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Autor: Fritsch, Karl Emil Otto
In: Deutsche Bauzeitung - 24 (1890); S. 417 - 431 und S. 434 - 440
 
Stil-Betrachtungen
 
Auf der IX. Wander-Versammlung des Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine zu Hamburg
am 26. August 1890 vorgetragen
von K. E. O. Fritsch

Hochgeehrte Festgenossen! S t i l b e t r a c h t u n g e n  sind es, zu denen ich Sie einlade. -

Ich verhehle mir nicht, dass dieser Stoff Manchem unter den Anwesenden vielleicht wenig willkommen sein dürfte; denn bei den Männern der künstlerischen und technischen That, wie ich sie hier versammelt sehe, pflegt die Neigung zu ästhetischen Erörterungen akademischer Art keine große zu sein. Und selbstverständlich kann ich Ihnen nicht in Aussicht stellen, dass meine Betrachtungen einen mehr als akademischen Werth haben, dass sie ein unmittelbar zu verwendendes, fruchtbares Ergebniss liefern werden. Das aber kann und will ich Ihnen versprechen: dass ich bemüht sein werde, den Boden der Wirklichkeit nicht ganz unter den Füßen zu verlieren. Vor einem Sturzbade kühner ästhetischer Theorien und einem Ihnen aufgenöthigten Kopfsprunge in die geheimnissvollen Tiefen der Kunstphilosophie brauchen Sie keine Sorge zu hegen. Auch habe ich weder das Rezept zu einem neuen Baustil mitzutheilen, noch gedenke ich zu beweisen, dass irgend einer der vorhandenen, geschichtlichen Baustile der allein wahre und berechtigte sei. Damit hierüber kein Zweifel bestehe, mag Ihnen von vorn herein angekündigt sein, wohin ich mit meinen Stilbetrachtungen hinaus will. Es erscheint mir dem Zwecke, zu dem wir versammelt sind, nur zu entsprechen, wenn hier die Fragen aufgeworfen werden:

1.  W i e  s t e l l t  s i c h  i m  V e r g l e i c h  m i t  d e n  v o r a n  g e g a n g e n e n  Z e i t a b s c h n i t t e n  d i e  G e g e n w a r t  z u  d e r  s o g.  "S t i l f r a g e"?
2.  W i e  w i r d  s i c h  i n b e z u g  h i e r a u f  v o r a u s s i c h t l i c h  d i e  E n t w i c k e l u n g  d e r  n ä c h s t e n  Z u k u n f t  g e s t a l t e n?
3.  W a s  k ö n n e n  w i r  u n s e r e r s e i t s  t h u n,  u m  d i e s e  E n t w i c k e l u n g  i n  m ö g l i c h s t  g e s u n d e  u n d  n a t ü r l i c h e  B a h n e n  z u  l e i t e n?

Bevor ich versuchen kann, hierauf eine Antwort zu finden, muss ich allerdings etwas weiter ausholen. -

Gestatten Sie mir zunächst, Ihnen in kurzen Zügen den  V e r l a u f  d e r  s t i l i s t i s c h e n  W a n d l u n g e n  vorzuführen, welche die Baukunst  i n n e r h a l b  d e r  l e t z t e n  100  J a h r e  durchgemacht hat. Etwa so lange ist es nämlich her, dass wir keinen einzig und allgemein giltigen Baustil mehr besitzen, sondern auf Versuche zur Wieder-Aufnahme verschiedener, geschichtlich abgeschlossener Stilweisen uns eingelassen haben. Der Nachdruck ist auf das Wort  "v e r s c h i e d e n e r"  zu legen. Denn eine Neubelebung der Baukunst durch die bewusste Wieder-Aufnahme älterer Formen war ja schon 350 Jahre früher, in der  R e n a i s s a n c e  mit glücklichstem Erfolge versucht worden und auch die Umbildungen, welche diese Kunstweise weiterhin erfuhr, sind bekanntlich zum großen Theile auf das Bestreben zurück zu führen, wenn auch nicht den Formen, so doch dem Geiste der Antike immer inniger sich anzuschließen. Aber zwischen jenen Stil-Entwickelungen und den  S t i l-E x p e r i m e n t e n,  mit denen wir seit 100 Jahren uns abgeben, besteht ein gewaltiger Unterschied. Jene Bewegung - ausgegangen von einigen, ihre Zeitgenossen durch die Kraft des Beispiels mit sich fortreißenden Köpfen - blieb im wesentlichen stets eine  e i n h e i t l i c h e.  Es gab jeweils nur  e i n e  herrschende Stilrichtung, welche die große Mehrzahl der ausübenden Künstler als lebendige Ueberlieferung von ihren Meistern übernahm und auf ihre Schüler vererbte. Und dieses Moment lebendiger Kraft und Frische pulsirte auch in ihren Werken, denen man es ansieht, dass sie Ergebnisse ausgereifter Kunstübung nicht die Schnellfrucht der Studirstube sind. Dass man die Baustile vergangener Zeiten wie eine todte Sprache sich aneignen könne, fiel den Architekten noch nicht ein. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts - im engen Zusammenhange mit jenen Aufklärungs-Bestrebungen, von denen der Zeitabschnitt den Namen hat - bereitete sich eine Wendung hierin vor. Man fing an, über den Ursprung der Formen zu philosophiren und forderte auch für die Baukunst eine Rückkehr zu der natürlichen Einfachheit des geträumten goldenen Zeitalters der Menschheit. So konnte allmählich eine Auffassung sich Bahn brechen, nach welcher der Baustil nicht mehr als etwas Gewordenes und Gegebenes betrachtet wurde, sondern als Gegenstand freier Erfindung oder doch zum mindesten freier Wahl. Der  E k l e k t i z i s m u s  wurde geboren und es mag als ein Markstein für das erste siegreiche Auftreten desselben in unserem Vaterlande die Thatsache angeführt werden, dass der Berliner Ober-Baudirektor Carl Gotthard  L a n g h a n s -  ein auf dem Boden der bereits zum Empire sich neigenden Spätrenaissance geschulter und mit der vollen Routine derselben ausgerüsteter Künstler - neben mehren bedeutenden Werken dieses Stils gleichzeitig das Brandenburger Thor und die in gothisirenden Formen gehaltene, aus Gusseisen hergestellte Spitze des Marien-Kirchthurms schuf. Mit diesen beiden Bauwerken sind zugleich die zwei neuen Stilrichtungen bezeichnet, denen die deutsche Baukunst fortan in immer steigendem Maaße sich zuwenden sollte: die  K u n s t  d e r  G r i e c h e n  und die sogen.  "r o m a n t i s c h e"  Kunst des Mittelalters. Die Anregung kam in beiden Fällen ans England. Zwar war der Boden für eine Erneuerung des künstlerischen Lebens der Nation durch einen Anschluss an das Griechenthum bereits durch die bahnbrechenden Studien deutscher Gelehrter, insbesondere Winkelmanns, vorbereitet worden. Aber die unmittelbare Anwendung griechischer Architekturformen für moderne Gebäude hatte man zuerst in England durchgeführt, wie es ja auch die Engländer  S t u a r t  &  R e v e t t  gewesen waren, welche durch ihre musterhaften Aufnahmen der attischen Alterthümer diesen Bestrebungen die unentbehrliche feste Grundlage geliefert hatten. Die in England bekanntlich niemals ganz erloschene mittelalterliche Kunst wurde zunächst in Verbindung mit der englischen Gartenkunst eingeführt, welche damals ihren Siegeslauf durch Europa antrat. Einsiedeleien, Ruinen und Ritterburgen waren es, die man in jener Zeit der "Ritter-Romane", als das von den Dichtern geweckte Interesse des Volkes sich wiederum mit Liebe seiner Vergangenheit zukehrte, als Park-Dekorationen in jenem Stile zu bauen versuchte. -

Selbstverständlich fanden auch die Pariser Anregungen daneben stets bereitwillige Aufnahme. Es fehlt in den deutschen Bauten, die in den beiden letzten Jahrzehnten und um die Wende des vorigen Jahrhunderts entstanden sind, weder an den Anklängen, welche auf die Ausgrabungen in Pompeji noch an denen, welche auf die französische Expedition nach Egypten zurück zu führen sind. Namentlich die Kirchhöfe - überhaupt die vollständigsten und lehrreichsten Beispiel-Sammlungen für die Wandlungen des architektonischen Geschmacks, weil die dort errichteten Denkmäler von äußeren Einflüssen und von Erneuerungs-Gelüsten am wenigsten berührt werden - weisen interessante Belege dafür auf. -

Es dauerte freilich bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, ehe die neuen stilistischen Bestrebungen in Deutschland so weit Boden gewannen, dass ein vollständiger Bruch mit den Ueberlieferungen der Spätrenaissance sich vollzog. Bis dahin standen ja in verschiedenen, einflussreichen Stellungen noch Meister in Thätigkeit, welche in dieser geschult waren - so Weinbrenner in Karlsruhe, Salucci in Stuttgart, Fischer in München u. a. Dass sie nicht imstande waren, ihren Schülern eine ebenso feste, künstlerische Ueberlieferung zu vererben, lag wesentlich daran, dass ihre Unterweisung in der Hauptsache nur eine theoretische sein konnte. Denn während der napoleonischen Kriege und in der Zeit der Erschöpfung, welche diesen folgte, lag die Bauthätigkeit fast überall darnieder; eine große Anzahl der Hilfskräfte, welche für die Fortsetzung einer solchen Ueberlieferung nicht minder wichtig sind, als die Meister, war ein Opfer der Zeit geworden. In  F r a n k r e i c h,  dessen Zustände ich mit Rücksicht auf die mir zur Verfügung stehende Zeit nur beiläufig berücksichtigen kann, hat ein solcher Bruch mit der künstlerischen Vergangenheit des Landes bekanntlich überhaupt nicht stattgefunden. Hierzu hat, neben der niemals ruhenden Gelegenheit zu wirklicher Kunstübung, jedenfalls wohl die alte Organisation der französischen Akademie und ihrer auf eine Vertiefung in das Studium der antiken Baudenkmale hinzielenden römischen Kunstschule das Meiste beigetragen. So ist innerhalb der Baukunst Frankreichs, die selbstverständlich von den Strömungen anderer Länder nicht unbeeinflusst blieb und beispielsweise gleichfalls ihr Néogrec gehabt hat, der lebendige Zusammenhang mit der Renaissance niemals erloschen. Sie hat sich vielmehr von der nüchternen Pracht des Empire-Stils bald wieder zu der Quelle moderner Kunstthätigkeit, zu der klassischen Renaissance zurück gewandt und ist so befähigt worden, später auch andern Völkern den gleichen Weg zu zeigen. Daneben hat sich an dem wirklichen Studium und der Wiederherstellung der mittelalterlichen Baudenkmale des Landes hier früher als in Deutschland eine leistungsfähige Schule mittelalterlicher Baukunst entwickelt, die gleichfalls eine bedeutende Wirksamkeit entfaltet hat. -

Aehnlich haben sich die Verhältnisse in dem dritten Hauptkulturlande der modernen Welt, in  E n g l a n d  gestaltet; nur dass hier die mittelalterliche Schule ziemlich bald die herrschende geworden ist und dass sich innerhalb derselben eine jeder akademischen Regelmäßigkeit abholde, vorzugsweise auf malerische Wirkungen hinzielende Richtung herausgebildet hat. -

Doch kehren wir nach Deutschland zurück, wo durch  S c h i n k e l s  bahnbrechenden Einfluss etwa im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die Wiederaufnahme griechischer Baukunst alle übrigen Bauweisen in den Hintergrund drängte. Was Schinkel diesen Einfluss und seine kunstgeschichtliche Stellung gegeben hat, ist die Thatsache, dass seine Behandlung der griechischen Bauformen auf eine wirkliche Neubelebung derselben hinzielte und dieses Ziel auch zu erreichen wusste, während man in England nicht über eine rein äußerlich aufgefasste Nachahmung griechischer Denkmäler hinaus gekommen war. Ihm am nächsten steht darin  K l e n z e  in München, dessen beste Schöpfungen freilich dem Stil italienischer Renaissance angehören. Unter den Neueren aber hat kein Meister die bezgl. Bestrebungen Schinkels besser und glücklicher fortgesetzt, als Theophil  H a n s e n  in Wien, der ja noch heute rüstig schafft. Im übrigen war die Alleinherrschaft dieses neubelebten, reinen Griechenthums eine verhältnissmäßig kurze - kurzer als man gewöhnlich glaubt; sie hat kaum 2 Jahrzehnte und die Lebenszeit Schinkels überdauert, wenn auch ihre Nachwirkungen lange sich geltend gemacht haben. Frühzeitig schon haben sich Zweifel daran geregt, ob denn diese unter so völlig anderen Bedingungen entwickelte Kunst wirklich imstande sei, als Ausdrucksmittel für die Anschauungen und Bedürfnisse unseres Zeitalters zu dienen. Hatte doch Schinkel einst in seiner Jugend ernstlich geschwankt, ob er das Panier des griechischen Alterthums oder das der Romantik entfalten sollte. Bekanntlich hat er auch später wiederholt in mittelalterlich behandelten Entwürfen und Bauten sich versucht. Und ebenso ist er sich stets bewusst geblieben, dass jede Anlehnung an eine geschichtlich abgeschlossene Stilweise nur ein Mittel zum Zweck, nur ein Nothbehelf sei, während es das letzte Ziel unseres Strebens bilden müsse, eine Herrschaft über die Stilformen zu gewinnen, welche uns zu freiem, eigenartigen Schaffen auf diesem Gebiete befähigt. Einen genialen Versuch nach dieser Richtung, einen echten Zukunftsbau hat er uns in dem Fassaden-System seiner Bauakademie hinterlassen. Alle diese Momente sind von Anderen aufgenommen und weiter ausgebildet worden und zwar in jenem  i d e a l e n,  von den führenden Dichtern und Philosophen genährten Sinne, welcher für die Bestrebungen jenes, an Mitteln so armen, aber an Begeisterung so reichen, stets die höchsten Ziele in's Auge fassenden Zeitalters - des Zeitalters unserer Väter - bezeichnend ist. Idealistische Anschauungen solcher Art waren es zunächst, die in Süddeutschland zu dem Versuche eines weiteren Anschlusses an die  m i t t e l a l t e r l i c h e  K u n s t  führten, nachdem die Befreiungskriege das Nationalgefühl mächtig angeregt und den von der romantischen Dichterschule entzündeten Funken zu heller Flamme entfacht hatten. Von den Männern, welche in dieser Richtung wirkten, sind vor allen  H e i d e l o f f  in Nürnberg und  G ä r t n e r  in München zu nennen - jener der Gothik huldigend, dieser vorzugsweise eine Neugestaltung des romanischen Baustils anstrebend. Was sie leisteten, ging freilich über jene älteren Park-Dekorationen noch nicht viel hinaus und verhielt sich zu den wirklichen Werken des Mittelalters, wie die Auffassung des letzteren in den gleichzeitigen Romanen und Theaterstücken zu echt mittelalterlichem Leben. Das Ergebniss wäre sicherlich kein besseres gewesen, auch wenn sich das größere Talent Schinkels an die Spitze der Bewegung gestellt hätte. Denn es fehlte die unerlässliche Vorbedingung, welche der Aufnahme griechischer Kunstformen eine gesicherte Grundlage gegeben hatte - eine auf tieferes Studium der Denkmäler gestützte Kenntniss der mittelalterlichen Formenwelt und namentlich ihres Zusammenhanges mit der mittelalterlichen Technik. Ehe man in die letztere sich eingelebt hatte, war auch die Beschäftigung mit den Denkmälern, der man sich mit großem Eifer hingab, wenig erfolgreich und die Aufnahmen damaliger Zeit erweisen sich demnach als in vielen Punkten missverstanden und unzureichend. Ein entschiedener Umschwung trat hier, wie in Frankreich, erst ein, nachdem die Wiederherstellung und Weiterführung eines großen mittelalterlichen Baudenkmals Gelegenheit zu entsprechender Schulung gegeben und die idealen Bestrebungen der "Romantiker" auf den Boden der Wirklichkeit verpflanzt hatte. In der von Zwirner geleiteten Kölner Domhütte gewann die deutsche, neugothische Schule einen festen Ausgangspunkt. Eine weitere Stütze erwuchs derselben in der Thätigkeit  U n g e w i t t e r's  zu Cassel, eines deutschen Vorläufers und Mitstrebenden des Franzosen  V i o l l e t  l e  D u c,  dessen unübertroffene Studien auch für die Entwickelung der deutschen Gothik von weitgehendstem Einfluss geworden sind. Die von Schülern Gärtners begründete Schule in Hannover gewann unter  H a s e's  Leitung ihre Hauptbedeutung erst dann, als sie die Pflege des norddeutschen Backsteinbaues zu ihrer wichtigsten Aufgabe sich erkor. -

Gegen das frische blühende Leben, das in diesen, bald darauf noch durch die Wiener Schule Friedrich  S c h m i d t s  vermehrten Pflegestätten der Gothik sich entfaltete und durch ihre Jünger weit in deutschen Landen verbreitet wurde, konnten selbst die Vertreter einer anderen künstlerischen Anschauung nicht blind sein. War ihre Pflege mittelalterlicher Kunst auch von einer gewissen Einseitigkeit nicht frei und artete die Ueberzeugungs-Treue, mit welcher die Grundsätze der Schule gegen Andersdenkende verfochten wurde, auch zuweilen in Fanatismus aus, so entschädigten doch hierfür der Ernst und die Ehrlichkeit ihres Strebens. So haben die deutschen Neugothiker nicht nur auf ihrem eigenen Gebiete bedeutsame Erfolge erzielt, sondern auch zugleich erfrischend und belebend auf die Entwickelung der gesammten deutschen Baukunst gewirkt. Namentlich der Einfluss, den sie inbetreff einer Wiedergewöhnung an gesunde, monumentale Technik geübt haben, darf ihnen niemals vergessen werden. In durchaus abweichender Weise äußerte sich der idealistische Zug der Zeit bei einzelnen Vertretern der Schinkel'schen Kunstweise. In ihnen hatten vor allem die auf eine Weiterentwickelung der griechischen Kunstformen hinzielenden Bestrebungen des Meisters gezündet. Der maaßgebenden Strömung des Tages folgend suchte man die Möglichkeit hierzu auf  p h i l o s o p h i s c h e m  Wege. Indem man zu einer Erkenntniss des Wesens der hellenischen Kunstformen vorzudringen suchte, glaubte man den Schlüssel zum Geheimnisse der Stilbildung und damit die Kraft zu schöpferischem Vorschreiten auf diesem Gebiete gewinnen zu können. Der Träger und Wortführer dieser Bestrebungen war bekanntlich  C a r l  B o e t t i c h e r.  Sein Grundirrthum, in eine so durch und durch reale, aus der technischen Uebung hervor gegangene und vom Stoff abhängige Kunst wie die Baukunst philosophische Abstraktionen hineingeheimnissen zu wollen, liegt auf der Hand. Aber angesichts der Höhe des erstrebten Ziels und der Reinheit seines Strebens darf man ihm denselben nicht zu hoch anrechnen. Man darf ihn auch nicht verantwortlich machen für alles das, was von seinen Schülern auf seinen Namen hin gesündigt worden ist. Dass die von letzteren angebahnte Richtung eine unfruchtbare ist, darüber herrscht unter den heutigen Vertretern deutscher Baukunst - mit Ausnahme der geringen Reste jenes Schülerkreises - wohl kein Zweifel mehr. An Ueberzeugungs-Treue und Unduldsamkeit haben die niemals sehr zahl- aber zeitweise einflussreichen Anhänger dieser Richtung den Jüngern der mittelalterlichen Kunst kaum etwas nachgegeben. Als Idealisten vom reinsten, freilich etwas getrübten Wasser sind endlich diejenigen Architekten anzusehen, in welchen der Wunsch nach einem eigenartigen Ausdrucksmittel für ihre künstlerischen Gedanken und Bestrebungen so mächtig wurde, dass sie der natürlichen Entwickelung der Dinge voran eilen zu können glaubten und es für angebracht hielten, den Versuch einer neuen Stilbildung sofort zu unternehmen. Besonders lebhaft wurden diese, meist auf die Möglichkeit eines solchen Versuchs zugespitzten Erörterungen der "Stilfrage" in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts. Schauplatz derselben wurden zum Theil die Vorläufer unserer gegenwärtigen Verbands-Versammlungen, die seit 1842 tagenden Wander-Versammlungen deutscher Architekten und Ingenieure. Auf der vierten dieser Versammlungen, die i. J. 1846 zu Halberstadt tagte, hielt der preußische Ober-Wegeinspektor Horn ans Potsdam einen Vortrag über einen von ihm erfundenen, durch den Entwurf eines Domes erläuterten "neugermanischen Baustil". Es liegt mir übrigens fern, über diese Bestrebungen schlechthin spotten zu wollen. Ein Körnchen berechtigter Anschauung, die Ueberzeugung von der Möglichkeit und Nothwendigkeit einer stilistischen Weiterentwickelung, lag ihnen ja immerhin zugrunde. Dass freilich die Art, wie sie auftraten, eine völlige Verkennung der Grundbedingungen der Stilbildung und des Antheils bekundet, welchen der Einzelne hieran nehmen kann, habe ich wohl nicht nöthig, zu erläutern. Ebenso werden Sie mir erlassen, den traurigen Misserfolg zu schildern, den diese Bestrebungen erlebten, als sie durch einen wohlgemeinten Entschluss des Königs Maximilian II. von Bayern aus dem Papier in die Wirklichkeit übersetzt werden sollten. Mit größerem Ernst und größerer Vorsicht verfolgte  H e i n r i c h  H ü b s c h  in Karlsruhe das Ziel, seinen Bauten ein stilistisch selbständiges Gepräge zu geben; leider stand der verständigen Einsicht, die er dabei entwickelte, nicht die erforderliche schöpferische Kraft zurseite. -

Neben den erwähnten idealistischen Bestrebungen gewannen jedoch allmählich mehr und mehr auch die Regungen des  R e a l i s m u s  Boden, der - durch das Studium der Naturwissenschaften, vor allem aber durch die von den Eisenbahnen bewirkte, völlige Umwälzung der Verkehrs-Verhältnisse genährt - mächtig gedieh und seither auf der ganzen Linie Sieger geworden ist. In dem größten deutschen Staate, in Preußen, wurde diese natürliche Entwickelung zunächst freilich stark gehemmt durch den persönlichen Einfluss, welchen der hochbegabte und kunstbegeisterte, aber schwankende und von romantischen Launen abhängige Monarch auf die monumentale Bauthätigkeit des Landes ausübte. Wie die großen Mittel, welche er aufwendete, in zu vielen Unternehmungen zersplittert wurden, so dass man sich genöthigt sah, nach wie vor mit Surrogat-Stoffen zu bauen, so musste in dem unruhigen Treiben auch die bedeutende Kraft der Architekten sich verzetteln, welche dem Könige bei Ausführung seiner Pläne zurseite standen. Es fehlte eben - wie überall, wo fürstliche Laune in das eigentliche künstlerische Schaffen sich einmischt - der nöthige Ernst. Immerhin blieb die gesteigerte Bauthätigkeit, mit welcher auch der Privatbau gleichen Schritt hielt, stilistisch nicht ohne Folgen. Für die große Zahl der verschiedenartigen Aufgaben, welche zur Lösung gestellt wurden, reichten die Motive, in denen die Bauten Schinkels sich bewegt hatten, nicht mehr ganz aus. So griff man denn im Kirchenbau zur mittelalterlichen Baukunst zurück und versuchte mehrfach nicht ohne Glück, die Plan-Anlage der altchristlichen und romanischen Kirche mit dem von der Schule gepflegten Formenkreise zu verschmelzen. Im Profanbau dagegen näherte man sich, in allmählich freier werdenden Bildungen, unwillkürlich mehr und mehr der italienischen Renaissance, wenn auch für die Ausgestaltung der Einzelheiten das zartere, zimperliche Schema des Hellenismus fest gehalten wurde. Der für diese Stilfärbung ganz bezeichnende Name "hellenische Renaissance" ist m. W. allerdings erst später aufgekommen. Mit vollem Bewusstsein und in wohl erwogener Absicht schloss man dagegen an anderen Orten unmittelbar dem Vorbilde der italienischen, bezw. der von dieser beeinflussten, neueren französischen Renaissance sich an. Denn die Aufgabe, mit welcher man in Berlin sich abmühte - den Schatz der antiken Formen und Motive so zu erweitern und umzubilden, dass er den vielgestaltigen Aufgaben des modernen Lebens genügte - sie war ja in der Renaissance schon einmal gelöst worden und zwar mit der jugendlichen Schöpferkraft und Naivetät einer Zeit, mit welcher sich die unsrige in dieser Beziehung unmöglich messen kann. Wenn man auf ihre Schultern sich stellte, war ein gutes Theil der schwierigsten Arbeit bereits gethan, ohne dass es deshalb dem Architekten an Gelegenheit fehlte, sein eigenes Können zur Geltung zu bringen. Führer in dieser gesunden, echt realistischen Bewegung war  G o t t f r i e d  S e m p e r.  Zunächst als schaffender Architekt und als solcher gestützt auf das Schaffen der gleichzeitigen französischen Meister. Sodann als Lehrer und endlich als bahnbrechender Schriftsteller, insbesondere durch seinen "Stil". Für die Erkenntniss stilistischer Entwickelung, namentlich für die Erkenntniss der bedeutsamen Rolle, welche hierbei die technischen Momente spielen, hat Niemand so viel geleistet. wie er. Als er vorzeitig aus Deutschland scheiden musste, hat  N i c o l a i  zu Dresden in seinem Sinne fort gewirkt. Semper selbst hat ein halbes Jahrzehnt später in Zürich eine neue Pflanzstätte der Renaissance-Kunst begründet. Auch die Stuttgarter Schule unter Führung von  L e i n s  und  E g l e,  so wie die Münchener Schule unter  N e u r e u t h e r  gewannen entsprechenden Einfluss; letztere allerdings erst nach dem Zusammenbruch des Maximilian-Stils, während die älteren Renaissance-Bauten Klenzes keine Schule gemacht hatten. -

Zn ihrer glänzendsten Entwickelung gelangte die Wieder-Aufnahme italienischer Renaissance diesseits der Alpen jedoch zu  W i e n,  wo sich seit dem Beginn der Stadterweiterung eine monumentale, stilistisch zur Hauptsache jenem Stile huldigende Bauthätigkeit entfaltete, wie sie Deutschland bisher noch nicht gesehen hatte. -

Rufen wir uns den Stand der Dinge ins Gedächtniss zurück, wie er vor 20 bis 25 Jahren vorhanden war, so können wir demnach, was Stilübung und Stil-Bekenntniss betrifft, im wesentlichen 3 große Heerlager unterscheiden: 1. Die Anhänger der hellenischen Renaissance, d. h. die Berliner Schule, neben welcher das kleine Häuflein der sogen. "Tektonen" nur wenig hervor trat, und die Hansen'sche Schule in Wien; 2. Die Anhänger der italienischen Renaissance in den soeben genannten Punkten und 3. Die um die Kölner Hütte, sowie die Schulen in Wien und Hannover geschaarten Gothiker, zu denen einzelne Vertreter derselben Richtung in den süddeutschen Staaten traten. In allen 3 Gruppen war eine starke Ueberzeugung von der Richtigkeit, zum mindesten von der relativen Richtigkeit des eingeschlagenen Weges lebendig; man hielt auf strenge Grundsätze und eine gewisse vornehme Geschlossenheit der Schule. Immerhin war jedoch die Stellung der Gruppen zu einander nicht mehr so schroff, wie sie es zu Anfang der 50er oder gar in den 40er Jahren gewesen war; man verfolgte die gegenseitigen Bestrebungen nicht ohne Theilnahme und auch nicht ohne Nutzen. Da es nicht möglich war, die abweichenden Ansichten unter einen Hut zu bringen, so war man im stillschweigenden Einverständniss gleichsam über eine Theilung der Aufgaben unter den einzelnen Stilgruppen überein gekommen. Die Kirchen, allenfalls auch Rathhäuser, wurden den Gothikern, die Theater und Museen den Hellenisten, die Paläste und vornehmeren Verwaltungs-Gebäude den Vertretern der Renaissance zugewiesen, wenn sich auch eine solche Theilung selbstverständlich nicht immer durchführen ließ. Bei der Mehrzahl der öffentlichen Bauten, namentlich den in Provinzialstädten ausgeführten, waltete dagegen eine Nüchternheit und schablonenmäßige Auffassung vor, die von Stillosigkeit nicht allzu weit entfernt war. Am Privatbau betheiligten sich alle 3 Gruppen mit gleichem Eifer; doch waren auch auf diesem Gebiete die besseren Aufgaben selten. -

In dieser Zeit stiller Gährung wurde die deutsche Baukunst nach der inneren Krisis von 1866, namentlich aber nach dem siegreichen Kriege von 1870/71 und der Wieder-Aufrichtung eines deutschen Reiches durch den großartigen Aufschwung überrascht, den mit dem gesammten wirthschaftlichen Leben der Nation auch die Bauthätigkeit nahm. Denn nicht nur die Zahl der Bauten erfuhr eine derartige Steigerung, dass die vorhandenen Kräfte kaum imstande waren, die ihnen zufallenden Aufträge zu bewältigen, sondern auch die Ansprüche, welche man an die Erscheinung der Bauten stellte, und die Summen, welche man für sie aufwendete, wuchsen in einer Weise, wie man es früher kaum für möglich gehalten hätte. Letztere Errungenschaft ist uns geblieben, wenn auch die Zahl der Bauausführungen an manchen Orten seither wieder etwas zurück gegangen ist. Ich habe im übrigen nicht nöthig, bei einer Schilderung des fieberhaft erregten, architektonischen Schaffens und Treibens, das sich aus diesen Verhältnissen entwickelte und das die Mehrzahl der Anwesenden ja im vollen Bewusstsein mit durchlebt hat, zu verweilen. Was uns hier interessirt, ist lediglich das  s t i l i s t i s c h e  Ergebniss des Zeitabschnittes, das sich äußerlich dahin bezeichnen lässt, dass neben den bisher üblichen, geschichtlichen Stilweisen noch zwei neue, die deutsche Renaissance und das italienische sowie französische Barock - für die Dekoration und das Kunstgewerbe noch das Rococo - aufgenommen worden sind und eifrig gepflegt worden. Dabei sind jedoch im Bestande der 3 vorhin erwähnten, älteren Gruppen, welchen natürlich die gesteigerte Bauthätigkeit gleichmäßig zugute kam, wesentliche Aenderungen und Verschiebungen eingetreten. Den größten Vortheil aus den neuen Verhältnissen haben unter ihnen die Gothiker gezogen. Zwar sind nicht Wenige derselben der alten Fahne untreu geworden und ins Lager der deutschen Renaissance übergegangen, da sich der Privatbau trotz aller Anstrengungen und Erfolge einzelner hervor ragender Meister gegen die Gothik anscheinend andauernd spröde verhält. Aber diese Verluste sind durch den Zutritt neuer Jünger, auf welchen schon die Begründung neuer Pflegestätten mittelalterlicher Kunst in Berlin und München hinwirken musste, ausgeglichen. Und was die Gothik im Privatbau nicht erobern konnte, das hat sie reichlich auf dem Gebiete des Kirchenbaues gewonnen, für welchen der Geschmack der Geistlichen und Gemeinden die Wahl des gothischen Stils heute nahezu ausschließlich fordert; kaum dass vereinzelt auch romanische Kirchen gebaut werden, während Renaissance-Kirchen zu den größten Seltenheiten gehören. Gewaltige, lohnende Aufgaben sind ihren Vertretern auch in den immer zahlreicher werdenden Herstellungs-Bauten unserer großen mittelalterlichen Baudenkmale erwachsen. Die italienische Renaissance hat gegenüber dem Ansturm der neueren, auf eine mehr malerische Wirkung hinzielenden Stilrichtungen ihre frühere Stellung innerhalb der Bauthätigkeit Deutschlands zwar nicht ganz behaupten können, erfreut sich aber noch immer des höchsten Ansehens und zählt ausgezeichnete Vertreter. Im akademischen Unterricht hat sie z. Z. wohl das Uebergewicht. Die schwerste Einbuße hat die alte Berliner Schule erlitten, welche bis nahe an die Grenze der Auflösung gelangt ist. Je drückender in ihr dereinst der Schulzwang sich geltend gemacht hatte, um so heftiger war der Umschlag, der fast etwas von der Gewalt einer Explosion zeigte. Mit einer Hast und Freudigkeit ohnegleichen wandte man zunächst den freieren und kräftigeren Formen italienischer Renaissance sich zu, die man jedoch bald mit der noch größere Freiheit und bewegtere Umrissbilder gestattenden deutschen Renaissance vertauschte. Den Anfang machte, wie überall, der Privatbau u. zw. im vollsten Einverständnisse der Architekten mit den Bauherren, welche nicht weniger als jene nach Erlösung von der edlen Einförmigkeit des Hellenismus lechzten. Besiegelt wurde jedoch der Bruch mit den früheren Idealen erst dann, als auch die Staats-Verwaltung - angespornt vielleicht durch das entsprechende Beispiel der baufreudigen Reichspost - ihre Bauten in freierer Art gestaltete und mit Vorliebe den Formen einer ernsten und maaßvollen deutsches Renaissance huldigte. Seither ist der Verlauf der Dinge ein unaufhaltsamer geworden. Zwar wird nach wie vor eine nicht unerhebliche Anzahl von Bauten im Sinne der früheren Kunstweise ausgeführt, aber es ist dies lediglich auf den Einfluss einzelner Persönlichkeiten zurück zu führen, welche der letzteren treu geblieben sind. Im Volke, wie in den Fachkreisen hat der Hellenismus keinen Boden mehr. Es fehlt ihm in letzteren der genügende Nachwuchs und binnen kurzem dürfte er ausgestorben sein. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der deutschen Architekten steht gegenwärtig ohne Zweifel in jenem Lager, das die Stilweisen der deutschen Renaissance und des Barockstils pflegt, wie ja auch die Bauwerke dieser Richtung die entschiedene Mehrzahl bilden. Und bereits setzt sich dieses Lager nicht mehr ausschließlich aus Ueberläufern von den älteren Stilgruppen zusammen, sondern birgt in sich eine große Menge solcher, vorzugsweise auf Ateliers gebildeter junger Künstler, die auf dem Boden dieser Kunstweisen von vorn herein sich entwickelt haben. Ich bezeichne es als  e i n z i g e s  Lager; denn es war nicht eine veränderte Kunstanschauung, welche - etwa vor 10 Jahren - Veranlassung gegeben hat, neben jener zunächst vorherrschenden Stilweise auch die Kunst des Barock-Zeitalters wieder aufzunehmen; es war vielmehr eine durchaus natürliche Entwickelung des Strebens nach eigenartiger und charakterischer Gestaltung der Architektur sowie eine Folge der eingehenden Studien, welche man neuerdings den künstlerischen Schöpfungen der Vergangenheit widmet. Der echt realistische Zug der jüngsten architektonischen Bewegung zeigte sich ja auch darin, dass man - weit entfernt, in den Fehler der alten Romantik zu verfallen - vor allem eine gründliche Kenntniss der von der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft bisher stark vernachlässigten Stilweise sich anzueignen suchte, der man sein Interesse zugewendet hatte. Zunächst wurde eine förmliche Jagd auf die Denkmäler deutscher Renaissance gemacht, deren man noch eine ungeahnte Fülle entdeckte. Es wurde studirt, gemessen, gezeichnet, photographirt und veröffentlicht, wie seit lange nicht, und zwar nicht mehr in der früher so häufig betriebenen, halb dilettantistischen Art, sondern im Sinne und mit der Gründlichkeit der durch die Naturwissenschaften entwickelten Untersuchungs-Methode. Dabei erwachte eine Liebe zu derartigen Studien, die sowohl den älteren Kunstweisen zugute kam - ich erinnere nur an die Erforschung der antiken Baudenkmäler in Italien und Griechenland, an die neue Aufnahme der italienischen Renaissancewerke, an die systematisch betriebene Aufnahme und Inventarisirung des deutschen Denkmalschutzes - sondern vor allem auch auf die dem Zeitalter der deutschen Renaissance folgenden Abschnitte sich richtete. Man lernte auch die Leistungen des Barockstils zu verstehen; man lernte sie zu würdigen und zu schätzen und es konnte nicht ausbleiben, dass man das Gute, was man darin gefunden hatte, auch zu verwerthen bestrebt war. Das Schaffen dieser neuen Schule unterliegt bekanntlich einer sehr verschiedenen Beurtheilung. Es fehlt nicht an solchen, welche sich davon auf's äußerste abgestoßen fühlen und in der gegenwärtig herrschenden Architektur-Richtung eine völlige Abkehr von jeder Ordnung, eine empörende Verwilderung und Verrohung des künstlerischen Gefühls erblicken. Wer wollte auch verkennen, dass viel gesündigt worden ist und noch täglich gesündigt wird! Der Uebergang von der Schulregel zu künstlerischer Freiheit hat - infolge der traurigen Art, wie unser Kunstunterricht fast überall gepflegt wurde - die deutsche Architektenschaft vielfach unvorbereitet überrascht. Es fehlte an der Fähigkeit, sich in den Geist der neu aufgenommenen Kunstweise hinein zu finden; die Nachahmung - wenn sie auch mit jenen ersten Leistungen deutscher Neugothik nicht zu vergleichen war - blieb häufig zu sehr eine äußerliche. Und zu diesem Missverständnis gesellte sich nur allzu oft eine arge Uebertreibung; an die Stelle der früheren Aermlichkeit trat Ueberladung durch eine wüste Anhäufung von Formen. -

Das Alles kann man willig zugeben. Aber es wäre ein himmelschreiendes Unrecht, wenn man verschweigen wollte, dass sich diese Uebelstände - namentlich in neuerer Zeit - fortdauernd verringern und dass neben vielen misslungenen Werken bereits eine überaus große Zahl von Schöpfungen steht, an denen man sich aufrichtig erfreuen kann. Die Leistungen sind auch nicht überall gleich. An einzelnen Punkten hat des Nebeneinander-Wirken von Architekten verschiedener Schulung und die bereits bestehende Gewöhnung an eine monumentale Bauweise die Bewegung von vorn herein in gesundere Bahnen gelenkt - vor allem in Frankfurt a. M., das in dieser Beziehung zeitweise an der Spitze gestanden hat. -

Dass sich während dieser letzten Jahrzehnte gesteigerter Bauthätigkeit die Leistungen deutscher Baukunst, und zwar diejenigen  a l l e r  Schulen, im Durchschnitt betrachtet, außerordentlich gehoben haben, ist unbestreitbar und nur natürlich. Ebenso natürlich, aber dennoch überraschend sind die Wandlungen, welche sich gleichzeitig in der Stellung dieser Schulen zu einander vollzogen haben. Bis auf einen winzigen Rest zusammen geschmolzen ist die Zahl derjenigen, welche die von ihnen gepflegte künstlerische Richtung als die allein berechtigte - wenn ich so sagen darf, als die allein selig machende - ansehen. Man hat nicht nur gelernt, einander Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern man ist sich auch weit allgemeiner als früher der Thatsache bewusst geworden, dass der Stil, in welchem man baut, keineswegs die Bedeutung eines religiösen Dogmas hat, sondern dass er nichts weiter ist, als ein Ausdrucksmittel für künstlerische Gedanken - darin durchaus verwandt der menschlichen Sprache, in der ja auch sehr verschiedene, gleichberechtigte Zungen herrschen. Man legt nicht mehr den entscheidenden Werth darauf, welches Stils der Künstler sich bedient - jeder wird vor allem eine Muttersprache haben - sondern darauf, wie er diese Sprache zu handhaben weiss und vor allem darauf, ob er überhaupt etwas Bemerkenswerthes zu sagen hat. Mit einem Worte, während man mit Ausnahme weniger Köpfe noch vor einem Viertel-Jahrhundert dem Stil  d i e n t e  und um des Stils willen baute, gilt es heute  d e n  S t i l  z u  b e h e r r s c h e n.  Das ist ein gewaltiger Umschwung und Fortschritt, an welchem, neben dem bildenden und erziehenden Einflusse der gesteigerten schöpferischen Thätigkeit an sich, wohl auch die größere persönlich Annäherung der Vertreter deutscher Baukunst, die Preisbewerbungen, die Architektur-Ausstellungen und die Entwickelung der Fachlitteratur, ihren Antheil haben. Schon weiss die deutsche Fachgenossenschaft im Streben sich eins. Damit ist die erste und wesentlichste Vorbedingung einer noch weiteren Annäherung und späteren Verschmelzung der jetzt noch gesonderten Stilgruppen geschaffen.

(Fortsetzung folgt)


STIL-BETRACHTUNGEN
(Fortsetzung)

So weit in flüchtigen Umrissen der  ä u ß e r e  Verlauf dieser hundertjährigen Stilbewegung und ihr gegenwärtiger Stand. Wie aber steht es mit den  i n n e r e n  Gründen, aus denen diese Wandlungen hervor gegangen sind? Und waltet im Wechsel der letzteren nur Zufall und Willkür oder lässt sich darin ein bestimmtes  G e s e t z  erkennen? -

Es wird uns schwerlich gelingen, auch nur eine Ahnung von der zukünftigen Gestaltung der Dinge zu gewinnen, wenn wir nicht wenigstens die Spuren eines solchen Gesetzes aufzufinden vermögen. Auf den Zusammenhang der Entwickelungen auf stilistischem Gebiet mit den allgemeinen geistigen Strömungen des Zeitalters, die sich für das letzte Jahrhundert in die Schlagwerte  "I d e a l i s m u s"  und  "R e a l i s m u s"  zusammen fassen lassen, habe ich bereits in den voran gegangenen Ausführungen mich bezogen. Und in der Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe liegt auch schon angedeutet, welchem obersten  G e s e t z e  die betreffenden Vergänge sich unterordnen. Es ist das unerbittliche Gesetz des Ueberganges von einem Gegensatze zum andern, welcher sich in der Natur jedoch niemals in jähem Sprunge sondern in sanftem Flusse, allmählich ansteigend und wieder fallend, mit einem Worte als Wellenbewegung vollzieht. Ein anderer Gegensatz, auf welchen bei Erörterungen über die Stilfrage öfters Bezug genommen wird, ist derjenige zwischen Gesetzmäßigkeit und Freiheit, zwischen der Abhängigkeit von der Regel und dem sogen.  "I n d i v i d u a l i s m u s".  Ohne seine Bedeutung im geringsten unterschätzen zu wollen, kann ich sie dennoch als allein maaßgebend nicht anerkennen. Noch weniger genügt der Gegensatz, um die stilistischen Wandlungen verständlich zu machen. Denn er liefert ja nur ein  s u b j e k t i v e s  Moment, während bei diesen Vorgängen unzweifelhaft auch ein  o b j e k t i v e s  Moment infrage kommen muss. Dieses objektive Moment aber kann einzig und allein im Wesen der Stile selbst begründet sein. -

Es muss mir selbstverständlich versagt bleiben, hier in weitgehende Erörterungen über das Wesen der Stile mich einzulassen. Das ließe sich allenfalls in einem Buche erledigen, kann aber nicht als beiläufige Einschaltung in einem Vortrage abgemacht werden, der sich die von mir angegebenen Ziele gesetzt hat. Doch bitte ich um Erlaubniss, einen einzigen Punkt hervor heben zu dürfen, auf den m. E. bisher nicht genügender Werth gelegt worden ist und der mir zur Unterstützung meiner weiteren Darlegungen nicht unwesentlich scheint. Es ist dies die  a l l g m e i n e  E i n t h e i l u n g  u n d  G r u p p i r u n g  d e r  g e s c h i c h t l i c h e n  B a u s t i l e.  So bedingten Werth derartige Eintheilungen auch haben, weil das natürlich Gewordene jeder Einzwängung in ein festes System widerstrebt und weil demnach diese Systeme niemals bis in alle Einzelheiten zutreffen und passen, so sind sie doch zur Erleichterung einer Uebersicht über einen in seiner Massenhaftigkeit und Vielgestaltigkeit verwirrenden Stoff kaum zu entbehren. Bekanntlich bestand vor nicht allzu langer Zeit noch eine Eintheilung der Baustile, die von gewissen formalen bezw. ornamentalen Aeußerlichkeiten abgeleitet wurde. Derartige Unterschiede sind ja zuweilen recht bezeichnend und wir bedienen uns in nachlässiger Redeweise zuweilen noch heute für sie des Wortes "Stil", während wir strenggenommen von "Stilfärbung" reden müssten. Allmählich hat man jedoch erkannt, dass zur grundsätzlichen Unterscheidung der Stile  t e c h n i s c h e  M o m e n t e  berücksichtigt werden müssen, wie es ja technische Momente sind, auf welche die Entstehung der Kunstformen überhaupt zurück zu führen ist. So ist man denn überein gekommen, als wesentlichste Grundlage jedes Stils die Art anzusehen, wie die Decken (bezw. die Ueberdeckungen der Wandöffnungen) hergestellt werden. Man hat demnach die Stile in zwei große Hauptgruppen, in die beiden Gruppen der  B a l k e n s t i l e  und der  B o g e n s t i l e  zusammen gefasst. Wer zuerst der massgebenden Bedeutung dieses Unterschieds sich bewusst geworden ist, weiss ich nicht anzugeben. Mit großer Klarheit ausgesprochen hat ihn Carl  B o e t t i c h e r  in jener berühmten Rede über "das Prinzip der hellenischen und germanischen Bauweise hinsichtlich der Uebertragung in die Bauweise unserer Tage", die er auf dem Schinkelfeste d. J. 1846 gehalten hat. Aber einen so großen Fortschritt diese Eintheilung auch darstellte, so kann sie doch nicht vollständig befriedigen und giebt nicht Antwort auf die Frage, woher die Gegensätze zwischen den einzelnen Baustilen entspringen. Es will z. B. schwer einleuchten, dass der Unterschied zwischen einem griechischen Tempel und einer byzantinischen Kirche - Erzeugnissen desselben Landes und bis zu gewissem Grade desselben Volkes - in letzter Linie daraus soll abgeleitet werden können, dass bei jenem der Steinbalken, bei dieser die Wölbung zur Anwendung gelangt ist. Unwillkürlich kommt man zu der Vermuthung, dass der Gegensatz zwischen Balken und Bogen nur ein solcher zweiter Ordnung sein kann und dass für die Grund-Eintheilung der Stile noch ein anderer Gesichtspunkt infrage kommen muss. Als einen solchen möchte ich die beiden Arten in Vorschlag bringen, wie überhaupt Baukörper gestaltet werden. Aelter als die Decke dürfte die  W a n d  sein, zum mindesten in der Form der Einfriedigung. Letztere haben wohl schon die ersten Kulturmenschen in doppelter Weise hergestellt: einerseits, indem sie aus Steinen bezw. Erde oder Sand einen Wall aufwarfen; andererseits, indem sie zwischen Bäumen (später zwischen eingegrabenen oder eingeschlagenen Pfählen) ein Geflecht von Zweigen einspannten. Aus diesem Ursprunge sind die Mauer und die Riegelwand hervor gegangen. Der grundsätzliche Unterschied beider Konstruktionsarten aber spitzt sich dahin zu, dass der Baukörper einmal aus einer Zusammenfügung zahlreicher, gleichwerthiger Elemente zu einer  M a s s e  gebildet wird, während man im anderen Falle aus verhältnissmäßig wenigen, stützenden bezw. tragenden Gliedern zunächst ein  G e r ü s t  zusammen setzt und sodann die Lücken dieses Gerüstes mit einem anderen Stoffe ausfüllt. Beide Konstruktionsweisen sind ebenso die Grundlagen für die Technik der beiden ältesten und wichtigsten Bauhandwerke, die Mauerei und die Zimmerei, wie sie meines Dafürhaltens die Grundlage für die beiden Hauptgruppen der Baustile bilden, die ich demnach als  M a s s e n - S t i l e  und  G e r ü s t - S t i l e  bezeichnen will. Diese Beziehungen decken sich jedoch nicht mit einander. Wie man einen Holzbau mit Blockwänden und einer, aus dicht neben einander gestreckten Stämmen gebildeten Decke als Massenbau wird ansehen müssen, so hat der Gerüst-Stil sich zu seiner höchsten künstlerischen Blüthe erst entfaltet, als er vom Holzbau in die Steinkonstruktion übertragen wurde. Es dürfte kaum erforderlich sein, näher auszuführen, in welcher Weise diese verschiedene Konstruktionsart auf die Gesammtgestaltung der Bauten und demnach auf ihren Stil bestimmend einwirken musste. Ein Zusammenhalten der Massen und eine Anordnung der Bauten, welche ihre Wirkung in erster Linie eben durch die Macht der ruhigen Masse erzielt, auf der einen Seite, eine weitgehende Gliederung und Auflösung der Masse in ein System von Einzelheiten auf der anderen Seite - Momente, welche für die stilistische Erscheinung eines Bauwerks von höchster Wichtigkeit sind, aber nach der bisherigen Auffassung sich gleichsam wie etwas Nebensächliches nur zufällig ergaben - sie leiten sich aus jener Grundlage ganz von selbst ab. Natürlich stehen sich beide Konstruktionsweisen nicht ausschließend gegenüber. Sie haben einander ausgeholfen und kommen an den meisten Bauwerken vereinigt vor; entscheidend ist allein, welche derselben überwiegt. Mustern wir an der Hand dieser Eintheilung die geschichtlichen Baustile, so ergeben sich mehrfach nicht uninteressante Aufschlüsse. Die älteste Baukunst, diejenige der Aegypter, der Mesopotamier, der Pelasger, tritt durchweg als Massen-Stil auf. In dem Tempelbau der Griechen tritt uns dagegen das erste, in sich vollkommene Beispiel eines künstlerisch ausgereiften Gerüst-Stils entgegen, dessen im Alterthum anerkannter, später so oft angezweifelter Zusammenhang mit dem Holzbau durch Dörpfelds glänzende Entdeckungen nunmehr in das hellste Licht gerückt ist. -

Die Baukunst der Römer, deren eigene Leistungen man nicht verwechseln darf mit den während der Zeit römischer Weltherrschaft auch auf römischem Boden entstandenen Bauten griechischen Stils, setzt dagegen die Ueberlieferungen des Massen-Stils fort und entwickelt sie - insbesondere in ihren großartigen Nutzbauten - zu einer bis dahin nicht erreichten künstlerischen Höhe. Schon Semper hat nachdrücklich das selbständige konstruktive Moment in den Römerbauten betont, gegenüber welchem deren Ausstattung mit Einzelheiten griechischer Bauweise in der That nur dekorative Bedeutung hat. Aber ich meine, dass erst durch die Hervorhebung des Gegensatzes zwischen Massen- und Gerüst-Stil die Bedeutung der römischen Baukunst in das rechte Licht gerückt und diese zu dem ihr gebührenden Range erhoben wird. Denn es hat ja nicht an solchen gefehlt, welche dieser Kunst überhaupt jede Selbständigkeit absprechen und sie lediglich als eine Verballhornisirung des missverstandenen hellenischen Originals angesehen wissen wollen. Und doch hat sie mit ihres Ausläufern die Welt durch mindestens 1200 Jahre beherrscht! Diese Ausläufer sind der byzantinische und der romanische Stil. Jener eine Umbildung des römischen Massen-Stils durch eine Verbindung desselben mit den entsprechenden Ueberlieferungen des asiatischen Ostens; letzter der Ausfluss des Empfindens, welchen die jugendfrischen germanischen Völker in die ihnen von den Römern überkommene monumentale Kunst hinein trugen. Auch dem romanischen Stile widerfährt erst Gerechtigkeit, wenn wir ihn in seiner selbständigen Eigenschaft als Massen-Stil betrachten und nicht als eine unentwickelte Vorstufe des gothischen Stils, der von ihm allerdings einige Theile des Systems entlehnt hat, aber auf einer völlig abweichenden künstlerischen Anschauung fußt. Denn in ihm kam - durch eine Reaktion der von Haus aus an den Holzbau gewöhnten nordischen Völker - nach einem tausendjährigen Zwischenraume wiederum ein Gerüst-Stil zur Geltung, der dem voran gegangenen Stil der Hellenen an Folgerichtigkeit und innerer Vollendung durchaus nichts nachgab. Gestützt auf jene Unterscheidung verstehen wir, beiläufig bemerkt, auch ohne weiteres die selbständige Stellung welche innerhalb der Gothik die Kunst Italiens und diejenige der nordischen Backsteinländer einnehmen. In beiden Fällen hat der Gerüst-Stil dem Massen-Stil bedeutende Zugeständnisse machen müssen - dort, weil die künstlerische Ueberlieferung des Volkes, hier, weil die Natur des Baumaterials es erforderte. Die Kunst der Renaissance, welche man ja auch nicht als einen originalen Stil betrachten kann, trägt in dieser Beziehung kein einheitliches Gepräge und nähert sich bald mehr der Gestaltungsweise eines Massen-Stils, bald mehr derjenigen eines Gerüst-Stils, je nachdem sie römischen oder römisch-griechischen Vorbildern folgt. Es würde zu weit führen hier auf Einzelheiten einzugehen: im allgemeinen wird man jedoch in der Annahme schwerlich fehlgreifen, dass die Beispiele der ersten Art weitaus überwiegen, namentlich in der Frühzeit und im Ausgange der Renaissance. Dass sich dagegen die vor 100 Jahren begonnenen Stil-Experimente vorzugsweise den beiden Gerüst-Stilen der hellenischen und der gothischen Kunst zuwendeten, findet seinen Grund einfach darin, dass es eine Eigenthümlichkeit dieser Stile im Gegensatz zu den Massen-Stilen ist, einen  K a n o n  zu besitzen. Ergiebt sich derselbe doch dadurch, dass es bis zu einem gewissen Grade Bedingung ist, das architektonische Gerüst in die Erscheinung treten zu lassen, während der Massen-Stil dem individuellen Empfinden des Künstlers erheblich größere Freiheit gestattet. Für schwache, eines Anhalts bedürftige Kräfte wird es daher stets bequemer sein, eines Gerüst-Stils sich zu bedienen und es war gleichsam eine Natur-Nothwendigkeit, dass ein Zeitalter, welches vor allem nach festen Grundsätzen des künstlerischen Schaffen verlangte, begierig nach ihnen griff. Weitere Anwendungen des besprochenen Gesichtspunkts behalte ich mir, wie schon erwähnt, für die Untersuchung der zweiten von mir aufgeworfenen Frage vor, zu der ich nunmehr übergehen will. Allerdings bin ich gefasst darauf, bei einer solchen Erörterung des Weges, welchen die Stilentwickelung, voraussichtlich in nächster Zukunft nehmen würde, starkem Kopfschütteln zu begegnen. Nicht weil es misslich erscheint, auf diesem Gebiete als Prophet aufzutreten - ich werde es wohlweislich vermeiden, mich auf Prophezeihungen einzulassen - sondern weil man die Frage auf vielen Seiten bereits für gelöst hält. Man kann es ja seit langer Zeit überall hören und lesen, dass für den Stil der Zukunft  d i e  A n w e n d u n g  d e s  E i s e n s  a l s  B a u m a t e r i a l  das entscheidende Moment abgeben werde. Und so Mancher, dem es im vorigen Jahre zu Paris blau vor den Augen geworden ist, hat wohl gar die Ueberzeugung gewonnen, dass dieser Stil bereits gefunden sei. Ich muss mich dem gegenüber leider als hartnäckiger Ketzer bekennen. Denn mir erscheint ein derartiger Glaube nicht nur als eine maaßlose Ueberschätzung, sondern vor allem als eine vollständige Verkennung der Bedeutung, welche dem Eisen in der Baukunst zukommt. Von theoretischer Seite hat die Verkündigung des Eisens als des Baustoffs und des  "E i s e n s t i l s"  als des Baustils der Zukunft m. W. ihren Ursprung in Berlin und ist zurück zu führen auf jene vorhin schon von mir erwähnte Schinkelfest-Rede  C a r l  B o e t t i c h e r s  aus dem Jahre 1846. Indem Boetticher dem hellenischen, auf Ausnutzung der relativen Festigkeit des Steins beruhenden Deckensystem dasjenige des Spitzbogenstils gegenüber stellte, bei welchem der Stein auf seine rückwirkende Festigkeit in Anspruch genommen wird, deutete er an, dass mit diesen beiden Systemen die Möglichkeit einer Anwendung des Steins bereits völlig erschöpft sei. Ein neues Deckensystem, das sogleich ein neues Reich der Kunstformen nach sich ziehen würde, könne nur entstehen, wenn ein neues Material in die Baukunst eingeführt werde, mittels dessen es möglich sei, die Funktion der statischen Kräfte der bisher üblichen Deckensysteme durch ein anderes Kraftprinzip zu ersetzen. Ein solches Material aber sei das Eisen, welches in den anstelle der Widerlager und Streben tretenden Ankerbändern die bisher noch ungenutzte Kraft der absoluten Festigkeit in die Baukunst einführe. Wenn man das System der Decke des Bogenbaues in diesem Sinne umgestalte, sich aber des Formenprinzips der hellenischen Kunst bediene, um in den Gliedern desselben die statischen Kräfte, ihren Zusammenhang und raumbildenden Gedanken kunstvoll zu versinnlichen, so sei die rechte Synthese der beiden voran gegangenen Bauweisen gefunden. Diese Andeutungen des Meisters sind von seiner Jüngerschaft mit einer Ehrfurcht hingenommen worden, die man versucht sein könnte, als pythagoräisch zu bezeichnen. Denn noch heute gelten sie bei Manchen als der tiefsinnigste Gedanke der bisher auf dem Gebiete der Stilphilosophie zutage getreten sei. Geistreich klingt der Gedanke allerdings, aber der Tiefe entbehrt er leider ganz und gar. Zunächst darf man nicht übersehen, dass die ganze Darlegung stark nach einer Gelegenheits-Aeußerung schmeckt. Erinnern wir uns, dass die Rede im Jahre 1846 gehalten worden ist, während das Neue Museum Stülers in der Ausführung begriffen war, und vergleichen wir die näheren Angaben, welche der Redner über die Möglichkeit einer Verwirklichung des von ihm hingeworfenen Gedankens machte, mit der bekannten Deckenkonstruktion über dem Griechischen Saale jenes Gebäudes. Es ist alsdann unmöglich, die Vermuthung abzuweisen, dass  B o e t t i c h e r  mit seinem Hinweise im wesentlichen dem damals führenden Künstler der Berliner Schule eine Huldigung dafür darbringen wollte, weil dieser es versucht hatte, die zum Ersatz der Gewölbe-Widerleger verwendeten Eisen-Anker mit einer in Zink getriebenen Kunstform zu ummanteln und dadurch gleichsam als ein ästhetisch "salonfähig" gewordenes Glied in die Baukunst einzuführen. Ich äußere diese Vermuthung nicht um Boetticher einen Vorwurf zu machen, sondern um ihn zu entschuldigen. Denn seine Darlegung ist im übrigen so schwach und baut auf so argen Trugschlüssen sich auf, dass sie der sonstigen Bedeutung des Mannes in keiner Weise entspricht. Wenn von Stilbildung im vorliegenden Sinne die Rede ist, so kann es einzig nur um den Stil des Steinbaues sich handeln. Nicht weil in der hellenischen Bauweise die relative und in der germanischen die rückwirkende Festigkeit eines Baustoffes an sich ausgenutzt sind, haben diese Bauweisen zur Entstehung von Stilen geführt, sondern weil jene Kräfte als Eigenschaften eines ganz bestimmten Materials, eben des  S t e i n s  in Anspruch genommen werden. Die Entstehung eines neuen Stils aufgrund einer entsprechenden Verwerthung der absoluten Festigkeit des Stoffs könnte also doch nur dann infrage kommen, wenn wiederum die betreffende Eigenschaft des nämlichen Stoffs, also des Steins beansprucht würde. Aber damit noch nicht genug. Sehen wir ab von dieser unzulässigen Annahme, dass die Mitverwendung eines neuen Baustoffs zur Bildung eines neuen Steinstils führen könne! Sehen wir ferner ab von der Thatsache, dass der Gebrauch eiserner Zuganker zum Zusammenhalten widerlagsloser Wölbungen nichts weniger als neu ist. (Man denke nur an die unzähligen, aus Bogenstellungen auf Säulen gebildeten Vorhallen!) Wir können jedoch unmöglich außeracht lassen, dass ja die Baukunst bereits seit den urältesten Zeiten im  H o l z e  einen Baustoff besitzt, dessen sämmtliche Festigkeits-Eigenschaften sowohl für sich, wie in Verbindung mit dem Steinbau ausgenutzt worden sind, ohne dass daraus jemals ein neuer Stil entstanden wäre. Boetticher hat diesen Einwand allerdings auch gefühlt, ihn aber einfach mit der Bemerkung abgethan, dass die hölzerne Decke, weil leicht zerstörbar, hier nicht zum Vergleich heran gezogen worden könne. Als ob die leichte oder weniger leichte Zerstörbarkeit eines Stoffes, der überhaupt künstlerischer Gestaltung fähig ist, über seinen Einfluss auf die Stilbildung entscheiden könnte! - Es hat sich wahrlich bitter gerächt, dass der Redner, dessen ganze Lehre doch sonst darauf fußte, die Form als etwas Absolutes, unabhängig vom Material Entstandenes zu betrachten, hier einmal ausnahmsweise sich darauf eingelassen hat, die technischen Eigenschaften bestimmter Materialien mit in Rechnung zu ziehen. -

Ich würde im übrigen bei diesen, außerhalb der älteren Berliner Fachkreise, halb vergessenen Darlegungen Boettichers wohl kaum so lange verweilt haben, wenn nicht gerade diese letzte Beziehung auf das Holz mir Gelegenheit gäbe, die stilistische Bedeutung des Eisens in der Baukunst auf kürzestem Wege anschaulich zu machen. Trotzdem schon  S e m p e r  in seinem Stil* darüber in kurzer, aber äußerst klarer und bündiger Weise sich ausgesprochen hat, wird nämlich zumeist übersehen, dass das Eisen - es kann hier selbstverständlich nur vom Schmiede- bezw. Walzeisen die Rede sein - keineswegs als ein völlig neues Konstruktions-Material in die Baukunst eingeführt worden ist, sondern im wesentlichen als ein, größere Dauer versprechender  E r s a t z  f ü r  d i e  H o l z k o n s t r u k t i o n.

*) Erste Auflage von 1863. Theil II, § 139.


In der That erfährt das Eisen inbetreff seiner Verwerthung für die Stab-Konstruktion fast nur eine Anwendung, welche man schon früher dem Holze hat angedeihen lassen: der Eisenbau wird immer als ein  Z i m m e r w e r k  auftreten! Abgesehen von einigen, in den besonderen Eigenschaften des Materials begründeten Unterschieden unterliegt demnach der Eisenbau denselben Stilgesetzen wie der Holzbau. Nur erblickt Semper in jenem in noch höherem Grade "mageren Boden für die Kunst", weil das technische Ideal desselben - die Einschränkung der Konstruktions-Glieder auf die geringsten zulässigen Abmessungen - auf eine "unsichtbare Architektur" hinaus laufe. In diesen wenigen Sätzen ist eigentlich Alles erschöpft, was sich über die Aussichten des Eisens als des Materials für den "Baustil der Zukunft" sagen lässt. Selbstverständlich wird sich ein besonderer "Eisenstil" entwickeln, wenn er nicht schon sich entwickelt hat, wie auch seit den Urzeiten ein besonderer "Holzstil" vorhanden ist. Aber wie letzterer - unbeschadet der Thatsache, dass einzelne Motive und Formen von ihm in den Stil der Steinbauten und umgekehrt übernommen werden sind und dass demnach meist ein gewisser Zusammenhang zwischen den gleichzeitigen Stein- und Holzbauten eines Landes nicht zu verkennen ist - doch stets seine volle Selbständigkeit behauptet hat, so wird auch der Eisenstil als eine selbständige Bauweise neben dem Steinstil einhergehen. Dass sich mittels des Eisenbaues Räume bilden lassen, welche man bisher nicht gekannt hat und dass seinen Bildungen - wie im vorigen Jahre zu Paris - durch geschickte Dekoration ein durchaus eigenartiges Ansehen gegeben werden kann, unterliegt keinem Zweifel. Aber man darf sich dadurch nicht "imponiren" lassen; denn auch vom Holzbau gilt ganz das Nämliche, wie zahlreiche, für festliche Veranlassungen errichtete große Augenblicks-Bauten bewiesen haben und noch täglich beweisen. "Stil" im Sinne des Steinbaues, geschweige denn ein neuer Stil ist das noch lange nicht. Ueberhaupt wird man von einem "Eisenstil" erst dann ernstlich sprechen können, wenn der Eisenbau für Wohnhäuser größere Anwendung gefunden hat. In diesen Beziehungen kann es keinen wesentlichen Unterschied ausmachen, ob das Eisen als Haupt-Konstruktions-Material oder in Verbindung mit dem Steinbau angewendet wird; denn entweder wird der Stein - wie die Füllungen im Fachwerk - dem Eisen und seinen stilistischen Bedingungen sich unterordnen oder dem Eisen seine Stilgesetze und zum Theil seine Formen aufzwingen. Auch hierfür gewährt die Verbindung von Holz- und Steinkonstruktion genügende Auskunft. Unrecht wäre es übrigens, das Thema des Eisenstils zu verlassen, ohne der unermüdlichen, bereits von schönen Erfolgen gekrönten Studien zu gedenken, welche Hr. Architekt  G e o r g  H e u s e r  in Köln demselben seit einer Reihe von Jahren gewidmet hat. Sie sind m. E. das Werthvollste, was bisher auf theoretischem Gebiete über die stilistischen Bedingungen des Eisenbaues überhaupt beigebracht worden ist. Auch der von ihm geführte Nachweis eines gewissen Einflusses den die Anwendung des Eisenbaues bereits auf einzelne Formen des Steinbaues geäußert hat, ist von hohem Interesse. -

(Schluss folgt)


STIL-BETRACHTUNGEN
(Schluss)

Entsagen wir demnach dem frommen Glauben, dass man im "Eisenstil" bezw. dem "Stein- und Eisenstil" den allgemein giltigen Baustil der Zukunft gewinnen werde, und halten wir Umschau, ob unter den gegenwärtig im Gebrauch befindlichen,  g e s c h i c h t l i c h e n  B a u s t i l e n  wohl einer Aussicht hat, die anderen zurück zu drängen. Die Hoffnung auf eine solche Wendung der Dinge ist von einzelnen Anhängern derselben noch keineswegs aufgegeben. Sowohl unter den Gothikern "christlich-germanischer" Färbung wie namentlich unter den Berliner "Tektonen" erwarten Manche, dass der augenblicklichen Stil-Fastnacht - man hat sogar von einem "Formen-Cancan" gesprochen - demnächst ein Aschermittwoch folgen werde, an welchem die schrecklich ernüchterten, bußfertigen Architekten in hellen Haufen vor das betreffende Gemeindehaus ziehen und um Einlass bitten werden. Ich habe es selbst erlebt, dass derartige wunderliche Heilige angesichts der allzu gewaltsamen Leistung eines formenfreudigen jüngeren Fachgenossen freudestrahlend die Hände sich rieben und erklärten: "Es muss noch viel toller kommen!" Der Gedankengang ist dabei etwa folgender: "Vorläufig immer noch mehr deutsche Renaissance und Barock bis zur Grenze des Wahnwitzes. Dazwischen vielleicht noch etwas arabisch, etwas indisch, etwas japanisch und chinesisch, etwas aztekisch und etwas russisch. Zum Schluss "Empire",  d a n n  a b e r - w i r !" Ich fürchte sehr, dass in dieser, ziemlich jesuitisch angehauchten Berechnung ein Loch sich findet. Wenn es überhaupt sehr unwahrscheinlich ist, dass eine schon dagewesene Bauweise jemals wieder zu einer so ausschließlichen Alleinherrschaft gelangen sollte, wie sie der Berliner Schinkel'sche und Nachschinkel'sche  H e l l e n i s m u s  auf seinem Gebiet durch 50 Jahre behauptet hat, so ist eine solche Aussicht wohl für keine Bauweise geringer als gerade für diese. Dazu müssten die Bedingungen wiederkehren, welche einstmals ihr Aufkommen ermöglichten: der idealistische Zug des ganzen Zeitalters zum Geistesleben der Antike, ein vorheriges Absterben jeder anderen Kunstübung und endlich eine vollständige Unkenntniss aller übrigen Stile. Letztere dürfte wohl kaum zu erwarten sein. Wenn aber wirklich einmal ein starkes Bedürfniss nach einer Rückkehr zu einfacheren, klassischen Formen sich geltend machen sollte, so wird die Wahl schwerlich wieder auf die für unser Land und Volk viel zu zarte und zierliche, griechische Kunst fallen, sondern eher auf die italienische Renaissance, unter allen Umständen aber auf eine Bauweise, die im Sinne der  M a s s e n - S t i l e  sich handhaben lässt. -

Für den architektonischen  U n t e r r i c h t  wird die griechische Kunst dagegen ihre grundlegende Bedeutung für immer behaupten. Hier wird ihr Niemand das Feld streitig machen. -

Der  k l a s s i s c h e n  i t a l i e n i s c h e n  R e n a i s s a n c e  habe ich so eben schon erwähnt. Dass sie so leicht wieder verdrängt werden könnte, nachdem sich die Augen wieder für ihre Schönheit geöffnet haben und nachdem man auch ihre Schmiegsamkeit erkannt hat, ist nicht wohl anzunehmen. Für den Ausdruck edler festlicher Pracht wird sie kaum jemals zu übertreffen sein. Ihrer ausschließlichen Anwendung für ein nordisches Land steht jedoch jenes wiederholt erwähnte Moment entgegen, welches ihr bereits in letzter Zeit einen Theil ihrer Anhänger entfremdet hat: sie lässt malerische Gestaltungen nur in einem bestimmten Sinne und bis zu einem gewissen Grade zu. -

Dass die Stilweise der deutschen, allgemeiner gefasst, der  n o r d i s c h e n  R e n a i s s a n c e  diesem, durch die voraus gegangene lange Unterdrückung noch mehr gesteigerten Bedürfniss nach malerischer Gestaltung in denkbar weitestem Grade entgegen kam, hat zu ihrer schnellen Aufnahme und Ausbreitung wohl erheblich mehr beigetragen, als der so häufig in falscher Weise betonte "nationale" Gesichtspunkt. Ueber ihre Bedeutung wie über die Grenzen ihrer Anwendbarkeit hat mein Freund  H u b e r t  S t i e r  vor 6 Jahren auf unserer Stuttgarter Versammlung in eingehenden Ausführungen sich verbreitet, denen ich im allgemeinen nur zustimmen kann. Ich möchte jedoch hinzu fügen, dass der unbefriedigende Eindruck so mancher neueren Werke dieses Stils nicht in letzter Linie darauf zurück zu führen ist, dass man den Grundzug desselben verkannt hat. Die wirkliche deutsche Renaissance, insbesondere die ältere trägt überwiegend das Gepräge eines Massen-Stils; ihren eigenartigsten Reiz entfaltet sie in der Gegenüberstellung der in zierlichem Reichthum ausgestalteten Portale, Erker, Dachgiebel usw. mit glatten und ungegliederten, höchstens durch Malerei oder Sgraffito-Schmuck belebten Wandflächen. Statt dies zu beachten, hat man die Fassaden unserer Neubauten nicht selten noch mit der vollen Musik eines Gerüststils auch in solchen Fällen überladen, wo schon die enge Axentheilung äußerste Zurückhaltung zur Pflicht gemacht hätte. Das Verständniss des Stils ist jedoch in den letzten Jahren entschieden gewachsen. Derartige Uebertreibungen sind weniger häufig geworden; man baut schlichter und gefällt sich auch nicht mehr darin, vorzugsweise die wüstesten und knolligsten Formen aus der Barockzeit des Stils nachzuahmen. Kurzum, jene Weiterbildung desselben in edlerem Sinne, von der  S t i e r  s. Z. sprach und die damals in ihren Anfängen sich bemerklich machte, ist weiter voran geschritten. Es gereicht mir zur besonderen Freude, in dieser Beziehung gerade die Bauausführungen der preußischen Staats-Bauverwaltung, die früher so oft zu starken Einwendungen heraus forderten, als Beispiele gesunder Behandlung des deutschen Renaissance-Stils hervor heben zu können. Ob Bauten wie die Gerichtsgebäude zu Frankfurt a. M. und Köln, wie die Regierungs-Gebäude zu Breslau und Hildesheim - ich darf ihnen das im Range noch höher stehende Hamburger Rathhaus anreihen - übrigens nicht doch darthun, dass die Grenzen der Anwendbarkeit des Stils weitere sind, als sie  S t i e r  damals ziehen wollte, lasse ich dahin gestellt. Ich sehe auch durchaus keinen Grund dafür, warum er nicht ebenso für Kirchen mittleren Maaßstabes sollte Verwendung finden können und halte den Beweis dessen schon von alters her durch die jüngst in trefflicher Weise hergestellte Wolffenbütteler Marienkirche erbracht. -

Ein  A u f g e b e n  d e s  d e u t s c h e n  R e n a i s s a n c e - S t i l s,  von dem - vielleicht mit bewusster Absicht - gefabelt wird, ist bis jetzt kaum zu verspüren. Er überwiegt bei den Neubauten nicht mehr so, wie während des Jahrzehnts von 1875-85, aber er steht noch, bezw. erst jetzt, in voller und frischer Blüthe und wird sich in derselben gewiss noch lange behaupten. Einen Anspruch auf Alleinherrschaft haben ihm wohl nur einige nationale Schwärmer vorübergehend zuerkannt. In dieser Beziehung könnte der z. Z. neben ihm herrschende  B a r o c k s t i l  wegen seiner größeren Gestaltungs-Fähigkeit - ich möchte sagen, wegen seines größeren Melodien-Reichthums - wohl noch ein besseres Recht, freilich gleichfalls kein durchschlagendes Recht geltend machen. Er steht uns um so viel näher, als die Zeit seiner Entstehung der unsrigen und die Aufgaben, denen er einst zu dienen hatte, den heute zu lösenden. Das und nicht blos Neuerungssucht und Modelaune ist es, was seine Wiederaufnahme herbei geführt und auch ihm bereits eine weitgehende Ausbreitung verschafft hat. Jedenfalls ist es eine Freude, an diesen neueren Barockbauten zu sehen, welche Fortschritte das künstlerische Vermögen unserer Zeit innerhalb der letzten Jahre emsigen Schaffens gemacht hat. Es fehlt auch bei ihnen nicht an Missverständnissen und Uebertreibungen, aber diese sind verhältnissmäßig klein gegen das, was vorher in der deutschen Renaissance gesündigt worden ist. Die deutsche Kunst ist ersichtlich reifer geworden. Ganz entschieden aber offenbart sich bei diesen Barockbauten eine Hinneigung unserer Zeit zum Massen-Stile, die einerseits als Gegensatz zu den seit 100 Jahren herrschenden Gerüst-Stilen nur natürlich ist, andererseits aber gleichfalls als ein Beweis für die erlangte, größere künstlerische Sicherheit angesprochen werden darf. Auf den vielberufenen "Empire"-Stil, den man uns nun schon seit einer Reibe von Jahren als angeblich nächste Mode an die Wand malt, ohne dass er bisher wirklich kommen will, brauche ich mich wohl nicht besonders einzulassen, ebenso wenig auf jene exotischen Stilweisen, mit denen man uns - wohl mehr zum Scherz - gedroht hat und die stets nur eine vereinzelte dekorative Anwendung finden werden. Dagegen haben wir noch den beiden  d e u t s c h - m i t t e l a l t e r l i c h e n  S t i l e n  etwas näher uns zuzuwenden. Die Vollberechtigung der  G o t h i k,  auch in der Gegenwart ein kräftiges Leben zu entfalten, ist durch so viele Werke erwiesen und so allgemein anerkannt, dass es darüber keines Wortes mehr bedarf. Zu allgemeiner Geltung gelangen könnte sie dagegen freilich nur unter Voraussetzungen, welche gleichfalls als unmöglich anzusehen sind - unter der Voraussetzung nämlich, dass alle geistigen Bande, welche uns mit dem Alterthum und der Renaissance-Zeit verbinden, gelöst und zerrissen würden. Die Meister dieses Stils mögen es mir im übrigen verzeihen, wenn ich die Ansicht ausspreche, dass derselbe den Höhepunkt seiner in unserem Zeitalter erlangten, neuen Blüthe bereits überschritten hat und allmählich wieder an Boden verlieren dürfte - vielleicht sogar so viel, dass er später seine Hauptbedeutung, wie der griechische Stil, nur im Kunst-Unterricht und als befruchtendes Element für die Entstehung einer neuen Kunstweise finden wird. Ein Anzeichen dafür ist die von mir bereits im Eingange hervor gehobene Thatsache, dass er trotz der günstigsten äußeren Umstände die wider ihn herrschende Sprödigkeit des Privatbaues nicht zu überwinden vermocht hat. Er wird aber auch seine Stellung im Kirchenbau nicht ganz behaupten können und zum mindesten einen Theil der ihm jetzt zufallenden Aufgaben dieses Gebiets an die Renaissance und den  r o m a n i s c h e n  Stil abzugeben haben. Wenn irgend eine der gegenwärtig noch nicht gepflegten, geschichtlichen Stilweisen demnächst Aussicht hat, einen neuen Aufschwung zu erleben - selbstverständlich gleichfalls nicht als ausschließliche und endgiltige Bauweise - so ist es der  r o m a n i s c h e  S t i l.  Einmal drängt der Zug unserer, durch das Schematische der Gerüst-Stile übersättigten Zeit, wie ich bereits wiederholt betont habe, zu der ruhigen Monumentalität der Massen-Stile. Dann aber ist auch im romanischen Stil jenes Moment enthalten, das uns die deutsche Renaissance so interessant macht: die Verschmelzung des eigenartigen, germanischen Empfindens mit den Ueberlieferungen der antiken Welt. Ein Moment, welches um so bedeutungsvoller ist, als Alles darauf hinweist, dass auch die Entstehung einer neuen Stilweise im wesentlichen wiederum von gleichen Ausgangspunkten aus sich vollziehen wird. Endlich hat der romanische Stil, auf dessen Beziehungen zu der ehemaligen Glanzzeit unseres Volkes ich nur beiläufig hinweise, sich durchaus nicht ausgelebt, sondern ist einfach vom gothischen Stile verdrängt worden, als er - im sogen. Uebergangsstil - noch mitten in seiner Entwickelung sich befand. Schon ist auch bei uns die Zahl der Architekten nicht gering, welche ihm ihr Interesse zugewendet haben. Ich erinnere - von gewissen Kirchenbauten der älteren Berliner Schule abgesehen - an die Synagogen-Bauten von  O p p l e r  und Albert  S c h m i d t,  an die letzten Kirchen-Entwürfe  H a r t e l s,  an das von  M a r c h  erbaute Spiel-und Festhaus in Worms u. a. Die Zahl würde noch erheblich größer sein, wenn die besten geschichtlichen Denkmale des Stils in ihren Einzelheiten so gut bekannt wären, wie diejenigen der übrigen Stilweisen und wenn nicht so manche traurigen Leistungen der Gärtner'schen Schule und des kgl. preußischen "Rundbogen-Stils" sowie die irrige Meinung, dass der romanische Stil nur als eine unreife Vorstufe der Gothik anzusehen sei, auf vielen Seiten ein Vorurtheil gegen ihn groß gezogen hätten. Ich bekenne mich persönlich gern als einen warmen Verehrer romanischer Kunst und wünsche ihr, in meiner Eigenschaft als Norddeutscher um so mehr ein baldiges Wieder-Aufleben, als ich der Meinung bin, dass sie auch der künstlerischen Entwickelung des Backsteinbaues ein ergiebigeres Feld darbieten würde als die Gothik. Die neuerdings hervor tretende Neigung, unter Ausnutzung der heutigen Ziegeltechnik in immer weiterem Grade mit den Formen des gothischen Werksteinbaues wetteifern zu wollen, führt dagegen nothwendig auf Abwege. -

Dabei will ich die vielleicht nicht allen Anwesenden bekannte Thatsache hervor heben, dass der romanische Stil, insbesondere in seiner letzten Form als Uebergangsstil, bereits die Baukunst eines großen Landes beherrscht, diejenige der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ich kenne die dortigen Bauten dieses Stils nur aus Veröffentlichungen von Entwürfen und weiss nicht, ob die Ausführungen stets auf der Höhe der Zeichnungen stehen. In letzteren aber ist - neben mancher plumpen und misslungenen Leistung - nicht selten eine Fülle so geistvoller und eigenartiger Gedanken enthalten, dass man zur Bewunderung gereizt wird und von der Gestaltungs-Fähigkeit des romanischen Stils auch für neuzeitliche Aufgaben völlig ungeahnte Vorstellungen empfängt. -

Die Reihe der überhaupt in Frage zu ziehenden Stile wäre damit durchmustert; denn auch den altchristlichen und den byzantinischen Stil glaube ich mir und meinen Zuhörern schenken zu dürfen. -

Wenn ich vielleicht hoffen darf, Ihnen bei dieser Musterung den einen oder anderen neuen Gesichtspunkt vorgeführt zu haben, so ist das Gesammt-Ergebniss, zu dem ich gelangt bin, allerdings nichts weniger als neu. Es läuft ja auf nichts anderes als die Ueberzeugung hinaus, dass wir zwar Vermuthungen darüber äußern können, welche der geschichtlichen Stile und Stilfärbungen in nächster Zeit mehr oder weniger bevorzugt werden dürften, dass wir uns aber bescheiden müssen, vorläufig allen diesen Stilen ihr wohl erworbenes Bürgerrecht zu lassen und abzuwarten, in wie weit beim friedlichen Wettkampfe derselben eine weitere Annäherung unter ihnen, vielleicht ihre Verschmelzung zu einem neuen Stil sich vollzieht. Dass dieses letzte Ereigniss früher oder später einmal eintreten wird, ist eine logische Nothwendigkeit, die angesichts der Kunstgeschichte Niemand leugnen kann. Untersuchungen über das mögliche "Wie" eines solchen Vorgangs anzustellen, ist jedoch vollkommen überflüssig; denn in dem Augenblicke, wo derartige Untersuchungen auch nur den geringsten thatsächlichen Werth haben könnten, müsste der neue Stil ja schon gefunden sein. Aber wenn wir den still wirkenden, unsichtbaren Naturkräften, die zu einer Stilbildung führen, auch machtlos gegenüber stehen, so brauchen wir deshalb die Hände nicht verzagt in den Schooß zu legen. Wir sind vielmehr verpflichtet, uns auf dem bereits gewonnenen Boden nicht nur zu behaupten, sondern auch zu versuchen, weiter vorzudringen. Geben wir zunächst jedem ehrlichen Streben freien Raum. Werfen wir auch den letzten Rest des Vorurtheils von uns ab, als sei irgend ein auf natürlichem Wege entstandener Stil besser und berechtigter als die anderen. Es hat jeder derselben seine Licht- und seine Schattenseiten. Verzichten wir namentlich darauf, gewissen Stilen ein Vorrecht auf gewisse Gebäude-Gattungen zuzuerkennen. Gönnen wir dem Gothiker, dass er ein Theater baue, falls er nämlich einen solchen Auftrag erhalten sollte, aber schließen wir - soweit unser Einfluss reicht - auch die Renaissance vom Kirchenbau nicht aus. So manche Verirrung, welche die Vertreter der letzteren sich haben zuschulden kommen lassen, würde vermieden worden sein, wenn sie ihre Kunst an der idealen, von selbst zu monumentaler Einfachheit zwingenden Aufgabe des Kirchenbaues hätten schulen können, anstatt unablässig den Wünschen reklamesüchtiger Bauherren nachgeben zu müssen. Vor allem aber - streben wir im künstlerischen Schaffen nach größerem Ernst und größerer Vertiefung. Es giebt für die zukünftige Entwickelung unserer Baukunst nichts Wichtigeres, als dass das dilettantistische Spielen mit Formen möglichst eingeschränkt werde und dass der Architekt sich bemühe, jede, auch die kleinste Aufgabe in gewissem Sinne  m o n u m e n t a l  zu lösen. Denn was seit 100 Jahren als Krebsschaden an der deutschen Baukunst genagt und ihr Fortschreiten so verzögert hat, ist ja imgrunde nicht die Unsicherheit und Zerfahrenheit bezüglich des stilistischen Glaubensbekenntnisses: diese ist vielmehr selbst nur eine Folge davon, dass die Kunst zumeist nur in  d i l e t t a n t i s t i s c h e m  Sinne betrieben worden ist. Gleichgiltig gegen jeden Zusammenhang der Form mit Konstruktion und Material, war man nur zu lange lediglich darauf bedacht, die Bildungen dieses oder jenes geschichtlichen Stils äußerlich in ihrer allgemeinen Erscheinung nachzuahmen. Es hat nicht nur eine Theater-Gothik gegeben, sondern auch einen Theater-Hellenismus, eine Theater-Romanik und eine Theater-Renaissance! Hierin Wandel geschaffen zu haben, ist - wie ich wiederhole - vor allem das Verdienst unserer Neugothiker. Sie sind nicht die ersten und nicht die einzigen gewesen, welche versucht haben, einen Bau wiederum in gesunder, monumentaler Konstruktion durchzuführen, aber sie waren die ersten, welche dies als unabänderliche Nothwendigkeit erkannt und gleichsam als Glaubenssatz angenommen haben. Dass der Zusammenhang zwischen Form und Konstruktion bei der Gothik ein engerer ist als in jedem anderen Stil, hat ihnen die Erkenntniss dieser Nothwendigkeit allerdings erleichtert. Andererseits sind sie dadurch zuweilen zu gewissen Uebertreibungen und zu der irrigen Auffassung verführt worden, als habe man nur eine beliebige Konstruktion mit Kunstformen auszustatten, um mit Sicherheit zu einer, künstlerischen Ansprüchen genügenden Architektur zu gelangen. Es ist durchaus nicht erforderlich, überall in diesem Sinne von der Konstruktion auszugehen. Wohl aber ist es nothwendig, keine Kunstform anzuwenden, wenn man dieselbe nicht konstruktiv in gesunder und monumentaler Weise herstellen kann. Würde diese Regel allgemein angenommen und gewissenhaft durchgeführt, so wäre nicht nur der Volksseuche der Formen-Ueberladung ein kräftiger Riegel vorgeschoben, sondern auch der allmählichen Entwickelung neuer Formen und Motive ein vielversprechender Weg gebahnt. Man denke z. B. nur an den günstigen Einfluss, den es auf die Baukunst Berlins gehabt hätte, wenn die Urheber der neuen Bau-Polizei-Ordnung, anstatt um die Aesthetik der Gesims-Aufsätze und Dachbildungen so ängstlich besorgt zu sein, die Anwendung von Holz- und Gipsstuck im Aeußeren der Gebäude schlechthin verboten hätten. Selbstverständlich fällt es mir nicht ein, die Baupolizei als Helferin für unsere künftige stilistische Entwickelung anrufen zu wollen. Wohl aber wende ich mich an unsere  U n t e r r i c h t s - A n s t a l t e n  mit der so oft schon wiederholten Mahnung, die Ausgestaltung der architektonischen Einzelheiten und das für letztere unentbehrliche gründliche Studium der alten Baudenkmäler zugunsten des skizzenhaften Gesammt-Entwerfens nicht so zu vernachlässigen, wie leider auf unseren meisten deutschen Bauschulen noch immer geschieht. Statt der Ausarbeitung großer Aufgaben, wie sie den meisten Studirenden nie wieder vorkommen, sollte die bis in alle Einzelheiten erstreckte Durchbildung kleinerer Entwürfe den Schwerpunkt und das Ziel des Architektur-Unterrichts bilden. Schon in der Schule müsste jedem Architekten der Grundsatz in Fleisch und Blut geprägt werden, dass die Aufstellung einer Bauskizze verhältnissmäßig wenig, das Ausgestalten eines Baues in schöner künstlerischer Harmonie und konstruktiver Echtheit aber Alles ist. Zur  S t i l - E n t w i c k e l u n g  kann die Schule damit allerdings nur mittelbar beitragen; denn wenn sie nicht den Boden unter den Füßen verlieren will, muss sie mit Strenge an bestimmte geschichtliche Stilweisen sich halten. Aber es genügt, wenn sie dem Jünger den Weg zeigt, der ihn zu selbständigem Schaffen fähig macht. Und selbständig bis zu einem gewissen Grade wird unbewusst ein Jeder schaffe, der sich jenes ernste, vorhin von mir angedeutete Ziel setzt. Ebenso werden in dem Schaffen der Gleichzeitigen stets gemeinschaftliche Züge sich geltend machen, die ihnen selbst verborgen bleiben können, die aber spätere Geschlechter eben so gut als das bezeichnende stilistische Merkmal des Zeitalters ansehen werden, wie wir ähnliche Züge beispielsweise an den Werken der Renaissance-Meister erkennen, trotzdem diese sämmtlich des Glaubens lebten, in unverfälschten antiken Formen zu bauen. Nur auf diesem Wege kann und wird allmählich ein neuer Stil entstehen - nicht durch willkürliche Mischung, sondern durch Verschmelzung und Umbildung älterer Formen und Motive. Keime dazu sind des öfteren schon aufgetaucht. Ich erinnere wiederholt an Schinkels Bauakademie, an Ferstels Bankgebäude, an eine Anzahl neuerer französischer Bauten. Auch unser Reichshaus wird, wie ich glaube, einige Errungenschaften dieser Art aufweisen. -

Meine Betrachtungen sind damit dem Ende nahe gekommen. Lassen Sie mich zum Schlusse noch einmal des gegenwärtigen Standes der "Stilfrage" gedenken. Von Berufenen und Unberufenen hören wir ja bekanntlich des öfteren ein Wehegeschrei über die angebliche "Stillosigkeit" unserer Zeit. Man wirft den Architekten vor, dass sie in völliger Unsicherheit zwischen den geschichtlichen Bauweisen einher schwanken und, statt Eigenes zu geben, bald bei dieser bald bei jener eine Anleihe machen. Und man erblickt darin einen  V e r f a l l  d e r  B a u k u n s t. Sind diese Vorwürfe berechtigt und haben wir demzufolge Ursache, anstatt hier ein fröhliches Fest zu feiern, Asche auf unser Haupt zu streuen, an unsere Brust zu schlagen und einen Bußpsalm anzustimmen? -

Ich glaube, darauf mit einem sehr entschiedenen Nein antworten zu können. Ich bestreite vorab, dass unsere heutige Baukunst das Gepräge des Verfalls an sich trage. Die überschäumende Kraft, mit der sie die ihr zufallenden Aufgaben anfasst, dürfte eher ein jugendlicher als ein greisenhafter Zug sein. Ich bestreite ferner, dass wir unsicher und willkürlich, gleichsam dem Zufall folgend, von Stil zu Stil tasten. Denn ich glaube im Vorhergegangenen nachgewiesen zu haben, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen man sich den verschiedenen Stilweisen, die seit 100 Jahren aufgenommen worden sind, zugewendet hat. Ich bestreite endlich vor allen Dingen, dass man es uns zum Vorwurf machen darf, unsere Formen entlehnt zu haben und keinen eigenen, selbst erfundenen Stil zu besitzen. Derartige Entlehnungen und eine Aufnahme fremder Formen haben seitens der Architekten stattgehabt, so lange es überhaupt Architekten giebt. Ich brauche Ihnen dafür wohl keine besonderen, kunstgeschichtlichen Beispiele anzuführen. Sie sind ein Ausfluss des in der Menschheit von Anbeginn an schlummernden Nachahmungs-Triebes, den man wahrlich nicht schelten soll, weil es ohne denselben um die Erfolge von Erziehung und Unterricht schlimm ausschauen würde. Formen werden eben überhaupt nicht erfunden, sondern entwickeln sich aus anderen Formen, und nicht darauf kommt es an, ob sie von uns entlehnt oder vielmehr  e r e r b t  sind, sondern darauf, ob wir es verstehen, dieses Erbe so auszugestalten und geistig zu verarbeiten, dass wir es nach dem Worte des Dichters als unseren  B e s i t z  betrachten dürfen. Wenn frühere Geschlechter mit dieser Arbeit schneller fertig geworden sind, als wir, so liegt es daran, dass ihr Erbe ein beschränkteres, nicht daran, dass ihre Kraft und ihr Eifer größere waren. Wie sollen wir armen Angehörigen des Zeitalter der Eisenbahnen und der Photographie uns der Hochfluth künstlerischer Anregung erwehren, die heute aus allen Jahrhunderten und von allen Ländern gleichzeitig auf uns einstürzt? Mir will scheinen, als ob die die heutigen Architekten mit diesen Verhältnissen noch immerhin gut genug sich abgefunden haben. Jedenfalls ist nicht die Gegenwart, sondern erst die Nachwelt zum Richter darüber berufen, ob sie wirklich nur von fremdem Gute gezehrt oder ob sie das ihnen zugefallene Erbe nicht auch aus eigner Kraft bereichert haben. Noch ungerechtfertiger erscheint jener Vorwurf, wenn wir darüber Umschau halten, wie es z. Z. denn eigentlich auf anderen Gebieten aussieht. Nehmen wir die sog. "exakten" Wissenschaften aus und betrachten wir diejenigen Felder menschlicher Geistesthätigkeit, auf denen das subjektive Empfinden entscheidend ist - Religion, Staats- und Sozial-Politik, Verwaltungskunst, Pädagogik, Kunst im allgemeinen usw. usw. Ueberall die gleiche Gährung und Bewegung, überall noch dasselbe, anscheinend vergebliche Ringen, um die Ueberlieferungen der Vergangenheit mit den Anforderungen der Gegenwart zu verschmelzen. Wie kann man verlangen, dass gerade die Architekten eine Aufgabe zuerst gelöst haben sollen, an der gleichzeitig fast die halbe menschliche Gesellschaft sich abmüht? -

Einen vernünftigeren Grund, als etwa den, dass unser Berufsname mit dem ersten Buchstaben des Alphabets anhebt, vermag ich dafür nicht aufzufinden. Nein, meine Herren Fest- und Fachgenossen! Wir haben durchaus keine Ursache, uns der Stellung zu schämen, die wir mit unseren Stilbestrebungen in der Kulturarbeit des Jahrhunderts einnehmen. Nicht auf elendem Wrack treiben wir steuerlos dahin, ein Spielball der Wellen und des Windes, bald auf diese, bald auf jene Sandbank verschlagen. Mit Ruder und Segel durchschneiden wir den Ozean - einem unbekannten Ziele entgegen, aber voll redlichen Willens, es zu suchen, und im festen Vertrauen, dass es dereinst gefunden werden wird - überall da anlegend, wo wir Auskunft über den Weg erhoffen dürfen. Fern liegt das Ziel und Niemand weiß, ob wir selbst oder erst die an unsere Stelle tretenden Geschlechter es erreichen werden. Aber wir werden vor letzteren mit Ehren bestehen, wenn man uns nachsagen kann, dass wir weder durch die Weite des Wegs noch durch die Beschwerden der Fahrt davor zurück geschreckt worden sind, ihm entgegen zu streben - allezeit unermüdet und unentwegt.

Allezeit vorwärts!