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Autor: Labes
In: Neudeutsche Bauzeitung: 8 (1912);  S. 417 - 419
 
Von der Wiederbelebung und Fortentwicklung deutscher Eigenart in Baukunst und Kunstgewerbe
 
Von Stadtbauinspektor LABES-Görlitz
(Vortrag vor den 22. Delegiertenversammlung des Verbandes Deutscher Kunstgewerbevereine, München, Juni 1912)

Wenn ich von der Wiederbelebung und Fortentwicklung deutscher Eigenart in Baukunst und Kunstgewerbe sprechen will, so liegt mir selbstverständlich fern, ein neues Stilrezept zu geben und Formen überwundener Zeiten zu empfehlen —, vorüber ist nun hoffentlich das Stilwählertum und frei die Bahn für unsere Künstler, die aus eigenem Zeitempfinden schaffen, — mir liegt vielmehr daran, daß den Sinn und das Empfinden für nationale Kunst im Volke geweckt und gefördert werde. Mit der Verbreitung der Kenntnis dessen, was wir als deutsche Eigenart in der Baukunst und dem Kunstgewerbe auffassen müssen, wird zugleich der Boden geebnet für das Verständnis unserer neuen Kunst, die doch im Volkstum schließlich Wurzel fassen muß, wenn sie von Dauer und keine Modeerscheinung sein will. Daß uns viele Werke unserer besten heutigen Künstler deutsch anmuten, das ist schon des öfteren ausgesprochen worden. Und es hat in der Tat den Anschein, als wären jüngere Künstler auf dem besten Wege, den Faden, der in die Zeit führt, da unsere Rasse in noch reinerer Kultur ihren eigensten Kunstempfindungen Ausdruck gab, wieder aufzufinden. Ich meine natürlich nicht, daß etwa die äußerlichen Zierformen denen jener Epoche ähneln, sondern daß etwas vom Wesensgehalt jener Zeit in den heutigen guten Leistungen widerschimmert. Daß durch Wecken und Stärken des Empfindens für deutsche Eigenart in Baukunst und Kunstgewerbe das unserem Volke scheinbar ganz abhanden gekommene, aber wohl doch noch in ihm schlummernde Stilgefühl gefördert wird, erscheint mir außer allem Zweifel, denn ein Stilgefühl für diejenige Kunst, die zur Herstellung alles dessen dient, was wir zu des Lebens Kampf und Arbeit, Schutz und Zierde gebrauchen, wie Werkzeug und Waffen, Schmuck und Geschmeide, Gewand und Geräte, Haus und Hof — also für Kunstgewerbe und Baukunst — muß wie Sprache und Sitte nationale Eigenart haben.

Was ist als deutsche Eigenart in Kunstgewerbe und Baukunst anzusprechen? lm Allgemeinen besteht die Ansicht, daß das, was in jeder Stilperiode geschaffen ist, deutsche Eigenart besitzt. Bis zu einem gewissen Grade wird das immer zutreffend sein, und nur die Werke, die mit voller Absicht nachgebildet sind, werden keine Eigenart haben. Der Grad ist nun in den einzelnen Epochen verschieden groß. In den Renaissancezeit und den nachfolgenden aus ihr sich entwickelnden Stilperioden des Barock, Rokoko, Klassizismus und Empire fällt er zuweilen auf ein so geringes Maß herab, daß man kaum noch von einer nationalen Eigenart sprechen kann. Wenn man aber den Begriff der nationalen Eigenart schärfer faßt und darunter den Formengeist versteht, der der Rasse, der wir angehören, eigentümlich ist, so kommt man zu dem Schluß, daß die Renaissance den Grund dazu gelegt hat, der schließlich zur fast vollständigen Wirkungslosigkeit des germanischen Geistes im Barock und noch mehr im Rokoko führte. Die Renaissance war zweifellos für die Deutschen ein fremder Stoff, und wäre unsere nationale Eigenart, die wir zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als die Renaissance hereinbrach, noch besaßen, kraftvoll genug gewesen, hätte m. E. die Vermischung des fremden mit eigenstem Geiste ein ganz anderes Ergebnis zeitigen können. Ich meine nicht, daß die Deutschen sich gegen das, was die schneller vorwärts geschrittene künstlerische Kultur anderer Völker entwickelt hatte, hätten verschließen sollen; aber hätten sie nicht mit mehr Bewußtsein von künstlerischer Inzucht, ebenso wie die Hellenen aus Anregungen fremder Kunst eine nationale Kunst höchster Entwicklung hervorbrachten, etwas herausarbeiten können, das in engerer Fühlung blieb mit dem Volksempfinden? Wieviel größer die deutsche Eigenart vor dem 16. Jahrhundert! Zunächst in der Gotik. Die Gotik ist, was wohl nicht mehr bestritten wird, zuerst von den letzten auf die Wanderung gehenden Germanen, den Normannen, in der Normandie angewendet. Sie ist zur größten Schönheit in Deutschland neben Frankreich ausgebildet worden. Raffael nannte den gotischen Stil den deutschen Stil — als etwas dem römischen Stil ganz Entgegengesetztes. Das ist deutsche Baukunst, »unsere Baukunst«, sagte Goethe. Man betrachte einen griechischen Tempel und daneben einen nordisch-gotischen Dom. Da gehört keine Kunstgelehrsamkeit dazu, um zu erkennen, daß diese beiden Werke höchster Schönheit ganz entgegengesetzten Geistes sind. Dort die logische Klarheit und hier der Widerwille gegen Normalien; hier gleicht kein Säulenknauf und kein Türbogen dem andern, dort das vollendete Gleichmaß. Der gotische Dom ist ein Werk der germanischen Rasse mit ihrer phantastischen, mehr innerlichen Veranlagung, wenn sich auch römische und byzantinische Einflüsse stark geltend gemacht haben. Ebenso wie der gotische Stil ist der romanische Stil von germanischem Geiste durchtränkt.

Der Name »romanischer« Stil ist, wie schon oft genug erörtert worden ist, nicht zutreffend; er läßt jedenfalls nicht erkennen, daß diese Epoche ganz wesentlich auf älteren germanischen Unterströmungen ruht. »Es müßte endlich der germanischen Kunst neben der byzantinischen und romanischen ein berechtigter Platz angewiesen werden«, sagt Professor Mohrmann, der Verfasser der »Germanischen Frühkunst von Mohrmann und Eichwede 1906«. Dietrichson sagt in seiner »Holzbaukunst Norwegens«: Die Stabkirche — d. i. die frühmittelalterliche norwegische Holzkirche — ist eine den Forderungen des Materials, nämlich des Holzes, genau angepaßte Modifikation der romanischen Basilika, was Ludwig Wilser in seinem Buche über die Germanen besser ausdrückt, indem er schreibt: »Der romanische Baustil ist eine Übersetzung des altgermanischen Holzbaus in Stein«. Wie groß der Gehalt an germanischer Eigenart zu jener Zeit gewesen ist, davon erhält man einen Begriff, wenn man sich eingehender mit den neueren Forschungen nach germanischer Frühkunst zur Zeit der Völkerwanderungen und der frühchristlichen Zeit beschäftigt. Seit einigen Jahren geht durch diese Forschung ein frischer Zug. Da hören wir von einer ungeahnten Fülle altgermanischer Kleinkunst, die fast in allen Teilen Europas — denn fast ganz Europa war im 6. Jahrhundert Germanen untertan — in unerwarteter Einheit der Kunst aufgefunden wurde. Neben dem schon genannten Werke von Mohrmann und Eichwede und dem schon 1897 erschienenen Werk über die frühmittelalterliche Kunst der germanischen Völker von Seeßelberg läßt uns besonders das 1909 erschienene Werk von Baurat Albrecht Haupt, Professor an der Technischen Hochschule in Hannover, »Die älteste Kunst, insbesondere die Baukunst der Germanen von der Völkerwanderung bis Karl dem Großen« einen Einblick in die Kunst und das Leben unserer Vorfahren tun. In überzeugender Weise legt Haupt dar, daß die Germanen ein selbständiges Kunstwesen mit eigenen Schönheitsgesetzen besaßen, daß ihnen ein »künstlerisches Leben und Wollen von solcher Kraft innewohnte, daß die Völkerwanderungen eine Neubefruchtung und Neugestaltung der ganzen Welt im Gefolge hatten.« Das muß uns m. E. den Glauben an eine hohe Begabung und einen großen Rassegehalt der Germanen stärken, das läßt uns auf ihre bedeutende künstlerische Tätigkeit in früh- und vorgeschichtlicher Zeit schließen. Tatsächlich schreitet denn auch die Erforschung dieser frühen Zeit immer weiter vorwärts, und immer freier wird der Blick in die Jahrhunderte und Jahrtausende vor Christi Geburt.

Ich nenne nur eins der neuesten Werke vom vorigen Jahr, »Altgermanische Monumentalkunst« von Willi Pastor, das ein neues Zeugnis dafür ist, daß der Norden nicht nur zu empfangen, sondern der alten Welt auch viel zu geben hatte. Willi Pastor meint sogar an anderer Stelle, daß die germanische Holzbaukunst Einfluß auf die Entstehung des griechischen Tempels gehabt habe. Das aber ist schon 1903 von Ludwig Wilser in seinem vorerwähnten Buche über die Germanen bewiesen worden, daß die alten Germanenstämme aus Skandinavien ausgewandert, aber nicht aus dem fernen Osten eingewandert sind, woraus zu schließen ist, daß die altgermanische Kunst eine ursprüngliche und einheimische, nicht aus dem Orient übernommene Kunst ist. Übrigens kommen Lindenschmidt und Lachner schon vorher in den achtziger Jahren zu diesem Ergebnis. Was wir an deutscher Eigenart in Baukunst und Kunstgewerbe haben, geht also in ununterbrochenem Zuge bis in die weitesten Vorzeiten zurück. Von diesem ureigensten Formengeist unserer Vorfahren, der selbst vor einem mehr als tausend Jahre langem Ansturm der Antike nicht ganz weichen wollte, der jetzt in den Arbeiten unserer jüngeren Künstler neu zu erstehen scheint, muß unser Volk eine größere Achtung bekommen. Das stärkt sein Nationalbewußtsein und wird ihm am ehesten zu einem einheitlichen Stilgefühl verhelfen zur Förderung unserer neuen Kunst. Unsere volkstümlichen Kunsthandbücher sollten von den Tatsachen der neueren Forschungen mehr Notiz nehmen und vor allem die Kunstentwicklung in unserer eignen Nation in den Vordergrund heben. In unsern Schulen sollte mehr von nationalem Stilgefühl und weniger von äußerer Stilkunde gesprochen werden. Wir wollen deutsch leben, also muß auch unsere Kunst deutsch sein.