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Autor: Gurlitt, Cornelius
In: Der Bautechniker - 24 (1904); 9. - S. 174 - 176
 
Die Theorien der Baukunst im XIX. Jahrhundert
 
Von Prof. Dr. Kornelius Gurlitt
(Nach einem im k. k. österreichischen Museum gehaltenen Vortrag)

II.

Ist es nun wahr; dass das Neue kommt, weil es kommen muss, und dass es in Formen kommt, die nicht nach dem Geschmack der Allgemeinheit sich bilden, sondern trotz dieses Geschmackes, dass also das Neue im Entstehen nicht schön sein kann, sondern erst nachdem es gesiegt hat, schön  w i r d,  so müssen wir nun unter diesem Gesichtspunkte die Frage betrachten, die in der Baukunst des neunzehnten Jahrhunderts alle beschäftigte, nämlich die  S t i l f r a g e. Das Neue war sehr oft ein Altes. Das heisst: der vorwärtsstrebende Künstler fand, dass das Ziel rückwärts lag und er wandelte mit Kraft und Selbstgefühl diesen Weg. Das fünfzehnte Jahrhundert, die Zeit der endenden Gotik, war eine Zeit des Kampfes. Wiederholt wurde die damals beginnende Renaissance zurückgeschlagen. Nirgends sieht man klarer, wie damals die Kunstparteien miteinander rangen, durch Menschenalter hindurch rangen, als im Mailändischen und im Burgundischen. Gotische Zeitabschnitte folgten hier den ersten raschen Siegen der antiken Form; aber die moderne Kunst - und darunter verstand man damals die Gotik - musste der antiken endlich doch weichen, gewiss nicht, ohne dass der Fluch der am Modernen hängenden Alten, der im Schatten gotischer Dome Aufgewachsenen, über den Unfall der besiegten Schönheit laut erschollen wäre. Also war das mühsam sich Durchringende hier eine Renaissance gewesen, ein Wiedergebären, ein Neuschaffen nicht neuer, sondern alter Formen. Das 16., das 17., das 18. Jahrhundert hindurch drehten sich die Kämpfe um die Renaissance: Volkseigenart und Künstlereigenart machten sich kräftig geltend, führten zu Stilformen, die zwar einige antike Grundregeln und Grundgebilde, namentlich die vitruvianischen Proportionen beibehielten, die aber von dem Urbilde immer mehr abwichen, bis dann endlich wieder ein streng empfindender Kopf, eine formal gesetzmässige, denkende Zeit den Kurs wendete und darauf hinwies, dass rückwärts das Ziel liege, zu dem hinzustreben vorwärts eilen heisse. Es sind die  I d e a l i s t e n,  die diese Wandlung vollzogen. Und die grösste Zeit des Idealismus ist die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Um sich darüber klar zu werden, muss man sich zuerst darüber verständigen, was denn der Idealismus ist. Das unselige Fremdwort lässt es den meisten, die sich rühmen, Idealisten zu sein, nicht bewusst werden, was sie damit aussprechen. Denn unter einem Idealisten verstehen sie zumeist das, was man deutlicher einen selbstlosen, guten Menschen nennen würde. Die Idee aber ist die Vorstellung einer Sache, und zwar die erhöhte Vorstellung, die Vorstellung einer Sache in ihrer Vollkommenheit. Ein Idealist ist ein Mensch, der nicht den Dingen, also dem Realen lebt, sondern der höheren Vorstellung von diesen. Idealismus ist das Leben nicht in den Dingen, wie sie sind, sondern in der Vorstellung dessen, wie sie sein sollten. Der Idealist ist also ein Mensch, der nicht dieser Welt, sondern einer vorgestellten besseren lebt. Die Deutschen  w a r e n  Idealisten. Gott sei dank sind sie es nicht mehr! Der grosse Verkünder des Begriffes Idee,  P l a t o,  sagt, es gibt nur  e i n e n  vollkommenen Stuhl, also nur einen Stuhl, der der Inbegriff aller jener Vollkommenheiten ist, die ein Stuhl zu haben vermag. Dieser  e i n e  Stuhl stellt die Idee Stuhl fest. Wer diese Idee im Geiste erfasst, der ist also ein Idealist. Wer diesen einen, geistig erfassten Stuhl nachamt, also einen 2. realen Stuhl neben den im Geiste vorgestellten, idealen stellt, der leistet sehr viel Geringeres. Und wer den realen Stuhl im Bilde abmalt, der steht noch eine Stufe tiefer. Also 3 Grade: der höchte ist der des Denkers, der sich den idealen Stuhl vorstellt; dann kommt der Tischler, der das Ideal nachahmt ; und dann als letzter der Künstler, der die Nachahmung nachamt. Der Künstler steht also jedenfalls  u n t e r  dem Denker. Er kann sich zur Höhe nur erheben, wenn er selbst Denker wird.

Das Vorstellen einer Sache in ihrer Vollkommenheit ist das Ziel wahrhaft idealen Strebens, die Anhänglichkeit und die sachliche Verwirklichung das Nebensächliche: Wäre  R a f a e l  nicht auch dann der grösste Maler, sagt  L e s s i n g  als Idealist, wenn er ohne Arme geboren wäre? Wir glauben, dass er dann, wenn er nicht hätte malen können, weder ein Maler, noch überhaupt ein Künstler gewesen wäre. Denn wir erkennen, dass nicht die  V o r stellung die Kunst ausmacht, sondern die  D a  r stellung. Aber davon später! Idealisten sind also Leute, die dem Ideal anhängen: nämlich einem Ideal, einer Vorstellung von der höchsten Lebensform. Welche die  r i c h t i g e  Vorstellung ist, darüber zu entscheiden, fehlt die obere Instanz. Die Regierungen sind meist der Ansicht, sie stellen diese ideale Staatsform dar, die Revolutionäre haben andere Vorstellungen. Ein reiner Idealist ist also im politischen Leben der, der unbekümmert um die tatsächlichen Verhältnisse nur seiner Vorstellung eines vollkommenen Volkes oder Staates lebt. Wir kennen diese Leute. Idealisten sind in der Politik unbrauchbar. Denn das ideale Volk, den idealen Staat gibt es nicht auf Erden. Sie kämpfen für das Wolkenkukuksheim.  B i s m a r c k s  Grösse bestand darin, dass er den deutschen Idealismus niederschlug und die Deutschen lehrte man müsse das Vaterland und sein Volk lieben, wie es ist, nicht ein solches, wie es sein sollte! Das beginnende 19. Jahrhundert als ein idealistisches stellte rundweg den Satz auf, die  i d e a l e  Seite müsse in der Baukunst, wie in aller Kunst vorzugsweise gepflegt werden. Erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts wurde man sich klar, dass man die  r e a l e  Seite betonen müsse, um überhaupt zu einer eigenen Kunst zu kommen. Nicht die erhöhte Vorstellung einer vollkommenen baulichen Schönheit soll das einzelne Bauwerk darstellen, sondern es soll an sich die Erfüllung der aus verschiedenartigsten Zwecken und Vorbedingungen sich ergebenden Aufgabe sein. Nicht den  e i n e n  vollkommenen Stuhl soll der Tischler nachzuahmen streben, sondern dutzende verschiedener Stühle, von denen jeder einen Teil der Eigenschaften besitzt, die allen Stühlen zusammen zuzuschreiben sind; nicht  e i n e,  die vollendete Kirche wollen wir bauen, sondern auf jedem Bauplatz, für jeden Kultus, für jede Gemeinde eine für sie passende die daher  a n d e r s  sein muss als die der Nachbargemeinde.

Die Zeit  W i n k e l m a n n s  war sich in ihren Zielen wunderbar klar. Es gibt nur  e i n e  höchste Vorstellung von den Dingen. Diese braucht nicht erst in der Kunst gesucht zu werden, sie ist da! Die Griechen haben uns ihre Abbilder hinterlassen. Nur durch diese hindurch werden wir als das Urbild, das eigentliche Ideal des baulich Schönen erkennen. Also, so hiess es, versenken wir uns in die Form der Alten, um durch diese in ihren Geist einzudringen. Ist dieser in uns lebendig geworden, gelingt es uns, die gleichen Vorstellungen des Vollkommenen in uns zu erwecken, die einst jene beseelten, so wird es uns aus diesen Vorstellungen heraus gelingen, gleiche Meisterwerke zu schaffen. Die vollkommenen Vorbilder des baulich Schönen fand man auf der Akropolis in Athen beisammen. Man sah, dass  V i t r u v,  dass die Klassizisten des 17. und 18. Jahrhunderts geirrt hatten, weil ihnen nicht diese Vorbilder vor Augen standen, sondern lediglich abgeleitete römische. Das, was nach diesen geschafften worden war, wurde auf's tiefste verachtet: Barock, Rokoko, Zopf - lauter Spottnamen. Denn man empfand es nicht nur in der Form, sondern auch im höchsten Ziel, im Ideal, als verfehlt. In Hellas hatte man das wahre Ideal gefunden! Und mit unerbitterlicher Grausamkeit, mit jener, mit der die idealistischen Männer der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die ihrer Vorstellung von einem vollkommenen Staate nicht Nachlebenden die Köpfe abschlugen, stellte sich der künstlerische Idealismus auf den Thron! Was nicht dem Parthenon und Erechteion in Athen entsprach, war nicht nur unschön, es war ein Verbrechen am Geist der Idee. Die Berliner Schule, geführt durch die Aesthetiker Bötticher, kam zu der festen Ueberzeugung, nur Griechenland in der Blütezeit und Berlin hätten überhaupt Baukunst geschaffen. Wurde in Griechenland ein Tempel entdeckt, der dem nun auch kritisch festgestellten Ideal nicht völlig entsprach, so wurde er kurzweg als ein Werk "schlechter Zeit" erklärt. Die Vorstellung des vollkommenen baulich Schönen musste in ihrem Gipfel auf einen baulichen Ausdruck führen. Dass Athen zum mindesten 2, die dorische und die jonische Ordnung vorführte, empfand man peinlich. Und bald kam man dazu, nur die dorische für die eigentlich vollendete zu halten.

Kirchen und Börsen, Wachthäuser und Schlösser. Schränke und Gerät - alle Formen wurden so ausgebildet, dass sie tunlichst dem Ideal entsprachen, der Nutzzweck galt als das - ich möchte sagen - "Weltliche" am Bau, die vollendete Form als das Höhere, Wesentliche, Geistige! Die Form an sich entschied.  S c h i n k e l  scheute sich nicht, die Marmorformen der Griechen ohne Umgestaltung auch auf den Stuckbau zu übertragen. Sie waren ihm ein symbolisches Gewand um die Masse, das unabhängig vom Stoff auftrat. Aber sowohl er wie die vornehmen Geister seiner Zeit empfanden doch die Armut des Idealismus. Eine Form sollte für alle Bauarten massgebend sein, wie das eine Gesicht des Schauspielers für alle seine Rollen. Man versuchte es mit allerlei Umschminken und Toilettenkünsten, dem Gedanken des Tempelgiebels, der kaum irgendwo fehlen durfte, ein neues Gesicht abzugewinnen. An der Vielseitigkeit neuer Aufgaben sank dem klassischen Idealismus der Mut und die Kraft dahin. Es kam eine andere Kunst neben ihr auf: die Romantik. Das 18. Jahrhundert empfand die Gotik als hässlich, als kraus, wüst, formlos. Man hatte sie damals völlig überwunden und war stolz darauf. "Gotisch" ist noch bei  S c h i l l e r  ein Wort, das man vor zwanzig Jahren etwa mit "barock" übersetzen durfte: Es hiess so viel als überladen, phantastisch, ungeregelt, unverständlich. Das allgemeine Urteil jener Zeit entschied, dass das Mittelalter das Schöne hervorzubringen nicht befähigt gewesen sei. Man kam aber darauf, zunächst in Schottland es als "interessant" aufzufassen, als Zeugnis der eigenen Urzeit, in der die Menschen noch schlichter, besser, von edleren Leidenschaften bewegt waren. Und da man das Alte mit Liebe betrachten lernte, wurde es langsam, aber mit zwingender Gewalt schön. Man warf sich gegenseitig als einen Fehler vor, dass dies oder jenes alte, ehrwürdige Bauwerk noch nicht als schön erkannt werde. Staunend sahen die Alten, geistig Unbeweglichen, dass einem Bau grosser Wert beigelegt werde, dessen Abbruch bisher jeder als eine Erleichterung begrüsst hätte. Wer oft als Sachverständiger in der Frage der Erhaltung von Kunstdenkmälern aufzutreten hat, der weiss, dass dieser merkwürdige Wandel sich heute noch vollzieht : Da kommt im Auftrage der Staatsregierung ein Fachmann auf das stille Dorf, um sich den alten Altar anzusehen, der, als einer Kirche unwürdig, entfernt werden soll. Wer soll die Diäten bezahlen, die eine solche bureaukratische Massregel kostet? fragt der Gemeindevorstand. Der Pfarrer bittet den Ankommenden um Entschuldigung, dass man ihn wegen des alten Gerümpels bemüht habe. Dieser aber erklärt plötzlich: Der Altar ist sehr schön, er ist das Wertvollste der ganzen Kirche. Alle Umstehenden schauen ihn an: "Will der uns verhöhnen? Das ist doch nur ein Witz - das alte Ding soll schön sein? -

Ich habe doch auch Geschmack, Herr Dokter, und lasse mir nichts weiss machen! Ich muss Sie dringend bitten, mit Ihrer Altertümelei nicht den Kunstsinn der Gemeinde zu stören: Der alte Altar muss 'raus, wir haben einen neuen ja schon in der Hofkunstanstalt bestellt!" Man kann solchen Leuten nur sagen: Der Altar ist für euch zwar jetzt nicht schön: Seht ihn euch nur mit Liebe an, dann wird er schön. Denn die Schuld an seiner jetzigen Hässlichkeit trägt nicht er, sondern tragt ihr! So sind nach und nach alle die einst so bitter befeindeten historischen Stile schön geworden. Wir stehen jetzt im Repetitorium der Baugeschichte beim Empire. Bald wird die Zeit Napoleons III. daran kommen, und endlich werden wir gezwungen sein, unsere eigene Zeit zu entdecken. Oder richtiger, wir taten dies schon. Das, was wir aus dem Stilrepetitorium lernten, ist, dass es nicht eine höchste Kunst gibt, sondern verschiedenartige höchste Lösungen für verschiedenartige Aufgaben. Die "ideale" Kirche erschien der älteren Romantik der Kölner Dom. Man suchte und fand dort das System des Baustils, um so zu der reinen Form des Stils, ohne die "Zufälligkeiten" des einzelnen Baues zu gelangen. Man strebte danach, dem einseitigen antiken Ideal ein gotisches entgegenzustellen, und es gelang hiedurch, beinahe ebenso langweilig zu werden, wie es die Klassizisten gewesen waren. Aber immer deutlicher meldete sich der Bruch mit dem Idealismus. Er steckt schon ganz wesentlich in  S e m p e r's  Gedankengang, in dem eine so starke Bedeutung auf die Herausbildung des "Bautypus" gelegt wurde, also auf die besondere Form, die eine bestimmte für sich bestehende bauliche Aufgabe erfordere. Nicht das allgemeine Ideal vollendeter Baukunst, sondern die zutreffende Form für die einzelne Aufgabe sollte das Vorbild gelten. Man lernte in der Kunstgeschichte, dass die Erfüllung der realen Aufgabe der eigentliche Grund des Fortschreitens war. Die emsige Betrachtung der Geschichte der Bauform führte zur Erkenntnis, dass diese ganz wesentlich von konstruktiven Elementen abhängt und dass praktische Bedürfnisse sie bedingten. Dass also für den Architekten des Mittelalters wie der Folgezeit der entscheidende Teil der Aufgabe nicht im Schaffen eines idealen Baues, sondern in der Erfüllung eines bestimmten Bauzweckes lag. Dieser konnte ein in sich selbst begründeter Zweck sein, es konnte ein Werk gefordert werden, das um seiner selbst willen da ist, also lediglich ein Denkmal darstellt. Aber zumeist hat es praktische Zwecke! Die Kirche ist das Haus der Messe und der Sakramente, der Predigt und der Stundengebete. Sie wird nicht geformt nach einem im Geiste dem Architekten vorschwebenden vollkommenen Urbild, sondern in ständiger Umbildung nach dem Vorwiegen des einen oder des anderen Zweckes. In den idealistischen Zeiten baute man kleine Kathedralen als Pfarrkirchen mit Querrschiff und Chorhaupt - weil das Ideal einer mittelalterlichen Kirche so aussieht. Im Mittelalter nahm man bald der Pfarrkirche das Querrschiff, weil man sah, dass es für diesen Zweck Unpraktisch sei. So sind wir durch die Stilkenntnis dahin gelangt, den Einzeltypus zu erkennen. Man lehrte uns Kirchen gotisch, Theater römisch, Paläste italienisch, Hotels französisch und Cottage englisch-amerikanisch zu bauen.  S e m p e r  brachte dies in ein System. Er sagte, das Mittelalter habe uns den Kirchenbau gegeben. Von diesen Formen haben wir den Eindruck, dass sie kirchlich sind, also müssen wir Kirchen im mittelalterlichen Stil bauen, damit sie als solche erkannt werden. Noch heute ist die Mehrzahl der Theologen dieser Ansicht, namentlich der katholischen. Der Adel stammt aus dem Mittelalter. Er sitzt auf einem Schloss. Wenn also ein Börsenmann geadelt wird, so baut er sich ein mittelalterliches Schloss.

Das Schloss muss Verteidigungstürme und Zinnen haben - dadurch wird es als Adelsitz erkennbar. Der "Kavalier" muss auf dem Schlips ein Hufeisen haben, im Stoffmuster oder auf der Nadel. Hiedurch - meist nur hiedurch - ist der Typus klar erkennbar festzustellen. Die Aufgabe lautete nun, man müsse sich mit dem Geist der vergangenen Zeit erfüllen, um das neue Werk aus diesem heraus zu schaffen. Die Künstler wurden fromm, um ihren mittelalterlichen Vorbildern geistesverwandt zu werden. Man fühlte sich durch sie in fremde Zeiten versetzt. Die fromme Gotik war dem Aufgeklärten ein Greuel, ein erschrecklicher Rückgriff in die "finstersten" Zeiten. Das Rokoko war die frivole Zeit Ludwigs XIV. und XV. Welches Verbrechen, sie wieder in die liberal gewordene Welt herauf zu beschwören! Oder es galt als die Zeit des Hofglanzes: Kein Wunder, dass Louis Philipp und Napoleon III. es wieder aufleben liessen. Eine mächtige Strömung setzte ein, die uns an Stelle der idealistisch gesetzmässigen Schönheit die Lehre brachte, das Nachempfinden vergangener Zeiten werde uns lehren, wieder in das verlorene Paradies einzudringen. Man ahmte die Formen vergangener künstlerisch anregender Zeiten nach. Aber man nannte das eine mechanische Tätigkeit. In den Geist der Vergangenheit solle man eindringen, die neuen Aufgaben solle man so lösen, wie sie die Meister der Vergangenheit gelöst hätten, wäre ihnen die Aufgabe gestellt worden. Also wäre es nun das Ziel des Baukünstlers, den Geist der Zeiten zu begreifen. Nicht mehr ein Ideal sollte er anstreben, sondern ergründen, was das Ideal der Gewesenen war, und mit diesem sich erfüllen. Der Bau sollte so aussehen, als habe nicht der moderne Architekt, sondern als habe ihn Meister  E r w i n,  B r a m a n t e,  F i s c h e r  v o n  E r l a c h  - oder sonst ein grosser Meister oder eine grosse Zeit geschaffen. Das ist die Ansicht sehr vieler lebender Meister. Wer zum Beispiel die Schule Gabriel  S e i d l's  in München und dessen eigene Werke kennt, der sieht mit Staunen, welche formale "Echtheit" deren Bauten haben. Unter echt versteht man das, was aussieht, als sei es vor Jahrhunderten geschaffen, also das damals nicht Geschaffene, das Unechte. Die Gelehrsamkeit, die leichte Zugänglichkeit vieler Studienobjekte hat dem modernen Architekten ein Vorbildermaterial an die Hand gegeben, wie es keine frühere Zeit auch nur annähernd besass. Die "echte" Schaffensweise hat die Fähigkeit, die Individualität zu unterdrücken, ganz ausserordentlich gesteigert. Wenn ein eifriges Streben einsetzt, Werke so zu schaffen, dass sie mit älteren Werken verwechselt werden können, so gelingt dies zumeist.

Tausende von Bildern sind in der Welt, von denen man nicht sicher erkennt, ob sie dem grossen Meister wirklich angehören, unter dessen Namen sie gehen. Es gelang, die modernen Bauten zu schaffen, die man einst für Jahrhunderte älter nehmen wird. Aber kann das ein letztes Ziel sein? Der Umschwung ist heute schon da: Er gipfelt in der Erkenntnis, dass zwar die alte Form uns zu Diensten steht, dass wir uns nicht scheuen sollen, an ihr zu lernen. Aber dass wir sie nicht im Geiste der Alten verwenden dürfen, sondern nur in unserem Geiste. Und da zeigt sich denn deutlich, dass dieser Geist nicht im Ideal und nicht im Typus zu suchen ist, sondern in der Aufgabe selbst. Die Erfüllung der Aufgabe ist das, was die moderne Architektur erstrebt. Das Ziel liegt nie ausser diesem. Denn die Aufgabe ist nie eine einfache. Es ist nicht bloss Zweck des bürgerlichen Wohnbaues, Unterkunftsstellen zu schaffen. Diese sollen bequem, wohnlich, anheimelnd sein; sie sind nach der Art der Bewohner verschieden: Wenn irgend möglich, alle Wünsche zu befriedigen - das ist das Ziel. Das weist das Bestehen einer idealen Wohnung weit ab. Denn was dieses Ideal schuf, das kennen wir zur Genüge aus der Eintönigkeit unserer Hauseinrichtungen. Das Individualisieren der Aufgabe, ihre Erfüllung in allen Teilen - das schwebt der modernen Baukunst als letzte Aufgabe vor. Da heisst es dann: Verzichte auf lieb gewordene ideale Form; verzichte auf das, was dir an anderen Bauten als schön erschien; was dir ein Ideal baukünstlerischen Schaffens war, verzichte auf die Wiederholung dessen, was früheren Zeiten einst so herrlich gelang und was wir jetzt so geschickt nachzubilden lernten. Gewöhne dich dagegen an das, was der technische Geist unserer Zeit an neuen baulichen Hilfsmitteln erfand. Sie werden und müssen auf den künstlerischen Ausdruck Einfluss ausüben. Wir werden uns an sie zu gewöhnen haben. Das neue, wenn es sachlich verständig ist, siegt über uns und unser Geschmacksurteil, so sehr wir uns dagegen sträuben, wenn auch das Neue so gar anders ist als das Alte. Ueber kurz oder lang werden wir doch überwunden. Schwache Gedichte oder Dramen verschwinden in die Papierkörbe, schwache Bilder verkommen an den Wänden des Ateliers und werden endlich zerstört, schwache Skulpturen haben zumeist ein sehr kurzes Leben. Selbst das Mittelgut fast aller Künste ist nach einem Jahrzehnt vergessen, nahezu spurlos verschwunden. Der Kulturboden ist unerschöpflich in der Aufnahmsfähigkeit für überzähliges künstlerisches Gut. Es ist oft schwer begreifbar, wo das Alles hinkommt. Aber die Bauten bleiben stehen, oft für Jahrhunderte. Es bedarf langer Zeiten, ehe eine Stadt ihr Innenbild neu ausgestaltet. Jeder Versuch, künstlerisch, stilistisch vorwärts zu kommen, wird durch die Baukunst dauernd an die Strasse gestellt. Das Unreife und das Ueberreife, das naiv Ungeschickte und das gekünstelt Geistreichelnde steht nebeneinander. Das Gesamtbild der neuen Erscheinungen ist oft sehr widerwärtig. Es war besser, viel besser, als es noch ein Ideal gab, nach dessen Regeln man dem Talentlosen zu schaffen empfahl. Sein Werk wurde langweilig, aber nicht aufdringlich. Wir haben jetzt die Baukunst auf eigenes Empfinden zu stellen. Sie muss diesen Weg gehen, um ihren Weg zu erfüllen. Noch liegt viel Kampf und namentlich die Ueberwindung vieler unreifer Versuche vor uns. Der Weg, den wir anzutreten haben, führt nicht auf die blumigen Auen behaglichen Geniessens. Aber nicht ein altes Ideal, nicht ein alter Stil kann uns vorwärts helfen, nicht der Geist der alten Meister, sondern lediglich der eigene Geist.