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Autor: Koch, F. E.
In: Deutsche Bauzeitung: 26; (1892); Nr. 82; S. 501 - 503
 
Die Gothik im Dienste der modernen Anforderungen an die Architektur *)
 
Von Dr. F. E. Koch, Oberlandbaumeister in Güstrow


In neuerer Zeit ist in Mecklenburg mehrfach der Versuch gemacht worden, die Formbildung der Gothik bei der Konzeption der Fassaden von monumentalen Bauwerken für profane Zwecke in Anwendung zu bringen. Diese Versuche aber zeigen, dass selbst bei sonst geistreicher Behandlung dies Unternehmen seine grossen Bodenken hat; und da diese Frage von weitgehendstem Interesse ist, so dürfte es sich wohl empfehlen, derselben einmal eine Besprechung in diesem Fachblatts zu widmen. — Zur Begründung der vorstehend ausgesprochenen Ansicht will der Berichterstatter einige neuere im gothischen Stil ausgeführte Bauten vorführen, und hebt zunächst das noch im Bau begriffene grossartige Gebäude, das  Ständehaus  in  Rostock, hervor. Dies Bauwerk zeigt eine Ausbildung, die sich den Formen der Frühgothik anschliesst, zum Theil vermischt mit solchen des französisch- normännischen Stils, in denen man das Studium des Viollet-le-Duc erkennen möchte, und ist mit einem solchen Aufwand von Dekorationsmitteln des Ziegelbaustile, an Skulpturen und farbigen Glasuren ausgeführt, dass der Laie von der Farbenpracht geblendet wird; in der That kann man auf den ersten Blick sich des Eindrucks nicht erwehren, den ein grossartiges Majolikawerk hervorbringt. Bei näherer Prüfung aber tritt dem kritischen Auge des Architekten eine solche Masse völlig unmotivirter Dekorationsmittel: kleiner Ziergiebel, Zwergarkaden, Dacherker, Ueberkragungen usw. entgegen, dass man den Eindruck der Effekthascherei gewinnt! Man vermisst mit Bedauern die grossen Wandmassen, wie sie der Frühgothik eigen waren und welche wohlthuende Ruhepunkte für das Auge bilden, Dagegen stösst der Blick auf die den Mittelbau der Hauptfassade dominirenden hohen und schmalen dreitheiligen Spitzbogenfenster, die dem Geiste der Gothik entgegen durch massive Quertheilungen in zahlreiche kleine Fensteröffnungen zerschnitten sind, so dass man hinter diesen Fenstern keineswegs einen in der ganzen Höhe der Fenstergruppen durchgehenden Ständesaal vermuthet, sondern auf Etagentheilungen hingewiesen wird, wie sie etwa ein Bibliotheksaal mit seinen Umgängen erfordern würde. — Weiter stösst der Blick auf die beiden, den Mittelbau flankirenden hohen Thurmbauten und bemüht sich vergeblich, den Zweck

*) Anmerkung der Redaktion. Wir brauchen wohl nicht auszuführen, dass wir durch Aufnahme dieses Aufsatzes nicht unsere Uebereinstimmung mit allen in demselben entwickelten Ansichten zu erkennen geben wollen. Dem Hrn. Verfasser Raum zur Darlegung seines Standpunkte zu gewähren, erschien uns jedoch als Pflicht.


derselben zu ergründen; ebenso auf die Wasserspeier, die kein Wasser zu speien haben und auf andere zwecklose, aber kostbare Spielereien, die keinerlei konstruktive Grundlage haben und nur darauf berechnet sind, ein möglichst buntes Formenspiel herbeizuführen! — Weshalb hat man denn für den vorliegenden Zweck, für einen Bau, der der Aufnahme eines Institute dient, welches nicht dem Mittelalter, sondern der Renaissancezeit sein Entstehen verdankt, den mittelalterlichen Stil gewählt? — Diese Frage drängt sich um so lebhafter hervor angesichts des im Verlage von Ernst Wasmuth 1889 erschienenen Heftes, welches eine Auswahl derjenigen Entwürfe veröffentlicht, die seinerzeit als das Ergebniss der für diesen Bau ausgeschriebenen Wettbewerbung eingegangen sind. Dies Heft stellt eine Reihe von Entwürfen dar: theils im Stil der italienischen Hochrenaissance, theils der deutschen Renaissance, sowie in dem für Mecklenburg eigenthümlichen Ziegelbaustil jener Zeit, den wir hier den Johann-Albrecht-Stil nennen, zumtheil Entwürfe, die in wirksamerer Weise, als der zur Ausführung gekommene, dem Bauwerk den Stempel der Monumentalität aufgedrückt habe würden! — Denn wenn man auch nicht umhin kann, dem Fleiss, mit dem das inrede stehende Gebäude ausgeführt ist, und der Güte des dazu verwandten Materials volle Anerkennung zu zollen, so entbehrt man doch mit Bedauern den Eindruck des  monumentalen  Charakters, wie man es für die Würde der darin tagenden Körperschaft und den Ernst der darin zu beschaffenden Arbeiten wünschen möchte. — Wurden einmal so bedeutende, jedenfalls die Feststellung des Programms überschreitende Mittel, wie sie die Ausführung dieser überreichen Ziegelbau-Fassade beansprucht, bewilligt, *) dann kann man nur bedauern, dass diese nicht auf einen Terrakottabau der Frührenaissance, oder auf einen Sandsteinbau der italienischen Hochrenaissance verwandt sind. Hinter den zur Ausführung gekommenen Fassaden vermuthet man eher ein Kunstgewerbe-Museum als ein Ständehaus! — Ganz nahe dem Ständehause stossen wir auf einen zweiten gothischen Bau der Neuzeit von umfassender Grösse,  das  Posthaus. Wesentlich ruhiger in der ganzen Erscheinung, fühlt man

*) In dem Konkurrenz-Ausschreiben zu diesem Bau war die, die Bearbeiter sehr beschränkende Bestimmung enthalten, dass der Bau den Betrag von 400000 M. nicht überschreiten und zwei Geschosse nicht übersteigen sollte, während der zur Ausführung gekommene Entwurf seine Räume in drei Geschosse vertheilt und das 3-4 fache jener Summe kosten wird.


aber auch bei diesem Bau, dass die gothischen Formen sich nur widerwillig den beschränkten Geschosshöhen und den flachen Decken der inneren Räume anschliessen. Man beachte die flachbogigen Fenster des Obergeschosses; die, um den Charakter der Gothik der Fassade aufzudrücken, in spitzbogige Blendnischen, die oberhalb der Fensterstürze mit gothischen Ziegelrosetten belebt sind, gelegt wurden: Die an sich sehr hübschen, im Stil der norddeutschen, allerdings sehr modernisirten Ziegelgothik ausgebildeten durchbrochenen Giebel und Ziergiebelchen der Dachfenster werden unseren nordischen Witterungsverhältnissen sehr wenig Widerstand entgegensetzen. Man erkennt auch an diesem Bau die durch nichts motivirte Absicht, ungeachtet der widerstrebenden inneren Raumverhältnisse und im Widerspruch mit der konstruktiven Zweckmässigkeit eine gothische Fassade zu schaffen: — Durch  nichts  motivirt — denn wollte man der Thatsache Rechnung tragen, dass Rostock eine alte Stadt ist, die manches alte gothische Bauwerk enthält; so steht dem der Umstand gegenüber, dass die Zahl der guten Renaissance-Fassaden jedenfalls eine viel grössere ist. — Dies Postgebäude aber unter Beibehaltung der ganzen, der Fassadenausbildung zugrunde liegenden Idee in die Formbildung der deutschen Renaissance umgesetzt, würde einen ebenso reichen Eindruck wie die jetzige Fassade machen können, ohne die konstruktiven Bedenklichkeiten zu zeigen. — Eine nach ganz ähnlichen Grundsätzen ausgebildete Fassade zeigt als drittes Beispiel das  neue  Posthaus  in  Lübeck, über welches man ziemlich dieselben Bedenken äussern kann, wie über das Rostocker, und zwar sollen schon jetzt die dort befürchteten Witterungs-Einflüsse sich recht fühlbar machen. Als viertes Beispiel soll hier noch des  Gymnasiums  in  Doberan gedacht werden, welches recht fremd in der Umgebung der übrigen modernen Bauten dasteht. Die Fassade (vergl. Taf. 7, 8 der von der Bauhütte in Hannover herausgegeb. Hefte) imponirt, wie die des Ständehauses, dem Laien, während der Sachverständige darin wieder allerlei unmotivirte Kunststücke und Spielereien erkennt und auf Konstruktionen stösst, die auf Haustein berechnet sind, die aber auf Ziegelbau übertragen, nur durch künstliche Eisenkonstruktionen sich ausführen lassen. Mit Bedauern sieht man, wie so bedeutende künstlerische Befähigung, von der die vorgeführten Bauten Zeugniss ablegen, darauf verwandt wird, einem Baustil, der seinerzeit gross dastand, dessen ganze konstruktive Tendenz aber in direktem Widerspruch steht zu den Anforderungen der Neuzeit, mit Gewalt wieder Eingang zu verschaffen und ihn künstlich in Verhältnisse hinein zu zwängen, in die er seiner ganzen Natur nach nicht passt. Kultiviren etwa die modernen Gothiker aus vermeintlichem Patriotismus diesen Stil, dann müssten sie auf die romanische Formbildung zurückgehen, die allein als ein echt deutscher Stil anzusehen ist, während die Gothik aus Frankreich, die Renaissance aus Italien stammt. Der gothische Stil hat allerdings eine eigenthümliche Ausbildung in Deutschland an den grossen katholischen Domen des Mittelalters erlangt. Dahin  gehört  er  und nach wie vor möge er für die Gotteshäuser der katholischen Länder verwendet werden! — Aber selbst schon für Gotteshäuser des protestantischen Kultus mit seinen abweichenden Bedingungen passt er nicht. Nur nothgedrungen richteten sich dereinst die Protestanten in den ihnen überwiesenen katholischen Kirchen ein, fühlten aber gar bald, wie wenig dieselben den Bedürfnissen ihres Kultus entsprachen; schon im 17. Jahrhundert beginnen die Experimente mit der Konzeption der Grundrisse protestantischer Gotteshäuser nach der Zentralform, unter gleichzeitiger Beseitigung der gothischen Formbildung. So wurden die  Frauenkirche  zu Dresden, die Michaeliskirche zu Hamburg, die Hauptkirche zu Altona, die Schelfkirche zu Schwerin und alle die durch die Refugiés in den verschiedenen Städten Deutschlands aufgeführten „französischen  Kirchen" ins Leben gerufen; und erst in diesem Jahrhundert ist man für den Neubau von Kirchen wieder auf die gothische Formbildung zurückgegangen, die von den kirchlichen Behörden in Mecklenburg sogar als die maassgebende betrachtet wird. Befördert wird diese Richtung vorzugsweise von der Hannover`schen Schule; von dieser gehen auch die Experimente aus, diesen Stil bei sonstigen profanen Gebäuden, und selbst für Monumentalbauten einzuführen. Erst in neuester Zeit wird in dieser Hinsicht wieder ein erfreulicher Umschwung bemerkbar; an den verschiedensten Orten tauchen Pläne für protestantische Kirchen nach dem Zentralsystem auf, ein Streben, welches durch den neuen Dombau in Berlin eine kräftige Stütze finden wird. Hoffen wir, dass auch in Mecklenburg bald sich ein Umschwung in dieser Beziehung vollzieht, dass namentlich für profane Bauten dies Kokettiren mit dem gothischen Stil aufhört. Mag man in Gottes Namen für die Kirchen des katholichen Kultus den gothischen Stil festhalten, oder aus besonderer Liebhaberei eine Villa oder ein Jagdschloss darin ausbilden — denn malerisch kann man wohl darin wirken, aber nicht  monumental — aber bleibe man für monumentale  Bauten  fort  mit  der  Gothik! — Die Formen der Renaissance dagegen fügen sich willig in die Anforderungen der modernen Bauten; sie bieten eine schöne Gelegenheit, die Kunstziegeleien in Thätigkeit zu setzen — sei es in Verfolgung der Richtung, die wir als deutsche Renaissance bezeichnen, oder nach der der italienischen Terrakotta- Bauten im Anschluss an den für Mecklenburg heimischen Johann-Albrecht-Stil, für den uns einzelne Theile des Schlosses zu Schwerin, des Fürstenhofes in Wismar usw. so hübsche Beispiele geben. — Oder wollen wir absehen von der Verwendung von Kunstziegeln, so bietet auch die vorzügliche Bindekraft unserer norddeutschen Erdkalke Gelegenheit, in Verbindung mit Kunststeinen von Zement als Ersatz für Haustein solide Putzbauten im Geist der italienischen Hochrenaissance auszuführen. Für alle diese Richtungen haben wir von anderer Seite ausgeführte Beispiele in Mecklenburg: so die neueren Theile des Schweriner Schlosses, das Gymnasium, das Museum, das Schauspielhaus, das neue Empfangsgebäude daselbst; dann das Universitätsgebäude in Rostock, das Landgericht daselbst usw. Mit Freude erkannte man, wie diese Beispiele bei Privathäusern Nachahmung finden, so dass man sich der Hoffnung hingeben konnte, dass die Formbildung der Renaissance, wie in den übrigen Theilen des deutschen Reiches, so auch in Mecklenburg, massgebend werden dürfte für die allmähliche Ausbildung eines bestimmten, den zur Verfügung stehenden Baumaterialien entsprechend modifizirten Baustils. Mit tiefem Bedauern müsste es uns erfüllen, wenn durch das besprochene Bemühen: den gothischen Stil wieder mehr einzuführen, das Publikum irregeleitet und die weitere Entwicklung eines den modernen Anforderungen entsprechenden Baustils zerstört würde.