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Autor: Gropius, Walter
In: Die Kunst in Industrie und Handel - 1. - 12. Tsd. - Jena: Diederichs (1913); S. 17 - 22 (Deutscher Werkbund: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes; 1913)
 
Die Entwicklung moderner Industriebaukunst
 
Auf dem gesamten Gebiet des Handels und der Industrie ist zweifellos neben den bisherigen Forderungen nach technischer und wirtschaftlicher Vollkommenheit ein Verlangen nach Schönheit der äußeren Form erwacht. Nicht nur bei der Fabrikation von Gebrauchsartikeln, auch beim Bau von Maschinen, Fahrzeugen und Fabrikgebäuden, die dem nackten Zweck dienen, kommen ästhetische Gesichtspunkte in bezug auf Geschlossenheit der Form, auf Farbe und auf Eleganz des ganzen Eindrucks von vornherein zur Geltung. Augenscheinlich genügt nicht mehr die materielle Steigerung der Produkte allein, um im internationalen Wettstreite Siege erringen zu können. Das technisch überall gleich vorzügliche Ding muß mit geistiger Idee, mit Form durchtränkt werden, damit ihm die Bevorzugung unter der Menge gleichgearteter Erzeugnisse gesichert bleibt. Deshalb ist die gesamte Industrie heute vor die Aufgabe gestellt, sich mit künstlerischen Fragen ernsthaft zu befassen. Der Fabrikant muß darauf bedacht sein, mehr und mehr den Makel des Surrogats von seiner Ware zu entfernen, ihr auch die edlen Eigenschaften des handwerklichen Erzeugnisses neben den Vorzügen der maschinellen Herstellung mitzugeben. Erst dann findet der ursprüngliche Leitgedanke der Industrie, Ersatz der Handarbeit auf mechanischem Wege, seine vollkommene Verwirklichung. Denn der alte Handwerker vereinigte alle drei Arbeitsgebiete des Technikers, des Kaufmanns und des Künstlers in einer Person. Solange nun die Mitarbeit des Künstlers für entbehrlich angesehen wurde, mußte das Maschinenprodukt minderwertiger Ersatz des handwerklichen Erzeugnisses bleiben. Doch ganz allmählich erkennt man in kaufmännischen Kreisen, welche neuen Werte der Industrie durch die geistige Arbeit des Künstlers zugebracht werden. Man versucht nun in besserer Erkenntnis die künstlerische Qualität des Maschinenproduktes von vornherein zu verbürgen und gleich bei der Erfindung der Form, die vervielfältigt werden soll, den Künstler mit zu Rate zu ziehen. Daraus bildet sich eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Künstler, Kaufmann und Techniker, die, dem Geist der Zeit entsprechend organisiert, vielleicht imstande sein könnte, auf die Dauer alle Faktoren der alten individuellen Arbeit, die verloren ging, zu ersetzen: denn der Künstler besitzt die Fähigkeit, dem toten Produkt der Maschine Seele einzuhauchen; seine Schöpferkraft lebt darin fort als lebendiges Ferment. Seine Mitarbeit ist nicht Luxus, nicht gutwillige Zugabe, sondern muß unentbehrlicher Bestandteil in dem Gesamtwerk der modernen Industrie werden. Man ist noch leicht geneigt, den Wert der künstlerischen Kraft zu unterschätzen, der sich dem in ästhetischen Fragen meist unerfahrenen Fabrikanten materiell zunächst nicht zu erkennen gibt. Es genügt nicht, Musterzeichner zu dingen, die gegen geringes Monatsgehalt täglich sieben bis acht Stunden »Kunst« erzeugen sollen, ihre mehr oder minder geistlosen Entwürfe in tausenden von Exemplaren ausführen und über die Welt verstreuen zu lassen. So leicht gelangt man nicht in den Besitz künstlerisch reifer Entwürfe. Genau so wie technische Erfindung und kaufmännische Regie selbständige Köpfe verlangt, fordert die Erfindung neuer beseelter Formausdrücke starke Künstlerkraft, künstlerische Persönlichkeit. Gerade die genialsten Ideen sind zur Vervielfältigung durch die Industrie eben gut genug und wert, nicht nur dem einzelnen, sondern einer großen Allgemeinheit zugute zu kommen. Es hat sich in der Praxis bereits herausgestellt, daß es kurzsichtig ist, wenn der Fabrikant die Spesen für den Künstler sparen zu können glaubt. Führende Großbetriebe haben bewiesen - und das gibt den Ausschlag - daß es sich auf die Dauer bezahlt macht, wenn sie neben technischer Vollendung und Preiswürdigkeit auch für den künstlerischen Wert ihrer Produkte besorgt sind und mit ihnen Geschmack und Anstand unter die Menge tragen. Sie ernten damit nicht nur den Ruhm, Kultur zu fördern, sondern, was im kaufmännischen Leben fast immer gleichbedeutend ist, auch pekuniären Gewinn.

Es ist ganz begreiflich, wenn rein praktisch denkende Männer ästhetische Erörterungen auf ihrem Arbeitsgebiet so lange rundweg von der Hand weisen, bis sie ihnen aus wirtschaftlichen Gründen Gehör schenken müssen. In den vergangenen Jahrzehnten der technischen Entwicklung blieb keine Zeit für Schönheitsrücksichten. In erster Linie Ingenieur und Kaufmann, mußte der Fabrikant sich zunächst um praktische Anforderungen bekümmern und fand allein in ihrer Erfüllung seinen Gewinn. Er betrachtete die Kunst, soweit sie in seinen Gesichtskreis kam, als private Liebhaberei, die er dem Feld seiner eigenen Tätigkeit fernhielt. Die Führer der heutigen Industrie wissen aber bereits, daß noch mehr dazu gehört als Billigkeit und vollendete Technik, um im Welthandel eine Rolle spielen zu können. Sobald ein industrieller Fabrikherr aber die Vorteile erkannt hat, die ihm die Leistung des Künstlers bei richtiger Verwertung bringen kann, wird er folgerichtig diese Erfahrung für das gesamte Gebiet seiner beruflichen Tätigkeit beherzigen und vom Arbeitsprodukt, das naturgemäß den Kern seines Berufsinteresses bildet, auch auf die Arbeitsstätte übertragen wollen. Früher bedeutete die Fabrik nur ein notwendiges Übel. Man begnügte sich mit Gebäuden von trostloser Schäbigkeit. Erst mit dem wachsenden Wohlstand nahmen die Ansprüche zu. Zunächst wurde für bessere Belichtung, Heizung und Lüftung gesorgt: und hier und da rief man auch hinterher einen Baumeister herbei, der die nackten Formen des Nutzbaues meist in mißverstandener Weise mit nachträglich zugetragenen unsachlichen Zierraten behing. Dieses Verfahren ist leider auch heute noch beliebt. Ungelöste Konfliktspunkte werden äußerlich verdeckt und der Charakter des Baues mit einer sentimentalen, aus früheren Stilen erborgten Maske verschleiert, die mit dem ernsten Wesen einer Fabrik nichts gemein hat. Die Würde des Unternehmens leidet unter solchem Mummenschanz. Auf diesem billigen Wege ist eine Lösung der Schwierigkeiten nicht zu finden. Statt der äußerlichen Formulierung ist ein inneres Erfassen des neuen baukünstlerischen Problems vonnöten: Geist an Stelle der Formel, ein künstlerisches Durchdenken der Grundform von vornherein, kein nachträgliches Schmücken. Gerade bei der ersten Disposition der Bauanlage muß der Künstler befragt werden. Nur dann vermag er die organisatorischen Richtlinien seines Bauherrn verständnisvoll zu formen, den Sinn des Fabrikationsganges zu veranschaulichen und den inneren Wert der Einrichtung und der Arbeitsmethode würdig auszudrücken. Auf der geschickten Anordnung des Grundrisses, auf der Proportionierung der Baumassen beruht der Schwerpunkt seiner geistigen Arbeit, nicht (wie manche noch immer glauben) auf der Zugabe ornamentalen Beiwerks.

Zu der knappen Straffheit unseres technischen und wirtschaftlichen Lebens, zu der Ausnutzung von Material, Geldmitteln, Arbeitskräften und Zeit paßt vor allem nicht mehr irgendeine erborgte Stilform des Rokoko oder der Renaissance; denn die an sich vielleicht edle Form wird, sinnlos verwendet, zur sentimentalen Phrase. Die neue Zeit fordert den eigenen Sinn. Exakt geprägte Form, jeder Zufälligkeit bar, klare Kontraste, Ordnen der Glieder, Reihung gleicher Teile und Einheit von Form und Farbe werden entsprechend der Energie und Ökonomie unseres öffentlichen Lebens das ästhetische Rüstzeug des modernen Baukünstlers werden. Das sind nur Richtlinien. Erst in der Hand eines begabten Baumeisters werden sie sich zu einem Bauganzen von künstlerischer Kraft zusammenschließen. Gerade der völlig neue Charakter der Industriebauten muß die lebendige Phantasie der Künstlers reizen, denn keine überlieferte Form fällt ihr hemmend in die Zügel. Je ungebundener sich aber die Originalität der Formensprache entfalten kann, desto mehr werbende Kraft wird das Bauwerk für sein Unternehmen besitzen und den Reklameabsichten seines Organisator begegnen. Ein würdiges Gewand läßt auf den Charakter des ganzen Betriebes berechtigte Schlüsse ziehen. Sicherlich wird die Aufmerksamkeit des Publikums durch künstlerische Schönheit eines Fabrikgebäudes, durch seine originell erfundene, einprägsame Silhouette intensiver gefesselt, als durch Reklame- und Firmenschilder, die in aufdringlicher Überhäufung das gelangweilte Auge nur noch mehr abstumpfen müssen. Die lebendige Kraft der künstlerischen Idee dagegen verliert nie ihre Wirkung. Eine Fabrik, die in dieser Weise in gemeinsamer Zusammenarbeit des Bauherrn und Architekten entstanden ist, wird Vorzüge besitzen, die sich dem ganzen Organismus des Betriebes mitteilen müssen. Eine klare innere Disposition, die sich auch nach außen hin übersichtlich veranschaulicht, kann den Fabrikationsgang sehr vereinfachen. Aber auch vom sozialen Standpunkt aus ist es nicht gleichgültig, ob der moderne Fabrikarbeiter in öden, häßlichen Industriekasernen oder in wohlproportionierten Räumen seine Arbeit verrichtet. Er wird dort freudiger am Mitschaffen großer gemeinsamer Werte arbeiten, wo seine vom Künstler durchgebildete Arbeitsstätte dem einem jeden eingeborenen Schönheitsgefühl entgegenkommt und auf die Eintönigkeit der mechanischen Arbeit belebend einwirkt. So wird mit der zunehmenden Zufriedenheit Arbeitsgeist und Leistungsfähigkeit des Betriebes wachsen. Erst in vereinzelten Fällen finden sich neuerdings industrielle Bauherren, die in großzügiger Voraussicht von vornherein auch bei der Errichtung ihrer Industriebauten den künstlerisch gebildeten Architekten zu Rate ziehen, und es hat schon jetzt den Anschein, als erwüchsen jenen voraneilenden Industrieunternehmen aus ihrem Weitblick Werte von unverkennbarer Tragweite. Rasch mehrt sich ihr Ruhm, sobald die Kreise der Gebildeten ganz außerhalb vom geschäftlichen Leben von ihrem Wirken erfahren, das über die materielle Befriedigung der Menge hinaus auch ideale Ziele verfolgt. Den ersten und größten Schritt auf dieser Bahn tat die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin, als sie Peter Behrens zu ihrem künstlerischen Beirat für das gesamte Gebiet ihrer Industrietätigkeit berief. In einem halben Jahrzehnt sind durch diese glücklichste Verbindung großzügiger Organisation und großen Künstlertums Werke geschaffen worden, die bis zum Augenblick vielleicht die stärksten und reinsten Zeugen eines neuen europäischen Baugedankens sind. Aus ihnen spricht die Fähigkeit der Umwertung und Neugestaltung veränderter oder gänzlich neuer Lebensgedanken der Zeit. Mit den einfachen Mitteln elementarer Tektonik entstanden Baugebilde von wahrhaft klassischer Gebärde, die souverän ihre Umgebung beherrschen.

Die A.E.G. hat sich in ihnen Denkmäler von Adel und Kraft gesetzt, an denen keiner mehr empfindungslos vorüberwandelt. Ihr Tun ward vorbildlich für die gesamte Industrie, und Nachfolger ließen nicht auf sich warten. Mit dem steigenden Interesse findet sich mehr und mehr der rechte Architekt mit seinem industriellen Auftraggeber zusammen. Die neuen Fabrikbauten - um nur einige Beispiele zu nennen: der Kaffee-Handels-A.-G. in Bremen (Architekt H. Wagner), der Delmenhorster Anker-Linoleum-Fabrik (Architekt Stoffregen), der Chemischen Fabrik in Luban bei Posen (Hans Poelzig), und manche andere - lassen ein einheitliches architektonisches Fühlen erkennen, das endlich der lebendigen Lebensform der Zeit das natürliche Kleid erfindet und romantische Überbleibsel der Architekturformen als schwächliche Unwahrheiten streng zurückweist. Im Vergleich mit den übrigen Ländern Europas scheint Deutschland auf dem Gebiete des künstlerischen Fabrikbaus einen Vorsprung gewonnen zu haben. Aber im Mutterlande der Industrie, in Amerika, sind industrielle Großbauten entstanden, deren ungekannte Majestät auch unsere besten deutschen Bauten dieser Gattung überragt. Die Getreidesilos von Kanada und Südamerika, die Kohlensilos der großen Eisenbahnlinien und die modernsten Werkhallen der nordamerikanischen Industrietrusts halten in ihrer monumentalen Gewalt des Eindrucks fast einen Vergleich mit den Bauten des alten Ägyptens aus. Sie tragen ein architektonisches Gesicht von solcher Bestimmtheit, daß dem Beschauer mit überzeugender Wucht der Sinn des Gehäuses eindeutig begreiflich wird. Die Selbstverständlichkeit dieser Bauten beruht nun nicht auf der materiellen Überlegenheit ihrer Größenausdehnungen - hierin ist der Grund monumentaler Wirkung gewiß nicht zu suchen - vielmehr scheint sich bei ihren Erbauern der natürliche Sinn für große, knapp gebundene Form, selbständig, gesund und rein erhalten zu haben. Darin liegt aber ein wertvoller Hinweis für uns, den historischen Sehnsüchten und den anderen Bedenken intellektueller Art, die unser modernes europäisches Kunstschaffen trüben und künstlerischer Naivität im Wege sind, für immer die Achtung zu versagen.