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Autor: Hofmann, Albert
In: Allgemeine Bauzeitung 55 (1890); S. 81 - 84; S. 89 - 92
 
In welchem Style sollen wir bauen?
 
Friedrich von  H e l l w a l d  sagt in seiner Kulturgeschichte: »Natur und Kultur, Erhaltung und Fortschritt, Vergangenheit und Zukunft müssen Hand in Hand gehen und sich nicht gegenseitig verleugnen oder vernichten wollen. Wer sich diese Anschauung zu eigen macht, wer von derselben durchdrungen wird, dem wird jegliche Leidenschaftlichkeit, jegliche schroffe Abgeschlossenheit der Begriffe, sowohl bei Erörterung wissenschaftlicher Fragen, als auch im Gewirre des praktischen Lebens fremd bleiben. Er wird sich den politischen und sozialen Kämpfen und dem Parteihader gegenüber ebenso verhalten, wie dem Kampf der Elemente in der Natur gegenüber. Er wird die Begebenheiten und Erschütterungen des politischen und sozialen Lebens  v o r z u g s w e i s e  v o m  S t a n d p u n k t e  d e r  e w i g e n  n o t h w e n d i g e n,  u n a b ä n d e r l i c h e n  N a t u r g e s e t z e  a u s  b e t r a c h t e n  und zu ergründen suchen, und im Kampfe selbst den Keim zu  n e u e r e m,  b e s s e r e m,  h ö h e r e m  L e b e n  finden.«
Die Frage der künstlerischen, architektonischen Hervorbringung: »In welchem Style sollen wir bauen?« ist in eminentem Sinne eine Frage der Kultur und einer höheren sozialen Existenz, eine Frage, die auf dem Gebiete der Stylanwendung einen leidenschaftlichen Kampf hervorgerufen hat, der bis in unsere Gegenwart dauert und voraussichtlich einer baldigen Schlichtung nicht entgegensieht. Die ausübende Architektur sowohl wie die Kunstgeschichte haben sich gleicherweise dieser Frage bemächtigt und während sich die Erklärungsversuche der ersteren vielleicht im natürlicheren Vorgange lediglich als Resultate subjektiver Einzelempfindungen kund gaben, bauten sich die Emanationen der letzteren auf einer Summe willkürlich zusammengetragener Elemente zu kritischer Beleuchtung der Frage auf, während doch die Hauptaufgabe der Kulturgeschichte und in ihr der Kunstgeschichte nach  H e l l w a l d  richtiger im  E r k l ä r e n  als im  B e u r t h e i l e n  der Kulturerscheinungen liegt. Daraus ergaben sich eine Reihe von zum Theil entgegengesetzten Anschauungen, die aber nichtsdestoweniger mit grösster Hartnäckigkeit in beiden Lagern verfochten und behauptet wurden. Es möge nun gestattet sein, der dieser Arbeit zur Aufschrift dienenden Frage mit leidenschaftsloser Objektivität näher zu treten und versuchsweise festzustellen, welche Relationen in unserem tieferen sozialen Leben für die Entscheidungen der Stylfrage in der ausübenden Architektur die massgebenden sind und dann ferner, ob die hier in Rede stehende Frage in der oben gegebenen Fassung, in welcher sie allgemein gebraucht wird, überhaupt eine Existenzberechtigung hat.
Der Styl in der Kunst kann seine Abhängigkeit von der menschlichen Gesellschaft nicht verleugnen, ihr verdankt er zum grössten Theil seine Ausbildung. Jedoch nicht ihr allein, Klima, Sitten und Material machen auch ihre Einwirkung geltend. Das Hauptmotiv für die Ausbildung des Styles im Allgemeinen gibt die menschliche Gesellschaft, wenn auch das Hauptmotiv für die Ausbildung der Form oft zwischen den einzelnen Existenzfaktoren wechselt.  L ü b k e  hat es ausgesprochen, dass der nach streng waltenden Gesetzen der Statik gegliederte Bau den Gesammtgeist einer Zeit, eines Volkes spiegeln müsse, dass er gleichsam als eine Blüthe der allgemeinen Verhältnisse und Beziehungen erscheine. Wir erkennen dies an der gesammten antiken Kunst. Während in vorgriechischer Zeit in China, Mesopotamien und Aegypten die individuelle Macht, die schon in Religion, Politik und Sitte reformatorisch wirkte, bewusst und für Alle wahrnehmbar in den Gang der Kunsterzeugnisse eingreift, ein Moment, welches sich in der höfischen assyrischen und in der hieratisch-ägyptischen Kunst scharf ausgeprägt, tritt auf weiterer Entwickelungsstufe in der demokratischen, griechischen Kunst der gebietende Individualismus zurück. Die griechische Kunst war eine Kunst des Volkes, es war von ihr durchdrungen und mit ihr verwachsen. In Griechenland der freie Demos als stärkste Macht im sozialen und Kunstleben, gegenüber der höfischen Knechtung in Assyrien und der hieratischen in Aegypten. Das Römerthum zeigt wieder eine Wandlung. Die Interessen des römischen Volkes wurden nach der Politik abgelenkt und das politische Rom zerstörte die Harmonie der Gesellschaft, indem es fast ohne Verbindung mit anderen Kulturäusserungen für sich selbst emporschoss und daher dem Volke nur die nackte Politik, deren Triumphe sich nicht wie in Griechenland mit der Kunst vermählten, bieten konnte. Die Kaiser dagegen, welche sich in ungesättigter Ruhmsucht gewaltige Denkmäler setzten, sie traten für sich gesondert das Erbe des ganzen griechischen Volkes an, freilich geistig sehr verschieden, aber äusserlich prunkvoller, dithyrambisch. Das Cäsarenthum verlieh der römischen Kunst, insbesondere der römischen Architektur, eine charakteristische Färbung und die Architektur ist es, welche in der römischen Kunst den Theil von Selbstständigkeit zeigt, welchen man für diese gegenüber der griechischen Kunst hat retten wollen.
Nach der Antike tritt nun eine merkwürdige Erscheinung ein. War in vorchristlicher Zeit die menschliche Gesellschaft immer nur als ganzes oder doch als Theil mit durchweg gleicher Gesinnung das geistige Motiv der Kunst, so tritt um die Wende unserer Zeitrechnung zum ersten Male eine weitere Theilung der Gesellschaft ein, eine Spaltung, die hier ansetzend, sich bis zur Renaissance in solcher Weise geometrisch steigert, dass die Ueberlegenheit dieser neueren Kultur gegenüber der Antike nicht sowohl im fruchtbringenden Gedanken oder in der Geistesthätigkeit liegt, als in der Mannigfaltigkeit der Völker, welche an ihr theilnahmen und welchen im Alterthume immer nur ein Volk gegenüberstand. Jedes der Völker nahm mit aller ihm zu Gebote stehenden Energie und Intensität an der grossen Kultur- und Kunstarbeit theil. Diese Spaltung erhielt sich bis in unsere neueste Zeit, aber schon zeigen sich Anzeichen, als ob unsere polydemische Kultur durch die Fortschritte unserer modernen Kultur sich wieder in eine monodemische verwandeln wolle. Noch sind es nur Anzeichen; aber wie schon der schwache Grashalm die Richtung des Windes verräth, so kann aus diesen schwachen Anzeichen auf die allgemeine Richtung einer kommenden Kultur mit einiger Sicherheit geschlossen werden.
Es ist eine Behauptung, die vielleicht noch etwas verfrüht erscheinen könnte, die aber bei genauer Betrachtung jetzt schon ihre volle Berechtigung hat: dass die »Stylfrage« ihrem Gesammtcharakter nach eine mehr und mehr internationale wird. Die Eigenthümlichkeiten eines Landes, eines Volkes werden mehr und mehr zu Gunsten der Uniformität zurückgedrängt. Das liegt in unseren modernen Kulturverhältnissen. Die hervorragende Ausbildung des gesammten Verkehrswesens, die einer bis jetzt noch nicht zu übersehenden Steigerung entgegensieht, der nicht minder trefflich organisirte Buchhandel und das gesammte Zeitungswesen, welche die geistige Emanation eines Volkes, eines Individuums bald zum Gemeingut der Zivilisation machen und nicht zum geringsten Theile die fortschreitende Unifizirung des ethischen Gedankens, üben auf die Stylfrage einen Einfluss aus, welcher selbst die klimatischen und materiellen Bedingungen an Stärke überragt. Es wäre auch in der That auffallend, wenn das nicht der Fall sein würde, nachdem doch schon vom Alterthume bis zum Mittelalter und der Neuzeit eine ganze Reihe von Präzedenzfällen geschaffen sind.
Im fernabliegendsten Alterthume ist es die ägyptische Kultur, welche die ganze damalige Welt, Griechenland und Assyrien nicht ausgeschlossen, beherrschte. (Vergleiche über das Einzelne meinen Aufsatz: »Jonische Studien«, »Allgemeine Bauzeitung« 1888.) Ihr folgte die hellenische Kultur, welche von der römischen abgelöst wurde und nun tritt merkwürdigerweise eine Cäsur ein, in welche aber die orientalische Kultur des Mohammedanismus nicht ganz erfolglose Schritte zu einer Weltherrschaft nimmt, wenigstens sind der romanische und gothische Styl vielfach durch orientalische Elemente zersetzt. Um die Wende des Mittelalters ist es dann wieder die Kultur der Renaissance, welche die Weltherrschaft antritt, ihr folgt die Kultur des Barocco und des Rococo. Und alle diese Siege einer einzigen Kultur über alle anderen fanden statt bei den in unserem heutigen Sinne in jeder Beziehung unvollkommensten Einrichtungen des Verkehres zwischen den Völkern und den Individuen. Welche Aussichten sind da für unser Zeitalter zu erwarten! Welche aber von den jetzt bestehenden Kulturen die herrschende sein wird, lässt sich heute noch nicht übersehen. Drei Kulturen sind in heftigster Konkurrenz: die deutsche, die französische und nicht als die geringste die slavische. Letztere hat auf dem Gebiete der Literatur bereits riesige Fortschritte gemacht.
Einer Seuche gleich verbreitete sich die naturalistisch-realistische Lehre, die in Russland mit einer gewissen Dosis Mystizismus gemengt ist,  v o n  R u s s l a n d  über Frankreich, und von hier über die germanische Kultur. Sollte die slawische Masse zum Erwachen kommen, sollte ihren Völkern das beglückende Licht der Kultur gebracht werden, die Anzeichen dafür sind vorhanden, so wird die romanische und die germanische Kultur dem Andrängen der gewaltigen slavischen Masse kaum Stand halten können. Vorläufig jedoch erscheint es noch, als ob die französische Kultur, der deutschen gegenüber die Kultur langer Jahrhunderte, ich sage das mit dem vollen Bewusstsein der Tragweite der Worte: die erste wäre. Die deutsche Kultur ist schon in aufrichtiger und echt vaterländischer Weise in dem merkwürdigen Buche: »Rembrandt als Erzieher« beurtheilt worden:
»Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimniss geworden, dass das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, Einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Sozialismus; auf dem Gebiete des Denkens wie der schönen Literatur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos. Die Architektur ist die Achse der bildenden Kunst, wie die Philosophie die Achse alles wissenschaftlichen Denkens ist; augenblicklich gibt es aber weder eine deutsche Architektur noch eine deutsche Philosophie. Die grossen Koryphäen auf den verschiedenen Gebieten sterben aus; les rois s'en vont. Das heutige Kunstgewerbe hat auf seiner stylistischen Hetzjagd alle Zeiten und Völker durchprobirt und ist trotzdem oder gerade deshalb nicht zu einem eigenen Styl gelangt. Ohne Frage spricht sich in allem diesem der demokratisirende, nivelirende, atomisirende Geist des jetzigen Jahrhunderts aus. Zudem ist die gesammte Bildung der Gegenwart eine historische, alexandrinische, rückwärts gewandte; sie richtet ihr Absehen weit weniger darauf, neue Werthe zu schaffen, als alte Werthe zu registriren. Und damit ist überhaupt die schwache Seite unserer modernen Zeitbildung getroffen; sie ist wissenschaftlich und will wissenschaftlich sein; aber je wissenschaftlicher sie wird, desto unschöpferischer wird sie . . . . . . Die Besseren unter den Gebildeten Deutschlands blicken bereits nach neuen Zielen auf geistigen Gebiete aus.«
Das sind monumentale Worte für die grossen Kulturfragen eines modernen Volkes. Diesen grossen Kulturfragen gegenüber wird die Stylfrage als Theil des Ganzen auftreten, sie steht und fällt mit diesen. Keinesfalls aber hat das Individuum auf sie einen ausschliesslichen Einfluss.
Mit grosser Berechtigung hat man der modernen deutschen Kultur das Rückwärtsblicken, den retrospektiven Charakter, zum Vorwurfe gemacht, der sich am deutlichsten in der Stylfrage ausprägt. Auch in der Frage des Styls muss ein Fortschritt zu erkennen sein und diesen Fortschritt zeigt heute auf dem Gebiete der Architektur Frankreich. Es treten hier die Erscheinungen auf, weiche Frankreich schon einmal, nach der grossen Revolution, welche Deutschland nach den Befreiungskriegen sah: das Anspannen aller Kräfte eines von einem unglücklichen Ereignisse heimgesuchten Volkes zur Erneuerung der Kulturarbeit, zur Erringung des von hohem ethischem Gefühle getragenen Bewusstseins der Macht und Herrschaft. Mit gewaltigen Anstrengungen hat Frankreich nach dem unglücklichen Kriege des Jahres 1870 bis heute danach getrachtet, die in früheren Zeiten auf allen Gebieten so glücklich behauptete Suprematie wieder zu erlangen.
Diese Zeiten der Neugeburt zeigen eine intensivere Kulturarbeit und zeitigen in Folge dessen auf allen Gebieten grössere Resultate, als bei einem Volk, welches sich in kontinuirlichem Fortschritte befindet. So sehen wir denn in Frankreich speziell auf dem Gebiete der Architektur Neuerungen, deren Einfluss auf das gesammte Gebiet der Architektur ein wahrnehmbarer sein wird. Die Individualität als Herrscherin tritt freilich zurück, sie ist nur ein Theil jener grossen Gesammtströmung.
Wenn im Anfange unseres Jahrhunderts die hellenische Renaissance die künstlerischen Kräfte beherrschte, wenn um die Mitte des Jahrhunderts die romantischen, mittelalterlichen Stylweisen der Kunstarbeit ihren Stempel aufdrückten, wenn sich die Kunst endlich nach den grossen Errungenschaften des Jahres 1870 wieder das Selbstvertrauen und den Glauben an eigene Grösse zurückzuführen verstand, so sind alle diese Emanationen durchaus die Resultanten der gesammten Kulturarbeit, nicht aber die That eines willensstarken Individuums, und wäre seine geistige Kapazität auch eine noch so hervorragende.
Selbst die Koryphäen der Kunst und Wissenschaft, welche aus der dämmerigen Eintönigkeit mittelmässiger Kunstübung als leuchtende Gestirne herausscheinen, Geistes- und Kunstheroen, welche einen mächtigen Einfluss auf ihre Mitwelt und die Nachwelt ausübten, auch sie tauchen nicht plötzlich und isolirt als fertige Kulturbringer auf, sondern stehen auf den Schultern ihrer Vorgänger, von welchen sie vielleicht eine einzige, nicht sehr bemerkte Eigenart in ihrer gigantischen, individuellen Begabung ruhmvoll ausbildeten. Das war der Fall bei Nicolo  P i s a n o,  dessen Kunstweise in ihrem Ursprunge noch nicht genügend aufgehellt ist, die aber vielleicht nicht unbeeinflusst ist durch die sogenannte nordische sächsische Protorenaissance; das war der Fall bei  B r u n e l e s c o,  bei  M i c h e l - A n g e l o  etc., welche alle als einsame Riesen dazustehen scheinen.
Unsere neuere Kultur legt ein grosses Gewicht auf die retrospektiven Stylarten; die vorgeschrittensten Völker der Gegenwart vertiefen sich in der Kunst mit Vorliebe in historische Studien, deren Resultate nicht ohne Erfolg zu einer sogar ausgebreiteten Anwendung kommen. Eine retrospektive Stylart aber hat nur insoweit Berechtigung in unserer schnell fortschreitenden Zeit, als sie noch technisch und formell über unserer Kunst steht, oder als sie für die eine oder andere Richtung dieser Kunst das beste Auskunftsmittel zu sein scheint. Sind aber die Errungenschaften einer historischen Kunst, soweit sie den modernen geänderten Kultur-Erscheinungen entsprechen, erreicht, so wird jede Kunst danach trachten, sich möglichst alle Neuerungen zu eigen zu machen. Damit fallen dann alle alten Stylarten in ihrer »sklavischen« Übertragung von selbst.
Es hat nicht an thörichten Versuchen gefehlt, neue Stylarten als Ausfluss der subjektiven Aeusserung eines Individuums, in die Kunst einzuführen. Wir sahen Bestrebungen für einen Kaiserstyl, für einen Krystallstyl etc. Ernst zu nehmen sind demgegenüber die Bestrebungen, eine der die Herrschaft in früheren Zeiten geübten Stylarten als die zu wählende zu empfehlen, wobei das politische Gefühl eine nicht unbedeutende Rolle spielt. So hat man nach der Neugestaltung des deutschen Reiches für das deutsch Volk einen nationalen Styl gesucht, welchen die Einen in der Gothik, die Anderen in der deutschen Renaissance erblicken. Für beide Style, so fremd sie ihrem innern Wesen nach dem Charakter der deutschen Kultur sind, hat man eine Summe von Eigenschaften gefunden, die dem deutschen Charakter entsprechen sollten.
Das gothische Lager hat in Deutschland seinen Sitz hauptsächlich in Hannover und Köln und hat es in einzelnen seiner Schöpfungen, namentlich des Kirchenbaues, zu ganz bedeutenden Leistungen gebracht. Die Gothik ist aber auch wesentlich auf den Kirchenbau beschränkt geblieben, das Gebiet der Profanbaues hat sie in nur geringer Ausdehnung beherrscht. Es scheint auch, als ob man sie mehr als repräsentativen Styl des Katholizismus oder des Ultramontanismus hat auffassen wollen. Eine solche Verkörperung des Katholizismus oder des Ultramontanismus im gothischen Style lässt sich indessen nicht nachweisen. Der gothische Styl, als ein besonderes Phänomen der nachchristlichen Kunst- und Kulturentwickelung, ist der letzte Theil, das letzte Stadium des grossartigen Traumgebäudes der mittelalterlichen Kultur, der Katholizismus dagegen ist, was schon im Namen liegt, die allgemeine, allumfassende, christliche Religionsform aller Völker im Gegensatze zu dem religiösen Partikularismus der vorchristlichen Zeit, insbesondere der jüdischen Verknüpfung der Religionsgemeinschaft mit der Volksgemeinschaft. War der religiöse Begriff in vorchristlicher Zeit ein partikularistischer, so ist er nach dem Aufgehen jenes Phänomens, welches nach mittelalterlicher Auffassung die Erde mit dem Himmel verband, verallgemeinert und zieht sich in dieser Eigenschaft durch das ganze Mittelalter hindurch, ist also nicht charakteristische Eigenthümlichkeit einer besonderen Epoche, oder des gothischen Styls. Wenn auch gewisse äusserliche Formen gewissen Lehren des Katholizismus jener Zeit entsprechen, wenn die Negation aller Materie sich deckte mit der supranaturalistischen Anschauung, welche alle Schranken des Realen durch das Uebersinnliche sprengte, wenn das Himmelanstreben des ganzen Aufbaues des gothischen Tempels durch die zersplitternde, deduktive Verstandesthätigkeit der scholastischen Lehren mit dem Streben der Seele nach dem himmlischen Ideale in Parallele gebracht wird, so steht andererseits das innerste Wesen der Gothik dem Wesen des Katholizismus ebenso gegenüber, wie der heidnische Tempel dem christlichen Gotteshause. Es waren auch hier nur äussere Erscheinungen, welche dem Ganzen das Kolorit jener speziellen Kulturepoche gaben.
Abgesehen davon, dass der gothische Styl mit zahlreichen orientalischen Elementen versetzt ist, erinnern doch die mächtigen Thurmbauten in ihrem Dualismus an die Pylonen des ägyptischen Tempels, ist der Grundtypus doch durchaus der antike geblieben. Das Mittelschiff ist nichts als die überwölbte altheidnische Basilika, der Umgangshof des klassischen Alterthums, ein Ursprung, auf welchen durch die Trifonien und durch die sternengeschmückten blauen Mittelschiffgewölbe deutlich hingewiesen wird. Diese antike Tradition erleidet zwar in der romanischen Periode keine Unterbrechung, erhält aber sicher in der gothischen einen verschärften Ausdruck. Im gothischen Dome gelangte die abendländische Basilika zum äusserlich höchsten Ausdruck, indem sie aber gleichzeitig in ihrem inneren Wesen der früheren Zeit gegenüber einbüsst. Durch die vollständige Zerklüftung des Baues geht die monumentale Haltung in grossen, mächtigen Zügen verloren, die übermässigen Thurmbauten absorbiren fast das Kirchengebäude, den Versammlungsort, die Hauptsache. Das dekorative Element ergeht sich in Selbsterschöpfung und Ideenarmuth, in sklavischer Kopie der grossen Architektur. Alles dies bedeutet einen Verfall, der nicht mehr den grossartig konzipirten grundlegenden Idee'n des Katholizismus entspricht.
Der Hochsitz des Katholizismus, Italien, hat sich nie mit des Gothik befreunden können; wo sie zur Ausgestaltung kommt, geschieht dies unter innerer Abneigung. San Petronio in Bologna, der intendirten Gesammtanlage nach vielleicht die gewaltigste gothische Kirche der Welt, ist unvollendet geblieben; Santa Maria del fiore in Florenz, die Verbindung des Kuppelbaues mit der Basilika, ist der schärfste Protest gegen die Gothik. San Francesco in Assisi ist lediglich ein mit gothischen Formen aufgeputztes romanisches Kirchengebäude. Bei allen diesen Bauten darf zudem nicht vergessen werden, dass sie hauptsächlich nordischem Einflusse ihre Gestaltung verdanken.
Noch weniger als der Katholizismus kann der Ultramontanismus mit dem gothischen Style in Verbindung gebracht werden. Der Ultramontanismus ist lediglich ein Phänomen der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts und hat mit der Gothik nur das gemeinsam, dass er Frankreich entsprang, dem Lande, welches die römische Hierarchie für immer zertrümmert zu haben glaubte. (Es ist hier natürlich nicht von den ersten Anfängen der Gothik die Rede, denn wie  J.  R e i m e r s  in seinem Aufsatze: »Scema novum« nachweist, wurde der Spitzbogen aus Sizilien, von sizilianisch-sarazenischen Bauten nach Frankreich übertragen; gleichzeitig nimmt er auch dem süd-französischen Halbtonnengewölbe die Bedeutung der Vorstufe für den Strebebogen. Auch  M o t h e s  ist weit davon entfernt, die Anfänge der Gothik in Frankreich zu suchen. Immerhin aber erlangte die Gothik in Frankreich ihre höchste Ausbildung und diese wurde von hier aus nach anderen Ländern übertragen. Diese entwickelte Stufe der Gothik ist es, welche hier, in einer spezifisch kulturgeschichtlichen Frage, in Betracht kommt.) Es war das Laienthum, welches die ultramontane Bewegung inaugurirte: dem durch die unnatürliche Ernüchterung verführten Subjektivismus folgte die Romantik, das Mittel der mystischen Traumgebilde des Mittelalters anwendend, die Herrlichkeit der römischen Kirche zu preisen. Scheint durch dieses Zurückgreifen auf den mittelalterlichen Mystizismus eine Ideenassoziation mit dem Mittelalter hergestellt, so ist dieselbe doch nur eine äusserliche; denn diese schwärmerische Verherrlichung der Kirche entbehrte jeder religiösen inneren Ueberzeugung, die im Mittelalter oft vorhanden war. Abgesehen von dem Anachronismus, ist es auch dem inneren Wesen nach unthunlich, den Ultramontanismus mit dem gothischen Style zu liiren.
Eine weitaus grössere Herrschaft und umfassendere Anwendung hat eine andere historische Stylart gefunden: die deutsche Renaissance, welche, wie sie der Gothik damals folgte, so auch jetzt berufen wurde, die kraftlosen mittelalterlichen Bestrebungen der Mitte unseres Jahrhunderts, die erst gegen Schluss der romantischen Periode einen kernigen Charakter erhielten, abzulösen. Wenig bekannt waren bis dahin die Denkmale der deutschen Vergangenheit aus der glorreichen Zeit der Reformation und Renaissance. In den einschlägigen Fachwerken finden sich zu jener Zeit nur ganz vereinzelte Spuren von Interesse für den Styl der sogenannten deutschen Renaissance. Da aber traten die Ereignisse des grossen Krieges ein und mit ihnen eine gewaltige Bewegung für diesen »nationalen« Styl.
Diese gewaltige Bewegung, welche nach der Wiedergeburt des deutschen Reiches und insbesondere nach dem Erscheinen von  L ü b k e's  »Deutsche Renaissance« die gesammte Kunstwelt für diesen vermeintlich nationalen Styl ergriff, zittert noch bis in unsere und zukünftige Tage nach. Die Bewegung pflanzte sich mächtig über die politischen Grenzen des deutschen Reiches fort und noch in neuester Zeit erhebt sich in Oesterreich ein »Mahnruf eines Deutsch-Oesterreichers« für die Anwendung der deutschen Renaissance als nationaler Styl:
»So wie der Wohllaut unserer Muttersprache süss und schmeichelnd uns umkost, so wie das deutsche Lied in jubelnder Brust mit wonneseligem Beben uns erfüllt, in Kummer und Noth uns tröstend aufrecht erhält, so treu und herzinnig wir an unserer schönen Heimat mit allen Fibern unserer Seele hängen, so freudig und selbstbewusst unser Auge aufleuchtet beim Anblicke deutscher Gestaltungskraft und heimischer Künste, so stolzerfüllt und hochbeglückt wir der Vergangenheit und Grösse unseres Vaterlandes, seiner ruhmreichen Kämpfe und glorreichen Machtentfaltung gedenken: ebenso vollberechtigt und entschieden verlangen wir auch auf dem Gebiete der Baukunst, die, wie keine andere Kunst mit der Geschichte und dem Geschicke unserer Heimat und unseres Volkes verknüpft ist,  d a s s  d e r  d u r c h  J a h r h u n d e r t e,  i n  d u n k e l n  u n d  l i c h t e n  T a g e n,  e r r u n g e n e  k ü n s t l e r i s c h e  u n d  n a t i o n a l e  S t a n d p u n k t  d e s  d e u t s c h e n  V o l k e s,  d i e  h e i l i g e n  U e b e r l i e f e r u n g e n  u n s e r e r  V o r f a h r e n  n i e m a l s  p r e i s g e g e b e n,  d a s s  d a s  R e c h t  d e r  E r s t g e b u r t  i m  V a t e r h a u s e  h e i m i s c h e r  K u n s t  n i c h t  l e i c h t s i n n i g  g e g e n  d a s  L i n s e n g e r i c h t  f r e m d e n  w ä l s c h e n  K u n s t w e s e n s  e i n g e t a u s c h t  w e r d e.«  (Adolf  S i e g m u n d,  »Deutsche Renaissance«. Berlin 1889.)
Der Verfasser ist ein um die deutsche Sache in Oesterreich hochverdienter Mann, er ist aber, wie aus den angeführten Worten hervorgeht, zu viel Gefühlspolitiker. Der Realpolitiker musste anders sprechen. Dem Realpolitiker würde es nicht entgangen sein, dass dieselben Deutschen, die in der Reformation den schärfsten Protest gegen Rom erhoben, von diesem verurtheilten Rom die Kunstformen und eine neue Kultur übernahmen. Hier waren höhere Kultureinflüsse thätig, als die der Nationalität. Die deutsche Renaissance ist eher ein Zeichen für Entnationalisirung, weil sie im Vereine mit der französischen, der spanischen etc. Renaissance bestrebt war, die Errungenschaften und Kulturfortschritte  ei n e s  an der Spitze schreitenden Volkes der gesammten Kulturwelt, bis nach dem äussersten Norden zu vermitteln. Dass hiebei Unterschiede des Landes und der Gegend, örtliche und städtische Unterschiede zur Geltung kamen, ist selbstverständlich. Die grosse Bewegung aber blieb einheitlich und in ihren Grundzügen die auf die Antike gestellte, auf die hehre, grosse Antike. Auch der romanische und der gothische Styl in ihren gewaltigen Bauwerken am Rheine, in Sachsen etc. zeigen eine national gefärbte Richtung und man könnte deshalb mit derselben Berechtigung auch auf diese Style als Nationalstyle zurückgreifen. Aber die Erkenntniss tieferer Kultureigenthümlichkeiten des heute im kulturellen Leben völlig in den Hintergrund gedrängten hieratischen Charakters jener Zeiten hindert daran.


(S c h l u s s  f o l g t)

IN WELCHEM STYLE SOLLEN WIR BAUEN?
Von
Albert Hofmann in Reichenberg.

(S c h l u s s.)
Einen vollkommen richtigen Standpunkt in der Frage, ob die deutsche Renaissance als nationaler Styl gelten könne, hat Hubert  S t i e r  in Hannover gelegentlich eines Vortrages: »Ueber die deutsche Renaissance als nationaler Styl und die Grenzen ihrer Anwendung« bei der sechsten Generalversammlung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine angenommen.  S t i e r  vertrat die Ansicht, dass insbesondere auf dem kunstgewerblichen Gebiete der Höhepunkt der Leistungen der deutschen Renaissance liege. Es gelte aber für diese Kunst wie für jede der anderen Stylarten nicht nur die Verpflichtung des Beherrschens des historischen Materiales, sondern auch die kritische Würdigung und Sichtung des vorhandenen Stoffes. Diese letztere muss auch selbst da eintreten, wo man die nationale Beziehung leicht in den Vordergrund stellen könnte. Das Prinzip des Styles besteht in der ersten Berührung der beiden grossen Stylgegensätze: der antiken Form mit der gothischen Konstruktion. In der deutschen Renaissance sind die ersten, oft mangelhaften Versuche zu einer solchen Verbindung gemacht. Die Mängel erklären sich aus den vielfach getrübten Quellen.
So ist ja die antike Form jener Zeit aus der  s p ä t e r e n  italienischen Renaissance übernommen, welche durch die Uebertragung in's Deutsche auch wiederum  m a n n i g f a l t i g  g e t r ü b t  wird, die Gothik ferner war nur noch in dem  v e r k n ö c h e r t e n,  v e r w i l d e r t e n  Schema der  S p ä t z e i t  des Styles vertreten. Und das Ergebniss zweier solcher Stylkombinationen will man heute als Nachahmung für eine Kulturbewegung bezeichnen, die seit Jahrhunderten an Mächtigkeit ihres Gleichen sucht. Die Anwendbarkeit der deutschen Renaissance liegt wesentlich auf dem Gebiete des Wohnhausbaues mit seinen mittleren, ja kleinen Verhältnissen; für grosse Aufgaben mangelt ihr die Monumentalität, ihre Formen genügen nicht für einen grossartigen Eindruck. Deshalb ist sie nicht berufen, in unserer modernen Architektur, welche den mächtigsten Bauaufgaben, die eine Kunst überhaupt stellen kann, entgegensieht, eine führende Rolle zu übernehmen und nur eine solche entspricht dem Begriffe der Nationalität.
Ein Vorzug der deutschen Renaissance ist der malerische Aufbau; sie hat es verstanden, die strengen Formen des antiken Systems für den malerischen Aufbau günstig zu verwerthen. Auch in der Ausbildung der Innenräume des Wohnhauses haben uns die Studien des Styles der deutschen Renaissance einen unleugbaren Fortschritt gebracht, namentlich was die Ausstattung der Wohnräume der mittleren Bevölkerungsklassen angeht. Hubert  S t i e r  aber ist der Meinung, dass die kritische Sichtung des Materiales nicht zu umgehen sei und dass ihr gegenüber die  W ü n s c h e  n a c h  n a t i o n a l e m  G e p r ä g e  d e s  S t y l e s  zurückstehen.
Der Vorgang der Verbindung zwischen Antike und Gothik hat sich, wie in Deutschland, so auch in Frankreich, England und in den Niederlanden vollzogen, ist also nicht ein nur dem ersteren Lande angehöriger künstlerischer Vorgang. Auch ist überall die letzte Zeit der deutschen Renaissance durch die schwierige Weltlage beeinflusst worden, welche erst mit dem dreissigjährigen Kriege ihren Abschluss fand. Die letzte Zeit des Styles ist deshalb  s t a t t  d u r c h  e i n  l e b h a f t e s  V o r w ä r t s s t r e b e n,  d u r c h  U e b e r t r e i b u n g e n  u n d  d u r c h  d a s  V e r l i e r e n  i n  A b s o n d e r l i c h k e i t e n  gekennzeichnet. Und diese Stylrichtung soll der Ausdruck für unser machtvoll emporsteigendes deutsches Volk sein? Treffend bemerkt  S t i e r:  »A l s  n a t i o n a l e r  S t y l  k a n n  d i e  d e u t s c h e  R e n a i s s a n c e  n u r  i n  b e s c h r ä n k t e m  S i n n e  e n t w i c k e l t  w e r d e n!«  Ebenso wie die gesammte Bildung unserer Nation mehr als die jedes anderen Volkes auf den gesammten Quellen einer früheren Zeit beruht, wie die deutsche Literatur ihre Anregung aus allen Zeiten und Völkern erhalten und sich doch auf dieser Grundlage selbstständig entwickelt hat, ebenso ist dies auch auf dem Gebiete der Kunst möglich.
Es werden sich des Gründe genug finden lassen gegen die Einführung der »deutschen Renaissance« als nationalen Styl.  R e u d e l i n  schrieb einst an  M a n u t i u s:  »Du kennst unser Deutschland; es hat noch nicht aufgehört, ungebildet zu sein.« Und dieses Deutschland war es, welches die italienischen Formen über die Alpen brachte und in seiner noch rohen (andere sagen naiven) Kultur verarbeitete. Und die so gewonnenen Formen stellt man dem modernen Deutschland, welches von dem Deutschland des 16. Jahrhunderts abgrundtiefe Klüfte trennen, als nationalen Styl hin.
A u g u s t u s  sagte, er habe ein Rom aus Ziegelsteinen gefunden und hinterlasse ein Rom aus Marmor. Er war ein hoher Gönner von Kunst, Literatur und Wissenschaft. »Die geistige Signatur des deutschen Volkes ist zwar zur Zeit noch eine wissenschaftliche, doch sie ist es nicht für immer; es scheint vielmehr, dass ihm jetzt zunächst ein Kunstzeitalter bevorsteht.«
Ein berühmter Lehrer der Kunstgeschichte sagte vor einigen Jahren, es mehren sich die Anzeichen, dass Deutschland der römischen Imperatorenzeit entgegengehe. Und die Erscheinungen hierfür haben sich in den letzten Jahren insbesondere, am meisten aber in der neuesten Zeit gemehrt. Es scheint demnach besonders in baulicher Hinsicht zwischen der römischen Kultur der Kaiserzeit und unserer modernen deutschen Kultur ein Verwandtes zu bestehen, das uns auf die römische Architektur, wie sie uns durch die italienische Renaissance für unsere modernen Verhältnisse zugänglich gemacht ist, führt. Es scheint die Architektur der italienischen Renaissance mit Berücksichtigung der modernen Konstruktions-Errungenschaften, wie des Eisens etc., der moderne deutsche Baustyl werden zu wollen. Frankreich hatte sich diese Richtung für seine Verhältnisse schon auf der letzten Weltausstellung mit grosser Zielsicherheit angeeignet, aber nicht, ohne dass noch vorher 1878, ein tastendes Schwanken beobachtet werden konnte.
Die italienische Renaissance entspricht nach Material, Technik und Formenbildung durchaus unseren modernen klimatischen und kulturellen Verhältnissen. Sie ist der Styl einer freien, weitblickenden Kultur, nicht eingeengt durch religiöse Vorurtheile, aber auch nicht irreligiös. Der Italiener hat ebensoviel Religiosität wie der Deutsche, aber seine Religiosität ist zur Zeit der Renaissance die des grossen Standpunktes. Auch der Deutsche betrachtet seine Religion sub specie aeternitatis, losgelöst von all den Kleinlichkeiten des Wesens der Religionsgesellschaften. »Das echt religiöse und das echt künstlerische Element sind stets berufen, einander zu stützen; nicht als ob es anginge, wie man wohl vorgeschlagen hat, die Kunst zur Religion zu machen; aber allerdings umgekehrt. Kein Geringerer als Goethe hat die bedeutsame Wahrheit verkündet: dass Religion Kunst sei. Das weltversöhnende Wort Christi: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen« ist zugleich ein tiefkünstlerisches Wort; es gewährleistet hier wie dort die Freiheit der Entwickelung; es trägt den einzelnen, unter sich so unendlich verschiedenen Persönlichkeiten Rechnung; es rettet das Prinzip des Individualismus gegenüber dem Dogma, der Einseitigkeit, der Autorität.« Diese Religion der Duldung, die Religion des grossherzigen Gedankens ist die Religion des modernen Deutschen, sie war auch die Religion des Italieners der Renaissance.
Es ist eine der grössten Täuschungen, der man sich hingibt, wenn man die Renaissancebewegung in Italien, soweit sie mit der Kirche zusammenhängt, ihrem Einflusse zuschreibt. Es ist vielmehr die durch die grosse Duldung des Italieners entstandene unbegrenzte Liebe zum Alterthum, es ist der Stolz, den er darein setzt, von den Römern abzustammen, welche alle diese Bewegungen hervorgerufen. Man war von der Idee des wiedergewonnenen Alterthumes so absorbirt, dass unbefangene Volksäusserungen unmittelbar nach demselben hindeuten. Der Italiener führt mit Stolz seine Abstammung auf  R o m u l u s  und  R e m u s  zurück die Zwischenzeiten des Verfalls des römischen Reiches, die Völkerwanderung mit der Einwanderung der Gothen, Longobarden und Franken, diese wichtige Cäsur in der Weltgeschichte, die den Italiener erst erstehen lässt, sie besteht für ihn nicht. Jeder Elementarschullehrer, jede Römerin kennt die lupa romana, welcher sie die Existenz des Volkes danken zu müssen wähnen.
Dieser selbe grosse Zug des Selbstbewusstseins, der Werthschätzung des deutschen Volkes, ist heute auch jedem Deutschen eigen. Der Gedanke eines grossen Volkes prägt sich in der Kunst am ehesten in der Baukunst aus und was läge hier näher, als die Grundprinzipien der Kunst eines anderen Volkes aus seiner Glanzzeit aufzunehmen? So wie der grosse Gedanke an das klassische Alterthum damals alle Seelen erfüllte, so mag er auch heute, mit Rücksicht auf die geänderten Kulturverhältnisse in die Seelen einziehen. Die Italienerin, wenn sie vor dem Bilde der Madonna oder einem Heiligenbilde kniet, um ihre Andacht zu verrichten, faltet nicht etwa ihre Hände, sondern in altrömisch-heidnischer Weise hebt sie die ausgebreiteten Arme gegen den Himmel empor, gleichsam den Schutz der Götter anflehend. Selbst  M a c c h i a v e l l  zeigt in seiner Einleitung der florentinischen Geschichte keine Ahnung davon, dass aus den Römern einst Romanen geworden, und dass eine Völkerwanderung einst einen seht tiefen Einschnitt in die Geschicke der Völker auf italienischem Boden machte. Auch er ist der stolze Italiener, der seine Abstammung bis auf die Zeit der Gründung Roms zurückzuführen berechtigt zu sein glaubt.
Unzählige Volksgewohnheiten geben Zeugniss von heidnischen Zügen, die in dem grossen Gedanken der Duldung, welcher der echten Religiosität entspricht, aus der Antike herübergenommen sind. Die Campi-Santi der Italiener haben seit lange schon die Anlage der heidnischen gehabt und haben sie heute noch; eine christliche Kirche, die sich in einem antiken Tempel befindet, wird von den Bewohnern Roms mit der grössten Unbefangenheit »La Madonna della Minerva« genannt. Der streng religiös veranlagte Italiener erhielt durch die humanistischen Lehren freiere, weitere Anschauungen; diese Stimmung bemächtigte sich auch der gesammten Hierarchie. Seit  N i k o l a u s  V.  ging der päpstliche Hof mehr und mehr aus der kirchlichen Religiosität in einem Zustand freier, humanistischer Bildung über. »War es nicht sehr bedeutend, dass ein Papst es selbst unternahm, die alte Basilika St. Peter, Metropole der Christenheit, in der jede Stätte geheiliget, in der die Denkmale der Verehrung vieler Jahrhunderte vereinigt waren, niederzureissen und an ihre Stelle einen Tempel nach den Massen des Alterthums zu errichten? Bei San Pietro in Montorio, über dem Blute des Märtyrers, baute  B r a m a n t e  eine Kapelle in der heiteren und leichten Form eines Peripteros. Man ging in den Vatikan, weniger um bei der Schwelle der Apostel zu beten, als um in des Papstes Hause die grossen Werke der antiken Kunst, den belvederischen Apollo, den Laokoon zu bewundern. So gut wie sonst forderte man vom Papste einen Krieg gegen die Ungläubigen; allein des christlichen Interesses der Eroberung des heil. Grabes wird dabei nicht gedacht; man hoffte, die verlorenen Schriften der Griechen wiederzufinden.«  (R a n k e,  »Geschichte der Päpste«.) Hier ist Kunst Religion.
Als man die Peterskirche konzipirte, da ging man nicht etwa von dem Gedanken aus, eine der gesammten Christenheit dienende mächtige Stätte der Andacht und Verehrung zu schaffen, sondern  B r a m a n t e  war von dem Gedanken erfüllt, durch Aufthürmung des Pantheons auf den Friedenstempel (Basilika des  M a x e n t i u s)  einen Bau zu schaffen, der alles Dagewesene übertreffen und der Macht und Herrlichkeit des Papstthumes ein unvergängliches, grossartiges Denkmal setzen sollte.
In  D a n t e's  »Divina Commedia« treten Momente des christlichen Ideenkreises in naivster Weise neben die der antiken Mythologie; das »Befreite Jerusalem«  T a s s o's  ist nichts als eine antike mythologische Dichtung, in welcher die Liebe als das bewegende Motiv aller schönen, edlen Handlungen unter dem Deckmantel christlich-religiöser Formengebung und absichtlicher nicht aus innerem Drange sich ergebender Katholizirung des poetischen Ausdruckes erscheint. Auch T a s s o  steht nicht ausserhalb des Idee'nkreises antiker, heidnischer Tradition.
Das Selbstbewusstsein des italienischen Volkes, auch des Individuums, zeigt sich auch in anderer Weise. Die grossen Volksfeste, die Schauspiele, die Mysterienspiele auf den Märkten, die Strassendekorationen und Feuerwerke, die oft einer Märchenwelt gleichen, selbst die Prozessionen und Aufzüge bei grossen Kirchenfesten, Alles entstammt dem unwiderstehlichen Triebe, darzustellen, die eigene Person zu präsentiren.
Diese Sucht milderte sich nicht, als die durch die immer wachsende Verweltlichung des Clerus heraufbeschworene Reformation  L u t h e r's  den grossen Skeptiker  L e o  X.  zu einer Gegenreformation veranlasste. Die Regeneration des Katholizismus durch  L e o  fasste das Uebel aber nicht bei seinem innersten Wesen, sondern, bedeutsam genug,  Le o  wirkte auf eine grössere Festlichkeit und Prachtentfaltung beim Kultus; die jetzt noch stattfindende Jahresfeier der Charwoche in der sixtinischen Kapelle, die Hebung der Kirchenmusik und der gottesdienstlichen Gesänge entstammt den Bestrebungen  L e o's  X.  Daneben fanden die Künste ihre sorgsamste Pflege.
Diese Grösse der Kultur der italienischen Renaissance findet bei dem wärmsten Vertheidiger der deutschen Renaissance die lebhafteste Anerkennung. »Reichthum an finanziellen Mitteln und an gross angelegten Talenten, Umstände, die auch in unserem heutigen Deutschland vorhanden sind, stempeln das mächtige und rasche Aufblühen der Renaissance in Italien zu einer der grossartigsten Erscheinungen im ganzen Kulturleben der christlichen Zeitrechnung. Wenn einerseits mächtig emporblühende, reiche und mit der ganzen damals bekannten Welt in ununterbrochenem Verkehre stehende Handelsstädte, wie Venedig, Verona, Genua, dann zahllose prachtliebende Herrschergeschlechter, wie die  S c a l i g e r,  die  M e d i c ä e r,  E s t e  und  G o n z a g a,  und machtvolle, kunstsinnige und hochgebildete Päpste, wie  J u l i u s II.  und  L e o  X.,  den Anstoss und die Mittel gaben, die herrlichsten und grossartigsten Bauten auszuführen, so gab es andererseits zur gleichen Zeit eine grosse Anzahl Künstler allerersten Ranges, die nicht nur mit klarem Verständnisse und geistvoller Auffassung der vorhandenen Traditionen und Denkmäler, als gewaltige Reformatoren, sondern auch mit einer unerschöpflichen Fülle von Genialität und Gestaltungskraft als kühne und hochstrebende Baumeister auftraten.« (Pag. 34 ff.) Deutschland hat heute an grossen, monumentalen Aufgaben ein Geschlecht von Baukünstlern gezeigt, welche zu den grössten Aufgaben im Sinne der italienischen Renaissance berufen sind.
Auch in anderer Beziehung wird auf die italienische Renaissance und seine Kultur hingewiesen. »Venedig ist die vornehmste Stadt und das vornehmste Gemeinwesen, welches Europa je gehabt hat; es war sich selbst dessen wohl bewusst und ist in dieser Beziehung bis jetzt nicht wieder erreicht worden. »Hier bin ich ein Edelmann, daheim ein Schmarotzer,« berichtete  D ü r e r  aus Venedig; und sein Wort gilt in mancher Hinsicht auch von der deutschen Volksart selbst, wie sie sich in Oberitalien und Deutschland entwickelt hat; dort edelmännisch, hier pfahlbürgerlich! Für den letzteren Standpunkt haben die gesellschaftlichen Verhältnisse des vorigen und die politischen Verhältnisse dieses Jahrhunderts in Deutschland weitere Belege geliefert. »In Deutschland ist Alles zu finden, nur nicht eine grandiöse Ansicht von irgend einer Sache,« durfte auch  C o r n e l i u s  schreiben. Diesem Pfahlbürgerthume entgegen zu wirken, scheint das alte Venedig noch heute berufen. Es ist so recht eine adelige Stadt; im Mittelalter hatte das Wort »adelig« etwa den Sinn des heutigen »ideal« . . . . . Ist doch Idealität ohnehin nichts Anderes als ein Hinstreben nach sittlichem, geistigem und körperlichem Adel.« (»Rembrandt als Erzieher«, pag 46. ff.) »Politisch hat Deutschland seine Rechte an Venedig aufgegeben; geistig darf es dies nicht; im Gegentheil: es sollte hier und anderswo, wann und wie es nur angeht, seine geistigen wie moralischen und künstlerischen Renforts verstärken.  S h a k es p e a r e,  der germanische Urdichter, sympathisirte nicht umsonst so stark mit Venedig; politischer, geistiger, künstlerischer Aristokratismus stützten und stärkten dort einander; sie erzeugten Glanz und Ruhm« (pag. 47).
Die heutige deutsche Kultur zeigt statt dem Pfahlbürgerthum den grossen, ethischen Gedanken, die mächtige Volksidee, die, geschaffen durch herrliche Thaten und getragen durch das diesen Thaten entsprungene Volksbewusstsein, nach den höchsten Gütern eines Volkes strebt. Dieser grossen Volksidee muss die deutsche Kunst, muss die deutsche Architektur in einem dieser grossen Idee würdigen Ausdrucke, Styl, folgen. Dieser Ausdruck liegt in der italienischen Renaissance, wenn sie schon wälsch ist.
Es lässt sich nun nicht leugnen, dass die Frage: »In welchem Style sollen wir bauen«, etwas von dem Charakter des Handwerksmässigen, des kleinen, nicht in dem grossen Sinne der hohen Aufgaben unseres geistigen Kulturlebens waltenden Geistes hat; es ist eine Frage, die dem engbegrenzten Kreise eines in unbekümmerter Selbstbescheidung lebenden Geistes entsprungen ist, eine Frage, die in keinem Verhältnisse steht zu den grossen Kulturfragen einer Nation, eines Volkes, der Menschheit »In welchem Style sollen wir bauen«, schliesst in sich die einem sichern Willen (Wollen und Sollen sind die sich ergänzenden Folgerungen) folgende Richtung der That, für welche auch noch andere Richtungen einzuschlagen übrig bleiben, während doch für alle Thaten unserer grossen Kulturbewegung die Voraussetzungen mit der Gewalt eines unabänderlichen Naturgesetzes die Richtung der That vorschreiben. Die Stylfrage im künstlerischen Schaffen ist vielleicht die einzige Frage, in welcher sich der menschliche Intellect einem höheren Willen beugen muss: dem Willen der grossen Volksidee, der Kultur und zum Theile auch dem Willen des Gefühls, der persönlichen Eigenart, der individuellen Einwirkung der umgebenden Verhältnisse.
Die Frage wurde hier in dieser Form gestellt und behandelt, einmal, weil sie in diese Form weite Verbreitung gefunden, andererseits aber, weil dargelegt werden sollte, wie die Frage trotz ihrer häufigen Anwendung der Berechtigung und der thatsächlichen Verhältnisse entbehrt. Die Frage: »In welchem Style sollen wir bauen?« gibt die Möglichkeit zu, dass ein Einzelwesen im Stande wäre, eine Kunstrichtung von Grund aus zu verändern. Das ist unmöglich. Die Individualität, so stark sie auch sein mag, muss sich einem höheren Willen beugen. Freilich hat es nicht an individuellen Versuchen gefehlt, eine Stylrichtung zu verändern. Alle diese Versuche, es sind zum Glück nicht zahlreiche, mussten scheitern an der Unkenntniss der höheren Bedingungen, unter welchen eine Stylrichtung geboren und zu selbstständigem Leben erhalten wird. Hier kommt so recht das Dichterwort in seiner ganzen Wahrheit zur Geltung:
»Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen,
»Wenn es Euch nicht aus eig'ner Seele quillt.«
Die Kunstgeschichte berichtet von keinem Künstler, dessen Können sich dem Willen untergeordnet hätte.  P h i d i a s,  P r a x i t e l e s,  M i c h e l - A n g l o,  R a p h a e l,  B r u n e l l e s c o,  R e m b r a n d t,  S c h i n k e l,  F e u e r b a c h,  B ö c k l i n,  sie alle konnten nur in einer Richtung arbeiten, in der, welche sie fühlten, in welcher sie mit tausend und abertausend Beziehungen mit der ganzen sie umgebenden sozialen Welt zusammenhingen. Nichts ist unmöglicher, als ein künstlerische Omnipotenz, und wenn  S c h i n k e l  nachgerühmt wird, dass er ein ebenso vorzüglicher Gothiker als Hellenist gewesen sei, und  V i o l e t - l e - D u c  der Ruhm zugeschrieben wird, mit demselben Erfolge die Renaissance beherrscht zu haben, wie er die Gothik sein Eigen nennen konnte, so wird jeder aufmerksame Beobachter von der ganzen Haltlosigkeit dieser wohl mehr auf einer Gefühlsäusserung beruhenden Behauptungen überzeugt werden. Die allerdings scharf ausgeprägte Künstler-Individualität muss nichtsdestoweniger mitten im Kulturgetriebe stehen.
Die Bestrebungen, der herrschenden Kulturströmung im Style gerecht zu werden, mit anderen Worten im sogenannten »modernen« Style zu arbeiten, erfahren von den meisten Künstlern mit Berufung auf die Vergangenheit eine oft überlegene Abweisung. Und doch mit Unrecht. Auch die Style, welche wir heute für unsere Architektur wiedergewinnen möchten, die Style einer vergangenen grossen Zeit, erfuhren mit dem gleichen Unrecht dieselbe Abweisung und führten doch zu einer Glanzzeit der Kunst.
In dem Traktat des  A n t o n i o  A v e l i n o  F i l a r e t e  über die Baukunst, der seine Entstehung hauptsächlich dem Verhältnisse  F i l a r e t e's,  eines Florentiners, der für Papst  E u g e n  IV.  die Erzthüre der Peterskirche 1455 vollendete, zu  F r a n c e s c o  I.  S f o r z a,  Herzog von Mailand, der  F i l a r e t e  1451 nach Mailand berief, verdankt, wird in einem Tischgespräch eines Fürsten mit mehreren Genossen die Rede auch auf das Bauen geleitet. Ein Theilnehmer des Mahles fragt, nachdem ein Fachmann  (F i l a r e t e)  auch als Theilnehmer des Mahles in Aussicht stellte: »Es wird bewiesen werden, dass im Alterthume schönere Bauwerke entstanden, als in unserer Zeit« (». . . . . che antichamente si facessano più degni edifitii, che hora non si fanno«), wie es komme, »dass ich auch neuerdings nach meiner Meinung schöne Gebäude aufführen sehe: den Dom von Mailand, den von Florenz, und andere Kirchen, die ich der Kürze halber nicht nenne?« »Gnädiger Herr, wenn solche Bauten mit grossem Aufwande betrieben werden, so fallen sie ja wohl in die Augen. Aber schweigen wir fürs erste von den Grundfehlern dieser Kirchen nach neuem Styl. (» Di queste chiese  m o d e r n e«. ) Sie sind die Folge einer fast allgemeinen Geschmaksrichtung. Derjenigen, die etwas in's Baufach Schlagendes zu betreiben haben. (»E quali sono proceduti quasi da una opinione huniversale dichi fa fare alcuna cosa, che appartengha a questo exercitio d'edificare«.) Es wird dann von den »modernen« Baumeistern gesagt, dass sie für die Architektur kein Verständniss hätten, dass sie Irrthümer begingen »Dies Alles kommt aber daher, dass sie weder von den Massen noch von den Verhältnissen der Dinge, die zum Bauen gehören, irgend etwas verstehen (d. h. die »alten« Monumente nicht in ihrer Formensprache anwenden). . . . . . thöricht und blindlings vertrauen sich die Anderen ihnen an und es geht ihnen, wie wenn viele Blinde sich von einem führen lassen, der selber blind ist: nämlich alle finden sich alsbald durch die Schuld des üblen Führers im Graben«  (O e t t i n g e n,  »Quellenschriften für Kulturgeschichte und Kunsttechnik«, Wien 1890). Kann man sich eine bessere Verurtheilung des »modernen« Styles denken?
Sehr richtig und schön sagt darüber Cornelius  G u r l i t t:  »Die Mode wie der Styl, sie schreiten unaufhaltsam fort. Sie wandeln nicht nur die Gestalt der Dinge, sondern auch unser Auge. . . . . Jedem erscheint die Schönheit als eine andere. . . . . Alle Bestrebungen, eine Einheit des Schönheitsbegriffes zu schaffen, werden vergeblich sein. Denn die Schönheit liegt nicht in der Natur und in den Dingen, sondern wird von jedem von uns in dieselben hineingetragen.«
Auch die Mode hat ihr geschichtliches Recht und alle Dinge unterliegen der Fluthung der Zeit. Eine Kunst, die unserer modernen Kulturbewegung entspricht, das sei die Signatur unseres Kunstlebens. In der kritischen Kunstgeschichte beobachtet man schon lange den Vorgang, das Kunstwerk aus den Einwirkungen des Zeitgeistes und den allgemeinen Einflüssen einer Kulturbewegung, aus den sozialen, religiösen, politischen etc. Zuständen heraus zu begreifen, den Künstler und sein Kunstwerk gewissermassen als die Blüthe seiner Zeit und ihrer Kultur zu betrachten, also weshalb nicht auch umgekehrt auf der herrschenden Kultur der Zeit sich aufbauen lassen? »Den Bewohnern eines Reiches, wie das neuerstandene deutsche, steht es sicherlich nicht an, sich achselzuckend als Epigonen zu bekennen und auf einen Fortschritt in den eigentlich entscheidenden Fragen des geistigen Lebens zu verzichten. . . . . so lange ein Volk lebendig ist, kann es sich der Nothwendigkeit grosser geistiger Achsenverschiebungrn in seinem Innern nicht entziehen. . . . . Ein Organismus lebt nur dadurch, dass er wächst, und er wächst nur dadurch, dass er stetig innere Achsenverschiebungen erfährt. . . . . . Jede grosse Achsenverschiebung im Dasein eines Volkes bedeutet demnach einen Akt der Wiedergeburt; seine ganze Existenz wird so gewissermassen unter einem neuen Einfallswinkel beleuchtet; es ist dasselbe und nicht mehr dasselbe wie früher. Es ist neu geworden. Neuen Wein trägt die Rebe jedes Jahr; so auch die deutsche Rebe; und diesen neuen Wein darf man nicht in alte Schläuche füllen.« (»Rembrandt als Erzieher.«) Aber in Schläuche!