder entwickelt hat. Wir müssen diese leider nur spärlichen Reste sehr sorgfältig beachten, denn sie geben uns die nationale Rückendeckung bei der Einführung einer praktischen bürgerlichen Bauweise, die mit der unseligen Tradition des italienischen Fassadenschemas bricht. Wären die geeigneten Formen bei uns nicht vorhanden, müssten wir uns die Ideen aus England holen. Es scheint noch nicht genügend bekannt zu sein, dass wir auf Grundlage unserer naiven älteren Baukunst ganz ähnliche Wege zu gehen berechtigt sind wie unsere praktischen Vettern, die mit der Theorie nicht so viel Federlesens machen wie wir und nicht so leicht von dem Glanz fremder Ideen geblendet werden.

In der Behandlung der Aussenwand lassen sich zwei Typen unterscheiden, die Einkleidung mit Holz und die mit Schiefer. Das unverkleidete Fachwerk, das sich in jüngster Zeit vordrängt - namentlich im Bergstädtchen Lautenthal -, scheint ursprünglich ganz unbekannt gewesen zu sein. Cementbewurf kommt nicht vor. Der Ziegelrohbau hannoverscher oder berlinischer Observanz bildet eine ganz seltene Ausnahme. Das Haus mit Holzverschalung überwiegt. Es ist in der Regel mit roten Ziegeln gedeckt, seltener mit Schiefer. Früher scheinen die Bretter der Holzverschalung in einem grünlichen oder gelblichen Ton gestrichen worden zu sein. In dieser grünlichen oder gelblichen Wand, die sehr feinfühlig zu dem roten Dach gestimmt war, standen bis vor kurzem die Fensterrahmen weiss und die Fensterläden und die Thüren ochsenblutfarben, auch wohl dunkelgrün oder blaugrün. Ganz ähnlich wurde das in schwarze oder graue Schieferplatten gekleidete Haus behandelt. Bei den älteren pflegen die Schieferplatten der Wände dicker und derber gebrochen zu sein, mehr alla rustica, bei den jüngeren sind sie glatter bearbeitet, was nicht so malerisch mehr wirkt, und hier wird oft eine bunte Ornamentik ausgebildet, die an Leder- oder Fellmosaik erinnert. Doch finden sich die reicher ausgebildeten Typen dieses Stiles nicht sowohl in den Bergstädten wie in dem nahen Goslar. Bei den älteren Häusern wurde in der Regel ein schwärzlicher Schiefer gewählt, der aber nicht die sammetartige Tiefe hat wie in Bamberg und Umgebung. Neuerdings scheint man den grauen Schiefer zu bevorzugen. Auch bei der Schieferbekleidung sind die Fensterrahmen weissgestrichen, und die Läden und Hausthüren standen wohl einst in einem passenden Grün dagegen. Zuweilen erhebt sich über den dunklen Schieferwänden ein leuchtend rotes Ziegeldach.

Dieser farbige Aufbau ohne ornamentale Formen bleibt durch alle Stilwandlungen hindurch wesentlich derselbe. In den Harzer Bergstädten spricht sich auf den Thüren allein die Freude an ornamentalem Schmuck aus. Und an dieser Stelle konnte die Phantasie sich ausgeben, ohne dass die Monumentalität des Gesamteindruckes darunter zu Schaden gekommen wäre. Denn der grüne oder ochsenblutfarbene Gesamtton gab die einheitliche Wirkung in die Ferne, und der Reichtum des Details enthüllte sich erst dem Eintretenden. Keinem Teil des Hauses kommt man so nahe wie der Thür. Es ist ein Vergnügen, zu beobachten, wie reich vom ausklingenden Barock her die Thüren der Bergstädte alle Motive der Zeitstile abwandeln. Die ältesten tragen einen Schmuck, der noch an die starke Blumenfreude des siebzehnten Jahrhunderts erinnert. So steht in Wildemann ein Haus, dessen Thürflügel mit Nelkenstöcken geziert sind. Dann folgt das Muschelwerk des Rokoko, die Urne des Zopfstiles und die Leier des Klassicismus. Griffe und Thürklopfer standen in blankem Messing als prächtige Flecke auf dem grünen Anstrich. Ebenso mannigfaltig wird das weissgestrichene Gitterwerk des Oberlichtes abgewandelt. Auch dieses verrät überall den Zeitstil. Hier und da trägt es als Mittelstück die Laterne, die ihr Licht zugleich dem Innenraum der Diele und der Haustreppe spendete. Als besonderer Schmuck der Fassade kommt das Blumengitter vor den Schiebefenstern hinzu. Am vielseitigsten ist es im Bergstädtchen Grund entwickelt. Es ist geradezu erstaunlich, in wieviel Motiven dort das einfache Gitterwerk umgeformt wird. Meistens wird es grün gestrichen, gelegentlich mit weissen oder roten Köpfen. Wie reizvoll dieser einfache Schmuck sich einfügt, wie stark er vor den weissgestrichenen Fensterrahmen mit den grünen Blättern und roten Blüten der Geranien wirkt, kann man nur an Ort und Stelle empfinden. Wenn bei einem Häuschen ohne Stockwerk aus dem mächtigen roten Ziegeldach ein Erker mit weissgestrichenem Fensterrahmen vorspringt, der unten durch das grüne Blumengitter mit seiner Fülle roter Geranien abgeschlossen ist, so macht das mehr aus als jede denkbare plastische Verzierung. Darin besteht überhaupt die schlichte Schönheit dieser Bauweise, dass alles auf eine Anwendung der Farbe in grossem Stil gegründet ist. Wo Farbe so angewandt wird, kommt keinerlei Form dagegen auf.

Am stärksten wirken die weissgestrichenen Fensterrahmen. Das Motiv zeugt von grosser Feinheit der Empfindung. Wo es einmal da ist, kann man sich gar nicht vorstellen, wie die tiefe Dunkelheit, die die Fensteröffnung bildet, in eine schwarze Schieferwand, in eine rote Ziegelmauer oder in eine gelbe oder grüne Holzverkleidung feinfühliger eingefügt werden kann als durch die weisse Umrahmung. Man denkt an orientalische Teppiche, wo jeder Farbenfleck durch eine weisse oder schwarze Linie eingesäumt ist. Wir haben hier die letzten Reste einer in grossem Sinne koloristischen Architektur vor uns und können uns eben noch ein Bild ihrer Wirkung machen. Es waren genau dieselben Principien, die vor einem Menschenalter überall in den kleinen Städten Norddeutschlands herrschten und die im letzten Grunde wohl aus Holland oder Belgien stammen. Ihr Wesen besteht in der Farbigkeit der Bauglieder, nicht in der Aufmalung von Ornamenten. Formen kommen nur an der Thür und ihrem Oberlicht vor. In seltenen Fällen, wie bei dem Holzpalazzo der Zellerfelder Apotheke, als Masken an den Balkenköpfen. Und das ist ein Ausklang der älteren Zeit.

Es ist nun sehr lehrreich, zu beobachten, wie diese herrliche alte Bauweise, die sich der Landschaft so wundervoll einfügt, vernichtet wird, ohne dass man ein Haus einreisst. Zuerst wird vorsichtig die Farbigkeit beseitigt. Gegenwärtig steht die alte Gewöhnung der Einwohner offenbar im Kampf mit der Tendenz der Anstreicher, die mit fortschrittlichen Ideen von der Schule kommen. Noch sind die Fensterrahmen weiss und die Blumengitter grün. Aber die ehemals gelblich oder grünlich gestrichenen Wände, die ehemals rotbraun oder grün gestrichenen Hausthüren und Fensterläden tragen schon einen Anstrich in Steinfarben, die Thüren sind hier und da sogar schon holzfarben gestrichen, was zu den blanken Messinggriffen und den weissen Oberlichtern sehr schlecht passt. Fast noch schlimmer sieht es aus, wenn die Füllungen oder die Ornamente in einem helleren Ton abgesetzt sind. Wo man von den alten Schiebefenstern zum modernen System der aufschlagenden Fensterflügel übergegangen ist, pflegt das Holzwerk lasiert im Naturton stehen zu bleiben, oder man streicht es holzfarben an. Es lässt sich gar nicht sagen, wie furchtbar so ein "modernisiertes" Haus neben einem benachbarten wirkt, das der alten Weise der weissgestrichenen Fensterrahmen treu geblieben ist. Das modernisierte Haus sieht wie gestorben aus, denn in geringer Entfernung sprechen die trübseligen Töne der Fensterrahmen gar nicht mehr mit, und die Dunkelheit des Fensters sitzt brutal in der Wandfläche. In Zellerfeld ist eine Strassenperspektive durch ein Haus abgeschlossen, das mit weissen Fensterrahmen lieblich aus dem Schatten prächtiger alter Bäume hervorleuchtet. Wenn sie erst holzfarben gestrichen sind, wird all dieser Reiz dahin sein. Auch der Blumenschmuck wirkt nur hinter den weissen Rahmen. Doch ist das nur der Anfang. Das alte Fenster liess den Gedanken an eine Verzierung durch ornamentale Formen gar nicht aufkommen. Sowie es holzfarben gestrichen wird, stellt sich das Bedürfnis ein, es mit Ornamenten zu umkleiden. Man setzt ihm an den oberen Ecken eine Art Verkröpfung an, oder es wird unter der Fensterbank ein lambrequinartig ausgeschnittenes Brett aufgenagelt. Damit ist die alte monumentale Wirkung aufgehoben, diese spielenden Formen machen alles klein und winzig. Es geht genau wie bei der grossstädtischen Architektur, die das Fenster mit Säulchen und Giebelchen zu einer Art Tabernakel macht, seit sie nicht mehr versteht, es durch Farbe gegen die Wand abzugrenzen. Man sieht, wie wenig dazu gehört, um den alten Charakter zu vernichten. Noch zehn Jahre, und die letzte Spur ist dahin. Das Herz thut einem weh, wenn man das mitansehen muss. Eine vornehme, schlichte bürgerliche Architektur wird durch die blödsinnigste Verzierungswut und die Verirrung des Farbengefühles ausgerottet. Und diese alte Architektur enthält alle Elemente, die zu einer modernen künstlerischen Entwickelung des Bürgerhauses nötig wären. Die kleinste alte Hütte wirkt monumentaler als irgend ein überladener grossstädtischer Prachtbau in deutscher Renaissance oder Barock.

Auch einzelne Neubauten kommen schon in Betracht. Es ist schlimm, dass Staatsbauten, wie die Reichspost in Zellerfeld, die eben fertiggestellt ist, mit ihren gotisierenden Giebeln und den schematischen, handtuchförmigen Fenstern in "naturfarben" gestrichenem Holzwerk ein so verderbliches Beispiel giebt. Was für Unheil und Verwirrung ein einziger Bau anrichten kann! Aber immerhin muss anerkannt werden, dass dies Postgebäude sich mit seiner Holzverschalung noch der ortsüblichen Bauweise anpasst. Bedenklicher ist das Wohnhaus eines Maurermeisters, das sich im Rohbau berlinischer Tendenz zwischen den beiden Städten am Zellbach erhebt. Ein aus gediegenem Material aufgeführter Kasten, der mit seiner akademischen Fensterbildung und dem Verzicht auf Farbe als ungeheure Geschmacklosigkeit in der reizvollen koloristischen Architektur der kleinen Häuser seiner Umgebung steht. Aber es wird hier wie überall gehen: die Besitzer der kleinen Häuser werden den ungefügen Block für gut halten, und wer einen Neubau plant, wird sich solch ein Haus wünschen. Wären aber die beiden Städte ganz in diesem Stil errichtet, so müssten Künstler und Kunstfreunde durch Warnungstafeln im weiten Umkreis vor dem Betreten der Stätte gewarnt werden. Der Erbauer handelt in gutem Glauben, er bringt zur Anwendung, was er auf der Bauschule gelernt hat. Nicht er, die Schule ist für das Unglück verantwortlich. Auch die deutsche Renaissance spukt schon vor. Ein Schlächtermeister hat sich als Ladeneingang ein Triumphthor an das Haus kleben lassen mit reichornamentierten Säulen und einem Giebelfeld, in dem zwei Waldschnepfen an einer Weintraube naschen. Nicht lange, so wird es der Traum jedes Bergmannes werden, durch solch' ein geschmücktes Portal in sein Haus zu treten, das viele sehr schmale Fenster mit Stucksäulen und Gebälk, einen Turm mit Zwiebelkuppel und ein reichgegliedertes Dach mit vielen Erkern haben muss. Dies ist keine müssige Phantasie: sobald die beiden Bergstädte, was bevorzustehen scheint, Winterkurorte werden, wird jeder so bauen können.

Vielleicht ist noch die Hauptsache zu retten, vielleicht sogar Verlorenes zurückzugewinnen, wenn von der richtigen Stelle aus gearbeitet wird. Es ist Sache des Landrates von Zellerfeld, der bereits ein Lokalmuseum gegründet hat, der Pastoren und Lehrer, denen die Bildung der Einwohner anvertraut ist, ihnen klar zu machen, welch kostbaren Besitz sie aufgeben, wenn sie sich von den Maurer- und Malermeistern verleiten lassen, den verderblichen Geschmack aufzunehmen, der von den Schulen mitgebracht wird. Lehrer und Pastoren sind vor allen berufen. Denn mit dem einfachen koloristischen Hause, das sein Bewohner durch eigenhändige Erneuerung des Anstriches selber frisch und freundlich zu halten imstande ist, schwindet der letzte Rest künstlerischer Kultur, schwindet die Freude am Hause und an der so wichtigen Blumenzucht, die hinter holzfarben gestrichenen Fensterrahmen erfahrungsgemäss zurückgeht, schwindet auch ein Stück Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit der Lebensführung. Mögen die Seelenhirten ihres Amtes walten!

Doch liegen die letzten Ursachen des Übels nicht in lokalen Zuständen, sondern an der Erziehung, die unsere Architekten an den Hochschulen, unsere Bauhandwerker an den Baugewerk- und Malerschulen erhalten. Offenbar fehlt es überall an der Überzeugung, dass es für die bürgerliche Architektur nicht auf die ornamentale Form - einerlei, ob sie dem hannoverschen Backsteinbau oder einem der in Berlin gepflegten historischen Stile vom Flamboyant bis zum Rokoko angehört - sondern auf die Farbe ankommt. Möge dem kommenden Geschlecht von Architekten und Bauhandwerkern deshalb vor allem eine gediegene Erziehung des Farbengefühles zu teil werden. Ist die Vorliebe für Steingrau, für den holzfarbenen Anstrich, für die Lasur des Holzes im Baugewerbe überwunden, so wird die Verwendung des albernen aufgewärmten plastischen Ornamentes von selber verschwinden. Sowie der weissgestrichene Fensterrahmen und die grüne Thür wieder da sind, muss aller überflüssige plastische Schmuck fallen und damit die Zwangsjacke der modernen Fassade, die die Wiedereinführung des breiten nordischen Fensters verhindert. Erst auf der Grundlage dieser koloristischen Tendenzen wird es möglich sein, eine bürgerliche Baukunst zu entwickeln, die keine Karikatur ist und selbst bei den geringsten Dimensionen die Monumentalität besitzt, die heute auch den massigsten Bauwerken so oft abgeht. Noch ist in den kleinen Städten und Dörfern im ganzen Norden das Material vorhanden, um das Wesen des koloristischen bürgerlichen Baustiles kennen und empfinden zu lernen. Aber es ist schon die höchste Zeit, wenn wir nicht wieder einmal zu spät kommen wollen.


REALISTISCHE ARCHITEKTUR

Was hat den Bazar Wertheim, der gegen Weihnacht 1897 in der Leipziger Strasse eröffnet wurde, zum populärsten Privatbau Berlins gemacht und dem Namen seines Erbauers  A l f r e d  M e s s e l  einen so hellen Klang verliehen, als hätte er ein Zugstück fürs Deutsche Theater geschrieben? Selbst das äusserlich weit pomphafter auftretende Gebäude der Equitable an der Ecke der Friedrichstrasse hatte es seinerzeit zu keinem ähnlichen Aufsehen gebracht. Nur Fachkreise sprachen davon, das Publikum blieb ganz ungerührt, die Presse nahm kaum Notiz. Eine populäre Wirkung der Architektur sind wir kaum noch gewohnt, und es hält gar nicht so leicht, bei Messels wichtigem Bau die Ursache des volkstümlichen Erfolges zu finden. Wenige von denen, die aus allen Ecken und Enden Berlins herbeiströmten, werden sich bewusst gewesen sein, dass in der ganz schlichten, gotisierenden Fassade ohne Säulen, Pilaster, Karyatiden und Gebälk die letzte Konsequenz aus einer langen Reihe von Versuchen gezogen war, die bis auf Kaiser und von Grossheims Germania an der Ecke der Friedrichsstrasse und der Französischen Strasse zurückgehen. Hier trat, soweit ich mich besinnen kann, zum erstenmal der Typus des modernen Geschäftshauses in die Erscheinung, wenn auch nur für das Erdgeschoss und den ersten Stock, wo die Wände durch grosse Glasscheiben ersetzt waren. Aber noch war die ganze Fassade mit dem bekannten Schema dekorativer Architektur übersponnen, das auch die weitere Entwickelung des Typus in Berlin nicht aufgab. Wer bei Nacht, wenn die Häuser nur von den Strassenlaternen beleuchtet werden, durch die Leipziger Strasse geht, sieht in Schäfers Equitable an der Ecke der Leipziger- und Friedrichsstrasse das Schema der Glaswände bis zum letzten Stock entwickelt, und er fühlt, da er architektonische Details nicht mehr wahrnimmt, eine enge Verwandtschaft mit Messels Bau. Bei Tage sieht er, dass der Gotiker Schäfer seine Konstruktion in die landläufigen Renaissanceformen gekleidet hat. Messel selber hat am Werderschen Markt vor zehn Jahren die grossen Geschäftshäuser, die sich auf dem Grund der Alten Münze und des schönen Fürstenhauses erheben, sehr eigenartig mit Verzicht auf tragende Eisenkonstruktion in der Fassade errichtet. Aber erst im Bazar Wertheim wagt er, die stützenden Steinpfeiler nach Art gotischer Dienste in gerader Linie durch alle Stockwerke bis zum Dach hinaufzuführen, statt, wie bisher üblich, vier Pfeiler mit Basis und Kapitell, von Gebälk durchquert, übereinander zu stellen. Dass er statt gotischer Fialen Obelisken aufs Dach stellt, fällt dabei gar nicht auf, denn nirgend hat er sich durch gotisches Detail die Hände gebunden.

Auch diese stilistische Ungeniertheit, die ein gotisches Gerüst mit Barockformen schmückt, wird dem Berliner nicht als etwas besonders Auffallendes gegenübertreten. Denn in den letzten Jahren hat der zum Teil aus der Gotik herauswachsende Stil Wallots und seiner Nachahmer ihn daran gewöhnt, dass der Architekt Stilreinheit nicht mehr ängstlich nimmt. Und wie wenigen mögen dergleichen Finessen überhaupt zum Bewusstsein kommen? Es muss schon die selbst dem blöden Auge sich aufdrängende Eigenart des schlichten Werkes gewesen sein, das so absolut anders aussieht als alle anderen Häuser in Berlin, und das gerade durch den Verzicht auf das gewohnte Detail auch auf den Uneingeweihten wie die erste Fanfare der Ouverture eines neuen Aktes wirkt. Und sicher hat auch der Laie das Gefühl gehabt, dass ein neuer Bauorganismus entstanden ist, in dem sich ruhig und fest der Wille ausspricht, eine realistische Architektur zu schaffen, und es mag ihm, wenn er nachher andere Bauten betrachtet hat, zum erstenmal eine Ahnung davon aufgegangen sein, dass Architektur nicht bloss und nicht in erster Linie Säule, Gebälk und Ornament ist. Hat er dann auch das Innere auf sich wirken lassen, so wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen, und er wird sich fragen, ob denn in den übrigen Staats- und Privatbauten, die er kennt, das Bedürfnis so klar und einfach und konsequent befriedigt ist, wie hier. Seit dieser Bau dasteht, hat auch der Laie für die Betrachtung der modernen deutschen Architektur einen neuen Standpunkt gewonnen.

Malerei, Plastik, Litteratur haben eine Epoche des Realismus hinter sich, und nach langen Kämpfen ist man darüber einig, dass es ein notwendiger Durchgangsprozess war. Die deutsche Architektur steckt noch bis über die Ohren in der Romantik und im Akademismus. Kleine Wohnhäuser müssen Türme, Giebel, Erker, Mansarden und eine Überfülle an plastischem Schmuck haben. Niemand steigt auf den Turm, denn es ist dort gar nichts zu sehen, und bewohnbar ist er auch nicht. Niemand sitzt im Erker, denn man kann sich nicht darin umdrehen. Niemand sieht die Ornamente an, denn der Frost würde ihn schütteln. Ebenso pflegt nach akademischer Tradition bei Monumentalbauten die Fassade als Hauptsache aufgefasst zu werden. Das Leben mag sehen, wie es dahinter fertig wird. Die Architektur ist fast ebensosehr vom Leben losgelöst wie die Malerei und Plastik, die nicht mehr gewohnt sind, mit Rücksicht auf Gestalt und Beleuchtung bestimmter Räume zu schaffen, sondern für die Wirkung im Abstractum Ausstellung oder Galerie. Eine grosse deutsche Stadt besitzt eine sehr schlechte Sammlung lokalgeschichtlicher Altertümer. Es wird der Wunsch laut, ein monumentales Museumsgebäude dafür zu errichten. Da die Mittel vorhanden sind, finden sich im Stadtrat warme Freunde des Projektes. Erst im letzten Moment erhebt sich Opposition. Die Sammlung sei doch gar zu schlecht, es sei lächerlich, einen Prachtbau dafür aufzuführen. Die Verteidiger des Projektes geben alles zu, aber sie plädieren doch, man solle nur bauen, nachher könnte man ja mit dem Gebäude immer noch machen, was man wolle. Ein Faktum, keine Fabel. Aber eine herbe Moral steckt doch darin: das Publikum hat kein Gefühl mehr dafür, dass das Haus nicht nur aus der, beliebigen Hohlräumen vorgelegten Fassade besteht, sondern ein Organismus ist, der ein ganz bestimmtes Bedürfnis ausdrückt und von innen nach aussen entwickelt werden sollte, statt, wie es fast die Regel zu sein scheint, von aussen nach innen oder, was noch schlimmer ist, aussen für sich und innen für sich.

Es ist nichts als Romantik, von aussen anzufangen: man scheut sich, entschieden auf den Boden der eigenen Zeit zu treten und vom Bedürfnis ausgehen. Nur, wo der Bauherr ganz genau weiss, was er haben will, und wo er imstande ist, sich aus den Plänen ein Bild des fertigen Gebäudes zu machen, entstehen Gebilde, die eine Seite unserer Kultur ausdrücken, wie unter anderem die grossen Bazare und der für Deutschland neue Typus der Hamburger Kontorhäuser, der sogenannten "Höfe". Sehr selten wird ein Staatsbau so straff aus dem wirklichen Bedürfnis entwickelt, wie der Bazar Wertheim. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass die Architekten in der jüngsten Zeit mehr als früher auf die praktische Gestaltung des Inneren ausgehen. Aber dieses löbliche Streben bleibt einseitig, wenn nicht auch alle, die für sich selber oder als Organe des Staates in die Lage kommen, Bauherr zu sein, sich ernstlich mit den grundlegenden Fragen des architektonischen Schaffens befassen. Von denen, die in den Kommissionen über öffentliche Bauten zu entscheiden haben, müssen wir sehr energisch verlangen, dass sie sich genau um die Dinge kümmern, die sie für uns vertreten sollen, und sich des Ernstes ihrer Verantwortlichkeit bewusst werden. Beim besten Willen kann der Architekt nicht so genau das Bedürfnis kennen wie der Bauherr. Wie weit wir noch davon entfernt sind, dass im öffentlichen und bürgerlichen Bauwesen der Auftraggeber mitarbeitet, ist nicht so bekannt, wie es wünschenswert wäre. Es sei ausdrücklich betont, dass die Beispiele, die ich anführen will, nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern einzeln namhaft gemacht werden können.

Es soll ein Neubau monumentalen Charakters errichtet werden. Ein Architekt, der zur Behörde Beziehungen hat, entwirft die Pläne. Die Fassade gefällt der Auftraggeberin ausnehmend, und der Entwurf wird zur Ausführung angenommen. In der Behörde war aber niemand, der sich aus dem Grundriss recht zu vernehmen weiss, und als der Bau unter Dach ist und von denen, die ihn benutzen sollen, besichtigt wird, stellt sich heraus, dass er absolut nicht zu brauchen ist. Die Fortführung wird unterbrochen, ein zweiter Architekt, den man nach langen Verhandlungen zu gewinnen glücklich genug ist, gestaltet das ganze Innere und, was sich nicht vermeiden lässt, auch die Fassade um. Es kommt auf diese Weise etwas ziemlich Brauchbares noch zustande, denn die Behörde vermochte in dem Wirrsal des ausgeführten Werkes die unerträglichen Mängel zu bezeichnen, die sie in den Rissen und Plänen nicht erkannt hatte. Sie war in der romantischen Idee befangen gewesen, dass die hübsche Fassade schon Architektur wäre. Der Privatmann, der an den Plänen seines Architekten so wenig Kritik geübt hätte, wäre bei solchem Ausfall wohl in der Regel ruiniert gewesen.

Eine protestantische Gemeinde will eine Kirche bauen. Die Mittel sind nicht reichlich, aber für die Erfüllung aller praktischen Bedürfnisse durchaus genügend. In der Konkurrenz trägt ein Gotiker den Sieg davon. Denn dass eine moderne protestantische Kirche im gotischen Stil zu erbauen ist, gehört selbst in Städten wie Hamburg, die aus dem vergangenen Jahrhundert die herrlichsten Typen wirklich protestantischer Gotteshäuser besitzt, zu den Dogmen des romantischen Baugefühls. Wir haben gar nicht das Bewusstsein, dass die protestantische Kirche ein von der katholischen gänzlich verschiedener Organismus ist. Die Franzosen wissen es, ihr Sprachgebrauch nennt die protestantische Kirche temple. Vom Standpunkt realistischer Baugesinnung ist nun freilich der Stil Nebensache. Aber nicht Nebensache ist ihr, wie mit der Bausumme die Bedürfnisse einer modernen protestantischen Gemeinde befriedigt werden. Sie braucht heute nicht nur die Predigthalle, in der sich alle Sonntage die Gemeinde versammelt und die zu allen anderen Zeiten unter strengem Verschluss gehalten wird, sondern auch Räume für die Gemeindepflege, eine Art geistlichen Klubhauses mit kleineren Versammlungssälen, Küche und allen Nebenräumen. Ein solches Bedürfnis kannte die protestantische Kirche im achtzehnten Jahrhundert nicht, da sie im Alleinbesitz des Einflusses war und nicht zu kämpfen oder höchstens von der Kanzel herab gegen den Unglauben und die Gleichgültigkeit zu Felde zu ziehen brauchte. Wenn aber heute die Gemeinde gedeihen soll, so reicht der sonntägliche Gottesdienst nicht aus. Das Gemeindehaus müsste bei jedem Neubau als notwendige Ergänzung zur Kirche von vornherein in Anschlag und womöglich mit in den Organismus einbezogen werden. Ein Vorbild dafür bietet schon unsere grosse Michaeliskirche, deren Sitzungssäle neben dem Altar durch Hochziehen der Schiebefenster sich als Logen nach dem grossen allgemeinen Kirchenraum öffnen. Aber für das Gemeindehaus pflegen die Mittel nicht zu langen, denn die Kirche muss einen Turm haben, und zwar einen möglichst hohen Turm.

Dieser Turm ist für eine moderne Kirche durchaus nicht so notwendig wie das Gemeindehaus. Dass er mit seiner starken Betonung des Kirchenbaues als Thatsache einen gewissen zusammenhaltenden Einfluss auf die Gemeinde üben kann, soll nicht bestritten werden. Aber er spielt in einer modernen Vorstadt weitaus nicht die Rolle wie bei der Hauptkirche eines alten städtischen Kirchspiels oder auf dem Lande. In der Silhouette der Stadt kommt er nur ausnahmsweise zur Geltung. Das Geläut ist im Strassenlärm kaum über die nächsten Häuserblöcke weg zu hören. Wenn die Mittel vorhanden sind, wird niemand gegen den Turmbau etwas einzuwenden haben. Aber das ist leider fast nie der Fall, und so muss dann die Geräumigkeit und Bequemlichkeit der Predigtkirche, so muss das Gemeindehaus zurückstehen. Es scheint niemand daran zu denken, dass man für die vorhandene Summe zunächst dem Bedürfnisse genügen, den Ausbau des Turmes einer späteren Zeit überlassen könnte, wie das ehemals üblich war. Man will heute immer alles gleich fertig haben. Auch das ist ein Stück unrealistischer, romantischer Gesinnung. Weitaus die Mehrzahl der Gemeindemitglieder dürfte sich für den Turm viel mehr interessieren als für alles, was sonst noch zur Kirche gehört. Ist es doch vorgekommen, dass bei der öffentlichen Sammlung für den Bau des Turmes einer protestantischen Kirche die Beihilfe von Israeliten angeboten und ohne Bedenken angenommen wurde, gewiss ein schlagendes Beispiel romantischer Baugesinnung. Auch spielen - immer auf dem Hintergrunde romantischer Empfindung - die materiellen Interessen der Hausbesitzer hinein. Ein Turm hebt die Gegend, somit den Wert des Grundbesitzes. Wie bei der Einrichtung unserer Predigtkirchen sich das Bedürfnis des Protestantismus durch das Schema der katholischen Kirche verkümmern lassen muss, haben wir hundertfach beklagen müssen. Auch gerade in Hamburg, wo wir doch im vergangenen Jahrhundert den schönsten und zweckmässigsten Typus der protestantischen Kirche entwickelt haben. Alles Romantik! - Doch scheint hier endlich Wandel geschaffen zu werden. Die Prediger beginnen zu revoltieren. Eine wirklich realistisch gesonnene Baukunst, die vom Bedürfnis ausgeht, hätte vielleicht keine zwei Prozent der seit einigen Jahrzehnten errichteten protestantischen Kirchen aufgeführt.

Eine alte Reichsstadt baut sich ein Museum, das im Erdgeschoss und im ersten Stock ihre umfangreichen kunstgewerblichen und kulturgeschichtlichen Sammlungen aufnehmen soll. Es versteht sich von selbst, dass dafür eine Reihe von einzelnen Räumen nötig ist, und dass sie in ihren Abmessungen ungefähr den Zimmern und Sälen zu entsprechen haben, aus denen die Möbel und Geräte stammen. Vor allem braucht man sehr viel Wandfläche, um die Schränke, Stühle und Truhen aufzustellen. Der Architekt, ein Gotiker, dessen Phantasie sich mit Wänden nicht gern befasst, baut zwei ungeheuer ausgedehnte niedrige Hallen übereinander mit gewölbten Decken, deren Kappen der Besucher mit der Hand erreichen kann, mit schmalen niedrigen Fenstern, die so weit auseinander stehen, dass die Rückseite der Halle dunkel bleibt, und ganz ohne Wände. Solche Räume hat es nie und nirgend gegeben. Es ist Architektur an sich, und es ist Architektur nur so lange, wie es nicht benutzt wird. Als nun das Museum einzieht, dessen Verwaltung nach ihren Bedürfnissen nicht gefragt oder sich vielleicht selber nicht klar darüber geworden war, findet sie keine Möglichkeit, ihre Sammlung aufzustellen. Grössere Möbel, die für das Produktionsgebiet besonders charakteristisch sind, kann sie überhaupt nicht unterbringen, und alle Kunst des Arrangements ist vergeblich, weil keine Wände da sind. Die Sammlungen wirken, als sei alles nur aus der Hand gestellt, unruhig, bunt durcheinander, schlecht beleuchtet, hier und da ganz in Dunkel gehüllt. Und es bleibt nun so für ein Stück Ewigkeit. Dies ist keine müssige Erfindung. Ja, es ist fast ein Typus. Als eins unserer grössten Gewerbemuseen bezogen werden sollte, mussten in den Räumen, die die Möbel aufnehmen sollten, erst Wände zwischen die Pfeiler gespannt werden, denn das Erdgeschoss war eine riesige Halle, und in ihren ungeheuren Abmessungen verloren die für Zimmer und Säle berechneten Möbel alle Proportion. Man hätte ebensogut eine Rokokokommode in den Kölner Dom stellen können. Ähnlich liegen die Dinge hier und da auch in ausländischen Museen.

Ein kolossaler Museumsbau mit sehr berühmter Fassade. Erdgeschoss, zwei Stockwerke darüber in italienischer Renaissance. Überaus stattlich, heiter, wenn auch nicht eigentlich monumental. Es ist etwas Kleines darin, trotz der riesenhaften Dimensionen. Wer sich mit der Anlage und Beleuchtung von Innenräumen beschäftigt hat, wird vor der Fensterverteilung einen gelinden Schreck bekommen. Hohe Palastfenster im Erdgeschoss und im ersten Stock, darüber in korrespondierender Regelmässigkeit angeordnet die niedrigen Fenster des zweiten Geschosses, der Attika. Aber wie breit sind stellenweise die Zwischenwände, viel zu breit, als dass nicht sehr tiefe dunkle Ecken entstehen müssten. Das Erdgeschoss enthält sehr tiefe Säle, ihre Beleuchtung ist nicht schlechter als in unseren Wohnzimmern. Nur dass hier und da - den rhythmisch verteilten ruhigen Flächen in der Fassade entsprechend - vom Fenster bis zur Seitenwand fünfundzwanzig Fuss zu messen sind. Ecken von fünfundzwanzig Fuss in Räumen, wo allerlei Kostbarkeiten besehen werden sollen. Die quadratischen Säle in den Eckrisaliten haben natürlich grosse Fenster an den beiden Aussenwänden. Das Licht kreuzt sich, man sieht nirgend ungestört. Eins der Fenster ist nur für die Fassade da, der Saal braucht es nicht. Um diese Räume notdürftig auszunutzen, musste man eine Wand in der Diagonale durchlegen. Man stelle sich die Wirkung vor! Zwei dreieckige Räume mit sehr tiefen Ecken und der Lichtquelle in der Mitte der einen von den drei Wänden! Vier solche grosse schönen Säle sind der Fassade in jedem Stock geopfert, also zwölf im ganzen Hause. Doch das fällt schon gar nicht mehr auf. Noch viele andere freistehende Museumsbauten haben vier solcher toten Räume in jedem Stockwerk. Der erste Stock hat Fenster derselben Dimensionen wie das Erdgeschoss. Aber sie beleuchten keine Säle, sondern eine endlose Reihe ganz flacher Kabinette, die, um gutes Licht zu haben, ganz andere Fensteröffnungen brauchten. Hinter der Reihe von Kabinetten liegen die grossen, durch zwei Geschosse gehenden Oberlichtsäle. Kann die akademische Nichtachtung des Bedürfnisses weiter getrieben werden als mit dieser Fensteranlage? - Allerdings. Im zweiten Stock derselbe Kranz von Kabinetten rund um das Gebäude. Wenn man die Treppe hinaufsteigt, sagt man sich, hier findet man möglicherweise gute Beleuchtung, denn die Fenster der Attika sind nicht hoch und sehr breit. Aber die Tyrannei der Fassade will es anders. Die Fenster beginnen dicht über dem Boden, und mit der Hand lässt sich ihr oberes Ende erreichen. Man erhält das blendende Licht von unten in die Augen. Die oberen zwei Drittel der Räume sind dunkel. In den sehr grossen Eckräumen, wo sich das Licht kreuzt, entsteht eine Beleuchtung, deren peinigende Wirkung den Besucher sofort zurückjagt. Es giebt Monumentalgebäude, deren erster Stock Fest- und Versammlungssäle enthält, während im zweiten die Verwaltungsräume untergebracht sind, in denen sich die Beamten den ganzen Tag aufhalten, und wo die eigentliche Arbeit geleistet wird. Der Fassade zuliebe reichen in diesem Stockwerk die niedrigen Fenster fast bis zum Boden. Das Licht trifft die Arbeitenden von unten in die Augen. Wer es nicht selber empfunden hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, wie fürchterlich diese Beleuchtung wirkt, die der auf das Licht von oben berechneten Konstruktion des menschlichen Auges gegen den Strich geht. Generationen von Beamten werden unter der Romantik dieser Fassade zu seufzen haben.

Mit ungeheuren Kosten wird ein Monumentalbau errichtet. Die Fassaden aller vier Seiten - von denen zwei überhaupt nicht zu sehen sind - prangen in edlem Material, Terrakotta, Majolika, Sandstein, sogar Bronze sind nicht gespart, von üppigem Schmiedeeisen nicht zu reden. Im Inneren aber muss, weil die Nachbewilligungen ausbleiben, überall gespart werden. Da der Laie immer noch das Gefühl hat, das Haus sei der Innenräume wegen da, so erwartet er beim Eintreten in diesen Prunkbau eine Steigerung der Kunstmittel und ist enttäuscht, magere Verputzung, flauen Anstrich in Leimfarben, Thüren aus Föhrenholz zu sehen, wo er sich berechtigt fühlte, von höchster Entfaltung künstlerischen Vermögens und von edlem Material erquickt zu werden. Die erhoffte Bewilligung von Mitteln für die würdige Ausstattung pflegt nun aber regelmässig auszubleiben. Das alles wäre in jedem einzelnen Falle vorherzusehen gewesen, und ein realistisch denkender Architekt würde es zweifellos vorgezogen haben, das Äussere gediegen und schlicht zu halten, dafür aber die künstlerische und materielle Kraft an die Durchbildung des Inneren zu setzen.

Im Privathause pflegt in vielen Gegenden unseres Vaterlandes die  T r e p p e  arg vernachlässigt zu werden. Hier und da ist, wie in der alten Festungsstadt Dresden, eine gediegene Tradition des achtzehnten Jahrhunderts nicht verlassen worden. Aber was für klägliche Bildungen lässt man sich an vielen Orten gefallen! Im vergangenen Jahrhundert gab es etwas wie eine Wissenschaft des Treppenbaues. Wer in alten Häusern und Palästen die Treppen hinaufsteigt, fühlt keine Beschwerde, denn die Steigung ist sanft und darauf berechnet, dass das geringste Mass von Anstrengung genügt. Macht die Treppe eine Biegung, so ist die innere Seite ebenso bequem gangbar wie die äussere, denn die Stufen schwingen sich heraus oder ziehen sich ein, wie es der Fuss nötig hat, während unsere Treppen mit den geraden Linien ihrer Stufen das Hinauf- und namentlich das Herabsteigen an der Spindel gefährlich oder gar ganz unmöglich machen. Und obendrein giebt es überall Treppen, die man nur mit dem Risiko einer Gefahr für Leib und Leben benutzen kann. Wendeltreppen, namentlich der gotischen Schule, sind oft zur Hälfte ungangbar. Die Treppe scheint als ein Notbehelf zu gelten. Selbst in öffentlichen Gebäuden gönnt man ihr oft nicht den nötigsten Raum. Wenn gespart werden soll, ist die Treppe das erste Objekt des Abstrichs. Ich kenne in einem monumentalen Bau, der Millionen gekostet hat, eine vielbenutzte durch sämtliche Stockwerke zum Hörsaal hinaufführende Treppenanlage von so besonderer Steilheit, dass man auf den Stufen hockend Damen gefunden hat, denen die Kräfte ausgegangen waren oder die sich einem Anfall von Schwindel nahe fühlten. Dass das Treppenhaus zu den köstlichsten Raumbildungen die Möglichkeit gewährt, scheint nur selten empfunden zu werden. Namentlich pflegt sie im Einzelhaus über Gebühr vernachlässigt zu werden. Wer über einen Bau zu bestimmen hat, sollte, wo er kann, die alten vornehmen Vorbilder auf ihr praktisches und malerisches Wesen zu studieren suchen und von seinem Architekten die Erfüllung der elementaren Anforderungen der Bequemlichkeit drakonisch verlangen. Die Gotiker, die namentlich in ihren Wendeltreppen arge Sünden auf dem Gewissen haben, mögen sich, wenn sie vom Barock und Rokoko und vom modernen Bedürfnis keine Weisungen annehmen wollen, daran erinnern, dass ein vernünftiger Stufenschnitt schon der gotischen Epoche bekannt war.

Ein trauriges Kapitel unrealistischer Architektur ist der Windfang bei Monumentalbauten. Der Privatbau kennt ihn in Hamburg, das in der rauhen Jahreszeit unter starkem Windfall zu leiden hat, von der Zeit ab, wo man ausserhalb der Thore auch im Winter in freistehenden Gartenhäusern wohnt. Die Stadthäuser in den engen, gewundenen Strassen brauchen ihn nicht, weil, wie schon oft betont, die Führung der alten Strassenzüge den Wind abschneidet. Bei Monumentalbauten in Deutschland gehört der Windfang nur selten zu den ursprünglich beabsichtigten Anlagen, weil ihn die Antike, die italienische und die deutsche Renaissance nicht kennen. In alten Zeiten waren Monumentalgebäude, die Kirchen in vielen Fällen eingeschlossen, meist in die Strassenflucht eingebaut und profitierten deshalb von der günstigen Lage an geschützter Stelle. Unser Jahrhundert stellt die öffentlichen Gebäude wo irgend möglich auf einen freien Platz, wo der Wind der Herrscher ist. Hier können sie einen Windfang so wenig entbehren wie das freiliegende Privathaus. Aber sie bekommen ihn nicht. Es kommt dann noch hinzu, dass bei Museen und bei Parlamentsgebäuden im Inneren Räume mit Oberlicht vorhanden zu sein pflegen. Hat nun in diese exponierten Bauten ohne Windfang der Sturm einmal Zulass gefunden, so lässt er sich nicht mehr bändigen. Es hat sich zugetragen, dass in einen Monumentalbau einige Tage vor der feierlichen Eröffnung der Wind eindrang und durch das Oberlicht des Lichthofes wieder hinausfuhr. Die Glasscheiben zerstörten einen grossen Teil des Steinfussbodens. Zum Glück geschah es zu einer Stunde, wo sich keine Menschen im Lichthof befanden. Es giebt Museen, deren Portale während jedes heftigen Windes geschlossen werden müssen. In solchen Fällen sieht man sich gezwungen, den Windfang nachträglich einzubauen, was dann der Monumentalität des Einganges nicht sehr zuträglich zu sein pflegt. Es entstehen dabei zuweilen Anlagen, deren Betreten geradezu Leib und Leben gefährdet. Ein klassisches Beispiel dafür ist trotz aller Verbesserungsversuche immer noch der Eingang der Nationalgalerie in Berlin, dem bis vor kurzer Zeit der Eingeweihte sich nur nach einem Stossgebet anvertraute, der dem ahnungslosen Neuling aber Nase und Finger kosten konnte. Doch alle diese nachträglich eingebauten Windfänge sind ein störender Notbehelf und leiden an dem Grundfehler, dass der Wind mit dem Besucher zugleich immer noch hineindringen kann, bei Gedränge sogar ziemlich ungehindert. Wirklich aussperren lässt sich der Wind nur durch einen Windfang, der der Fassade  v o r g e l e g t  wird und drei Eingänge hat, den mittleren, der bei stillem Wetter zu benutzen ist, und zwei seitliche, davon einer bei starkem Winde nach dem Vorbild des Eichhornnestes geschlossen wird. Aber für diese Anlage giebt es kein klassisches Fassadenschema, und es wird wohl noch gute Weile haben, ehe sie sich einbürgert. - Sollte nicht auch eine Zeit kommen, die gegen das beliebte Oberlicht misstrauisch wird? Der Aufenthalt in Räumen mit horizontaler Glasdecke ist unter Umständen lebensgefährlich, und für die meisten Bedürfnisse würde hohes Seitenlicht oder Laternenlicht, wie es der ovale Lesesaal in der alten Bibliothek zu Wolfenbüttel hatte, völlig ausreichen.

Dies sind nur einige aus der Fülle der verwandten Erscheinungen im Moumentalbau herausgegriffene Beispiele. Der Privatbau liefert ähnliche. Nur dass hier der Bauherr seine Bedürfnisse im allgemeinen besser kennt und kräftiger auf ihre Befriedigung drängt. Die Romantik hat jedoch in dem kostspieligen und oft albernen äusseren Schmuck an Türmchen, Erkerchen, Giebelchen und dergleichen ihren Sitz, wie überhaupt in der verzwickten Gestalt des Baukörpers, der der in sich geschlossenen Einheit des Kubus möglichst aus dem Wege geht und selbst bei ganz kleinen Anlagen durch das Vor und Zurück einzelner Bauteile "malerisch", was eigentlich heissen sollte: romantisch zu wirken sucht. Kein ruhiges grosses Dach, keine einheitliche Fassade. Die Erkenntnis scheint abhanden gekommen zu sein, dass die malerische Wirkung, die man bewusst und unbewusst anstrebt, nicht durch die romantische Verzettelung der Masse in lauter kleine hochstrebende Formen erreicht wird, überhaupt nicht durch plastische Gliederung, sondern gerade durch Betonung der Masse und durch Farbe. Romantisch ist vor allem der Überfluss an Fenstern in der Fassade, die dabei doch nicht genug und kein gutes Licht geben, und der lästige, thörichte Überfluss an Thüren im Inneren, die die Zimmer unbewohnbar machen. Dem Schein von Vornehmheit, Grösse und Würde wird das Wohlbehagen des täglichen Lebens ohne Bedenken preisgegeben. Wie würden unsere Monumentalbauten und unsere Wohnhäuser aussehen, wenn sie nicht aus unklarem, romantischem Gefühl, sondern aus praktischer Ausgestaltung des Bedürfnisses entständen wie der Bazar Wertheim?

Künstler und Laien werden künftig an diesem Gebäude ihre Studien machen. Die Architekten werden daran lernen, dass weder die akademische noch die romantische Gleichgültigkeit gegen das Bedürfnis eine Zukunft haben. Die Zwangsjacke der Fassade ist hier für die Praxis zum erstenmal vollkommen abgestreift. Auch der Staatsbau wird nicht mehr umhin können, mit den an diesem Organismus gewonnenen Erfahrungen zu rechnen. Für die Mitarbeit des Bildhauers hat der Bazar Wertheim eine neue Bahn eröffnet. Es mag zugegeben werden, dass seine Ornamentik noch historisch ist, und dass Bildhauer und Maler noch nicht so schöpferisch haben auftreten können wie der Architekt. Aber man kann nicht alles auf einmal erwarten. Für die Durchbildung einer neuen Ornamentik war die Bauzeit zu kurz. Messel hat recht gehandelt, wenn er sich auf Experimente nicht einliess. Immerhin hat er überall tüchtige Künstler herangezogen und ihnen freie Hand gelassen. Er hat darin einen Takt bewiesen, der eigentlich nicht die Regel ist. Denn unsere Architekten stehen der lebendigen Malerei und Plastik im ganzen ziemlich fern, und wenn es auch nur selten einer zugesteht, ihre Werke pflegen laut und öffentlich gegen sie zu zeugen. Wie viele deutsche Bauten giebt es, deren Skulptur erträglich ist, und deren Ausmalung nicht dem Geschmack ins Gesicht schlägt? Eine der einflussreichsten deutschen Architekturschulen, die von Hannover, ist an einem Ort ohne originelle Malerei und Plastik von technischen Begabungen entwickelt worden, die von der hohen Kunst nur die archaistischen, um nicht zu sagen heraldischen Strömungen kannten. Auf der anderen Seite pflegt ja unseren Malern und Bildhauern jede Fähigkeit, die einfachsten architektonischen Gedanken zu denken, vollständig abzugehen. Wie hilflos sind unsere Bildhauer durchweg, wenn sie einen Sockel zu machen haben. Auch ihnen wird die nette Architektur, die im Werden ist, neue Aufgaben stellen, die sie auf dekorativem Gebiet von der Schablone befreit. Befreiung! Das ist auch das Gefühl, mit dem ein Laie vor der grossartigen Fassade, die ihm mehr imponiert als hundert Staatsbauten, den Kopf in den Nacken zwingt; ein Hauch freier Schöpferkraft umweht ihn, wenn er prüfend und staunend durch den geräumigen Windfang tritt und die Säle und Hallen durchwandelt, wo alles so praktisch eingerichtet ist und die Kunst die Erfüllung der Aufgabe nirgend zu umgehen versucht. Die Tendenz, solches auch in seinem Hause und im Staatsgebäude unbedingt zu verlangen, wird durch dieses Beispiel in ihm erstarken. Kenner werden nun vielleicht noch auf Vorbilder in Frankreich, wo die grossen Bazare längst bestehen, auf England und Amerika hinweisen. Gewiss ist der geschäftliche Gedanke des universellen Kaufhauses, dessen Entstehung Zolas Roman weiten Kreisen anschaulich gemacht hat, über Paris nach Berlin gelangt, und es lassen sich vielleicht in Messels Bau einige den fremden Vorgängern ähnliche Züge nachweisen; die Entwickelung des Berliner Kaufhauses gehört aber doch dem Berliner Boden an. Der Gotiker, der die Equitable mit Renaissanceformen bekleidete, hatte das letzte Wort nicht gesprochen. Messel, der von der Renaissance ausging und die Gotik assimilierte, hat die Formel gefunden, der die Thore in das neue Gebiet sich öffnen. Mir scheint, dass dieser Abschluss in Berlin ohne französische, englische und amerikanische Einflüsse sich logisch aus den Prämissen ergeben musste.


ZWEITER TEIL

EINLEITUNG

Es gilt auch in Deutschland nicht für ein Zeichen von gutem Geschmack, wenn Kleidungsstücke fertig gekauft werden. Aber Häuser fertig zu kaufen oder in Wohnungen zu ziehen, die ohne Rücksicht auf besondere Bedürfnisse für einen allgemeinen niedrigen Durchschnitt des Geschmacks und der Lebenshaltung angelegt und eingerichtet sind, gehört zu den Gewohnheiten, über deren Berechtigung nicht viel nachgedacht wird. Wie würde unsere bürgerliche Baukunst aussehen, wenn die wohlhabende Gesellschaft mit derselben Sorgfalt, Hingebung, Unermüdlichkeit, mit derselben unerbittlichen Kritik, demselben Geschmack, derselben Sachkenntnis beim Bau der Häuser und bei der Einrichtung der Wohnungen mitarbeitete wie bei der Anfertigung eines Frackes, eines Überziehers oder eines Ballkleides? Es gab eine Zeit, wo auch der Architekt auf die Mitarbeit rechnen durfte, deren heute nur der Schneider sich erfreut. - Die Folgen der mangelnden oder mangelhaften Anteilnahme des Bauherrn lassen sich überall beobachten. Alle Anstrengungen der Architekten, aus der Konvention und dem Akademismus herauszukommen zu einer lebendigen Kunst, bleiben verlorene Liebesmüh', solange nur in den seltenen Ausnahmen palastartigen Hausbaues der Auftraggeber wie bei einem Stück seiner Tracht zu urteilen und anzuregen vermag. Es wird nicht leicht halten, eine Besserung durchzusetzen. Doch muss es von vielen Seiten versucht werden, sollen wir nicht auch in der Architektur um unsere kulturelle Selbständigkeit kommen. Am Horizont zieht das Unwetter schon herauf. Die Engländer haben im Anschluss an ihre einheimische bäuerliche und kleinbürgerliche Architektur ein nationales Wohnhaus geschaffen, dessen Stil dem Bedürfnis entspricht und weder von Frankreich noch von Italien beeinflusst wird. Ihre Fachblätter, vor allem das in Deutschland so überaus einflussreiche Studio, und im Anschluss daran die deutschen Nachahmungen dieser Zeitschrift, mit einem kühnen Sprunge sich auf den englischen Standpunkt schwingend und die einheimische deutsche Renaissance und Backsteingotik ihrem Schicksal überlassend, haben in alle Ecken hineingeleuchtet, so dass die englischen Ideen über Hausbau und Einrichtung bei uns jetzt eine mächtigere Anziehungskraft ausüben als irgend welche Gedanken, die von deutschen Bauakademien oder Bauschulen ausgehen. Die stärkste Persönlichkeit in unserer Architektur, Wallot, hat auf den Bau des eigentlichen Wohnhauses kaum einen Einfluss, man müsste denn den Reklamebau der Grossstädte mitrechnen. In wenigen Jahren wird nur der »Studiostil« oder besser dessen notwendigerweise verballhornte Nachahmung überall angewandt werden. Die ersten Spuren zeigen sich auch schon in Hamburg. Wir dürfen nicht erwarten, dass diese neue Mode uns etwas anderes bringen wird als eine neue Maskerade. Weder die Bauspekulanten noch die sonstigen Auftraggeber sind darauf vorbereitet, in der neuen Mode etwas anderes als die ornamentale Aussenseite zu sehen. Man wird wie bei den übrigen Stilmoden, die sich seit zwei Jahrzehnten bei uns abgelöst haben, mit den neumodischen Gedanken,  d i e  k e i n e  e i g e n e   A r b e i t  g e k o s t e t  h a b e n,  dieselbe barbarische Verschwendung treiben wie bisher mit den »Lesefrüchten« aus Hirths »Formenschatz« und den tausend anderen Sammelwerken. Soll unter dem neuen Überrock des englischen Cottagestils die alte Misere weitergetragen werden, bis einmal irgendwo ein neuer Stil geborgt werden kann? Oder sollte sich ein Punkt finden lassen, wo der Widerstand gegen die raum- und zeitlose Altertümelei und gegen die Ausländerei mit Aussicht auf Erfolg einsetzen kann?

In Hamburg wurde seit einem Jahrzehnt wiederholt der Wunsch geäusert, dass die alteinheimische Bauweise zum Ausgangspunkte einer neuen bürgerlichen Bauweise hamburgischen Charakters gewählt würde. So wurde bei der Begründung der Sammlung von Bildern aus Hamburg 1889 darauf hingewiesen, dass die malerische Darstellung der bürgerlichen Architektur des alten Hamburg eine Anregung für Erneuerung unserer Bauweise bieten könnte. »Niemand kann uns eindringlicher als der Maler sagen,« hiess es, »dass bisher in Hamburg nichts entstanden ist, das für unsere Luft und unser Licht so vortrefflich empfunden ist, wie die bürgerliche und ländliche Architektur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.« Und in der Publikation des Kunstvereins über Hermann Kaufmann und die Kunst in Hamburg schliesst 1892 der Abschnitt über die Architektur mit den Worten: »Welchen Gang die künftige Entwickelung unserer Architektur nehmen wird, ist nicht abzusehen. Da nach alter Erfahrung eine ausgesprochene Stilart sich nur ein Menschenalter zu halten pflegt, werden die gegenwärtig herrschenden Richtungen einem anderen Geschmack weichen. Bei den jungen Architekten lässt sich das Bestreben, sich von Berlin und Hannover zu befreien, schon verfolgen. Möchten sie sich darauf besinnen, dass in unserer Bevölkerung das »Sonninsche Haus« noch mit Ehrfurcht genannt wird.... Es dürfte nicht so schwer fallen, die alten monumentalen Principien der Heimat wieder zur Geltung zu bringen.... Nur auf diesem Boden können wir hoffen, in der nächsten Generation zu etwas Eigenem zu kommen. Dass es nicht auf eine unfruchtbare Nachahmung hinauslaufen wird, dafür sorgt der veränderte Zuschnitt unseres Lebens, und die Sitten, Gewohnheiten und Bedürfnisse der Hamburger Familie sind so verschieden von denen des übrigen Deutschlands, dass ihr künstlerischer Ausdruck Bauwerke eigener Art erzeugen muss.« Seither ist die Überzeugung, dass es in der That bei uns eine kräftige, mannigfaltige Bauweise giebt, die für alles die entwickelungsfähigen Keime enthält, in weitere Kreise gedrungen. Sie ist freilich nur noch in Resten, allerdings ausreichenden Resten vorhanden, aber sie hat doch schon in einigen wenigen Fällen zum Ausgangspunkt für neue Bildungen gedient, so in dem von Martin Haller erbauten Landhause des Herrn Ed. Lorenz Meyer in Reinbeck und in Faulwassers Seniorat von St. Michaelis. Soll aus diesen ersten Versuchen sich eine eigene hamburgische bürgerliche Baukunst entwickeln, so muss in weiteren Kreisen die Teilnahme für diese Bestrebungen erweckt werden.

Der Zeitpunkt erscheint günstig. Bei der Verbesserung der Verbindungen hat sich das Wohngebiet weit über das Weichbild der bisherigen Vororte ausgedehnt. In der ganzen Umgebung entstehen, meist von der Spekulation aufgeführt, neue Villenviertel. Im kommenden Jahrhundert dürfte die Ausdehnung des mit kleinen Einzelhäusern im Garten bebauten Gebietes weit über das heute denkbare anwachsen. Was wir für alle deutschen Länder fordern müssen, dass bei der Erneuerung der bürgerlichen Architektur von der heimischen Bauweise ausgegangen wird, gilt auch für Hamburg. Man wagt kaum, sich vorzustellen, wie lieblich diese neuen Vororte aussehen könnten, wenn die Erbauer sich für die sachliche Schönheit unserer alten ländlichen und bürgerlichen Baukunst begeisterten. Es giebt eine durchgehende Lebensführung nationalen Charakters in England, aber nicht in Deutschland. Das Haus, das aus den Bedürfnissen der Hamburger oder Bremer Familie heraus gebaut wird, kann der Berliner oder der Bayer nicht brauchen, das äussere Gewand dieses Hauses muss, wenn es mit Luft und Licht in Hamburg zusammenstimmen soll, anders aussehen als in München oder im Schwarzwald. Von diesen Erwägungen aus und angeregt durch einige namhafte Architekten Hamburgs, denen die Publikationen der Gesellschaft bekannt waren, hat die Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde im Frühjahre 1899 die hamburgischen Architekten zu einer Idealkonkurrenz aufgefordert, deren Ergebnisse in der Kunsthalle öffentlich auszustellen sie die Erlaubnis bei der Kommission für die Verwaltung erbeten und erhalten hat. Dem Ausschreiben, dessen Abdruck an dieser Stelle von Interesse sein dürfte, ist kaum etwas hinzuzufügen. Dass von einer Prämiierung abgesehen wurde, erklärt sich von selbst. Nicht unbedenklich war vielleicht die Vorschrift, dass die Ausführungskosten innerhalb einer gewissen Grenze anzugeben seien. Aber hier entschied die Absicht, dem Besucher der Ausstellung eine fertige Sache vorzuführen. Es sollte vor allen Dingen zum Bauen angeregt werden, und da war die ausschreibende Gesellschaft zu der Überzeugung gelangt, dass der Besucher, ohne beim ausstellenden Architekten sich erkundigen zu müssen, an Ort und Stelle auf eine der ersten Fragen Auskunft erhalten sollte. Dann erschien es sehr notwendig, von vornherein klar zu stellen, dass es sich nicht um ein lediglich akademisches Turnier, sondern um eine sehr fest auf das Praktische gerichtete Bestrebung handelt und dass kein kostspieliger neuer Luxus sondern das gerade Gegenteil angestrebt wird.

Das Schreiben lautet:
»Von vielen hamburgischen Architekten und von den Mitgliedern der Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde wird der Wunsch gehegt, dass beim Bau ländlicher Wohnhäuser in der Umgebung Hamburgs soviel wie möglich Anschluss an die ältere heimische Architektur gesucht wird, deren künstlerische Wirkung sich in unserer Landschaft und in unserem Klima bewährt hat. Auf Anregung namhafter hamburgischer Architekten hat die Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde beschlossen, eine Idealkonkurrenz zur Erlangung von Entwürfen auszuschreiben, und auf Ansuchen der Gesellschaft hat der Präses der Kommission für Verwaltung der Kunsthalle die öffentliche Ausstellung der eingelieferten Entwürfe in der Kunsthalle zugesagt.


Bedingungen

1. Die Entwürfe werden in der Reihenfolge der Einlieferungsnummern ausgestellt.
2. Die Entwürfe sind im Massstab von 1:100 zu halten.
3. Von jedem Hause sind die Hauptansicht in geometrischer Darstellung, eine perspektivische Ansicht -farbig - und ein Grundriss einzuliefern.
4. Es werden drei Typen aufgestellt nach Massgabe des Bedürfnisses: a) zu vier bis fünf Zimmern, b) zu fünf bis sieben Zimmern, c) zu sieben bis neun Zimmern.
5. Es wird dem einzelnen freigestellt, Entwürfe für alle drei, für zwei Häuser oder für eins einzusenden.
6. Jeder Entwurf ist mit einem Kostenüberschlage zu versehen.
7. Der Einsender ist zur Ausführung innerhalb zehn Prozent auf- und abwärts des Anschlages verpflichtet.
8. Anonyme Einsendungen werden nicht ausgestellt.
9. Preise werden nicht verteilt.
10. Die Einsendungen sind bis zum 1. Juli 1899 an den Präses der Gesellschaft, Herrn Eduard Lorenz  Meyer zu richten.


Allgemeine Bemerkungen

Da es darauf ankommt, einen einfachen Ausgangspunkt für künstlerische Entwickelung der Architektur unserer Landhäuser zu finden, mögen folgende allgemeine Wünsche zum Ausdruck kommen. Alle rein dekorativen Ausbauten, namentlich Türme, sind zu vermeiden. Ebenso Erker und Ausbauten, die für die Benutzung vom Zimmer aus zu klein sind. Jeder derartige Ausbau muss eine mindestens für zwei Personen bequeme Sitzgelegenheit an einem Tische bieten. Da bei zwei Fenstern an einer Wand die Benutzung der Fensterwand schwierig und unter Umständen unmöglich wird, ist thunlichst das in älterer Zeit in Hamburg allgemein übliche breite Fenster mit hoher Fensterbank einzuführen. Das Dach ist thunlichst als einfache einheitliche Masse zu behandeln. Schieferdeckung ist auszuschliessen. Für die einfacheren Typen ist Rohbau mit weissem oder getöntem Kalkbewurf, für die reicheren Ziegelrohbau gedacht. Doch sind Formsteine irgend welcher Art, glasierte Ziegel und Ornamente aus versetzten Ziegeln auszuschliessen. Wenn Cementbewurf angewandt wird, sind Profile und plastische Ornamente irgend welcher Art zu vermeiden. Ebenso jegliche architektonische oder ornamentale Umrahmung der Fenster und Thüren. Dagegen ist auf eine geschmackvolle farbige Behandlung des Holzwerkes an Fenstern und Thüren das grösste Gewicht zu legen. Es möge an dieser Stelle auf den ehemals in unserer Heimat allgemein verbreiteten Brauch hingewiesen werden. Die Fensterrahmen (und die Fensterläden) pflegten bei weissem Kalkbewurf ochsenblutfarben, grün oder blau, beim Ziegelrohbau weiss oder grün gestrichen zu werden. Doch bleibt natürlich die Farbenwahl dem persönlichen Geschmack überlassen. Nur von der Verwendung naturfarbenen Holzes ist abzuraten. Veranden dürfen die Zimmer nicht verdunkeln. Es wird Wert auf grossräumige Veranden gelegt, die der Familie möglichst bequem und lange den Aufenthalt in freier Luft gestatten. Versuche, den Platz vor der Hausthür nach Art der Beischläge auszubilden, sind sehr erwünscht. Auch für die Behandlung der Ausbauten der Wohnzimmer wird auf die runden und viereckigen Formen der älteren heimischen Architektur hingewiesen. Dreiseitige Ausbauten haben sich als unpraktisch erwiesen. Es werden dafür sechsseitige mit ununterbrochen herumgeführten Fenstern empfohlen. Im Inneren ist die Ausbildung der Diele als grosser gemeinschaftlicher Wohnraum und als Speisezimmer zu empfehlen, wie es in der älteren hamburgischen Architektur üblich war. In den Zimmern sind Flügelthüren überflüssig, wenn der eine grosse Hauptraum vorhanden ist. Die Thüren sind möglichst fern vom Fenster zu halten, die Wände thunlichst intakt zu lassen.«

Im Auftrage der Gesellschaft war dieses mit einigen Hamburger Architekten beratene Schriftstück von den Präsidenten, Herrn Ed. L. Meyer, der seit Jahren für die Wiederaufnahme der einheimischen Baugedanken thätig ist, und Frau Marie Zacharias, deren Studien uns eine Fülle von Motiven unserer alten städtischen Bauweise aufbewahren, unterzeichnet. Das Ergebnis steht noch aus. Aber es giebt schon Kreise in Hamburg, die es mit Spannung erwarten. Die folgenden kurzen Aufsätze, unter dem Titel »Haus und Heimat« im Jahrbuch der Gesellschaft erschienen, weisen auf den Charakter der älteren Hamburger Bauweise hin.


DAS ALTE HAMBURGER HAUS

IN DER STADT

Für die Stadthäuser der Hamburger hatte sich schon im späteren Mittelalter ein eigenartiger Typus entwickelt, der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert künstlerisch behandelt wurde. Weil der Raum in der Festungsstadt beschränkt war, drängte alles auf die möglichste Ausnutzung des Bodens. Daher sind die Grundstücke schmal und tief. Das Dreifensterhaus bildete die Regel. Grosse Speicherräume waren nötig, weil der Kaufmann die Ware, mit der er handelte, nicht als Spediteur vertrieb, sondern wirklich besass, und er musste sie zu Wasser und zu Lande ans Haus und wieder fortschaffen können. Deshalb liegen die Grundstücke zwischen der Strasse und dem Fleet (Kanal). An der Strasse erhebt sich das Wohnhaus, am Fleet der Speicher. Zwischen beiden liegt ein Hof, dessen eine Seite von dem Verbindungsbau begrenzt wird. Diese Anlage ist ganz speciell hamburgisch. In Bremen und Lübeck fehlte die Möglichkeit, die Wasserstrasse an jedes Haus zu leiten. Einfahrten in den Hof gab es nicht, dazu waren die Grundstücke zu schmal. Palastartige Typen mit Einfahrten - porte cochère - wurden zuerst im siebzehnten Jahrhundert auf dem Wandrahm und dem Neuen Wall versucht, blieben aber, wie beim alten Palais Görtz, dem heutigen Stadthaus (Wohnung des Polizeiherrn), die Ausnahme. Die Überschwemmungen, denen das tiefliegende Gebiet um die Wasserstrassen ausgesetzt war, nötigten zur Auftreppung der Erdgeschosse. Damit waren die Grundzüge der Fassadenentwickelung gegeben: die Haustreppe, drei Fenster und, um den schmalen Raum auszunutzen, drei bis vier Stockwerke. Die künstlerische Behandlung hing ausserdem noch von der Lage ab. Freie Plätze gab es wenig, und die Strassen waren eng. Eine Fassadenentwickelung mit rhythmischer Verteilung von Schmuckformen war durch die geringe Breite des Grundstückes ebenso erschwert, wie sie bei der Kürze des Abstandes wirkungslos gewesen wäre. Man beschränkte sich deshalb in der Regel auf die ruhige Wandfläche aus Ziegelsteinen, in deren roter Masse die Fenster mit ihren weissgestrichenen Rahmen - es wäre interessant, zu erfahren, wann dieser weisse Anstrich aufkommt - mit starkem Accent wirkten. Plastischen Schmuck erhielten nur der Giebel, der weithin sichtbar war, und das Portal. Hier pflegte man dem heimischen Material des Backsteins das eingeführte des Sandsteins vorzuziehen, das dem plastischen Schmuck so viel gefügiger entgegenkam und mit seinem feinen Grau das Rot der Mauer hob. Sandsteinfassaden waren verhältnismässig selten. Die am meisten hamburgische Ausbildung hat der Typus des Hamburger Backsteinhauses durch das sogenannte Sonninsche Haus gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts erfahren. Diese Architektur ist die einzige, die sich auch in der russigen Luft der modernen Stadt bewährt hat.

Von der Strasse gelangt man in diesem Hamburger Stadthause über die Freitreppe unmittelbar auf die grosse Diele, die das Haus durchquert. Dies ist der malerischste Raum des ganzen Hauses. Seine Anlage geht aus dem praktischen Bedürfnis hervor. Heute würde man wohl nicht wagen, etwas so in sich Unregelmässiges anzulegen. Er hat nicht überall dieselbe Höhe, ist nicht überall gleich breit, hat an der Hofseite eine riesenhohe Fensterwand, nach der Strassenseite eine Thür mit Oberlicht. Und wie einheitlich und behaglich wirkt er trotzdem, wie reich und vornehm! Wenn unsere Dilettanten uns nicht von diesen herrlichen Räumen genaue Zeichnungen aufbewahrt hätten, die nicht nur das Materielle, sondern auch die Stimmung geben, wir würden gar nicht wissen, was wir verloren haben, ehe wir es recht erkannt hatten. Was den Raum so lebendig macht, lebendiger als die stolzen Treppenhäuser der Barockpaläste, das ist seine Lauschigkeit, die das tägliche Leben ahnen lässt, das Gepräge eines komplizierten, aber in sich gefesteten Organismus. In der Regel liegt die Hausthür nicht in der Mitte der Fassade, sondern, wie dies beim Dreifensterhaus aus Raumersparnis Sitte ist, an der Seite. Der erste Teil der Diele, den man von der Hausthür aus betritt, hat nur die Höhe des Erdgeschosses und die Breite und Tiefe, die dem Zimmer, das an seiner Stelle liegen könnte, entsprechen. Neben diesem ersten Teil der Diele liegt ein Zimmer, ursprünglich das Kontor. Der zweite Teil der Diele ist der Hauptraum. Er nimmt die ganze Breite des Hauses ein und geht durch zwei Geschosse. Da er auch die doppelte bis vierfache Tiefe des ersten Teils hat, so entstehen sehr ansehnliche Abmessungen. Es ist eine richtige Halle, der Mittelpunkt des häuslichen Lebens. Vom Hauseingang aus sieht man zuerst die grosse Fensterwand nach dem Hofe, die in der Regel die ganze Höhe der Halle einnimmt: man kann nicht Licht genug haben. Eine Flügelthür, ebenfalls mit Scheiben, liegt darin, die auf den Hof führt. So ist diese ganze grosse Wand nur Fenster. Neben dieser Fensterwand nach dem Hofe wird eine kurze Treppe mit schöngeschwungener Rampe sichtbar. Sie führt vier oder fünf Stufen hinauf zu einer Flügelthür. Hinter dieser liegen zwei grosse Säle in reichster Ausstattung, das sind die Festräume. Die herrlichen beiden Stuckdecken aus dem Bostelmannschen Hause im Museum für Kunst und Gewerbe stammen aus solchen Sälen des schmaleren Zwischenhauses, das Wohnhaus und Speicher verbindet.

Von der Rast der kurzen Treppe geht die Haustreppe ab, die an der Wand nach dem ersten Stock führt. Sie liegt offen, ist breit und bequem, hat eine schöne geschnitzte Rampe, meist auch in der Mitte eine Rast. Über ihr liegt eine breite, ebenfalls nach dem Dielenraum offene Galerie, die die vorderen mit den hinteren Räumen verbindet und durch eine oder zwei mächtige hölzerne Säulen mit reichen Kapitellen gestützt wird. Auch die Galerie hat eine kräftige, reichgeschnitzte Balustrade. Die Decke der Halle, die Unterseite der Treppe und der Galerie sind mit überreichem, geschnittenem Stuck verziert, der wohl in der Regel weiss blieb, während alles Holzwerk über schwarzen Sockelstreifen gelb, grün, rot oder auch wohl marmorartig gestrichen war und farbig in der weissen Masse der Wände stand. Der Treppenwand gegenüber befand sich eine Waschvorrichtung von kaminartigem Aufbau, oft mit Inschriften verziert. Die Wohn- und Schlafzimmer lagen im ersten und zweiten Stock nach vorn. Im zweiten Stock pflegten auch die Speicherräume zu beginnen. Durch eine grosse Öffnung in der Decke hingen auf die Diele die Seile herab, mit denen die Waren emporgezogen wurden. Oft stand auf der Diele noch ein kleiner Bauer aus Holz mit Glasscheiben: das Ziebürken. Hier sass gegen den Zug geschützt die Näherin oder eine Magd, die bei einer Handarbeit, wenn es nötig schien, die Diele bewachte. Dies Ziebürken war der lagernden Waren wegen beweglich. Vor dreissig Jahren waren noch viele dieser Stadthäuser im Winter bewohnt und wurden in frischem Stande erhalten. Jetzt stehen kaum noch ein halbes Dutzend im alten Zustande, aber da die Häuser nicht mehr bewohnt werden und nur als Speicher oder Kontore dienen, sind sie unfrisch oder verkommen.

Die Künstler, die in Hamburg lebten, haben uns von der traulichen Poesie dieser Räume kein Bild erhalten. Den Dilettanten aber, die uns einen Blick in die dem Untergange geweihte Herrlichkeit festhielten, wird man nicht nur in Hamburg ein dankbares Andenken bewahren. Sie haben uns ein Stück deutscher Kultur gerettet. Hätte es solche Schönheit in der Privatarchitektur Münchens, Berlins oder Düsseldorfs gegeben, so würden Generationen von Malern in unserem Jahrhundert sie verherrlicht haben. Aus tausend Bildern und Hunderttausenden von Photographien, Holzschnitten und Stichen danach würde das deutsche Volk diese Diele kennen, wie der Mondschein durch die Fensterwand nach dem Hofe auf die Fliesen fällt, während in einer Ecke Schatzgräber beim Schein einer Laterne an der Arbeit sind; in düsterer Nacht, wie beim Fackelschein der Patricier verhaftet wird; wie er von seiner Familie Abschied nimmt; wie er von der Reise heimkehrt; wie er einen fürstlichen Gast ins Haus geleitet, den seine geschmückte Hausfrau vor der Treppe erwartet. Wir würden in der folgenden Generation den malerischen Raum gesehen haben, wie die Sonne im Sommer den schwankenden Schatten der Linde, die im Hofe steht, durch die Fenster wirft, wie die Silhouetten der Arbeiter an der Winde vom Licht umspielt werden, das sich weich über die farbenprächtig in das Weiss der Stuckmassen gebettete Holzarbeit der Treppe und Galerie breitet. Ob sich die Architektur in Hamburg noch einmal daran erinnern wird, dass es solches bei uns einst gegeben hat? Eine Möglichkeit, die Motive in ihrer Gesamtheit wieder zu verwenden, liegt freilich nicht vor, denn das Leben hat andere Formen angenommen. Aber weshalb sollten die neuen Bedürfnisse nicht ebenso schön und hamburgisch ausgedrückt werden können.


DAS MODERNE WOHNHAUS

Für das gewöhnliche bürgerliche Wohnhaus hat die Hamburger Architektur in unserem Jahrhundert einen eigenen und sehr charakteristischen Grundriss ausgebildet, für die Fassadenbildung ist sie zu keinem Typus gekommen. Es liegt im Garten und kann sich bei der Schmalheit der Grundstücke nur nach der Tiefe entfalten. Man sieht den engbrüstigen Fassaden nicht an, wieviel Raum dahinter liegt. Vom Stadthause alten Stils, das nur im Winter bewohnt wurde, unterscheidet es sich durch die Anlage eines Windfanges und durch den Verzicht auf die Halle. Ein Windfang war im alten Stadthaus nicht unbedingt nötig, da die engen, gewundenen Strassen den Wind brachen. Die Strasse selbst war schon Windfang. Als man begann, das Haus im Garten vor dem Thore auch im Winter zu bewohnen, wurde der Windfang nötig, den man im windstillen Sommer entbehren konnte. Bei alten Häusern lässt sich heute noch erkennen, dass er eine Zuthat war. Manche Windfänge sind noch heute aus Holz. Bei allen Neubauten ist er in den Organismus einbezogen. Diese Anlage ist durchaus hamburgisch. Als die deutschen Fachleute zur Ausstellung nach Chicago gingen und bei der Gelegenheit das amerikanische Haus studierten, fiel es ihnen wohlthuend auf, dass der Besucher nicht vor der Thür stehen zu bleiben brauchte, um während der Zeit zwischen Klingeln und Aufthun allem Wetter und den Blicken der Passanten ausgesetzt zu sein, sondern durch eine unverschlossene Thür einen geschützten Vorraum betreten konnte. Dass diese Anlage auch in Hamburg üblich war, scheint den meisten ganz unbekannt gewesen zu sein.

In dem einfachen Hamburger Wohnhause liegen die sämtlichen Wirtschaftsräume und die Wohn-, Schlaf- und Badezimmer der Dienerschaft im Halbkeller, Küche, Aufwaschküche, Waschküche, Feuerungsraum, Plättzimmer u. s. w. Das Erdgeschoss enthält das Empfangszimmer, das nicht weiter bewohnt wird, das Wohnzimmer der Hausfrau, die den Wirtschaftsräumen nahe sein will, den Speisesaal und den Anrichteraum. Im ersten Stock liegt das Arbeitszimmer des Hausherrn, das Schlafzimmer der Eheleute, daneben ein Badezimmer und nach vorn, neben dem Zimmer des Hausherrn das Morgenzimmer, der Raum, in dem die Familie das erste Frühstück nimmt, während die Zimmer im Erdgeschoss gereinigt werden. Schlaf-, Wohn- und Spielzimmer der Kinder sind im zweiten oder unter Umständen im dritten Stock mit den Fremdenzimmern untergebracht. Dies gilt für die bescheidenen Verhältnisse, wo die Hausfrau nicht den Anspruch macht, ihr besonderes Toilette- und Badezimmer zu haben, und der Hausherr auf besondere Bibliotheks-, Rauch- und Billardzimmer verzichtet. Sobald sich die Ansprüche des einzelnen an persönliche Bequemlichkeit erhöhen, kompliziert sich der Organismus noch beträchtlich, ohne dass von Luxus oder Prunk die Rede wäre. Repräsentieren, wie mit einer Enfilade von Salons im vergangenen Jahrhundert oder mit den Vorderzimmern der Etage einer Grossstadt, kann der Bewohner eines solchen Hauses noch nicht. Bei grossen Familienfesten muss er ein Zelt in den Garten hinausbauen. Aber im ganzen Haus ist kein toter Raum. Alles ist durch das tägliche Leben ausgefüllt.


DAS ALTE LANDHAUS

Während für das Stadthaus ein ganz fester Typus ausgebildet wurde, der sich aus dem Bedürfnis und aus der Gestalt des Grundstückes entwickelte, hatte man beim Landhaus freieren Spielraum. Es giebt nur wenige hamburgische Landhäuser aus dem vergangenen Jahrhundert. In der Franzosenzeit wurde auf weite Strecken hinaus die ganze Umgebung Hamburgs von Bäumen und Häusern rasiert. Wir sollten die wenigen noch vorhandenen Reste aufnehmen und so für die Erhaltung der untergegangenen Formenwelt sorgen. Im Landhaus scheint ein grosser mittlerer Hauptraum den eigentlichen Wohnraum der Familie gebildet zu haben. Ursprünglich Diele zu ebener Erde, wie man noch auf dem Herrenhaus der Insel Waltershof sehen kann, scheint gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine leise Überführung in den Typus des grossen Mittelsaales stattgefunden zu haben, der aus den französischen Villenanlagen des vergangenen Jahrhunderts bekannt ist. Ein Marmorkamin, verschiedene Sofas an den Wänden mit Tischen und Stühlen davor gaben die Möglichkeit, eine grössere Gesellschaft behaglich zu verteilen. Eine alte derartige Anlage, die wir sonst nur aus England kennen, habe ich noch in einem Landhaus an der Bille im Gebrauch gesehen. Sie ist sehr wichtig, für das tägliche Leben der Familie sowohl wie für das Gesellschaftsleben. Um einen grossen Raum dieser Art zu erzielen, sollte man in den kleinen Stadt- und Landhäusern das sogenannte Eintrittszimmer ohne Bedenken opfern. Man wird stets die Beobachtung machen, dass sich eine Gesellschaft am behaglichsten fühlt, wenn sie in einem einzigen grösseren Raum vereinigt ist. Fehlt es daran und müssen sich einzelne Gruppen in kleinere Nebenräume zurückziehen, so pflegen sie sich wie ausgeschlossen zu fühlen, und wer zu ihnen hineintritt, findet es schwer, sich anzuschliessen und pflegt nach einem flüchtigen Blick wieder zu verschwinden. In einem einzelnen grossen Raum fällt das Anschliessen und Abbrechen unendlich viel bequemer, weil es keinen so gewaltsamen Eindruck macht, wie wenn man durch eine Thür in ein anderes Zimmer treten oder es auf demselben Wege verlassen muss. Was leicht, ungezwungen und unbemerkt vor sich gehen müsste, wird durch die leiseste Umständlichkeit als etwas Absichtliches markiert. Dass ein grösserer Raum, namentlich, wenn er nicht einfach rechteckig ist, die Anordnung der Möbel erleichtert und der künstlerischen Ausgestaltung mancherlei Möglichkeiten lässt, braucht nicht betont zu werden. Hoffentlich gelingt es, in den kommenden Jahren das Material für eine genauere Darstellung der alten Hamburger Landhäuser zu sammeln.


SCHIFFER- UND FISCHERHÄUSER

Für das kleinere Wohnhaus der wohlhabenden Schiffer und Fischer giebt es zwei Typen. Der eine, etwas vornehmere, schliesst sich an die städtische Architektur des vergangenen Jahrhunderts. Einfache Backsteinwände mit dem zarten hellen Netz der Fugen, ein hohes rotes Ziegeldach darüber. Nirgend Säule, Ornament oder Gebälk. Nur die Fensterrahmen stehen weiss in dem roten oder rotvioletten Mauerwerk, und die Hausthür ist dunkelgrün gestrichen. Nirgend Formsteine. Schmuckformen finden sich nur an der Thür. Der Wohlhabendere hält auf eine schöngeteilte, vielleicht mit geschnitzten Rosetten, auch wohl mit Laubgehängen geschmückte Thür, deren Griff und Schlossblech aus blank geputztem Messing sehr freundlich auf dem grünen Grunde stehen. Das Oberlicht darüber pflegt ebenfalls geschnitzt - oft in sehr zierlichen und liebenswürdigen Formen - und in seinen Holzteilen im Gegensatz zur grünen Thür meist weiss bemalt zu sein. Soll noch ein Übriges geschehen, so erhält die Thür eine Sandsteinumrahmung mit bescheidenem, zierlichem Gebälk. Bis auf den Giebel und die hohe Treppe, die hier fehlen, sind das dieselben Kunstmittel, die im vergangenen Jahrhundert bei uns für das städtische Haus galten, das in der hohen roten Wand mit weissen Fenstern keinen anderen Schmuck kannte, als das Portal und den Giebel. Wenn wir so ein farbiges Schifferhaus mit der weissen Bank davor über die geschorene Hecke weg in seinem Garten unter geschorenen Bäumen liegen sehen und daneben einen Neubau aus Cement mit verschwenderisch angeklebtem Ornament, so wird es uns schwer, zu begreifen, wie man dazu gekommen ist, so viel Vornehmheit, so viel Kultur aufzugeben. Das bescheidenere Fischerhaus pflegt noch einfacher, aber koloristisch noch stärker zu sein. Unter dem Stroh- oder Ziegeldach eine geputzte Wand, deren Kalkanstrich alle Jahre vom Bewohner selbst aufgefrischt wird. Diese Wand ist in der Regel weiss, doch kommen auch grünliche und gelbliche Tönungen vor. Der Sockel, soweit der Regen anspritzen kann, ist schwarz geteert, damit die Hausfrau ihn abwaschen kann. In der weissen Wand sitzen die Fensterrahmen, natürlich nicht weiss, sondern dunkelgrün, dunkelblau, ochsenblutrot, und die Fensterläden und die Thüren sind dann in derselben Farbe gestrichen. Die Wirkung der einfachen, satten Farben im Schatten der geschorenen Bäume, die das Haus umgeben, ist so stark und so lieblich, dass alle moderne Architektur, die auf Farbe verzichtet, dagegen nicht aufkommt. Was diese beiden hauptsächlichen Häusertypen unserer Gegend noch in ein besonders gemütliches Licht rückt, ist, dass der Bewohner sie selber pflegen kann. Schiffer und Fischer sind von ihren Fahrzeugen her mit der Farbe vertraut. Der Kapitän oder Lotse streicht alljährlich zu Pfingsten seine Fensterrahmen und seine Thürbank weiss und seine Thür und die Fensterläden grün, der Fischer giebt seinem Hause einen frischen weissen Kalkanstrich und teert den Sockel. Mit wenig Kosten sind diese Häuser beständig frisch zu halten. Für unsere Gegend müssten sie die Basis für die Entwickelung der Architektur des Einzelhauses abgeben, und in jedem anderen Teile Deutschlands finden sich ähnliche Anknüpfungen. Auch die Engländer haben überall für das Einzelwohnhaus auf dem Lande und in der Vorstadt den ländlichen Stil der Gegend zu Grunde gelegt, nicht den französischen Palast oder die italienische Villa. Sie nennen selbst ein sehr grosses geräumiges Wohnhaus im Garten nicht, wie wir, ihre Villa, sondern nach dem Ursprung der angewandten Formen Cottage, das heisst Hütte. Der Entwickelung des Grundrisses stellen diese auf die Wirkung der Farbe statt der Form berechneten Landhäuser keinerlei Hindernisse in den Weg: sie kennen weder die kleine Säule noch das Palastfenster, und ihr Dach ist eine grosse ruhige Masse. So weit das Einzelhaus in der Vorstadt und auf dem Lande. Ähnliche Benutzung der älteren bürgerlichen Architektur wäre für das Stadthaus zu wünschen. Es widerspricht unseren besten Neigungen, das grosse Zinshaus als einen üppigen Palast auszubilden. Im Grunde wollen wir doch gar nicht scheinen, was wir nicht sind.


DAS BAUERNHAUS

Wie weit das niedersächsische Bauernhaus in unserer Landschaft für den Ausbau des ländlichen Wohnhauses Motive bieten kann, muss die Praxis ergeben. In Form und Farbe enthält es nicht viel, was nicht auch am Stadthause und an den Fischer- und Schifferhäusern vorkäme. Aber der Grundriss bietet vielleicht eine sehr brauchbare Anregung. Es ist ein Langbau, der mit dem Giebel nach der Strasse liegt. Diese Giebelseite hat keinen Eingang. In zwei oder drei Stockwerken liegen hier die Schlaf-, Wohn- und Staatszimmer. Der Eingang findet sich an der Langseite, wenn man von der Strasse kommt, nahe der Mitte. Der Eintretende findet sich in einem grossen Raum, der quer durchs Haus geht und an beiden Seiten Fenster hat. Dies ist die alte sächsische Halle, der Hauptraum des Hauses. An der Wand nach der Strassenseite sind die Thüren zu sehen, die in die Zimmer führen, meist zwei. Dazwischen liegt in der Mitte der Wand der Feuerherd. Wenn die Hausfrau hier beschäftigt ist, kann sie ihr ganzes Reich übersehen. Durch die Fenster kann sie beobachten, was im Garten und auf dem Hof geschieht, und dem Herd gegenüber sieht sie durch eine weite thorartige Öffnung auf die "grosse Diele", die zweite Halle des Hauses, die oft die Hälfte des ganzen Gebäudes einnimmt, das Centrum des Wirtschaftslebens. Hierher öffnen sich an den Seiten die Ställe der Tiere, durch das Thor am Ende der Halle kommen die hochbeladenen Heu- und Kornwagen herein. Für das Landhaus wäre die Anlage der Querhalle vielleicht von Wert. Wir haben in unseren modernen Wohnungen ganz verlernt, wie köstlich es ist, einen sehr grossen Raum zur gemeinsamen Benutzung zu haben. Von dieser Halle könnte es nach der einen Seite in die Wohnzimmer gehen, genau wie im Bauernhaus, und an der entgegengesetzten Seite könnten sich die Küche und die Wirtschaftsräume anschliessen. Die alte Herdstelle müsste Kamin werden mit den nötigen Sitzgelegenheiten. Die langen Fensterwände würden die Möglichkeit bieten, tiefe geräumige Erker auszubilden, zimmerartige Kojen mit dem Blick auf den Garten. Die Motive brauchten wir nicht aus England zu holen. Alles einzelne findet sich in unserer älteren, von Italien, Frankreich und der modernen Gotik noch nicht berührten städtischen und ländlichen Architektur.


DER BEISCHLAG

Wir haben noch keine Monographie des Beischlags. Und wenn es sich auch um eine Anlage handelt, die so gut wie ausgestorben ist und von der man kaum annehmen darf, dass sie für das Stadthaus wieder aufgenommen wird, wäre es doch für die Anschauung des Strassenbaues und Strassenbildes der norddeutschen Städte bis ins achtzehnte Jahrhundert von Wichtigkeit, wenn überall die Reste und Spuren zusammengestellt würden, dass man einmal das ganze Thatsachenmaterial überblicken könnte. Schon Günther Gensler wies darauf hin, dass der Beischlag ein Erzeugniss der norddeutschen Architektur sei. Hier dient im Erdgeschoss der meist aufgetreppte Eingang den Fussgängern, während weiter südlich Fussgänger und Wagen durch die grosse Einfahrt ins Haus gelangen, wodurch die Ausbildung eines Beischlags unmöglich wird. Die monumentale Entwickelung hat der Beischlag bekanntlich in Danzig erfahren. Bei uns und in den Nachbarstädten handelt es sich meist nur um eine Sitzgelegenheit vor der Thür. Vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts ist der Beischlag in der Architektur des vornehmeren Privathauses bei uns verkümmert, da die Wohlhabenden schon früh im Jahr "auf den Garten" zogen. In den Quartieren der weniger Wohlhabenden war er dagegen bis in unser Jahrhundert üblich und stellenweise sogar balkonartig erweitert. Aus meiner Jugend erinnere ich mich noch, dass an milden Sommertagen die alten Beischläge in der Hafengegend den Aufenthalt der Familie bildeten. Heute sind sie bei den Strassenregulierungen fast überall verschwunden, und wo ein einzelner noch übriggeblieben ist, wird er kaum noch so viel wie früher benutzt. Ehemals gehörte der Beischlag zu den ganz volkstümlichen Formen unserer Architektur. Im fünfzehnten Jahrhundert bildete er die hervorragendste Zier der Fassade und vertrat als Schmuckträger die Stelle des später in Anlehnung an südliche Baugedanken reicher ausgebildeten Portals. An Ort und Stelle erhaltene Beispiele sind sehr selten. In Hamburg giebt es keine mehr aus so alter Zeit.

In Lübeck stehen noch die beiden hohen Stelen vor dem Schifferhaus, aber die Bänke fehlen, die sie früher mit dem Hause verbanden. Am Rathausportal werden die beiden kostbaren Bronzetafeln bewundert, die wohl einstmals nicht die Rückwand des Sitzes bildeten, wie heute, sondern ebenfalls die Stirn der Bank schmückten und weit höher angebracht waren als heute, wo sie ganz versteckt stehen. Doch ist dies nur eine Vermutung. Sie sind vielleicht die einzigen in diesem edlen Material. - Auch in Lüneburg finden sich an der ursprünglichen Stelle noch sehr häufig Beischlagpfosten des fünfzehnten Jahrhunderts erhalten. Bei uns in Hamburg dürften heute die ältesten Beispiele vor den Häusern aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen. Aber wir sind zu dem Schlusse berechtigt, dass die Beischläge dem Bild der Hamburger Strassen im fünfzehnten Jahrhundert den künstlerischen Charakter gaben. Ein glücklicher Zufall hat uns nicht nur eine gleichzeitige Abbildung, sondern auch eine Reihe ganz hervorragender Bruchstücke erhalten. Die Abbildung findet sich auf dem linken Flügel des Altars der Maler in der Jacobikirche. Wir sehen darauf dieselbe Anlage, die in einem einzelnen Beispiel noch bis zum Brande von 1842 erhalten geblieben war. Die Treppenwangen bilden den Sitz und werden vorn von dem Paar hochragender, stelenartiger Pfosten abgeschlossen, die am Kopfstück die Wappen tragen und darunter die Jahreszahl 1499. Weiter unten trägt jeder der Pfosten einen Ring, das Reitpferd anzubinden, an der Erde ist jedem ein unregelmässiger Block als Prellstein vorgelegt. Im Hintergrunde lässt sich erkennen, dass auch andere Häuser ähnliche Beischläge hatten. Aber diese Darstellung würde uns von dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit der im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert vorhandenen Bildungen keine Vorstellung geben, wenn nicht ein glücklicher Zufall uns eine Anzahl von Originalen erhalten hätte. Der Steinmetzmeister Stiefvater hatte alle Reste von Beischlägen, die sich beim Abbruch von Haustreppen fanden, wo sie mit dem Gesicht nach unten als Stufen geendet hatten, sorgfältig aufbewahrt. Seine Witwe hat sie sodann dem Museum für Hamburgische Geschichte geschenkt. Aus späteren Funden ist noch einiges hinzugekommen, ein prächtiges Stück mit Figuren im Relief bewahrt das Museum für Kunst und Gewerbe auf.

Wir können an diesem Material die Entwickelung fast zwei Jahrhunderte lang verfolgen, und es lassen sich deutlich drei Typen unterscheiden. Die älteste Form scheint eine oft über manneshohe stelenartige Steinplatte gewesen zu sein, deren oberes Ende ein rundes Kopfstück mit deutlich markiertem Halseinschnitt bildete. Bei den einfacheren Formen enthielt dies Kopfstück ein Wappen. Zuweilen war auch die ganze Fläche geschmückt. In einem Falle mit einer einzigen grossen Figur, in einem anderen mit getrennten Darstellungen, dem Wappen auf dem Körper, einer Auferstehung Christi im Kopfstück. Diese Form, die den Kopf der auf der Bank Sitzenden beträchtlich überragte, wurde, vielleicht einer bequemeren Umschau wegen, durch eine kürzere und breitere ohne Kopfstück abgelöst, die im sechzehnten Jahrhundert sich der Anbringung von Renaissance-Architektur gefügiger zeigte, aber im fünfzehnten bereits vorkommt. Ziemlich spät im sechzehnten Jahrhundert scheint dann ein dritter Typus ausgebildet zu sein in Gestalt eines dicken, vierseitigen Pfostens, der an den drei äusseren Seiten mit Renaissanceschnörkeln und kleinen figürlichen Reliefs bedeckt wurde, da für grössere Darstellungen kein Platz war. Die schönste von allen Beischlagplatten ist zugleich wohl die älteste, die mit dem heiligen Georg im Museum für Hamburgische Geschichte. Früher galt sie als Grabstein, Günther Gensler hat sie zuerst als Teil eines Beischlages erkannt. Es ist ein sehr grosses Kunstwerk, eins der interessantesten aus der ganzen Epoche. Die Technik ist nicht eigentlich die eines Steinmetzen. Schon auf den ersten Blick wird man an die Messingplatten auf den Kirchengräbern erinnert. Wie bei diesen handelt es sich um eine Zeichnung, deren Hintergrund flach ausgehoben ist. Man wird kaum fehl gehen, wenn man die Zeichnung als Werk eines Malers ansieht, denn dem Steinmetz sind ganz andere Ausdrucksmittel geläufig. Vielleicht lässt sich sogar der Maler nachweisen, von dem die Zeichnung stammt. Der Tracht nach gehört das Werk in die zwanziger oder dreissiger Jahre des fünfzehnten Jahrhunderts. Damals schuf in Hamburg Meister Francke eine Anzahl köstlicher Bilder. Das schönste darunter ist unser Christus als Schmerzensmann, das umfangreichste der Thomasaltar unserer ehemaligen Johanniskirche, jetzt aus dem Museum zu Schwerin in den Besitz der Hamburger Kunsthalle gelangt. Auf letzterem befinden sich Ritterfiguren, die in Waffen und Tracht an den heiligen Georg unseres Beischlages erinnern. Die Vermutung, dass die Werke von der Hand desselben Meisters stammen, habe ich schon vor einigen Jahren im Verein für Hamburgische Geschichte ausgesprochen.

Die Gestalt des heiligen Georg imponiert durch die grossartige Bewegung, die dem verfügbaren Raume mit grösstem Geschick angepasst ist, und durch den eigenartigen Typus der Gesichts. Er ist kein jugendlicher Heiliger mit allgemeinen Idealzügen, sondern das Bildnis eines sehr martialischen Mannes mit grosser Nase und starkem Schnurrbart. Gerade dieser bildnisartige Charakter des Kopfes rückt dieses kostbare Werk in die Nähe der Thomasbilder von Meister Franck. Welcher Heilige mag das Seitenstück gebildet haben? Und vor welchem Hause mögen diese beiden Kolossalgestalten den Eingang bewacht haben? Wenn wir uns das grandiose Ensemble vergegenwärtigen, können wir die Frage nicht unterdrücken, ob die Strassen des modernen Hamburg irgendwo ein so mächtiges Kunstwerk enthalten. Die übrigen Platten aus dem fünfzehnten Jahrhundert sind nicht so bedeutend, aber es finden sich unter denen mit Reliefs noch einzelne Prachtstücke, so das mit dem Junker und der Jungfrau als Schildhalter im Museum für Hamburgische Geschichte, das mit den Heiligen im Museum für Kunst und Gewerbe. Aus dem sechzehnten Jahrhundert bewahrt das Museum für Hamburgische Geschichte eine ganze Reihe zierlicher, wappengeschmückter Stelen und einige Platten mit Reliefs auf, darunter eine mit der Anbetung der Hirten in sehr origineller Anordnung. Eine sorgfältige Publikation dieser Reste wäre sehr zu wünschen. Wenn sie uns auch Vorbilder nicht bieten, dürften sie uns doch in mehr als einer Beziehung anzuregen geeignet sein. Es ist schon ein Gewinn, wenn sie uns beschämen. Das gute alte Wort Beischlag lebt vielleicht wieder auf, wenn wir es für die unbedeckte Terrasse am Hause anwenden. Denn obwohl der Beischlag für das Haus in der Stadt nur in seltenen Fällen noch empfohlen werden könnte, lässt sich seine Verwendung beim kleinen Landhause sehr wohl vorstellen. Ist der Vorgarten nicht gross, und will man den Raum für eine besondere Sitzgelegenheit sparen, so sind die beiden Bänke auf der Treppenwange des Einganges das Gegebene. Da man an dieser Stelle des Durchganges wegen keinen Tisch aufstellen kann, so müssten über den Arm- oder Rücklehnen Flächen zum Absetzen von Tassen und Arbeiten vorhanden sein. Wenn diese Sitzgelegenheit mit einem Dach versehen wird, ist darauf zu achten, dass das Oberlicht, das die Diele erhellt, darüber angebracht wird oder dass ein Seitenfenster nicht fehlt. Für den Architekten dürfte bei der Entwickelung des kleinen Landhauses das Motiv unseres alten Beischlages von grossem Wert sein können.


VERANDA, BALKON, ERKER

Unsere Vorväter scheinen die Laube am Haus, denn das ist die Veranda, nur für die städtische, nicht für die ländliche Architektur gekannt zu haben. Wie der Name andeutet, kam sie vom Auslande - wohl über England aus Indien - und das erst in unserem Jahrhundert. Man merkt ihr heute noch an, dass sie kein einheimisches Gewächs ist. Sie gedeiht meistens nicht recht. Selten ist sie bequem und nützlich, in der Regel ein ornamentales und schädliches Anhängsel, wie so vieles in unserer Architektur. Eine Veranda soll im Sommer bei jedem Wetter der Familie den bequemen Aufenthalt im Freien ermöglichen. Sie ist ursprünglich eine offene oder gedeckte Laube, in die man unmittelbar vom Zimmer aus eintreten kann, damit man bei heisser Sonne und bei Regenwetter Schutz hat und nicht erst, um das Dach der Laube zu erreichen, einen Weg durch den sonnigen oder nassen Garten zurückzulegen braucht. Sie soll der Familie zum Aufenthalt dienen, auch wohl, wenn Besuch kommt, einer Gesellschaft. Dazu pflegt sie nun in der Regel nicht geräumig genug zu sein. Wer eine Veranda baut, sollte sie so gross anlegen wie irgend zulässig. Praktisch brauchbar wird sie erst, wenn sie ein Zimmer mässigen Umfanges ersetzen kann. Solche Veranden sind bei uns sehr selten, höchstens bei grossen villenartigen Anlagen zu finden. Sie sollten aber keinem Familienhause fehlen, denn der Aufenthalt im Freien darf eigentlich erst beim Eintritt der rauhen Jahreszeit aufgegeben werden. Die gebräuchlichen Veranden sind klein und eng, und die Familie benutzt sie meist nur wenig oder überhaupt nicht, weil sich in dem engen Glaskasten niemand behaglich fühlt. Das wäre vielleicht noch zu ertragen, wenn die überflüssige Anlage nicht den grossen Nachteil hätte, dass sie das ganze Jahr hindurch ein Zimmer vollständig verdunkelt. In sehr vielen Häusern macht sie dies Zimmer geradezu unbrauchbar. Die Bremer haben einen anderen Typus der Veranden ausgebildet. Man baut sie dort grösser als in Hamburg und pflegt sie quer vor ein Zimmer mit zwei Fenstern zu legen. Damit sie kein Licht nimmt, trägt sie nicht, wie bei uns, einen Balkon oder ein festes Dach, sondern ist mit Glas gedeckt, und zu ihrem Aufbau wird fast ausschliesslich Eisen verwendet. Dass der Hausbewohner in Hamburg mit seiner Veranda vor dem sogenannten Entreezimmer nicht sehr zufrieden ist, beweisen häufige Umbauten.

Aus dem Eisen- oder Holzbau pflegt ein Steinbau zu werden, dessen sämtliche drei Aussenwände von Fenstern und Thüren eingenommen werden. Für den Sommer erweist sich diese Anlage wohl brauchbar, im Winter ist sie meist eine Last, da sie selten mitgeheizt werden kann, und wenn es einmal so eingerichtet ist, das Zimmer doch nur an milden Tagen bewohnbar macht, weil die Abkühlungsfläche der Fenster zu gross ist. Diese Art Anlagen sollte man niemals gutheissen. Wo der Platz es erlaubt, sollte man die Veranda an eine fensterlose Wand legen. Wenn sie eine abgeschlossene Rückwand hat, lässt sie sich weit behaglicher einrichten. Es ist ungemütlich, ein Fenster im Rücken zu haben. Die Treppe nach dem Garten sollte nie an der Mitte der Vorderseite hinabführen, weil das den benutzbaren Raum zerreisst. Am meisten Platz gewinnt man und die beste Art, die Möbel bequem zu ordnen, wenn man die Treppe an eine der Schmalseiten legt, und zwar, wenn der Raum nicht sehr gross ist, wieder nicht in die Mitte, sondern an die Hauswand gelehnt. Wer so viel Platz hat, neben die gedeckte Veranda noch eine ungedeckte Terrasse - einen Beischlag - zu legen, sollte es nicht unterlassen. Auf eins ist bei jedem Neu- und Umbau zu achten: die geschlossene Veranda, die auch im Winter benutzt werden soll, darf nicht von Pfeilern oder gar Säulen getragen werden. Wo diese Parasiten in unserer Architektur auftreten, ist eine vernünftige Fensterbildung unmöglich.

Das Klima hat in Hamburg nicht zur Erfindung oder Ausbildung des Balkons geführt. Es ist zu rauh, zu regnerisch und zu windig. Bis ins siebzehnte Jahrhundert dürfte er sehr selten gewesen sein oder doch nur in Form einzelner gedeckter Holzlauben existiert haben, wie man sie an den Fleeten hie und da noch beobachten kann. Als nach dem Hinausrücken der Befestigung während des dreissigjährigen Krieges der untere Teil des Neuen Walles abgetragen wurde, zog mit der fremden Palastarchitektur, von der das Palais Görtz, das heutige Stadthaus, ein Beispiel giebt, auch der Balkon ein. Er blieb jedoch bis in die letzte Zeit mehr ein Ornament als ein Gegenstand des Gebrauches, fast niemals sieht man ihn benutzt, wo er im ersten Stock des Einzelhauses über der Veranda zu liegen pflegt. Es müsste denn sein, dass er beim Reinmachen zum Klopfen der Möbel und Betten benutzt wird. Erst das Eindringen des Etagenhauses hat ihm eine grössere Bedeutung gegeben. Aber auch hier macht sich der Einfluss des Klimas störend merkbar. Nur gedeckte und gegen den Wind geschützte Balkons sind bei uns für die Familie wirklich brauchbar, und wir werden schwerlich dahin kommen, ein Sommerwohnzimmer daraus zu machen, wie die Bewohner von Berlin W. Auch in Berlin kommt der Balkon wohl zuerst im sechzehnten Jahrhundert als ein Schmuck des Fürstenschlosses vor und wurde erst in der übervölkerten Hauptstadt unserer Epoche ein notwendiges und deshalb rationell ausgebildetes Bauglied. Man legt ihn in neuerer Zeit denn auch so geräumig und so geschützt an, dass er der ganzen Familie zum Aufenthaltsort dienen kann. Geht die Rückseite des Hauses auf einen der grossen Gartenkomplexe, wie sie in Berlin W. so häufig sind, dann ist es an den milden Sommerabenden ein liebliches Schauspiel, in der ganzen Runde vom ersten bis zum vierten Stock die Lampen durch das Grün der Winden und Tropäolum, die das Gitter umranken, schimmern zu sehen. Denn der Balkon wird meist auch als Sommerwohnzimmer und Hausgarten verwandt. Wo er, wie in den neuen Stadtvierteln nördlich vom Tiergarten als Hauptschmuck der Fassade ausgebildet ist, sieht man im Sommer die hohen Häuser der weiten Strassenfluchten von oben bis unten in den Schmuck grüner Blätter und bunter Blumen gehüllt, und der Wind, der hindurchstreicht, hebt überall die flatternden Ranken des wilden Weins, der üppig von den Balkons herunterhängt. Vor dreissig Jahren kannte die Berliner Architektur dies liebliche Motiv kaum. In Hamburg wird es bei dem beständigen Winde in diesem Reichtum wohl nie heimisch werden können, doch verdient der Balkon auch bei uns, dass die Aufmerksamkeit des Hauserbauers sich ihm zuwendet. Und sollte er auch nur beim Klopfen und Bürsten hygienischen Zwecken dienen. Aber auch bei uns hat er keinen Sinn, wenn er eng und klein ist.

Sehr in den Kinderschuhen steckt in unserer modernen Architektur der Erker. In der Regel ist er so klein, dass sich eine einzelne Person kaum darin umdrehen kann. In dieser Abmessung gehört er schlechtweg in das Gebiet des groben Unfugs. Er nutzt dem Bewohner des Zimmers gar nichts, macht aber durch seine kleinliche Fensterbildung, die namentlich bei rechteckigem Grundriss schlimm zu sein pflegt, einen unruhigen Winkel. Wie man Erker bauen soll, können wir von unserem heimischen Stadt- und Landhaus und von der englischen Cottage lernen, wo er im Halbkreis oder Halboval dem Zimmer breit vorgelegt wird mit einem die ganze Weite umspannenden Fenster ohne Säulen und Pilaster. Er hat in dieser Ausbildung Raum genug, dass er mehreren Personen zum bequemen Aufenthalt dienen kann, gewährt freien Ausblick auf Garten oder Platz und bietet dem Zimmer die einheitliche, ruhige Lichtflut, die es behaglich macht. Welch ein freundliches Element der Belebung der Fassade dieses bow - window bietet, lässt sich leicht vorstellen. Sein Ursprung ist durchaus nicht ausschliesslich englisch. Ähnliche Bildungen waren z. B. in den alten hamburgischen Stadthäusern als kleine mit Ziegeln gedeckte Vorbauten des Erdgeschosses, deren Wand von einem einzigen Fenster eingenommen wurde, sehr gewöhnlich. Runde Ausbauten ähnlicher Art finden sich an unseren Landhäusern vom siebzehnten Jahrhundert ab erhalten und sind vielleicht noch älter. Derartige heimische Motive sollten nicht in Vergessenheit geraten.


DRITTER TEIL

THEORIE UND HISTORIE
1896

Vom Standpunkt unserer Nachbarn betrachtet sind wir das Volk der Historiker und Theoretiker mit mangelhaft entwickelten Sinnen. An der Spitze ihrer Kritik steht der Hinweis auf die Bedürfnislosigkeit unserer Zunge, die gegen die Güte der Nahrungsstoffe und gegen ihre Zubereitung gleichgültig ist, auf die mangelhafte Kultur unseres Auges, das keine hohen Anforderungen an Farbe und Form stellt, und auf die einseitige Kultur des Ohres, das eine mehr instrumentale Behandlung und Verwendung der menschlichen Stimme zulässt. Zur Begründung dieses Urteiles wird auf die Thatsachen hingewiesen, dass wir keine nationale Küche der französischen gegenüber zu stellen haben, dass wir in der Mode den englischen und französischen Weisungen folgen, dass unsere Malerei, Architektur und dekorative Kunst unseren Nachbarn kein Vorbild bietet und dass in unserer Musik das instrumentale Wesen überwiegt. Es wird schwer halten, den Kern von Wahrheit in diesen Urteilen zu übersehen. Auf dem Gebiet der dekorativen Künste lässt sich überall die mangelhafte Beteiligung der Sinnesorgane, also des Auges, durchfühlen. Wie selten ist die Empfindung für Farbe ausgebildet. Man findet sie eigentlich nur bei Künstlern, die sie im Studium der Natur in sich entwickelt haben, und bei Frauen, die sie der Aufmerksamkeit für ihre Toilette danken. Hier kommt die merkwürdige Einseitigkeit zum Vorschein, dass Künstler oft die zarteste Farbenempfindung für die Werke ihrer Kunst besitzen, aber gegen die Farbe in ihrer Umgebung stumpf sind und dass Frauen, die das äusserste Feingefühl für die koloristische Wirkung ihrer Toilette verraten, sich in einer Einrichtung wohlfühlen können, die ganz un- oder antikoloristisch beschaffen ist. Architekten haben ganz erschreckend selten einen Begriff von Farbe. In der dekorativen Kunst liegt dies Element noch mehr danieder. Für das Publikum im allgemeinen, namentlich für das Männergeschlecht, ist Farbe gar nicht auf der Welt. Wie wenig auch das Gefühl für Formen und Verhältnisse entwickelt ist, zeigt sich an allen Ecken und Enden, wo gebaut und eingerichtet wird. Ein Haupthindernis der einzig möglichen Schwenkung, des bewussten und energischen Anschlusses an die lebendige Kunst und dadurch an die Natur, bildet das theoretische und historische Element unserer künstlerischen Erziehung, soweit von einer solchen die Rede sein kann. Wir geniessen Kunst weit mehr mit dem Verstand als mit den Sinnen. Unser Schönheitsgefühl ist durch historische Begriffe eingeengt. Wir haben es sogar so weit gebracht, es historisch zu specialisieren. Der eine glaubt nur antike Schönheit empfinden zu können, andere sind blind gegen alles, was nicht Gotik ist, wieder anderen gilt nur die Renaissance in irgend einer ihrer Erscheinungsformen.

In Bezug auf das durch historische Voreingenommenheit vielfach beschränkte Verhältnis zur dekorativen Kunst ist der Zustand unserer Gewerbemuseen überaus lehrreich, und die Ideen, die ihre Zusammenstellung geleitet haben, galten auch im ganzen Unterrichtswesen. Als die deutschen Gewerbemuseen begründet wurden, zu Ausgang der sechziger Jahre, einige etwas früher, andere etwas später, galten nur Gotik und Renaissance. Die Konkurrenz um die seltenen Überreste war gross, man zahlte hohe Preise, schätzte dann die Erwerbungen um so höher, und das Gewerbe, vom Architekten geführt, begab sich auf das bis dahin verachtete Gebiet wie in ein neuerobertes Reich. Unterdes wanderten die noch vorhandenen Rokokomobilien hohen Ranges, und es gab davon sehr viel in Deutschland, aus alten Schlössern und Patricierhäusern in niedrigere Sphären verstossen, nach England, Frankreich und Russland. Als zu Anfang der achtziger Jahre der Versuch gemacht wurde, den überreichen Renaissanceabteilungen das Barock und Rokoko hinzuzufügen, war es zu spät. Man konnte in Deutschland das Beste nicht mehr erlangen, und auf dem Pariser und Londoner Markt mitzukonkurrieren, fehlten die Mittel. Louis XVI., Empire und sein merkwürdiger Ausklang im sogenannten Biedermeierstil, wären noch zu haben gewesen, wurden aber verschmäht und wanderten aus. Seit einigen Jahren versuchen die deutschen Museen nun auch diese Lücke zu füllen, aber auch hier geht es ihnen wie dem Reiher in der Fabel. Auf zehn Säle Gotik und Renaissance pflegt ein einziges kleines Zimmer mit Rokoko, Louis XVI. und Empire zu kommen. So bieten denn diese Anstalten ein ganz verkehrtes Bild der Entwickelung. Die stammelnden Versuche der Möbelbildung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts stehen in Massen als Vorbilder da. Das siebzehnte, das das moderne Möbel zuerst ahnte, ist kaum vertreten; das achtzehnte, das zum erstenmal für alle Bedürfnisse eines verfeinerten aristokratischen Lebens den Ausdruck suchte und mit dem Aufwand der höchstentwickelten Technik und des feinsten künstlerischen Gefühles befriedigte, kann nur andeutungsweise erkannt werden, und die ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, die eigentliche Keimperiode des modernen bürgerlichen Möbels, fehlen ganz. Fast einzig das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe macht hier, wie in vielen anderen Dingen, eine Ausnahme.

Und einerlei, ob es sich darum handelt, Vorbilder für eine möglichst unveränderte Kopie zu suchen oder um jene feinere und seltenere Benutzung der Alten, die den Geist zu verstehen trachtet und die gewonnene Einsicht bei der eigenen Produktion benutzt, gerade die beiden letztgenannten Epochen der Geschichte des Möbels sind für uns von grösster Wichtigkeit. Denn wer die Entwickelung des Mobiliars unbefangen verfolgt, der wird mit wachsendem Respekt das Rokoko, das Empire und seinen Nachfolger, den vorläufig als komisch empfundenen und bezeichneten sogenannten Biedermeierstil betrachten. Unsere Nachbarn, die sich durch die Historie nicht so lange aufhalten liessen, haben die Schönheit dieser Epochen sehr viel schneller begriffen. Wenn man diese wichtigsten Zeiten der Möbelbildung studieren will, muss man zu ihnen gehen. Und wenn sie unsere Museen besuchen, geht ihr Urteil dahin, dass sie sich von der Macht der Theorie und der historischen Befangenheit, die unsere Entwickelung gehemmt haben, durch den Augenschein überzeugt hätten. Wir haben daraus die Lehre zu ziehen, dass wir mit jedem Vorurteil zu gunsten eines der historischen Stile zu brechen haben. Solange wir nur mit dem Griechen, dem Gotiker oder dem Renaissancemenschen fühlen können, sind wir meilenfern von der einzig fruchtbaren Erkenntnis, dass alles Vergangene gleich scharf von uns getrennt ist; dass wir, wenn wir wollen, von allem gleichmässig entlehnen können, was uns passt, und dass wir vor allem den Anschluss an die lebendige Kunst und den Ausdruck unseres eigenen Lebens zu suchen haben.

Zu all' den historischen und theoretischen Vorurteilen, die auf dem Gebiete der Architektur und der dekorativen Künste unsere Freiheit einengen, kommen noch gewisse befangene Anschauungen in Bezug auf Technik, die namentlich in der Entwickelung der Möbelindustrie einen Hemmschuh gebildet haben. Es ist vor allem ein falscher Begriff der  S o l i d i t ä t  und eine ängstliche Betonung der Konstruktion. Beides dürfte ein Vermächtnis der gotischen Schule sein, die von einem an sich ganz gesunden und seiner Zeit als Reaktion notwendigen Verlangen nach gediegenem Material und klarer Konstruktion ausgehend, schliesslich, wie das so zu gehen pflegt, ein fruchtbares Princip durch Übertreibung zu einem starren, die Unbefangenheit vernichtenden Schema gemacht hat. Es wurde eine unintelligente Anwendung moralischer Grundsätze auf Erzeugnisse der Kunst daraus. Ein Tisch mit schwerer Eichenplatte, schrägen Beinen und Trittbrettern ist freilich insofern gediegener als ein furnierter Mahagonitisch mit Beinen, die untereinander nicht verbunden sind, als er beim Gebrauch ganz rücksichtslos behandelt werden darf. Der Sohn des Hauses kann sogar mit seinem ersten Messer seinen Namen in die Platte schneiden, ohne ernstlichen Schaden anzurichten. Aber die Theoretiker der Solidität vergessen dabei, dass wir in den letzten drei Jahrhunderten das Schonen gelernt haben. Ein Ritter des fünfzehnten Jahrhunderts würde allerdings nicht mit einer Mahagonieinrichtung umzugehen wissen. Daraus schon ergiebt sich, dass der Begriff der Solidität sehr relativ ist. Auch nach anderer Seite hin musste man dieselbe Erfahrung machen. Solidität wurde mit Massigkeit und Schwere verwechselt. Es entstanden Möbel, die eigentlich zu Immobilien geworden waren, Schränke, die man nicht rücken und auch nicht - wie die grossen Prunkstücke früherer Zeit - auseinander nehmen konnte, Stühle, die sich nur durch vereinte Kräfte der Familie bewegen liessen. Aber bei diesem ungeheuren Aufwand von Material hielten sie den Einflüssen der Wärme und Feuchtigkeitsschwankungen nicht besser, ja nicht so gut stand wie die verachteten furnierten Möbel. Dass auf letztere der Begriff der Solidität überhaupt Anwendung finden konnte, erschien theoretisch ausgeschlossen, und wer die Bewegung der siebziger Jahre als junger Mensch mitgemacht hat, wird sich erinnern, dass es auch ihm gegen das Gefühl ging. Späterhin lernten wir unbefangen die Entwickelung der Technik seit der gotischen Epoche beobachten und kamen auf historischem Wege zu ganz anderen Anschauungen. Es wurde uns klar, dass auch technisch von der Zeit der Gotik bis gegen die dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts eine stetige Entwickelung in der Behandlung des Holzes stattgefunden hatte.

Langsam sehen wir in der gotischen Zeit das Verständnis für die Eigenschaften des Holzes wachsen. Am deutlichsten bei der Behandlung der Thüren. Im Mittelalter waren es Bretter, die man vor dem Verwerfen nur durch Überspinnen mit eisernen Bändern schützen konnte. Schon in derselben gotischen Epoche wurde dann das Rahmenwerk durchgebildet, in dessen Banden die Holzfasern gegeneinander anarbeitend die Wirkung ihrer Kräfte aufhoben. Die eisernen Beschläge wurden, obgleich sie überflüssig geworden, noch im sechzehnten Jahrhundert nicht aufgegeben und im siebzehnten von der Aussenseite auf die innere übertragen; freilich im wesentlichen nur noch ein hübsches Ornament. Im sechzehnten Jahrhundert begann man das Princip des Rahmens ornamental auszubilden. In den einfachen äussersten Rahmen wurde nicht eine einfache Füllung, sondern ein System von grösseren und kleineren Rahmen mit ihren Füllungen gelegt, sich vielfach kreuzend und überschneidend, schliesslich sogar im Sinne der Diagonale. Das siebzehnte Jahrhundert, das zuerst in grösseren Mengen die edlen auswärtigen Hölzer kennen lernte, die zunächst als kostbare Seltenheit ankamen und schon aus ökonomischen Gründen nicht als Rohmaterial behandelt werden konnten, bildete das System des Furnierens aus, das übrigens als Mosaik schon der Gotik bekannt und im Altertum gang und gebe gewesen war. Als nun durch die Arbeit mit den kostspieligeren fremden Hölzern eine subtilere Behandlung des Materiales und ein tieferes Verständnis für seine Natur erreicht war, gelangte im achtzehnten Jahrhundert das den modernen Gotikern so verhasste Princip des Verleimens zur höchsten Entwickelung. Man schuf durch die kluge Behandlung aus dem Holz ein neues Material, beständig und richtungslos wie Metall: das sollten wir nicht vergessen, wenn wir vom sogenannten konstruktiven Standpunkt den Bau der Rokokomöbel beurteilen wollen. Sie sind aus einem anderen Material als die gotischen Möbel. Die Einkleidung mit kostbarem Furnier war nun eine Notwendigkeit. Und da man gelernt hatte, die edlen farbigen Eigenschaften der fremden Hölzer durch Politur zu entwickeln, so ergab sich auch nach der dekorativen Seite eine Steigerung der Wirkung: das Holz wurde dem edlen Gestein angenähert. Damit war der Weg zu einer ganz neuen dekorativen Behandlung des Möbels offen. Vergoldete Bronze und blankgeputztes Messing standen prächtig zu den satten tiefen Tönen des polierten Holzes, und auf den Kommoden erschien die farbige Marmorplatte, die auf einem Eichenholzmöbel keinen Sinn gehabt hätte, koloristisch nicht als fremde Zuthat, und sie war nötig, weil die metallenen Leuchter, Uhren und Porzellane auf einer polierten Holzplatte Schrammenspuren hinterlassen. Von dem geschnitzten Eichenmöbel mit Eisenbeschlägen bis zu einer Prunkkommode des Rokoko, welch' ein Weg! Aber dabei nirgends ein Sprung, überall die vollkommen logische Entwickelung.

Diese köstlichen Möbel sind für ein Geschlecht geschaffen, das ausgestorben ist. So wenig ein gepanzerter Ritter in einen Rokokosalon passt, so wenig gehört der einfach gekleidete Bürger des neunzehnten Jahrhunderts hinein. Eine Wiederbelebung des fürstlichen Rokoko ist ein Unsinn in einer Epoche, wo jedermann arbeitet und sich danach kleidet. Aber der Bürger unseres Jahrhunderts hat seinen Stil bereits geschaffen: wir haben es nur vergessen. Technisch konnte er zwar die Leistungen des Rokoko nicht überbieten. Dagegen blieb es ihm vorbehalten, in den ersten drei Jahrzehnten die praktischen Grundlagen zu schaffen, auf denen ein bürgerliches Mobiliar entwickelt werden kann. Wir dürfen behaupten, dass die Zeit von 1790-1830 die grosse Keimperiode des eigentlich modernen, d. h. des bürgerlichen Möbels war. Wo wir Hamburger Möbel aus dieser Epoche antreffen, so machen sie uns in ihrer Einfachheit und Zweckdienlichkeit, in der Schönheit ihrer Linien, Silhouetten und Verhältnisse den Eindruck, als seien sie ganz modern und englischen Ursprunges. In der That gehen alljährlich viele Tausende von Stühlen, Tischen, Kommoden und Schränken dieser Epoche nach England und Amerika, wo sie als alte Erzeugnisse des heimischen Gewerbes verkauft werden. Was die Möbel dieser Epoche auszeichnet, ist, was wir an den modernen amerikanischen und englischen Möbeln bewundern, die Stillosigkeit. Nachdem die - nur äusserliche - Anlehnung an die Antike, die das Empire anstrebte, überwunden war schuf man das Möbel an sich, das konstruktiv mit äusserstem Feingefühl dem Zweck angemessen war, und dessen Schmuck in der deutlichen, einfachen Ausprägung dieses Zweckes lag. Der Stuhl war wirklich zum Sitzen da, und wer ihn benutzte, behielt seine menschliche Form, Schönheit und Würde. Es gab Stühle für alle Bedürfnisse, nur noch nicht zum Liegen. Die Zahl der Tischformen, im Rokoko noch beschränkt, wurde Legion. An Schränken gab es Formen für jeden denkbaren Zweck. Wenn wir das früher beachtet hätten, dann wäre es nicht nötig gewesen, das neue Evangelium aus England zu holen.

Auch eine Abart des Patriotismus hat die Möbelfabrikation stark beeinflusst. Es wurden zu den vermeintlich nationalen Stilen der Gotik - die doch aus Frankreich kam - und der deutschen Renaissance - die sehr stark von Italien beeinflusst war - das deutsche Material verlangt. Die Ära des Mahagoniholzes wurde von der des Eichenholzes abgelöst. Im Grunde ist es selbstverständlich, dass, soweit praktisch möglich, das heimische Holz verwendet wird. Aber die edlen tropischen Hölzer verbannen wollen, wäre Donquichotismus. Es ist nicht einzusehen, warum denn nicht auch alle anderen tropischen Erzeugnisse, wie der edle Tabak, der Kaffee, die Baumwolle aus Patriotismus verschmäht werden sollten. Leider ist die Zahl der für den Möbelbau verwendbaren einheimischen Hölzer gering. Das Eichenholz steht durch viele gute Eigenschaften voran, namentlich als vorzügliches Material für den Bildhauer, es verlangt geradezu Schnitzerei. Kein besseres Material für eine Epoche grosser und origineller Plastik, deren neues Leben bis ins Kunsthandwerk dringt, und kein unbehaglicherer Stoff zu einer Zeit, die in den dekorativen Künsten das tausendmal Dagewesene wiederholt. Für den Gebrauch im modernen Hause ist es überdies sehr unbequem, da es durch die Berührung der Hand schmierig wird, sehr beschwerlich zu reinigen ist und durch Politur nicht gewinnt. Es ist unendlich empfindlicher als z. B. das Mahagoni. Neben Eichenholz kommt noch Nussbaumholz in Betracht. Aber es ist kaum als heimisches Gewächs zu nennen. Damit ist der Vorrat heimischer Hölzer eigentlich erschöpft, denn entweder eignen sich die übrigen nur für die billigsten Einrichtungen, wie das Tannenholz, oder sie sind für ausgedehnten Gebrauch zu selten. Wir würden die Möbeltischlerei unendlich beschränken, wenn wir sie der Diktatur eines oberflächlichen Patriotismus unterwerfen. Die koloristischen Vorteile auszunutzen, die sich durch farbige Beizen oder durch Bemalung erreichen lassen, ist die Zeit in Deutschland wohl noch nicht gekommen.


WANDLUNGEN
1894

I

Ist nicht seit fünfundzwanzig Jahren genug und übergenug von der »Kunst im Hause« geredet und geschrieben worden? Und haben die Anregungen und Vorschläge nicht einen gänzlichen Umschwung der Architektur und Hauseinrichtung zur Folge gehabt? Gewiss. Aber wieder, wie um 1870, stehen wir vor einem Scheidewege, und da wird es nötig, aufs neue nach den Landmarken auszuspähen. Es ist eine alte Erfahrung, dass eine Geschmacksrichtung etwa ein Menschenalter, also zwanzig bis dreissig Jahre, vorhält. Das ist der Zeitraum, der dem Manne zu schaffen vergönnt ist. Dann kommt mit dem neuen Menschen ein neuer Geschmack, der in allen Punkten dem vorhergehenden entgegengesetzt zu sein pflegt. Viele von uns erinnern sich der »guten Stube« vor 1870. Eine Fülle von Licht ergoss sich durch die klaren Gardinen über die Mahagonimöbel mit ihren schwarzen Bezügen und den weissen »Antimacassar« darauf, über die Kupferstiche an den Wänden, den mageren kleinen Teppich unter dem ovalen Sofatisch mit seinen Albums und Prachtwerken. Der schönste Schmuck war die Sauberkeit, und die Poesie der grossen Jahres- und Familienfeste durchwehte den Raum. Dann kam der Aufschwung nach 1870. Wir traten das politische und wirtschaftliche Erbe der Arbeit von Generationen an, und wie wir uns politisch auf eigene Füsse gestellt hatten, so wollten wir auch in der Architektur und in der Industrie uns vom Einfluss des Auslandes frei machen. Nicht aus Frankreich oder England wollten wir die Vorbilder holen, sondern aus unserer eigenen Vergangenheit. Die Erkenntnis, dass auch unser Volk zur Reformationszeit von der künstlerischen Bewegung der Renaissance gepackt worden, war von Forschern und Architekten eben erst gewonnen. Das gab die Parole: Deutsche Renaissance. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte die damals neue Richtung nach den üblichen Kämpfen ihr Ziel erreicht. Das ist nun vergessen. Aber noch lebt in Berlin der Akademiker klassischer Richtung, der damals keine parlamentarischen Ausdrücke finden konnte, um seine Schüler vor der netten Richtung zu warnen. Ein Jahrzehnt später hatte sie gesiegt. Das typische Wohnzimmer von 1880 war in allen Teilen ein Gegensatz zu der »guten Stube«, in der 1870 die heimkehrenden Krieger gefeiert waren. Die Fenster blieben auch im Sommer mit schweren dicken Gardinen verhängt. Durch bunte oder trübe Scheiben drang spärliches Licht. Statt des ausländischen Mahagoniholzes herrschte unumschränkt das heimische Eichenholz und statt der glatten Formen die reichste Schnitzerei. Der Ornamentrausch hatte das deutsche Volk erfasst, eine Freude an üppigem Schmuck, die den Aschbecher und den Stiefelknecht nicht verschont liess. Mit vollen Händen schöpfte man die Formen aus dem unermesslichen Vorrat, den uns unsere Vorfahren hinterlassen. Bis 1890 hatte man in unersättlichem Hunger nicht nur die eigentliche deutsche Renaissance in ihrem ganzen Verlauf, sondern auch das Barock und das so lange verachtete Rokoko verschlungen.

Jetzt sind wir auch damit zu Ende. Was nun? Nach den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte lässt sich unschwer im allgemeinen die Richtung bezeichnen, die man logischerweise einschlagen wird. An Stelle der Fassaden aus Ornament und Fensterlöchern wird man glatte Wände als eine Beruhigung empfinden. Den Schnitzereien der schweren gebeizten Eichenholzmöbel wird man glatte, polierte leichte Formen vorziehen. Statt der schmutzigen »Wurst-, Erbsen- und Sauerkrauttöne« der Teppiche und Möbelstoffe wird man wirkliche Farbe willkommen heissen, nach der Überladung die Reize der Schlichtheit empfinden. Die künstliche Dunkelheit wird einer Flut von Licht weichen, und statt der Kopie der historischen Stile, die jeder erlernen kann, wird man die Bethätigung des individuellen Geschmackes, der sich erziehen, aber nicht lernen lässt, am höchsten schätzen. Dass das kommen würde, war längst zu sehen und ist auch längst gesagt worden. Dass es so plötzlich und zwar wie ein Überfall von aussen hereinbrechen würde, hat auch die überrascht, die es längst gefürchtet und die längst davor gewarnt haben. Zwei Principien stehen sich heute im harten Kampf gegenüber. Vor kurzem sah ich in der Nähe von Hamburg das kleine Wohnhaus - Dreifensterhaus - eines reichen Mannes, das den höchstentwickelten Typus der Epoche der Wiederbelebung der alten Stile bildete. Es war eben fertig gestellt. Der Schmuck der kleinen Küche hatte allein fünfzigtausend Mark gekostet, und die Wohn- und Schlafzimmer waren entsprechend eingerichtet. Was die von der Formenwelt der letzten drei Jahrhunderte erfüllte Phantasie des Architekten ersinnen und kombinieren konnte, war aufgeboten, um kein Winkelchen unverziert zu lassen. Drei Dienstboten waren für die Reinhaltung all der Schnitzereien, Profile, Giebel und Nischen der Dekorationen besonders angestellt. Einige Tage später besuchte ich verschiedene alte Freunde in Berlin. Ich kannte ihre Wohnungen, die ich zuletzt in demselben altdeutschen Stil eingerichtet gesehen hatte, nicht wieder. Alle Eichenmöbel waren verschwunden; keine Spur von Renaissance, Barock oder Rokoko. Von den Decken und Wänden war aller Stuck heruntergeschlagen, die schlichtgestrichene oder mit einer englischen Tapete bedeckte Wand stiess ohne Voute oder Sims gegen die ganz schlichte weisse Decke. Schnitzerei gab es nicht mehr, die Fenstervorhänge waren auf das bescheidenste Mass zurückgegangen oder fehlten ganz. Alles war hell, licht, einfach, und an die Stelle der Form war die Farbe getreten, aber alles war englisch. In Berlin hat die Gesellschaft - die Künstler voran - mit dem Kultus der historischen Stile gebrochen. Sie ist darin England und Amerika gefolgt. Derselbe Umschwung bereitet sich überall vor. Niemand wird mehr leugnen dürfen, dass wir mitten in einer schweren Krisis schweben. Es wäre ebenso gefährlich, nun ohne weiteres über Bord zu werfen, was bisher gegolten hat, wie es thöricht wäre, um jeden Preis alles festzuhalten.


II

In Georg Hirths weitverbreiteter Publikation »Das Deutsche Zimmer« besitzen wir ein ausserordentlich wertvolles Mittel, uns über die Gedanken zu orientieren, die die in den siebziger Jahren von München ausgehende Bewegung auf dem Gebiet der dekorativen Künste leiteten. Einer der Führer hat hier in klarer Form niedergelegt, was damals mit ihm und nach ihm alle fühlten. Die Lektüre dieses Werkes ist für jeden, der sich über die Grundlagen, die wir unter den Füssen haben, orientieren will, ganz unentbehrlich. Es enthält die Erfahrungen einer ganzen Epoche, und viele Beobachtungen, die hier zuerst ausgesprochen sind, haben dauernden Wert. Zehn Jahre liegen seit dem Erscheinen der dritten Auflage dieses Buches hinter uns. Von der ersten bis zur dritten Auflage war der Standpunkt derselbe geblieben, nur der Blick hatte sich erweitert. Aus dem Zimmer der deutschen Renaissance der ersten Auflagen war das »Deutsche Zimmer« aller Epochen vom Mittelalter bis zum Schluss des achtzehnten Jahrhunderts geworden. Auf dem Boden der historischen Stile sollte sich die Wiedergeburt des modernen Geschmackes vollziehen. Georg Hirth betont ausdrücklich, dass der gute Geschmack in erster Linie von der Kennerschaft alter Kunst abhängig sei. Grosses liesse sich nur »bei liebevollem und verständnisinnigem Studium der Alten« erreichen. Die Überzeugung müsse Gemeingut werden, dass wir unser Heil in der deutschen Renaissance des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zu suchen haben. Doch können wir keine alte Dekorationskunst zurückgewinnen, es sei denn durch die innigste Hingabe an ihre Naturauffassung und Naturwiedergabe. Das war 1886 das Glaubensbekenntnis weiter Kreise und ist es noch jetzt. Aber seit 1886 ist die Situation wesentlich verändert. Der Vergleich mit der Entwickelung der modernen Malerei zeigt am schnellsten, in welchem Sinne. Bis auf Makart herrschte das Vorbild der alten Meister. Natur wollten alle Bekenntnisse, aber nicht auf eigenen Füssen, naiv und unbefangen, sondern an der Hand der alten Meister. Darauf war die Erkenntnis aufgegangen - freilich erst, nachdem die Versuche der Anlehnung bei allen Epochen bis zum Rokoko misslungen waren -, der Künstler habe vor der Natur zu vergessen, dass überhaupt schon etwas Gemaltes in der Welt sei. Von dem Moment gab es eine neue Kunst. Solange die lebende Malerei sich auf die tote stützte, war die Maxime begreiflich, dass die Kenntnis der alten Kunst die beste Vorbereitung zum Verständnis der modernen bildete. Von dem Augenblick aber, wo die Maler das Joch der Alten abschüttelten, reichte diese Basis nicht aus, und es begann zu dämmern, was heute die eingestandene oder uneingestandene Überzeugung vieler geworden ist, dass eine fruchtbare künstlerische Bildung vom Boden der eigenen Zeit auszugehen habe, und jetzt wollen wir die Alten von unserem Standpunkt aus betrachten und nicht die unseren vom Standpunkt der Alten.

In der Architektur und der angewandten Kunst (dem Kunstgewerbe) hat sich derselbe Prozess vollzogen, nur etwas später, weil sie stärker an die Materie gekettet sind. Auf eine Periode absoluter Nachahmung folgte eine Zeit, die, wie Hirth es bezeichnet, durch die innigste Hingabe an die Naturauffassung und Naturwiedergabe vergangener Epochen neue Kunst schaffen wollte. Das ist die Zeit, deren Empfindung Hirth am klarsten dargestellt hat, die Zeit des altdeutschen Zimmers. Und nachdem die Malerei und die Plastik sich vom Banne der »ewiggültigen Vorbilder« befreit haben, bricht nun auch für die angewandten Künste die Zeit herein, die von unseren Bedürfnissen, von der frischen Empfindung für Farbe und Form ausgehen will, die wir selbst aus dem Studium der Natur gewonnen haben. Noch ist sie in Deutschland erst als theoretische Erkenntnis da, die sich im Kampf nicht mit den alten Ideen, sondern mit den in ihnen erzogenen, von ihrer Anwendung lebenden Kunstgewerblern, Professoren und Direktoren von Kunstgewerbeschulen durchzusetzen hat. Der Anschluss der gewerblichen Produktion an die lebendige Kunst, der in England die beginnende Weltherrschaft der englischen Kunstindustrie vorbereitet hat, ist bei uns noch nicht zustande gekommen. Was für die Epoche, die er vertritt, schon Georg Hirth bedauert hat, gilt auch noch jetzt: »Die führenden Geister der Malerei üben nicht den geringsten Einfluss auf die angewandte Kunst.« Hohe und angewandte Kunst leben unvermittelt, um nicht zu sagen im Kampf, nebeneinander, denn der schaffende Künstler lacht über unser Kunstgewerbe, und der Kunstgewerbler über den führenden Künstler. Sie verstehen sich nicht.

Die theoretische Verschiebung des Standpunktes findet ihre praktische Ergänzung durch die veränderten Marktverhältnisse. Seit einem Jahrzehnt etwa ist England, seit 1893 Amerika als unser scharfer Konkurrent nicht nur auf dem Weltmarkt, sondern sogar dem heimischen Markt aufgetreten. Die Sache hat sich langer Hand vorbereitet, und seit Jahren ist vor der Wahrscheinlichkeit gewarnt, dass wir uns in Bälde zu Haus unserer Haut zu wehren haben würden. Aber wer auf die drohende Gefahr hinwies, wurde von denen, die ein Interesse daran haben, dass die ausgefahrenen Geleise nicht verlassen werden, verdächtigt, er wolle Nachahmung des Auslandes predigen oder gar für das Ausland Reklame machen. Das ist mir mehr als einmal begegnet. Wenn man die unheilvollen Zeichen der Zeit aufzählt, fühlt man den Atem stocken. Es ist bekannt, dass unsere Gewerbemuseen grundsätzlich moderne Produkte nicht sammeln. Das erklärt sich leicht, solange unsere Industrie mit wenigen Ausnahmen die alten Vorbilder aus dem Besitz der Sammlungen nachahmt. Denn wozu die Kopie kaufen, wo man das Original besitzt? Nun aber machen dieselben Anstalten, die sich gegen die Aufnahme deutscher Produkte mit Recht ablehnend verhalten, in steigendem Masse Erwerbungen englischer, seit Chicago auch amerikanischer Waren. Mit den Bilderbüchern fing es schon vor Jahren an. Justus Brinckmann war einer der ersten, der die Bedeutung der Craneschen Kunst erkannte und die Bilderbücher des Meisters sammelte, die so viele neue und liebenswürdige ornamentale Gedanken und so viele feingefühlte Zimmerdekorationen und Möbel aller Art enthielten. Zahlreiche Museen sind ihm in Deutschland gefolgt. Später entdeckten wir die Tapeten und die in köstlichen neuen Mustern und Farben nach den Entwürfen hervorragender englischer Meister bedruckten Baumwollensammete für Vorhänge und Möbelbezüge, die ebenso reizvollen englischen Cretonnes für Schlafzimmerdekorationen und die leichten dekorativen Seidengewebe. Ein Berliner Kaufhaus versendet ganze Kollektionen dieser Stoffe an die deutschen Sammlungen, die ihnen einen Platz neben den Vorbildern aus alter Zeit einräumen. In den letzten Jahren haben vom Berliner Gewerbemuseum an die meisten Schwesterinstitute in Deutschland unter grossem Beifall die Werke des englischen Malers und Zeichners für das Kunstgewerbe Walter Crane ausgestellt. Das Adressbuch des Berliner Kunstgewerbevereins erscheint bereits mit einem Umschlag, den Professor E. Doepler im Stil Walter Cranes entworfen hat. Seit der Ausstellung in Chicago hat das Berliner Gewerbemuseum eine Sammlung amerikanischer Möbel, Fayencen, Silberarbeiten, Gläser, elektrischer Beleuchtungskörper, Tapeten, einfacher Schlösser und praktischer Geräte ausgestellt. Die letzte Berliner Kunstausstellung hatte zum erstenmal in ausgedehntem Masse auch künstlerische Möbel zugelassen. Neben den Berliner Erzeugnissen von zum grössten Teil mehr als zweifelhaftem Verdienst - es waren ehrwürdige Ladenhüter darunter - forderten eine Unzahl frisch importierter amerikanischer Stühle zum Vergleich auf, über dessen Ausfall die starke Nachfrage nach amerikanischen Stühlen aufklärt. Mehr noch. Ende der siebziger Jahre war Unter den Linden das Magazin für Berliner Kunstgewerbe eröffnet. Aus dem bescheidenen Anfang ist das grossartige Kaufhaus in der Leipziger Strasse geworden, ein riesiger Bazar. Aber das Berliner Kunstgewerbe ist aus seinen weitläufigen Hallen so gut wie ganz verschwunden.*)
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*) Das hat sich in den letzten Jahren, namentlich unter Eckmanns Führung, bereits geändert.


Englische Möbel, amerikanische Möbel, englische Fayencen, englische Lampen, englische Stoffe, französische Bronzen. Und neben diesem grossen Bazar, der für Millionen einführt, bestehen zahlreiche kleinere Geschäfte, die demselben Import obliegen und deren Umsatz nach Riesensummen zählt. In Hamburg sagen die altrenommierten Dekorateure aus, sie lernten um, sie kämen ohne englische Ideen nicht mehr aus. Die grossen Frankfurter Dekorateure sind längst auf demselben Wege. In den Münchener Jahresausstellungen sind den Deutschen zuerst die Principien vorgeführt, nach denen die Engländer Wand und Decke behandeln, und Möbel in englischem Stil dienen als Ausstattungsgegenstände. Sollten uns diese Thatsachen, die man verschleiern, aber nicht leugnen kann, nicht aufstacheln? Man pflegt, um sich vor einer Stellungnahme zu drücken, einzuwenden, dass das eine Mode sei, die komme und gehe. Auch dieser neuenglische Stil hat seine Zeit, gewiss. Es fragt sich nur, wer dann den ablösenden schafft, ob wir, ob wiederum die Engländer oder die Amerikaner. Wenn wir den Markt im eigenen Lande nicht behaupten können, so werden wir gewiss den im Auslande nicht halten. Dass wir ihn gerade für die vornehmsten Produkte der Industrie bisher noch nicht besassen, wird niemand leugnen. Jetzt laufen wir Gefahr, auch für die mindere Ware der Konkurrenz weichen zu müssen, und zwar nicht nur im Auslande, sondern auch im Inlande. Trotz des Transportes und trotz des Zolles sind alle diese Dinge wegen ihrer Schlichtheit und Einfachheit billiger als deutsche Waren, denn die Engländer und Amerikaner haben den Stil gefunden, der durch die Massenherstellung durch die Maschine nicht zur Beleidigung wird. Was nützt es, darauf hinzuweisen, dass zur rechten Zeit gewarnt ist? Wir wollen uns aber jetzt nicht dabei aufhalten, sondern lieber zu erkennen suchen, was wir thun sollen. Es kann natürlich keine Rede davon sein, dass wir von heute auf morgen einen neuen Menschen anziehen. Die Engländer haben unter unendlich günstigeren ökonomischen Verhältnissen fünfzig Jahre Arbeit gebraucht, um erst die fremde Konkurrenz vom eigenen Markt zu verdrängen und nun siegreich in die Nachbarreiche einzudringen. Selbst in Paris äussert sich der Einfluss englischer Ideen bereits. Um dies Ziel zu erreichen, haben in England die Museen, die Schulen, die Fabrikanten und die Architekten  e i n e m   Ziele zugestrebt, unterstützt von einer reichen kultivierten Gesellschaftsschicht, die ihre praktischen Bedürfnisse geltend machte und sich keine unbequeme Dekoration aufdrängen liess. Aber das alles hätte nichts genutzt, wenn nicht die mächtige Bewegung in der Malerei und seit zehn Jahren in der Skulptur die grosse Quelle künstlerischer Kraft gewährt hätte. Das giebt der englischen Industrie die siegende Lebensfülle, dass die Motoren des Kleinbetriebes angeschlossen sind an die grossen nationalen Kraftquellen künstlerischer Energie, die in den malerischen Begabungen ersten Ranges strömen.

Wir haben es gewiss seit den fünfundzwanzig Jahren energischer Reformen an Anstrengungen nicht fehlen lassen. An dem Webstuhl der kunstgewerblichen Produktion arbeiten der Architekt, der Fabrikant, der Zeichner, gestützt auf die Vorbilder in den Museen. Aber es fehlten zwei Faktoren: das künstlerisch erzogene, Bedürfnis empfindende Publikum und der Künstler. Die unendliche Arbeit des Malergeschlechtes, das jetzt ins reifere Mannesalter tritt, ist der deutschen Industrie noch nicht zu gute gekommen. Wir haben also eine dekorative Kunst (Kunstgewerbe), das auf einem bei uns theoretisch, in England und Amerika praktisch überwundenen Standpunkt verharrt. In den grösseren Städten haben die Gebildeten und Wohlhabenden die Neuheit, die praktische Brauchbarkeit und wohl auch die Schönheit der englischen und amerikanischen Möbel, Stoffe, Tapeten, Fayencen, Gläser erkannt und werden in beängstigend anschwellendem Umfang durch Importe damit versorgt. Schon beginnen die deutschen Industriellen mit der Nachahmung. Der einstige Vorkämpfer der Renaissance unter den Berliner Architekten hat sich in englischem Geschmack sein eigenes Haus eingerichtet. Sollen wir dem Unheil seinen Lauf lassen? Sollen wir, ohne uns zu wehren, die englisch-amerikanische Invasion erdulden? Und wenn wir die Flinte nicht in Korn werfen wollen, was sollen wir thun?


VOM STANDPUNKT DER HAUSFRAU
1897

Zufällig habe ich in diesem Sommer Gelegenheit gehabt, kurz nacheinander die Thätigkeit der meisten in- und ausländischen Künstler zu beobachten, die sich der dekorativen Kunst zugewandt haben. Die Erscheinungen ähneln sich überall ganz ungemein. Dieselbe Kategorie von Männern an der Arbeit, dieselben Treffer, dieselben Schüsse ins Blaue. Bei der Neuinscenierung der historischen Stile, die ein Menschenalter unsere Produktion beherrschten, haben die Architekten geführt, sehr selten Maler und Bildhauer, noch seltener eigentliche Kunsthandwerker. Seit sich auf dem Gebiete der dekorativen Kunst die neuen Ideen regen, ist der Architekt fast überall zurückgetreten. Er konnte nicht mehr mitmachen, weil er durch seine Erziehung der lebendigen Kunst fern stand. Der Kunsthandwerker, der durch die Schulen, die ihn erzogen, und durch die Architekten, für die er gearbeitet hatte, um die Selbständigkeit gebracht war, kam ebensowenig in Frage. Maler und - viel seltener freilich - Bildhauer haben sich in die Bresche gestürzt. Ausnahmsweise war auch einmal ein Architekt imstande, nicht nur zu folgen, sondern zu führen. Dann war es aber jedesmal eine im Joch des Historischen noch nicht gebrochene künstlerische Kraft. Dass die Maler vorangehen, verdanken sie ihrem loseren Verhältnis zur Tradition der Stile. Sie haben nicht so viel auswendig gelernt, arbeiten nicht nur mit den Händen, sondern schaffen noch mit dem Herzen. Und vor allem: sie haben eine selbständige Empfindung für Form und Farbe. Was sie - und die seltenen Bildhauer und Architekten, die zu ihnen stehen - geleistet haben, lässt die gediegensten Arbeiten der antiquarischen Epoche, die alle Gedanken von der Gotik bis zum Empire noch einmal gedacht hatte, hinter sich zurück. Denn sie brachten neue Gedanken, und für die dekorative Kunst gilt, was wir von der grossen nun begriffen haben, dass nur das ganz gut sein kann, was ganz neu ist. Aber wir dürfen uns in dem freudigen Gefühl der Befreiung nicht zufrieden geben mit dem blossen Miterleben. Was der vergangenen Epoche zum Unheil ausgeschlagen ist, könnte auch der anhebenden das Lebensmark verzehren: der Mangel an Mitarbeit des Konsumenten. Diese Mitarbeit ist doppelt nötig, weil die Maler die Führung haben.

Der junge Maler, den wir als typischen Vertreter der neuen Gattung schaffender Kräfte ansehen dürfen, ist gewohnt, Staffeleibilder, d. h. gewissermassen Kunst an sich zu machen, und es kann nicht überraschen, wenn er auch die Vase, das Möbel, den Wandteppich, die Stickerei als ein Ding an sich anzusehen geneigt ist, das weiter keine Aufgabe hat als schön zu sein. Dass ernster Arbeit und grossen Leistungen der Erfolg so oft versagt bleibt, hat in der Regel in diesen Unzukömmlichkeiten seine Ursache. Vom Bedürfnis muss ausgegangen werden, das kann nicht oft genug betont werden. Aber welche Bedürfnisse liegen im deutschen Bürgerhause vor? Herzlich wenige, Gott sei's geklagt, denn wären wirklich Bedürfnisse da, so würden sie sich durchsetzen. Das Gebiet der Bedürfnisse, die im Keim oder schon im Trieb vorhanden sind, zu untersuchen, wird eine unserer nächsten Aufgaben sein. Sie sind nicht für das ganze Reich dieselben. Der Münchener, der viele Stunden ausserhalb des Hauses zubringt, der Berliner, der auf der Etage lebt, hat andere als der Norddeutsche, der Haus und Garten nur ungern verlässt. Was ein englisches Haus, was eine französische Wohnung ist, steht für alle Schichten der Gesellschaft fest. In Deutschland kann nur von einzelnen lokalen Ansätzen zu festen Typen gesprochen werden, am sichersten ist vielleicht in Bremen und Hamburg das Wohnhaus als Organismus gegliedert. Vorläufig bleibt uns deshalb nichts anderes übrig, als diese lokalen Typen praktisch und ästhetisch durchzubilden. Schliesslich wird es kaum möglich sein, ein Haus zu schaffen, das zugleich dem Oberbayern, dem Niedersachsen und dem Berliner bequem ist. Wir werden deshalb wünschen müssen, dass die Versuche der Künstler auf dem Gebiet der dekorativen Kunst sich den lokalen Zuständen anpassen und nicht nur für die Ausstellung gedacht sind.

E i n  Bedürfnis geht aber schon jetzt durchs ganze Reich, das ist das der Hausfrau. Und wer von einem festen Standpunkt aus die neuen Erzeugnisse auf ihre Brauchbarkeit prüfen will, der sollte sie mit den Augen der Hausfrau ansehen. Die junge Frau in Deutschland ist unter der Herrschaft des Atelierstils aufgewachsen. Da ist es natürlich, dass ihr Geschmack sich leicht einem Gegensatz zuneigt. Die Überfülle und Überladung, Bombast, leerer Prunk und billiger Putz üben keinen Reiz auf ihre Empfindung, Sie mag nichts besitzen, das keinem praktischen Zweck dient, sie hasst die blosse Dekoration, sie freut sich an Ruhe und vornehmer Schlichtheit. Teller an der Wand, Gefässe auf hohem Bord, überflüssige Vorhänge und Draperien, billige Schnitzereien sind ihr zuwider. Dann ist sie ein praktischer Geist. Selbst in glänzenden Verhältnissen will sie die Zahl der Dienstboten nicht über das absolut Notwendige anwachsen lassen, denn sie hat die Zügel selbst in der Hand. Sie wird alle Erzeugnisse der dekorativen Kunst auf die praktische Brauchbarkeit ansehen und auf die Geeignetheit, sich einem ohne übermässigen Kraftaufwand verwaltbaren Hausstand einzufügen. Diese schon vorhandenen Tendenzen werden in der nächsten Zeit weiter um sich greifen und zugleich festere Wurzeln fassen. Mit ihnen hat die dekorative Kunst unter allen Umständen zu rechnen. Ein Teil der von modernen Künstlern geschaffenen dekorativen Arbeiten will keinem praktischen Zwecke dienen, der fällt unter eine eigene Rubrik. Wir wollen uns nur um die Gegenstände kümmern, die eine Verwendbarkeit vorgeben. Wer sich heute die Ausstellungen der von Künstlern entworfenen Möbel und Geräte vom Standpunkte der deutschen Hausfrau betrachtet, dem wird es wie Schuppen von den Augen fallen. Da steht eine herrliche Truhe, mit schönen Figuren geschnitzt oder ganz mit Schmiedeeisen beschlagen, in Farbe und Form neu und ein grosses Kunstwerk, von dessen dekorativem Inhalt eine ganze Schule leben kann. Die Hausfrau wird sich sagen: ein Museumsstück. Ich kann es nirgend aufstellen. Meine Korridore sind zu eng, in den Zimmern kann ich Aufbewahrungsmöbel nicht brauchen. Ausserdem ist die Truhe ein ausgestorbenes Tier wie das Dinotherium oder der Ichthyosaurus. Sie war praktisch für das Mittelalter, wo man seine Habe bei Wasser-, Feuer- und Kriegsgefahr schnell auf den Wagen packen musste. Wir können sie höchstens auf den Boden stellen, um Vorräte aufzubewahren. Dafür genügt aber eine einfache Kiste. Auch der Nachfolger der Truhe, die Kommode, ist schon ein historischer Begriff. Im Wohnzimmer bewahren wir nichts mehr auf, im Schlafzimmer ist der Schrank mit vielen Fächern, in denen man nicht zu kramen braucht, bequemer. Also eine Truhe - unter keinen Umständen.

Sie steht vor einer künstlerisch ganz ausserordentlich schönen neuen Esszimmereinrichtung. Die Farben sind so schön, wie auf einem Bilde oder bei einer kostbaren Toilette, die Formen neu, das Ensemble gefällt ihr ausnehmend. Nun mustert sie den köstlichen Tisch, der das Entzücken aller Künstler bildet, und da schüttelt sie den Kopf: Der Gedanke, ihre Gäste sich setzen zu sehen, ist ihr eine Pein, denn nach gotischem Muster stehen die Beine schräg und sind unten durch kantige Querstangen rund herum verbunden. Wer eine unbedachte Bewegung macht, hat eine Wunde am Schienbein weg, und wenn er im Schmerz aufzuckt, auch am Knie, denn die Zarge ist zu tief. Auch den Esszimmerstühlen sieht sie auf den ersten Blick die Gefahren an, die sie für die Benutzung mit sich bringen. Die Lehne ist so hoch, dass der Sitzende den Nacken darauf legen kann, bei solchen Stühlen lässt sich nicht servieren,  e i n e   ungeschickte Bewegung, und die Sauce ist verschüttet, und wenn die Stühle einmal etwas enge gerückt werden müssen, kann die Bratenschüssel nicht mehr durch. Es ist, als wäre eine hohe Planke um den Tisch gezogen. Auch ist an der Stelle, wo das Kreuz des Sitzenden gestützt werden muss, statt einer konvexen Bewegung in der Lehne eine konkave, der Gast wird also, wenn er sich anlehnen will, eine Brustbeklemmung bekommen. Nein, nein, nicht diese Stühle. Esszimmerstühle müssen eine niedrige Lehne haben und im Kreuz stützen. In einem anderen Ensemble steht sie vor einem entzückenden Kamin mit hohem Mantel aus Holz. Die Profile sind wie von einem grossen Bildhauer empfunden. Sie kann sich nicht satt sehen. Aber wie soll man diese glatten Flächen, die jeden Tag gereinigt werden müssen, vom Staub frei halten? Wie die Winkel und Nischen? Ein Federwisch reicht nicht aus. Es muss eine hohe Sicherheitsleiter aushelfen. Und nun sieht sie die lange Reihe von Komplikationen vor sich: wo soll die Leiter aufbewahrt werden, dass sie gleich morgens zur Hand ist? Wer von den Dienern soll sie hintragen und zurückbringen - wo wird er unterwegs überall anstossen - welche Vorrichtung giebt es, den Teppich zu schützen, auf dem die Leiter steht - wie viel Zeit kostet das alles? - Und der Kamin ist gerichtet. In einem Zimmer, aus dem man gar nicht scheiden möchte, ist die Vertäfelung in breiten Flächen mit Messing ausgelegt. Die Wirkung ist neu und sehr artistisch. Aber dies Messing muss geputzt werden, und je länger, desto öfter. Die Hausfrau weiss, dass man nicht Messing und Holz zugleich reinigen kann. Es geht nicht anders, das Holz wird verschmiert. Vielleicht hätte sie das Zimmer erworben, jetzt geht sie seufzend weiter.

Im nächsten Raum steht ein sehr schöner Rauchtischleuchter aus Schmiedeeisen. Ein hübsches Weihnachtsgeschenk, schiesst es ihr durch den Kopf. Aber sie sieht viele Füsse mit scharfen Ecken, die jede Decke zerreissen, jede Platte, einerlei ob Holz, Marmor, Metall verschrammen würden; sie entdeckt in der Tülle eine armdicke Wachskerze, von der sie weiss, dass sie qualmt wie eine blakende Lampe. Für ein Atelier, sagt sie sich, wo es nicht darauf ankommt, und sieht sich weiter um. Von neuen Webereien hat sie gehört und gelesen. Künstler haben die Zeichnungen entworfen, Museen kaufen sie als Vorbilder an. Sie mustert die Ausstellung, ob sie für den Schmuck ihres Hauses eine Erwerbung machen kann. Vielleicht ist eine schöne Tischdecke da, denkt sie, denn nichts ist so schwer zu finden wie eine geschmackvolle Tischdecke; vielleicht ein paar Thürvorhänge. Aber nein, es sind lauter Sachen, für die sie keine Verwendung hat, da sie absolut nicht dekorieren will. Sie will es einmal nicht. Es ist ihr ein Greuel. Und sie müsste alle diese köstlichen Sachen wie Bilder aufhängen. Warum fragen die Künstler uns nie, was wir gern haben möchten, denkt sie. Blumenvasen - das ist's, was sie braucht. Es giebt so wenig Erträgliches. Die auf der Ausstellung sind so schön und so originell wie Bilder. Ein Künstler hat sie gemacht. Aber wie sie sie darauf ansieht, für welche Blumen sie wohl gedacht sein mögen, kann sie nicht ins klare kommen. Als leidenschaftliche Blumenfreundin weiss sie aus ihrer Praxis, dass jede Art ihre Vase haben muss. Auf eine Erkundigung wird ihr bedeutet, dass man wohl Blumen hineinstellen kann, aber nur in einem besonderen Glase, denn die Vasen halten nicht dicht. Sie seien in erster Linie als Dekoration gedacht. Es ist einerlei, ob die Hausfrau die Ausstellungen in Paris, Brüssel, Dresden, München, Berlin, Kopenhagen oder Stockholm besucht, es werden ihr vor einem erheblichen Teil der ausgestellten Arbeiten überall dieselben Zweifel aufsteigen. Muss das so sein?


DAS ZIMMER DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS
1896

Wenn die Kunst ins Haus kommen soll, muss das Haus in seiner gesamten Einrichtung eine passende Umgebung für das Kunstwerk bieten. Die meisten unserer Wohnhäuser sind jedoch durch ihre Architektur weder für eine behagliche innere Ausstattung noch für die Einfügung von Kunstwerken geeignet. Es giebt nur ganz ausnahmsweise ein Zimmer, das dem Gemälde, der Statuette die richtige Beleuchtung gewähren kann. Denn unsere Fenster werfen alles Licht auf einen kleinen Fleck des Fussbodens statt auf die Wände, und unser Mobiliar ist meist wenig geeignet, mit Kunstwerken zu einer harmonischen Einheit zusammenzugehen. Alle Kunstpflege muss im Hause beginnen. Und weil wir in den Hansestädten noch das Wohnhaus haben, sind wir berechtigt und sogar verpflichtet, in der künstlerischen Reform des Hauses selbständig vorzugehen. Wir haben unsere Architektur dadurch verdorben, dass wir nicht, wie die Engländer, das heimische Wesen gepflegt und entwickelt, sondern fremde Vorbilder aus Berlin, Hannover, München, Paris und London kritiklos nachgeahmt haben. Für die innere Einrichtung unseres Hauses können wir von Berlin, München und Hannover noch weniger Gutes lernen, als für die Architektur, weil unsere Bedürfnisse ganz andere sind. Ein Überblick über das Zimmer des neunzehnten Jahrhunderts wird erkennen lassen, wo wir stehen.

Im Handumdrehen wird das neunzehnte Jahrhundert der Geschichte angehören, und wir werden auf die Spanne Zeit, die diesen Namen führt, wie auf etwas abgeschlossen hinter uns Liegendes zurücksehen. Noch erscheint es uns wie ein Chaos. Und wenn wir nur die ornamentale Aussenseite der »Stile« ansehen, kostet es Mühe, sich zu orientieren. Denn wie die Geschichtschreibung sich allen Zeiten und Völkern zugewandt hat, wie die Litteratur die Formen und Ideen der fernsten Zeiten und Kulturen durch Übersetzung und Nachahmung bei uns einzubürgern suchte, so hat unsere dekorative Kunst sich an allem in der Welt überhaupt Vorhandenen inspiriert. Ägypten, Assyrien, Griechenland, Rom, Byzanz, der islamitische Orient aller Epochen, die Gotik, die Renaissance, Persien, China, Japan haben nach und nebeneinander »Vorbilder« liefern müssen. Dergleichen Aneignungsfähigkeit hat es in solch erschreckendem Umfang nie vorher gegeben. Und wie in der deutschen Litteratur die eigene Triebkraft unter dem Schutt des fremden Importes fast erstickt ist, so führte in den dekorativen Künsten die Nachahmung zum Spiel mit äusseren Formen und zur Vernachlässigung des eigentlichen Inhalts. Es kommt hinzu, dass bei dieser Tendenz der Nachahmung und Aneignung nicht eigentlich die selbständigen und starken Begabungen zur Entwickelung kommen konnten, sondern in erster Linie die formalen Talente, denen von Natur die Aneignung und Nachempfindung leicht wird, Übersetzertalente. Somit entbehrte die ganze Produktion, wenn man von Produktion sprechen kann, wo die eigentlich produktiven Naturen von der Mitarbeit ausgeschlossen waren, der Eigenart. Aber trotz der unerhörten Mannigfaltigkeit der Formen und des ornamentalen Schmuckes hat doch das Zimmer des neunzehnten Jahrhunderts gewisse durchgehende Charakterzüge, die nicht von der jeweiligen ästhetischen Überzeugung des Bewohners, sondern von seinen durch andere Mächte bedingten Lebensgewohnheiten abhängen. Zunächst ist der fürstliche Zuschnitt, der im vergangenen Jahrhundert vom Hofleben ausgehend selbst das wohlhabende Bürgertum umgab, in Wegfall gekommen. Man hält nicht mehr Dienerschaft, als dringend nötig, man will nicht mehr und keine grösseren Räume, als man wirklich braucht. Wer dann und wann sehr grosse Gesellschaften bei sich sieht, pflegt für diese Zwecke einen von den täglich bewohnten Räumen vollständig abgeschlossenen Teil des Hauses zu haben.

Ist der Umfang des Apparates zusammengeschrumpft - selbst die Fürsten fangen an, vorzugsweise in kleinen Villen zu wohnen und die grossen Paläste nur für Repräsentationszwecke zu benutzen -, so wird dieser Rückgang reichlich aufgewogen durch die Differenziierung der Räume und durch die Ausbildung praktischer und hygienischer Einrichtungen. Noch im siebzehnten Jahrhundert lebte die vornehme Welt im Schlafzimmer. Es war Toilettenzimmer, Wohnraum, Empfangsraum, Speisezimmer und sogar Küche, denn leichtere Speisen wurden am Kaminfeuer im Schlafzimmer gebacken. Bürgerliche Kreise in Deutschland waren bis gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts, wie die Möbel aussagen, im wesentlichen nicht darüber hinaus. Der Rokokoschreibtisch, der unten noch die Kommode für die Wäsche, oben den Glasschrank für Thee- und Kaffeeservice enthält, ein typisches Möbel der Zeit, verrät deutlich, zu was für verschiedenen Zwecken ein und derselbe Raum benutzt wurde. Den neuen Lebensgewohnheiten, die auf die grösstmögliche Behaglichkeit und Sauberkeit, auf die bequemste und gleichmässigste Regelung aller wiederkehrenden Funktionen ausgehen, hat sich das Mobiliar angepasst. Es wurde differenziiert wie die Räume. Uralte Typen mussten dabei aufgegeben, andere weiterentwickelt, noch andere neu erfunden werden. Aus den Wohnzimmern verschwinden die Aufbewahrungsmöbel für Kleider und Wäche, ebenso aus den Schlafzimmern, wo für ein Schrankzimmer oder Toilettenzimmer Raum ist. Tafelgeräte werden nicht mehr in den Wohnzimmern aufbewahrt, die schliesslich nur noch ein System von Sofas, Stühlen und Tischen enthalten, mit wenigen Schränckchen für Bücher und Bibelots und dergleichen. Auch der eine grosse Tisch vor dem Sofa, um den sich das häusliche Leben der Familie früher bei uns bewegte, wie um den Kamin bei den Engländern, fängt an zu verschwinden. Wohl geht dabei auch ein Stück behaglichen Familienlebens verloren. Aber man muss sich hüten, Ursache und Folge zu verwechseln. Der Tisch ist von den Lebensformen abhängig, nicht umgekehrt, und schliesslich, das Familienleben ist nicht ärmer geworden, weil es nicht mehr ausschliesslich das eine Centrum des Sofatisches hat, sondern reicher, und wenn auch Sofa und Tisch weniger bedeuten als zur Zeit der Grosseltern, so geht doch damit kein uraltes nationales Erbe verloren; die Kombination von Sofa und Tisch war kaum ein Jahrhundert alt. In England und Amerika, wo sich das Zusammensein der Familie noch mehr beschränkt, hat die neue Sitte zu einer konsequenten Durchbildung all der Möbel geführt, die dem einzelnen dienen. Zu jedem Stuhl gehört ein Tisch, für den Gebrauch im Garten werden Stuhl und Tisch zu  e i n e m  Möbel verbunden, indem man die eine Armlehne als Tisch ausbildet und unter dem Sitz, neben der Seiten- oder Rückenlehne Raum für die Aufbewahrung oder das Ablegen von Zeitungen und Büchern schafft. Das Schifferhaus in Lübeck, ein Klubraum vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts mit seinen festen Bänken, in deren Abteilen die einzelnen Gesellschaften wie in Logen sitzen, und die Einrichtungen eines modernen englischen oder amerikanischen Klubs, die für die Bedürfnisse des Individuums zuerst sorgen, bezeichnen Anfang und Ende einer langen Entwickelungsreihe.

So hat das neunzehnte Jahrhundert zwar keinen durch die ornamentale Aussenseite in die Augen fallenden neuen Stil im Sinne des Rokoko gezeitigt, aber dafür neue Lebensformen geschaffen, und wo diese ihre ungehinderte Ausbildung erfahren haben, schliesslich auch etwas von einem neuen mehr sachlichen als ornamentalen Stil angebahnt in England und teilweise in Amerika. Deutschland musste zurückbleiben, weil seine Interessen auf anderen Gebieten lagen, weil eine massgebende Gesellschaftsschicht fehlte, die den übrigen ein Beispiel vorgelebt hätte, und schliesslich weil es erst im letzten Drittel des Jahrhunderts sich eines allgemeinen Wohlstandes zu erfreuen begann. Frankreich hatte seine alte Kultur zerstört und war von einer unbezwinglichen Sehnsucht nach ihr erfüllt. Heute ist es der Traum jedes Franzosen, in echten Möbeln des ancien régime zu leben, und wer Originale nicht erwerben kann, greift nach den Nachbildungen. Das ist eine der Ursachen, weshalb auch in Frankreich die Formel nicht gefunden wurde, die unser Bedürfnis ausdrückt. England dagegen fand sich nach allen Richtungen in unendlich glücklicherer Lage. Es besass eine alte Aristokratie, die dem ganzen Volk vorlebte, es hatte sich grössten Reichtums und weit hinabreichender Wohlhabenheit zu erfreuen; der praktische Grundzug im Wesen des Volkes setzte allen Phantastereien energischen Widerstand entgegen und drängte auf Befriedigung der vorhandenen Bedürfnisse; schliesslich hatte es besser als irgend ein anderes Volk verstanden, seinem täglichen Leben bequeme und dabei ganz feste Formen zu geben. Im ganzen Land sind bei allen Bemittelten die Arbeits- und Mussestunden dieselben, alle Tischzeiten gehen durch, ein immenser ökonomischer Vorteil. Denn das beugt der durch fortwährende Anpassung bedingten Zeitvergeudung vor, unter der wir in Deutschland leiden, wo in den Grossstädten die Tischzeit zwischen eins und acht Uhr schwankt und wo die Familie, wenn sie allein ist, zu anderer Stunde speist, als wenn sie Gäste hat oder eingeladen ist. Statt über die straffe, aber praktische Lebenshaltung und Einrichtung der Engländer mit billigem Spott zu reden, sollten wir uns klar machen, wie viel Zeit und Überlegung die Gleichmässigkeit erspart, und sollten ernsthaft alle Versuche fördern, die Ähnliches bei uns anstreben. Die Konsequenzen fester nationaler Gewohnheiten sind unermesslich. Auch die Überlegenheit der dekorativen Künste Englands geht in letzter Linie auf diese Grundlage zurück. Und wenn wir uns fragen, wie kommt es, dass jeder Fremde, der nach England zieht, in seinen Gewohnheiten Engländer wird, der Engländer im Auslande Engländer bleibt, so kommen wir zuletzt auf den Untergrund ganz fester nationaler Lebensgewohnheiten.

Die Franzosen haben am Ende des vergangenen Jahrhunderts dem Bürgertum die politische Macht erobert, die Engländer haben der bürgerlichen Kultur, die die fürstliche Ludwigs XIV. abgelöst hat, den höchsten äusseren Ausdruck gegeben. Das unbequeme Fürstenschloss, im Sinne von Versailles auf äussere Pracht und Repräsentation gestellt, und ein englisches Wohnhaus mit differenziierten Räumen, die der Bequemlichkeit dienen, bilden die Typen der zwei Kulturen. Auch das Zimmer des neunzehnten Jahrhunderts drückt das Wesen seines Bewohners aus. Ist doch alles, womit der Mensch sich umgiebt, die Kleider, die er trägt, die Werkzeuge, die er braucht, die Möbel, die ihm dienen, das Haus, das ihn birgt, eine Erweiterung seiner Körperlichkeit, wie bei den Tieren die mannigfach modifizierte Bekleidung und die unendliche Vielgestaltigkeit zu Werkzeugen umgebildeter Glieder, nur dass der Mensch seine ins Unendliche komplizierten Bedürfnisse nicht durch die Entwickelung seines Leibes befriedigen kann. Was der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts ist, das sagt am deutlichsten seine Kleidung aus. Der Bürger hat den seidenen gestickten Rock der fürstlichen Gesellschaft ausgezogen, hat Degen, Spitzen, Federhut und alle übrigen Zeichen des effeminierten Ausklanges der Fürstenzeit abgelegt. Ganz bequem, ganz praktisch, einmal am Leibe so wenig Beachtung bedürfend wie das Fell der Tiere, gehört seine Tracht einem arbeitenden Geschlecht von Männern, das keine Zeit hat, Toilette zu machen, Spitzen zu schonen, Falten zu arrangieren, gut Wetter abzuwarten. Alle kostbaren, empfindlichen Stoffe fallen weg, keine Seide, kein Atlas, höchstens als Rockfutter, wo sie nicht sichtbar sind oder in kleinen Quantitäten als Krawatte, Kragen oder Hutband. Viel geschmäht, lange Zeit verachtet ist ihre bescheidene Schönheit am Ende doch der Welt aufgegangen, die sie hasste, sich nach der Seite des Rokoko und dem Brokat des fünfzehnten Jahrhunderts sehnte, aber sie trotz alledem nicht missen konnte. Und jetzt endlich, am Ende des Jahrhunderts, das ihren Bann so schwer getragen und sich in der Kunst und im Kostümfest in farbigere Zeitalter flüchtete, wird sie auch künstlerisch verstanden und gewürdigt, und es dämmert die Möglichkeit einer tieferen ästhetischen Durchbildung auf der gegebenen Basis. Am Anfang des Jahrhunderts waren Tracht und Möbel vollkommen einheitlich entwickelt. Dann kam die Romantik, deren Zaubermacht zwar der neuen schlichten Tracht nichts anhaben konnte, aber doch das Zimmer verschiedentlich und von Grund aus umgestaltete. Frack, Gehrock und Joppe der modernen Gesellschaft mussten nacheinander durch imitiertes Rokoko, imitierte Gotik, imitierte Renaissance, imitierten Orient, imitiertes Barock und nochmals imitiertes Rokoko schreiten, und heute erst scheint wieder eine Periode heraufzuziehen, in der Tracht und Umgebung nach denselben Gesetzen gebildet werden.

Wie bei der Tracht, strebte das neunzehnte Jahrhundert auch bei den Möbeln zu Anfang nach Schlichtheit, praktischer Durchbildung, energischer Anpassung an die differenziierten Räume. Die Stilwandlungen sprachen jedoch sehr stark mit, und Konzessionen an Stil und Ornament haben schliesslich mit dem völligen Aufgeben der schon erreichten praktischen und bequemen Formen geendet. Die erste Epoche, das Empire, ist ein Übergangsstil in Tracht und Hausrat. Wohl standen Architektur und Möbel unter dem Bann der Antike, aber bei weitem nicht in dem Masse, wie das Vorurteil uns einreden möchte. In Wirklichkeit sind das Empire und sein Ausklang, die stille Biedermeierzeit, die eigentliche Keimperiode des modernen Möbels. Das Bürgertum richtete sich ein, und in der ersten Energie der Lebensäusserung erfand es für alle neuen Bedürfnisse die neuen Möbeltypen. Noch war das Handwerk im Besitz solider Tradition, und noch kümmerte sich der Besteller persönlich um die Ausführung. In einem Hamburger Hause fand ich im Esszimmer wunderschöne, einfache und ganz ideal bequeme Stühle, in denen man bei Tisch fest von der Lehne gefasst sitzen konnte, und die beim Servieren gleichsam nicht vorhanden waren, so wenig hinderten sie. Man zeigte mir nachher auf dem Boden ein halbes Dutzend Modelle, die der Grossvater eins nach dem anderen hatte anfertigen lassen. Er hatte sie sorgfältig durchprobiert und so lange Verbesserungen verlangt und angegeben, bis er nichts mehr auszusetzen fand. Das ist dieselbe Methode, nach der heute in den englischen Klubs die allen Zwecken in Vollkommenheit dienenden Möbelformen erreicht werden und die wir nach Möglichkeit wieder aufnehmen müssen, wenn wir aus unserer Misere herauskommen wollen. Wer die Empire- und Biedermeiermöbel unbequem schilt, kennt sie nicht. Unter der oberflächlichen Anlehnung an die Antike geht die logische Entwickelung der alten heimischen Möbeltypen ruhig ihren Weg.


UNSERE MÖBEL
1896
I

Bank, Stuhl und Tisch, Truhe und Schrank sind die Grundtypen der modernen Möbel. Die Bank ist bezeichnend für das Mittelalter, wo der Stuhl immer etwas vom Thron hatte. Es war ein Zeitalter, in dem das Individuum nur im Rahmen der Korporation zur Geltung kam. Am klarsten spricht sich dieser Zusammenhang im Chorgestühl aus. So herrlich es geschmückt sein mochte, es war nur die Weiterbildung der festen Bank, auf der alle gleich sind. Nur das Haupt, der Abt, der Bischof, hatte den isoliert stehenden Thron, aber auch der war fest und unbeweglich. Erst gegen die Renaissance bildet sich das System der Stühle aus, der beweglichen Sitze, die der neugewonnenen Freiheit und Beweglichkeit des Individuums folgten. Aber Jahrhunderte sollte es dauern, ehe aus diesem neuen Princip alle Konsequenzen gezogen wurden. Der Rückschlag des fürstlichen Lebenszuschnittes kam dazwischen. Am Hof - ausser bei der Tafel und am Spieltisch - sassen nur der König, seine Familie und die Damen, denen er das Recht verlieh. Am Hofe Ludwigs XIV., dem für Europa massgebenden, war der Stuhl - wie das Individuum - wieder ein Teil der Dekoration geworden, kaum noch ein Möbel. Er stand an der Wand, war nur Fassade, die Rückseite blieb oft ganz unausgebildet, so dass er überhaupt nicht mehr von der Wand gerückt werden konnte. Er war wieder unbeweglich geworden. Beweglichere, bequeme Stühle, die wirklich zum Sitzen bestimmt waren, baute das Rokoko, wo im engeren Kreise das steife Ceremoniell des Hofes fallen gelassen wurde. Aber ganz leichte Stühle, die man mit einer Hand hinsetzen konnte, brauchte die Sitte noch nicht. Die Lehnstühle überwogen. Zu sitzen begann die europäische Menschheit doch eigentlich erst nach der französischen Revolution, die alle gleich machte. Das Louis XVI bildet mit seinen verhältnismässig leichtern Stühlen ein Vorspiel: Marie Antoinette  s p i e l t e  in Trianon die Bürgerin. Und so konnte sich der leichte bequeme, wirklich fürs Sitzen bestimmte Stuhl in unzähligen Varianten erst nach dieser Epoche entwickeln. Der fürstliche Rückschlag unter Napoleon I. hinderte den Gang kaum. Der bewegliche Stuhl drückt das Wesen der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts aus. Auch die Bank war allmählich, wenn auch sehr langsam, weitergebildet, diesmal nicht ohne Einfluss des Orients. Sie verlor sogar ihren Namen, wurde eine Zeitlang Ottomane, Kanapee oder Divan und blieb schliesslich Sofa. Unter Ludwig XIV. spielte das Sofa noch keine Rolle. Zum Ausruhen legte man sich ins Bett oder aufs Bett (wie heute noch in Frankreich). Vornehme Damen empfingen ihren Besuch in grosser Toilette und in vollem Schmuck auf ihrem Bette ruhend. Das Bett war das höchste Prunkstück des Hausrates, das Schlafzimmer zugleich das Empfangszimmer. In Frankreich hat es noch heute etwas von diesem Charakter behalten. Im Rokoko entwickelte sich das Sofa in den mannigfaltigsten Formen, die ihre festen Namen erhielten. Man hatte Sofas zum Ausruhen, zum Sitzen, Sofas, um in liegender Stellung zu lesen. Nach der Revolution wurden die Sitten einfacher, verloren an Raffinement, das Sofa bildete sich infolgedessen zurück, die Haupttypen waren schliesslich das zweisitzige kurze Sofa und das längere zum Liegen. Erst in unserer Zeit haben Sofa und Stuhl Formenbereicherung erfahren durch eine neue Änderung der Sitten. Man will es nach der Arbeit ganz bequem haben, und während am Hofe Ludwigs XIV. das Sitzen verboten war, will man jetzt in Gesellschaft auch auf dem Stuhle so viel wie möglich liegen. Das ergab in England und Amerika einen weiteren Vorstoss nach der Bequemlichkeit. Wir haben jetzt wirkliche Liegestühle, von den Schaukelstühlen ganz abgesehen. Für alle denkbaren Arten des Sitzens und Liegens brauchen wir entsprechende Möbelformen.

Tisch, Truhe, Schrank erfuhren ähnliche Wandlungen. Tisch und Stuhl gehören eng zu einander. Man könnte die Kulturvölker einteilen nach ihrer Art zu sitzen. Der Inder und Orientale hockt oder liegt, weil er die Zugluft am Boden ausnutzt, der sich der Abendländer durch hohen Sitz zu entziehen sucht. Die meisten gesellschaftlichen Formen entspringen aus diesem Unterschiede, und mancher Charakterzug mag mit diesen Grundgewohnheiten zusammenhängen. Für die Ausbildung des Mobiliars, ja, für die ganze Innendekoration, ist die Art zu sitzen ausschlaggebend. Vom Stuhl sind der Tisch und alle Möbel, die sich aus ihm entwickeln, unmittelbar abhängig. Der Orient kennt sie nicht, er hat nur niedrige Tische, mehr nur Servierbretter mit Füssen, und seine Innenarchitektur kann sich infolgedessen selbst bei geringen Abmessungen ungestört in grossen, einfachen Formen entwickeln, während in einem abendländischen Zimmer die architektonische Wirkung durch die zahlreichen und hohen Möbel leicht unruhig wird. Solange die Ausbildung des Stuhles im Abendlande durch sociale Zustände gehemmt war, blieb auch der Tisch wenig entwickelt. Erst mit dem Stuhl wurde in unserem Jahrhundert der Tisch frei, und zahllos waren die Formen, die nun sehr schnell ausgebildet wurden. Der Speisetisch erhielt in dem besonderen Speisesaal seine endgültige Durchbildung. Man lernte die Höhe beachten, die sich nach der Höhe des Stuhles richtete, man sorgte dafür, dass die Zarge nicht zu tief hinabreichte, damit die Kniee der Sitzenden nicht belästigt wurden, man bildete die Beine möglichst dünn, ohne Querstangen und stellte sie so, dass sie den Sitzenden nicht im Wege waren. Wandtische, Anrichttische, Servanten, stumme Diener vervollständigten das Mobiliar des Esszimmers. Im Wohnzimmer kamen Nähtische hinzu, die das achtzehnte Jahrhundert in der Verbindung mit dem Toilettentisch bereits gekannt, aber noch nicht zu voller Bequemlichkeit selbständig entwickelt hatte. Schreibtische wurden in mannigfaltigsten Bildungen versucht, freistehend mehr dem Tisch, an die Wand gelehnt mehr dem Schrank sich nähernd, oft eine Verbindung von beiden. Man hatte sehr grosse Formen, wie sie aus dem vergangenen Jahrhundert überkommen waren - das bureau ministre - und ganz kleine, zum Gebrauch für Damen, die rasch ein Billet schreiben wollen.

Mit der Ausbildung der Stühle in neuester Zeit wurde auch im Herrenzimmer der Tisch noch reicher specialisiert. Zu dem niedrigen Liegestuhl gehören niedrige Tische nach orientalischer Art. Schliesslich wurden Stuhl und Tisch miteinander verbunden, eine Kombination, die wohl zuerst in den Tropen ausgebildet wurde, wo man beim Ruhen und Sitzen die grösstmögliche Bequemlichkeit haben muss. Bei uns im Rauchzimmer würde an der Armlehne der bequemen Stühle ein tischartiges Brett - unter Umständen mit Klappvorrichtung - als grosse Annehmlichkeit beim Rauchen und für das Absetzen der Tasse oder des Glases empfunden werden, denn diese Vorrichtungen nehmen weniger Platz weg als kleine Tische und können beseitigt werden, wenn man sie nicht braucht. Truhe und Schrank stehen nicht in unmittelbarer Beziehung zum Stuhl. Doch hängt das Verschwinden der Truhe im Abendlande wohl entfernt mit der Entwöhnung vom Kauern und Hocken zusammen, die das leichte Sitzen auf dem Stuhl mit sich bringt. Die Truhe ist das urtümlichste Aufbewahrungsmöbel. Sie ist darauf eingerichtet, in Zeiten der Not, bei Feuer- und Wassergefahr, mit ihrem Inhalt geflüchtet zu werden, und wurde deshalb mit Griffen versehen. Der Deckel wurde in der letzten Periode ihrer Entwickelung gewölbt, um das Aufstellen von Geräten unmöglich zu machen. Für den täglichen Gebrauch begann sie bei steigender Sicherheit des Daseins einem kultivierteren, häufig die Wäsche wechselnden Geschlechte nicht mehr zu genügen. So wurde sie gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch die Kommode ersetzt, deren Name die Überlegenheit über die ältere Form ausdrückt. Sie enthält übereinander die »Schiebladen«, ist also eigentlich eine Zusammenfügung kleiner Truhen. Ihre Blütezeit hatte sie im Rokoko. Bei der Differenzierung der Räume in unserem Jahrhundert ist sie noch »kommoderen« Schrankformen gewichen, denn die Schieblade hat für das Ein- und Auspacken immer noch etwas von der Unbequemlichkeit der Truhe. Im ganz modernen Mobiliar kommt die Kommode nicht mehr vor. Unsere Schrankformen reichen weit ins Mittelalter zurück. Aber auch sie haben ihre praktische Ausbildung erst in unserem Jahrhundert erfahren. Das Rokoko entwickelte hauptsächlich den Kleiderschrank und behandelte ihn noch als ein Monument, als grossartige Dekoration der Vorräume. Für Lübeck, dessen Häuser sich besonders grosser Dielen erfreuten, sind massige Schränke mit fünf oder gar sieben grossen Thüren nebeneinander charakteristisch, das Ganze durch reichgegliederte Gesimse und Sockel zusammengehalten. Heute sind wir bestrebt, den Schrank nicht höher und tiefer zu machen, als unbedingt erforderlich ist. Wir wollen alles in möglichst bequemer Greifhöhe haben, und es soll nicht erst der Leitern bedürfen, wenn das Dach eines Schrankes abgestäubt werden muss.


II

Wer sich heute sein Haus, sei es noch so bescheiden, behaglich einrichten will, muss sich um alle Dinge selbst kümmern, muss ein auf der klaren Erkenntnis der Bedürfnisse beruhendes Studium der Möglichkeiten nicht scheuen. Ein praktisches Möbel ist selten teurer, meist sogar billiger als ein gedankenlos fabriziertes. Für unsere Handwerker würde das entgegenkommende Verständnis ihrer Besteller ein Sporn zu doppelt freudiger Thätigkeit sein. Wenige erst haben eine Ahnung von der Raum- und Zeitersparnis und von der Bequemlichkeit, die sich auf dem Gebiete der Möbelkonstruktion erreichen lassen. Bei einem praktischen Mobiliar kommt man mit sehr wenig Schmuck aus. Über das Mass entscheidet heute am besten der höhere Geschmack der Frau. Auch in der Dekoration des Zimmers mit Vasen und Kleinplastik sollte man sehr zurückhaltend, aber so gediegen wie möglich wählen. Alles muss den prüfenden Blick aushalten. Namentlich sollte man sich vor überflüssigem Kleinkram hüten. Kleine Nippsachen sind in vielen Fällen die Feinde von Ruhe und Behagen. Vor allem erkaufe man sich den Schmuck nicht durch Einrichtungen, die ein Übermass täglicher Reinigungsarbeit verlangen. Dies wird am besten vermieden, wenn auch im Innenraume die edle, feinempfundene Farbe an die Stelle der Form tritt. Sobald das Zimmer wieder hell wird, drängt es von selber dahin. Aber noch sind wir weit entfernt, dieses Bedürfnis, das sich schon deutlich zeigt, aus der eigenen Produktion ausreichend decken zu können. Wenn wir nicht die energischsten Anstrengungen machen, wird uns das Ausland noch lange in Tributpflicht erhalten. Da das Publikum im allgemeinen noch nicht wieder daran gewöhnt ist, die Einrichtung des Hauses kritisch zu betrachten, dürften einige Bemerkungen über die am häufigsten vorkommenden Mängel unseres Hausrates am Platze sein. Es sollen jedoch nur einige Hauptsachen angedeutet werden. Wie beim ganzen Hause, sollten auch bei den Möbeln die strengsten Anforderungen an die praktische Brauchbarkeit erhoben werden. Nur auf dieser Basis kommen wir zur Schönheit. Sie ist keine äusserliche Zuthat von Schmuck und kann im wesentlichen nur aus der Zweckmässigkeit entwickelt werden.

Dies gilt zunächst für die Stühle, die mit peinlichster Gewissenhaftigkeit den Bedürfnissen des Körpers anzupassen sind. Wenn es Abstufungen in der praktischen und ästhetischen Degeneration unserer Möbelarten giebt, so haben sicher die Stühle am meisten gelitten. Vor allem sollte man den Sprungfedern den Krieg erklären. Das hohe Polster hat die Form vollständig ins Plumpe gezogen und trägt zur Bequemlichkeit so gut wie gar nicht bei. Am Anfange des Jahrhunderts hatte man lose Polster, die beim Klopfen herausgenommen werden konnten, das sind praktische Einrichtungen, an die wir uns erinnern sollten. Auch die feinste ästhetische Durchbildung müsste der Stuhl erfahren, wenn er wieder ganz praktisch verwendet werden soll. Die meisten unserer Stühle wirken, wenn sie benutzt werden, wie schlechtsitzende Kleider. Ebenso wie bei den Kleidern muss das Mass der Stühle bis auf Millimeter durchprobiert und dem Bedürfnisse des Körpers angepasst werden. Ein guter Stuhl muss dem Sitzenden alle Bequemlichkeit bieten und ihn dabei doch elegant erscheinen lassen. Es ist unmöglich, auf einem richtig, das heisst, dem Bedürfnis gemäss konstruierten Stuhl schlecht zu sitzen. Von der Höhe des Sitzes ist auszugehen. Nach der Höhe wird die Tiefe des Sitzes bestimmt. Querleisten zwischen den Beinen sind überflüssig und unpraktisch. Es lässt sich nicht vermeiden, dass die Füsse unter den Stuhl gezogen werden, dabei sind dann Querleisten, namentlich, wenn sie zwischen den Vorderbeinen angebracht sind, sehr hinderlich. Wer Offiziere bei sich sieht, muss noch besonders darauf achten, weil die Sporen leicht mit Querleisten in Kollision kommen. Die Lehne bei Esszimmerstühlen sollte möglichst niedrig sein, damit sie beim Servieren nicht hindert. Schliesst die Lehne bei den Schultern an, so ist sie am besten gerade, damit die Schulterblätter beim Anlehnen eingedrückt werden und die Brust frei wird. Ein Stuhl, dessen Lehne im Bogen um die Schulterblätter geht, giebt Atembeklemmungen. Schliesst die Lehne in der Höhe des Kreuzes oder doch unterhalb der Schulterblätter ab, so führt man sie besser im Bogen. Dieser Typus ist leider sehr vernachlässigt und gehört zu den gesundesten und bequemsten. Bei den eigentlichen Lehnstühlen mit schräger Rücklehne ist viel Probieren nötig. Man sollte sich seinen Lehnstuhl wie einen Rock anmessen lassen. Am bequemsten sind Lehnstühle mit verstellbarer Rückenlehne. Ein Hauptgewicht ist auch beim Lehnstuhl darauf zu legen, dass die Atmung erleichtert wird. Beim Polstern ist Rücksicht zu nehmen, dass der Kopf, wenn man sich anlehnt, nicht vorgedrängt wird, während der Rücken einsinkt; die leiseste Unbequemlichkeit in dieser Hinsicht wird mit der Zeit Qualen verursachen.

Die Seitenlehnen können, je nach dem Zweck, von sehr mannigfaltiger Bildung sein. Wertlos sind sie, wenn sie so niedrig bleiben, dass der Unterarm sie beim Sitzen nicht erreicht. Im allgemeinen ist es besser, sie ziemlich hoch zu führen, unter Umständen - namentlich beim Lehnstuhl - kann es bequem sein, sie fast bis zur Achselhöhle zu bringen. Je breiter und flacher die Oberfläche der Lehne, desto bequemer liegt der Arm. Überall ist darauf zu achten, dass nicht mehr Material zur Verwendung kommt, als unbedingt nötig, damit der Stuhl leicht beweglich bleibt. In den zwanziger und dreissiger Jahren hatte man Formen, die für die bequeme Handhabung oberhalb der stützenden Lehne eine Sprosse besassen. Bei Stühlen, die, wie im Speisezimmer, nach dem Gebrauch an die Wand gerückt werden, ist darauf zu achten, dass die Hinterbeine möglichst weit ausladen, damit oben die Lehne die Wand nicht schrammen kann. Der Abstand muss soweit bleiben, dass, wenn die Stuhlfüsse an die Wand stossen, die Hand, ohne sich zu klemmen, oben zwischen Lehne und Wand durchkommen kann. Der Winkel der Rückenlehne muss sehr sorgfältig ausprobiert werden. Die besten Muster, die mir in Deutschland bekannt geworden, sind die Hamburger der zwanziger und dreissiger Jahre und die der fünfziger und sechziger, die aus dem Atelier des »alten Piglhein« in Hamburg hervorgegangen sind, des Vaters von Bruno Piglhein. Es würde sich lohnen, die Maasse aufzunehmen, die dieser hochbegabte Specialist für seine Stuhlbildungen angewandt hat. Namentlich seine Esszimmerstühle verdienen aufmerksame Prüfung. Zum Stuhl gehören die Fussbänke und Fusskissen. Man bildet sie meist zu klein. Sollen sie wirklich bequem sein, müssen sie ein gewisses Volumen haben. Für ältere Damen, deren Fusswärme geschont werden muss, dürfen sie fast die Breite des Stuhles haben. Kissen sind durchweg bequemer, weil man sich nicht daran stossen kann. Wichtig ist, dass sie mit grossen, festen Griffen versehen sind, damit sie leicht transportiert werden können. Grosse Fusskissen von 60-70 cm Länge, 40-45 cm Breite und 15-20 cm Höhe bieten die grosse Annehmlichkeit, dass sie, aufeinander gelegt und vor einen Lehnstuhl geschoben, einen bequemen Liegestuhl zum Lesen und Ausruhen bilden helfen. Unsere Sofas werden fast in allen Fällen zu schwerfällig konstruiert, so dass sie kaum noch beweglich bleiben. Vom Ende des vergangenen Jahrhunderts bis zu den dreissiger Jahren gab es sehr feste und dabei sehr leichte Formen, die vorn vier Beine in der Reihe hatten und infolgedessen im Rahmenwerk sehr viel leichter konstruiert werden konnten, als wenn sie, wie die heutigen, vorn nur auf zwei Stützen ruhten. Im Gesellschaftszimmer dürfen die Seitenlehnen so niedrig sein, dass beim Sitzen der Arm ruht; im Rauchzimmer, im Wohnzimmer pflegte man früher die Lehnen fast bis zur Achselhöhle zu erheben, was eine sehr bequeme Lage des Armes ermöglicht. Wie bei der Rückenlehne die Atmung, so kommt bei der Armlehne die Blutcirkulation ins Spiel. Beim Ruhesofa sollten von vornherein die Kissen berücksichtigt werden, deren Kombination ein bequemes Sitzen ermöglicht. Drei- und mehrsitzige Sofas sind eigentlich ein Unfug. Wo man auf dem Sofa nicht liegen will, sollte es nur zweisitzig sein. Damit erspart man Raum, das Sofa bleibt leicht beweglich und genügt dabei allen Bedürfnissen.

Beim Speisetisch kommt es sehr auf die richtige Höhe an. Alte Hamburger Formen, in ihrer Art unübertreffliche Muster, haben selten mehr als 73 cm (mit den Rollen). Die Zarge darf dabei nicht so tief hinabreichen, dass sie mit dem Knie des Sitzenden in Berührung kommen kann. Das Normalmass war früher 61 cm vom Boden. Querstangen zwischen den Beinen sind durchaus zu vermeiden. Zur Festigkeit sind sie gar nicht nötig, ebensowenig wie beim Stuhl, und nur in der Bauernstube, wo das Holz gewaschen werden kann und die Abnutzung nicht stört, lässt man sich das Aufstellen der Füsse gefallen. Ausziehtische müssen praktische Rollen haben. Bei den alten Hamburger Möbeln, die auf Rollen gehen (ausser den Speisetischen namentlich den Schreibtischen und Betten, bei letzteren sind sie der Reinigung wegen absolut nötig), achtete man sehr sorgfältig auf die Konstruktion. Die Rolle darf den Fussboden oder den Teppich nicht angreifen. Moderne Rollen haben oft die üble Gewohnheit, sich in das Holz des Bodens einzuwühlen, dass es Splitter giebt. Mehr Schrank oder mehr Tisch, je nach den Leistungen, die verlangt werden, sollte der Schreibtisch seinem Besitzer besonders angemessen werden. Auszugehen ist von der Bestimmung der Höhe, die auf Millimeter mit dem Körper stimmen muss. Bei schrankartigen Formen ist für die Klassifikation der Papiere die sorgfältigste Vorbereitung zu treffen. Alte Hamburger Schreibtische haben fast alle die Vorrichtungen, durch die sich die modernen amerikanischen auszeichnen. Wer sich einen Schreibtisch bauen lässt, sollte sich vorher sehr genau über das bereits erreichte Mass an Bequemlichkeit unterrichten. Er wird es heute am besten durch das Studium der Amerikaner lernen. Die grosse Kalamität der modernen Schränke pflegt in der Behandlung der Thüren zu liegen, die auf einen schiefen ästhetischen Grundsatz zurückgeht. Als die deutsche Renaissance einsetzte, die die Schrankfassade mit Säulen und Gebälken wie ein Haus behandelte, erschien es der konstruktiven Empfindung furchtbar, dass eine Säule sich mit der Thür bewegte. Die Säulen wurden darauf hin festgelegt, die Thüren setzten erst innerhalb an, konnten infolgedessen nur bis zum rechten Winkel geöffnet werden, und es blieb hinter ihnen ein toter Raum, der für die Benutzung sehr unbequem ist. Ausserdem ist das Innere eines solchen Schrankes dunkel, wenn er im Seitenlicht steht, und lässt sich nicht ordentlich reinigen. Thüren müssen einen vollen Halbkreis beschreiben können, dann erst lässt sich der Innenraum völlig ausnutzen und erhält Licht, wo der Schrank auch stehen mag. Will man die Säule nicht entbehren, so lasse man sie sich mit der Thür bewegen, ohne sich Skrupel zu machen. Denn die Säule ist an der Schrankfassade nicht Konstruktion, sondern Ornament. Am besten ist's freilich, man lässt sie ganz weg. Es giebt Mittel genug, die Schrankfassade zu beleben. Bei Kleiderschränken ist darauf zu achten, dass die Riegel nicht zu hoch angebracht werden. Je niedriger, desto bequemer. Die vorteilhaftesten Vorrichtungen dürften Stangen sein, auf denen die »Schultern« und Strecker hin und her geschoben werden können. Ein Hutbort über den Riegeln ist sehr bequem. Er findet sich schon in den Hamburger Kleiderschränken vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Die Schubkasten am Boden werden am besten für das Fusszeug benutzt. Auch der Bücherbort hat unter der Säulenarchitektur sehr gelitten. Hinter den vorgelegten Säulen pflegt sich ein Teil der Bibliothek zu verkriechen. Sehr wichtig ist, dass die Vorrichtung zum Stellen der Bücherbretter nicht denselben Übelstand mit sich bringt. Rationelle Abhilfe gewähren mit Löchern versehene Messingschienen, die in die Wände eingelassen werden, so dass sie in derselben Ebene liegen. Eiserne oder messingene Zapfen, die in die Löcher passen und für die in den Brettern ein Lager ausgespart ist, machen das Verstellen sehr leicht und hindern die Ausnutzung des Raumes nicht.


DIE AUFSTELLUNG DER MÖBEL
1896

Die Innenräume unserer Durchschnittswohnungen haben jegliche Proportion verloren. Wer in ein Haus der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts tritt, empfindet wohlthuend die Absicht des Architekten, die Verhältnisse der Räume künstlerisch abzuwägen. Höhe, Breite und Tiefe geben eine harmonische Gesamtwirkung, und die Thüren sind beruhigend verteilt. Heute scheint nur selten die Absicht zu walten, dergleichen Wirkungen zu erzielen. Die Verhältnisse bleiben dem Zufall überlassen, sie sind gedrückt oder gestreckt, wie es ihm gefällt. - Freilich gehört die Möglichkeit, über den Raum frei zu verfügen, dazu, wenn eine Proportionswirkung erzielt werden soll. Aber beim Einzelhaus steht dem doch in der Regel nichts im Wege. Die Anordnung der Möbel kann selbst in einem Zimmer ohne positiv glückliche Verhältnisse sehr viel für eine ruhige Gesamtwirkung thun, wenn nur Ecken und Wandflächen vorhanden sind. Wir pflegen das Sofa an die Mitte der Langwand zu stellen. Für die künstlerische Betrachtung des Raumes giebt es keinen ungünstigeren Punkt, denn alle Raumbilder sind von dort aus langweilig, namentlich der platte Blick auf die gegenüberliegende Wand. Für einen behaglichen Ruheplatz ist eine Ecke viel günstiger, denn von dort hat man den Blick in der Diagonale, was den Raum gross erscheinen lässt und ihm das Platte, beängstigend Eingeschlossene nimmt. Ausserdem erweckt der Sitz in der Ecke auch noch bei Erwachsenen das behagliche Gefühl der Sicherheit und Geschütztheit. Das vorhandene Sofa vor die Ecke zu rücken ist nicht ratsam, da es dann einen toten Winkel giebt. Alle diese Empfindungen haben im modernen englischen Zimmer zur reichen Ausbildung solcher Eckarrangements geführt. Wir müssen in diesem Falle noch besonders auf das deutsche Familienleben Rücksicht nehmen, dessen Mittelpunkt im Bürgerhause Sofa und Sofatisch bildet. Wo ein grosser Tisch jedoch nicht wirklich gebraucht wird, sollte man ihn unter allen Umständen weglassen. Die meisten Herrenzimmer können ihn z. B. sehr gut entbehren; da genügt der Schreibtisch. Kleine, leicht verstellbare, aber sicher aufstehende Tische kann man jedoch nicht leicht zu viel haben.

Sehr wichtig ist die Ausgestaltung der Fensterwand. In unseren modernen Zimmern pflegt sie dem praktischen Gebrauch gänzlich entzogen zu sein, weil die üblichen zwei Fenster die Einheit zerreissen und die niedrigen Fensterbänke den Aufenthalt unbehaglich machen. Haben wir erst das eine breite Fenster mit hoher Fensterbank, wie es unsere Vorfahren besassen, dann werden wir erst empfinden, was für ein Segen ein gemütlicher Platz am Fenster ist. Wo der Fensterplatz nicht benutzt wird, wie im Speisezimmer, steht natürlich nichts im Wege, die Fensterbank, etwa einer schönen Aussicht auf Garten oder Park wegen, nach Belieben niedrig zu halten oder ganz weg zu lassen. Solange wir unter dem System der zwei Fenster und der niedrigen Fensterbänke leiden, bleibt auch der um eine Stufe erhöhte und mit einem Geländer versehene Fensterplatz in der Regel eine Spielerei. Erfahrungsgemäss dient er nur als unbequemes Ornament, nimmt kostbaren Platz weg und wird nicht gebraucht. Vor dem einen breiten Fenster mit der hohen Fensterbank lässt sich ein überaus behagliches und praktisch verwendbares Arrangement von Tisch und Stühlen einrichten. Wer dort sitzt und arbeitet, ist nirgend im Wege, stört die Passage nicht, fühlt sich sicher und ungestört, nutzt das ausgezeichnete Licht aus und ist den Blumen auf dem Fensterbort nahe. Blumen im Glase kommen erst recht zur Geltung, wenn man sie im vollen Licht auf dem Tisch am Fenster vor sich hat. Die grösseren Lehnstühle sollten feste Plätze haben und mit dem Sopha als festen Mittelpunkt so angeordnet sein, dass sie einer Gruppe von Plaudernden bequeme Plätze bieten, nicht so nahe bei einander, dass man sich beengt, nicht so weit, dass man sich getrennt fühlt. Seit auch in den Bürgerfamilien bei uns Wohn-, Arbeits- und Schlafräume getrennt sind, braucht man im Wohnzimmer keine Aufbewahrungsmöbel mehr. Man sollte nun auch wirklich nicht mehr Möbel hineinstellen, als dort nötig sind. Je weniger, desto besser. Namentlich sollte man die Mitte frei halten. Das Zimmer sieht gross und geräumig aus, wenn man die ganze Fläche des Fussbodens sehen kann. Im vergangenen Jahrhundert hatte man dafür ein sehr lebhaftes Gefühl. Selbst die Schränke an der Wand versah man mit so hohen Füssen, dass man bis an die Wand sehen konnte. Dies ist die Ursache, dass in den alten Schlössern die Säle einen so einheitlichen Raumeindruck machen. Wie viel mehr sollten wir in unseren kleinen Räumen dahin streben! Überdies ist ja die Schieblade oder das Fach dicht am Fussboden sehr unbequem zu benutzen, namentlich für Frauen, von der grossen Annehmlichkeit "fussfreier" Möbel beim Reinmachen gar nicht zu reden.

Das alles muss im Princip erst wiedergewonnen werden. Wir führen die Schränke meist bis an den Boden, wobei dann das Bohnern und Waschen die Möbel sehr gefährdet, oder, was schlimmer ist, so nahe heran, dass eine Öffnung bleibt und doch der Besen nicht mehr unterschlüpfen kann. Wichtig für den Gesamteindruck des Raumes ist ferner, dass sich die Möbel möglichst an die Wand halten, dass sie nicht unnütz tief sind. Überhaupt sollten die Möbel nicht grösser sein, als für ihren Zweck unbedingt nötig ist. Die enormen dekorativen Buffets der letzten zwanzig Jahre bieten die beste Illustration für das Gegenteil. Möbel sollten wirklich Mobilien, d. h. bewegliche Dinge bleiben, vor allem, wo man auf Reinlichkeit hält und wo ein Wohnungswechsel zu den möglichen Dingen gehört. Auch vom ästhetischen Standpunkt ist für die Grossstadt zu wünschen, dass die Möbel mit den immer kleiner werdenden Zimmern an Volumen abnehmen. In Paris sind die Abmessungen der Räume sehr viel kleiner als bei uns, aber sie erscheinen doch nicht so, weil die Möbel Mass halten. Unsere Möbel pflegen das grosse Hindernis zu sein, wenn es darauf ankommt, einen ruhigen, einheitlichen Gesamteindruck zu erzielen. Sie sind sperrig und zerreissen den Raum; das orientalische Zimmer, das keine beweglichen Möbel kennt, erreicht mit seinen um die Wand geführten oder in Nischen gerückten Ottomanen eine unendlich überlegenere Raumwirkung. Wir sollten von ihm und von den Einrichtungen unserer Vorfahren die Wichtigkeit der Wandschränke verstehen lernen.