ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Georg Franck
Wien
  Die Architektur: eine Wissenschaft?

 

    Vorbemerkung

Die Frage, ob die Architektur eine Wissenschaft ist, hat mir Gerd de Bruyn als Vortragsthema nahegelegt. Als ich zögerte, wies er mich darauf hin, dass ich einem Institut vorstehe, das sich Institut für Architekturwissenschaften nennt. Deshalb könne ich der Frage nicht ausweichen. Ausweichen wäre Ausflucht. Das verfing. Ich sah, dass ich mich der Frage stellen musste. Die hat es nun allerdings in sich. Sie lautet ja nicht: Ist die Architekturtheorie oder ist die Baugeschichte eine Wissenschaft? Nein, es geht um die Architektur als solche. Gewiss, es trifft zu, dass auch die Architektur als solche ein Feld des Wissens und Könnens ist. Allerdings heißt Architektur, ins Deutsche übersetzt, nun nicht Bauwissenschaft, sondern Baukunst.  Wohl gibt es ein Fach, das sich ‘building science’ nennt, das hat aber nichts mit künstlerischer Gestaltung zu tun.

So fand ich mich auch versucht, die Frage zurückzuweisen, als ich anfing, über eine Antwort nachzudenken. Worauf hatte ich mich da eingelassen?! Eine Wissenschaft im Sinne der Wissenschaftstheorie ist die Architektur gewiss nicht. Allerdings ist nun auch die Wissenschaft, wie sie die moderne Wissenschaftstheorie beschreibt, nicht deckungsgleich mit dem, was man darunter verstehen kann. Gerd de Bruyn selber hat ein Buch vorgelegt, das mit dem interessanten Gedanken der Architektur als einer Universalwissenschaft im vormodernen Sinn des Begriffes spielt.[1] Er macht darauf aufmerksam, dass der Begriff Wissenschaft älter ist als das moderne System der Spezialwissenschaften. Auch die Bedeutung des deutschen Worts Wissenschaft ist weiter, als es das englische
‘science’ ist. Science ist auf die durch René Descartes und Francis Bacon begründete Methodologie von deskriptiver Analyse und messender Empirie festgelegt. Wissenschaft im ältesten und allgemeinsten Sinn meint hingegen systematisch erforschtes und grundsätzlich organisiertes Wissen. Systematische Forschung baut nicht notwendig auf die Methode der analytischen Zerlegung komplexer Probleme in einfachere und immer einfachere Teilprobleme, aus deren Lösung die Lösung des komplexen Problems dann synthetisch zusammengesetzt werden kann. Noch bedeutet organisiertes Wissen, dass sich die Antworten auf die Fragen der empirischen Messung stellen müssen. Organisiertes Wissen muss nicht einmal unbedingt theoretisches Wissen sein. Entscheidend ist, dass ein Corpus zusammenhängenden und sich bewährenden Wissens vorliegt.

Ich möchte den Anspruch, der im Begriff der Wissenschaft steckt, hier keineswegs dahingehend relativieren, dass ich die Forschung im Sinne von Descartes und Bacon als eine kulturelle Praxis neben andere stelle, die alle denselben Anspruch auf Geltung haben. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die deskriptive Analyse und die empirische Messung nicht immer und nicht überall die effektivste und effiziente Methode zum Gewinn brauchbaren Wissens sind. Ein Bereich, auf dem die analytische Zerlegung komplexer Probleme in einfachere und immer einfachere sowie das empirische Testen der Teillösungen regelmäßig versagt, ist die künstlerische Forschung. Die Kunst lässt sich auf Probleme ein, die der schlüssigen Definition widerstehen, und testet Hypothesen, die nichts quantifizieren. Dennoch kann die künstlerische Arbeit als ein Forschen und kann die Kunst als ein Corpus organisierten Wissens angesprochen werden.


Der Doppelcharakter architektonischer Forschung


Die Kunst erforscht die Verlangen des psychischen Da-Seins, des bewussten Erlebens. Diese Verlangen können nicht einfach so, nach Plan, befriedigt werden. Die Bedürfnisse des psychischen Erlebens unterscheiden sich von denjenigen des physischen Lebens nämlich darin, dass sie nicht von vornherein wissen, was sie wollen. Sie wissen zwar, dass, sie wissen aber nicht genau, was es ist, das sie wollen. Im Gegensatz dazu wissen die Bedürfnisse des physischen Lebens genau, was sie wollen. Sie wollen auch immer dasselbe. Nicht so die Bedürfnisse des psychischen Erlebens. Die wollen immer etwas anderes. Sie wollen etwas Neues erleben, sie wollen unterhalten werden, sie sind erfüllt von einem Verlangen nach Schönheit. Wer Neues erleben will, kann nicht zugleich schon genau wissen wollen, was es denn sein soll, das es zu erleben gibt. Neu ist nur, was überrascht. Auch das Verlangen nach Schönheit findet Erfüllung nur, indem es sich überraschen lässt. Wiewohl unsere Wahrnehmung geradezu süchtig nach Schönheit ist, vermag unser Verstand es nämlich nicht zu bestimmen, was genau der Gegenstand dieser Begierde ist. Erst im Entdecken ist es, dass die Wahrnehmung erfährt, was es ist, wonach sie verlangt.

Die Kunst ist das große Labor zur Erforschung von Verlangen, die das Bewusstsein wohl hat, aber erst kennen lernt, indem sie in Erfüllung gehen. In diesem Labor geht es nicht ganz so ordentlich zu wie beim Experimentieren à la Bacon, es wächst aber und entwickelt sich auch hier ein Corpus organisierten Wissens. Teil der künstlerischen Forschung ist nämlich auch die Rezeption im Anschluss an die Produktion. Zum Forschungsbetrieb gehört die Rezension, die Kritik, die Einordnung und Bewertung dessen, was aus den Studios kommt.  Teil an der Forschung hat das Publikum, das seine Bedürfnisse verstanden sieht oder eben nicht. Was die Erforschung der Bedürfnisse des Bewusstseins betrifft, so ist das Kunstwerk mit der Vernissage noch nicht fertig. Es stellt dann höchstens eine fertige Hypothese dar, die auf den Test in der Öffentlichkeit wartet. Dieser Test kann lange dauern. Er kann dauern, bis darüber entschieden ist, ob das Werk zu einem Klassiker wird oder nicht.

Im Labor- und Testbetrieb der Kunst hat auch die Architektur ihren Platz. Allerdings hat die Architektur nun eine Sonderstellung unter den Künsten. Walter Benjamin bestimmt sie als die einzige Disziplin der Kunst, die sowohl bewusst, durch Wahrnehmung, als auch unterbewusst, durch Gebrauch und Gewohnheit, rezipiert wird.[2] Das heißt, die Architektur dient sowohl den Bedürfnissen des psychischen Erlebens als auch den Bedürfnissen des physischen Lebens. Als biologische Lebewesen sind wir Menschen auf Schutz und Sicherheit, auf Klimatisierung und hygienische Verhältnisse angewiesen. Für das Erforschen, wie die Bedürfnisse des physischen Lebens zu befriedigen sind, ist die Wissenschaft im Sinn der Natur- und Ingenieurwissenschaften zuständig. Fragen der Gesundheit, des physischen Komforts und der Hygiene gehen an die Medizin, Physiologie und Ergonometrie, Fragen der Sicherheit und Standsicherheit an die Statik und Dynamik, Fragen der Klimatisierung und Belichtung an einschlägige Ingenieurwissenschaften.

Die Architektur als die Arbeit an einem Corpus organisierten Wissens ist damit in beiden Betrieben des Forschens vertreten. Sie kann sich weder auf die eine noch auf die andere Seite zurückziehen. Vernachlässigt sie die Bedürfnisse des bewussten Erlebens, dann sinkt sie zum bloßen Bauen herab, vernachlässigt sie die Bedürfnisse des physischen Lebens, dann wird sie unbrauchbar. Es macht einen Grundzug der Architektur als einer angewandten Kunst aus, dass sie versuchen muss, beiden Seiten gleichermaßen gerecht zu werden. Weil die Bedürfnisse hie und da keineswegs immer am selben Strang ziehen, bekommt der Ausgleich mit charakteristischen Zielkonflikten zu tun, zu deren Lösung die Ausbildung zur Architektin, zum Architekten spezifisch befähigen sollte.

Architektonische Qualität ist nicht nur eine Frage des künstlerischen Ausdrucks, sondern eine der umfassenden Motiviertheit der gebauten Gestalt.[3] Was sich als motiviert herausstellen wird, ist nicht immer von vornherein klar, denn unser Empfinden ist durch Gewohnheit geprägt und stets in gewissem Umfang konventionell. Gewohnheit und Konvention sind Momente der Stabilität, sind aber dem Wandel nicht entzogen. Sie sind unter stetem Druck, weil erstens die Bedürfnisse der Aufmerksamkeit immer Neues erleben wollen, weil zweitens die Bedürfnisse ihrer Befriedigung nachwachsen, und weil drittens die Mittel zur Befriedigung beider Arten von Bedürfnissen der technischen Entwicklung unterliegen. Erst einige Zeit nach der Fertigstellung des Baus wird sich herausstellen, ob der Architektur der Ausgleich zwischen den verschiedenen Bedürfnissen im Sinne einer umfassenden Motiviertheit gelang. Unter den exemplarisch gelungenen Werken wird es solche geben, die kanonisch werden, das heißt, in den Katalog der Klassiker eingehen.

Der gesamte Prozess zwischen dem probierenden Entwerfen und der eventuellen Kür zum Klassiker ist ein Prozess des Forschens und Lernens. Es wird Neues generiert, auf Tauglichkeit getestet und reproduziert, wenn es sich bewährt. Obwohl dieser Prozess bei weitem nicht so explizit aufbereitet und methodisch abgesichert verläuft wie der szientifische Forschungsbetrieb, stellt er doch einen gesellschaftlichen Großversuch dar, der publizistisch aufbereitet und methodisch ausgewertet wird. Erstens nämlich wird das architektonische Geschehen in einer einschlägigen Sparte der Publizistik besprochen, zweitens existiert die Architektur als akademische Lehre. Im publizistischen Diskurs steht vor allem die künstlerische Qualität zur Debatte. In der akademischen Lehre sind künstlerische, technische und im szientifischen Sinn wissenschaftliche Fächer vereint.

Um es noch einmal zu betonen: Dieser Prozess des Probierens und Auf-die-Probe-Stellens kann es keineswegs mit der Systematik des Forschens in den harten Wissenschaften aufnehmen. Allerdings gleiten die harten Kriterien und präzisen Verfahren der Wissenschaftlichkeit nun ihrerseits hilflos ab, wo es um die ganz andere Präzision des architektonischen Gelingens geht. Das Urteil des Geschmacks verfügt nicht über die Mittel der Objektivierung, die dem analytischen Verstand zur Verfügung stehen. Trotzdem kann das Urteil des Geschmacks ungemein sicher werden. Und nicht nur das. Es sollte auch über eigene Quellen der Vergewisserung und Überprüfung verfügen, denn es existiert ein soziologisch objektiver Unterschied zwischen bedeutender und unbedeutender Architektur. Wie kommt es dazu?


Evolutionäre Findigkeit und die Selektion kanonischer Qualität

Wo ein Diskurs, das heißt ein Austausch im Gange ist, in dem Meinungen über architektonische Qualität gegen sachverständige Aufmerksamkeit gehandelt werden, da steht nicht nur die aktuelle Produktion, sondern auch die Tradition zur Debatte. Ständig wird der Katalog der bedeutenden Werke fort- und umgeschrieben. Dabei fällt auf, dass die Homogenität der Ansichten ganz gering ist, was die jüngere Produktion betrifft, dass die Einigkeit mit dem zeitlichen Abstand aber rasch und deutlich wächst. So kann, um es an einem Beispiel zu erläutern, heute durchaus bestritten werden, dass Richard Meier und Richard Rogers bedeutende Architekten sind. Wer aber von Adolf Loos oder Ludwig Mies van der Rohe nichts hält, dem wird die Kompetenz abgesprochen, in Sachen Architektur zu urteilen. Durch die schiere Tatsache, dass eine Architektur im Fokus des Interesses einer fachlich interessierten Öffentlichkeit bleibt, stellt sich irgendwann einmal unumstößliche Geltung ein. In der Tendenz läuft das Ranking auf einen Katalog von Werken hinaus, die in dem Sinn fraglos bedeutend sind, dass sich der Zweifel selbst disqualifiziert.

Die akademische Lehre ist Teil des Diskurses der Architektur. Sie stellt diejenige Abteilung dar, in welcher Standards professionellen Könnens definiert und vermittelt werden. An der akademischen Lehre liegt es, ob aus dem verfügbaren Talent und der Bereitschaft, sich ausbilden zu lassen, das Angebot an Kompetenz hervorgeht, das nötig ist, um die Bauproduktion architektonisch – das heißt technisch und gestalterisch – zu bewältigen. Über den Grad dieser Bewältigung wird es stets verschiedene Meinungen geben. In dem Maß jedoch, in dem das architektonische Gelingen zum Gegenstand öffentlicher Meinung wird, kommt es auch zu einer Examination der Lehrmeinungen und Schulen. Die öffentliche Meinung über die Triftigkeit und Produktivität von Lehrmeinungen verschafft Autorität. Autorität kann als Orientierungshilfe angenommen werden, sie kann aber auch mit ungleich größerem Effekt bekämpft werden als irgendeine Meinung. Sie polarisiert und fokussiert den Meinungsstreit.

Die Architektur verdient es, eine Wissenschaft genannt zu werden, wenn die akademische Lehre es schafft, aus dem Baugeschehen einen gesellschaftlichen Großversuch zu machen, der herausfindet, wie es den Menschen gemäß ist, ihr Zusammenleben baulich einzurichten. Entscheidend ist dabei nicht, ob das Verfahren den Ansprüchen strenger Wissenschaftlichkeit genügt, entscheidend ist, ob sowohl die Bedürfnisse des physischen Lebens als auch die Bedürfnisse des psychischen Erlebens zum Zug kommen. Ein Forschungsprozess dieser Art kann nicht von einer Beschreibung der komplexen Problemlage ausgehen, die sich in die Beschreibung einfacherer und immer einfacherer Probleme zerlegen lässt, er hat von vornherein mit nicht-analysierbaren Problemen zu tun. Die Bedürfnisse der Aufmerksamkeit bekommen erst heraus, wonach sie verlangt, indem sie erfahren, woran sie Gefallen finden. Wiewohl Umgang auch mit solchen Bedürfnissen nur durch Versuch und Irrtum erfolgen kann, kann er doch nicht auf die – seit Descartes so genannte – rationale Methode zurückgreifen. Probleme, die der analytischen Zerlegung widerstehen, müssen deshalb nicht unlösbar sein. Das Paradigma des erfolgreichen Umgangs mit nicht-analysierbaren Problemen stellt die biologische Evolution. Die Evolution ging noch nie analytisch vor. Dennoch hat sie Baupläne hervorgebracht, die alles, was die menschliche Kunst je ersann, in den Schatten stellen. Immerhin hat sie uns mitsamt unserer Intelligenz und Kreativität hervorgebracht.

Die Evolution weiß nicht, was sie will, denn sie hat kein Wollen. Sie verfolgt kein Ziel. Nur im Nachhinein hat es den Anschein, sie sei ein von vornherein zielgerichteter Prozess gewesen. Sie probiert blind, nämlich durch Zufall gesteuert, Varianten aus, um dann solche Funde zu reproduzieren, die sich im rauen Kampf ums Überleben bewähren. Kein recht viel anderes Verfahren als solche Variation und Selektion bleibt, wo die Wünsche erst erfahren, was sie wollen, indem sie in Erfüllung gehen. Sogar die Evolution selbst bedient sich nun allerdings noch eines anderen Verfahrens der lernenden Anpassung. Genetische Veränderungen erfolgen nicht nur auf dem Weg der sexuellen Reproduktion und der Mutation, sondern auch durch eine direktere Form des Lernens: durch die so genannte Epigenetik. Das Genom ändert sich auch unter bestimmten Formen von Stress.[4] Das Analogon zur Epigenetik wäre im Fall des Umgangs mit den Bedürfnissen der Aufmerksamkeit die bewusste Nachhilfe des evolutionären Lernens. Auch die Suche nach Gestalten, die dem bewussten Erleben gefallen, ist nicht völlig blind, nämlich nur durch Zufall gesteuert möglich. Nein, die schiere Existenz der akademischen Lehre bedeutet, dass die Kreativität eine ausdrückliche Bildung und ein spezielles Training erfährt.


Bautyp und Bauform

Die Einführung der akademischen Lehre als solche war eine Reaktion auf Stress. Gehörig unter Stress war die bis dahin handwerkliche Ausbildung zum Baumeister am Beginn der Industrialisierung gekommen. Die Industrialisierung war verbunden mit dem Auftauchen einer Vielzahl neuer Bautypen, für die es keine erprobten Vorlagen gab: der Fabrik, dem Bahnhof, dem Bürohaus, dem Warenhaus, der Klinik usw. Zudem erlebte die Bauproduktion eine erste Welle industrieller Massenfertigung. Die Industrialisierung war mit einem bis dahin beispiellosen Verstädterungsprozess verbunden. Erstmals wurde Wohnraum als kommerzielle Massenware hergestellt.

Der entscheidende Schritt zur Umwandlung der vordem handwerklichen in eine akademische Lehre lag in einem analytischen Schnitt. Die komplex ganzheitliche Lehre der Baumeister wurde in zwei eigenständige Fächer zerlegt: in die Gebäudelehre oder Typologie und in die Bauformenlehre. Die Gebäudelehre befasst sich ausschließlich mit dem Problem der räumlichen Organisation, die Bauformenlehre ausschließlich mit dem formensprachlichen Ausdruck der Architektur.

Mit dieser Trennung von Bautyp und Bauform wurde damals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der Weg frei für eine Ausbildung von Architekten in der Anzahl und mit derjenigen Qualifikation, wie sie die beginnende Industrialisierung des Kontinents forderte. Die Trennung von Bautyp und Bauform erlaubte deren – eklektische – Rekombination. Das Potential, das in dieser Rekombination steckte, wird durch das moderne Vorurteil gegen traditionelle Bauformen bis heute übersehen. Tatsächlich birgt es die Erklärung dafür, dass die erste Welle der Massenproduktion von umbautem Raum auf sehr beachtlichem architektonischem Niveau bewältigt wurde. Die Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts stellen bis heute funktionierende Quartiere dar (oder vielleicht genauer, sie stellen tadellos funktionierende Quartiere dar, seitdem die ärgsten Formen der Überbelegung und Verbauung der Hinterhöfe beseitigt wurden). Viele von diesen Quartieren sind im städtebaulichen Museum angekommen. Sie stellen Lösungen des Problems der Massenproduktion dar, denen der Städtebau des 20. Jahrhunderts Weniges von gleichem Rang entgegenzusetzen hat.

Die Moderne glaubte, das Arbeiten mit evolutionär zustande gekommenen Lösungen durch deduktive Planung ersetzen zu sollen. Sie übersah, dass die Deduktion aus allgemeinen Prinzipien in der Architektur und im Städtebau entweder gar nicht oder nur um den Preis unsäglicher Trivialisierung funktioniert. Nicht von ungefähr kam es, dass Gesichtspunkte der Hygiene und Ergonomie die intuitiven Gewissheiten räumlicher Qualität verdrängten. Der vormoderne Städtebau war von der bewährten Praxis ausgegangen, dass alle Straßen- und Platzräume eindeutig definiert und durch die Schauseiten der umgebenden Architektur eingefasst werden. Diese Praxis schloss ein, dass alle Außenwände von Innenräumen wieder zu Innenwänden von Außenräumen werden. Hygiene und Ergonomie fordern keine Stadträume dieser Art. Weil sie die Ergebnisse evolutionärer Entwicklung meinte überwinden zu sollen, stellte die Moderne den Städtebau überhaupt ein. Anstatt Straßen- und Platzräume zu definieren, ging sie dazu über, Solitäre, Zeilen und Stangen, die nur noch nach Himmelsrichtung orientiert sind, in undefinierten Resträumen zu verteilen.
 
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Abbildung 1:
Hannes Meyer:
Der Grundriss berechnet sich auf folgenden Faktoren: ...

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Abbildung 2a:
Schinkel, Werdersche Kirche,
neugotisch

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Abbildung 2b:
Schinkel, Werdersche Kirche,
klassisch
  Inzwischen können wir den Irrtum, dem Funktionalisten wie Hannes Meyer aufsaßen, genau benennen. Der Grundriss lässt sich nicht berechnen, da auch das Problem der räumlichen Organisation eines ist, das sich der Analyse widersetzt. Oder richtiger: Das Problem besteht aus zwei Problemen, einem sog. Packungsproblem und einem ‘assignment problem’.[5] Keines der beiden ist analysierbar, das heißt in einfachere und immer einfachere Probleme zu zerlegen, aus deren Lösung dann die Lösung des komplexen Problems synthetisch zusammengesetzt werden kann.[6] Wo dieses Verfahren nicht gangbar ist, da bleiben nur geduldiges Probieren oder die Ausschau nach Lösungen, die woanders schon gefunden wurden. Alle Bautypen sind Lösungen, die schon irgendwo – durch Zufall oder Begnadung – gefunden und sodann reproduziert wurden, weil sie sich bewährt haben.

Noch viel deutlicher als bei der Bautypologie ist die evolutionäre Entstehungsweise bei den Formensprachen der Architektur ersichtlich. Formensprachen wie etwa die des Klassizismus oder der Gotik sind natürlich menschliche Erfindungen. Sie stellen aber keine Kunstsprachen dar, wie wir sie von Terminologien oder algorithmischen Sprachen kennen. Sie haben sich entwickelt, gewiss. Das Muster der Entwicklung folgt aber viel eher dem der natürlichen Sprache als dem einer Terminologie. Die Anfänge liegen im Dunkeln, die ersten Zeugnisse stellen bereits die fertige Sprache dar. Die Sprachen überlebten abgrundtiefe gesellschaftliche und kulturelle Brüche. Sie wurden wieder und wieder neu belebt, weil sie denen, die sie zu gebrauchen wussten, ganz außergewöhnliche Ausdrucksmöglichkeiten an die Hand gaben.

Sprachen wie der Klassizismus und die Gotik haben es an sich, dass ein syntaktisch wohlgeformter Ausdruck auch einen architektonisch wohlgeformten Ausdruck darstellt. Durch die Bauformenlehre wurde die Baukunst zu einem Fach, das gelehrt und erlernt werden konnte. Der Schlüssel zur Erklärung für das beachtliche architektonische Niveau der ersten Welle industrieller Massenproduktion liegt in dem Umstand, dass es durch Fleiß und Übung möglich war, ein guter Architekt zu werden. Ganz im Gegensatz zur abstrakten Moderne, wo es nur einigen wenigen Originalgenies und großen Meistern vergönnt war, bedeutende Architektur zu liefern.


Die Hypothek der Moderne

Müssen wir inzwischen also feststellen, dass die Architektur ihre Eigenschaft, eine Wissenschaft zu sein, eingebüßt hat? Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet das wissenschaftsgläubige, um nicht zu sagen wissenschaftsbesessene 20. Jahrhundert diesen Niedergang besorgt hätte. Tatsächlich kann die Moderne nicht als Erfolgsgeschichte angesprochen werden, was den Umgang mit den Bedürfnissen des erlebenden Bewusstseins betrifft. Es war vielmehr charakteristisch für den Zeitgeist der Moderne, diese Bedürfnisse als lediglich subjektive Phänomene im Namen wissenschaftlicher Objektivität zu missachten. Diese Missachtung konnte in der Architektur nicht ohne Folgen bleiben. Ist es ein Wunder, dass wir in einer verbauten, verstellten, durch Bebauung entstellten Welt leben? Dass das, was einmal als eine Bereicherung der Landschaft galt, im Durchschnitt zu einer Verunstaltung geworden ist? Wir stellen fest, dass sich die Bauproduktion zum Fließen eines Siedlungsbreis addiert, der wie eine neue geologische Schicht Länder und Kontinente überzieht – wobei dies keine übertrieben polemische Bezeichnung ist, denn wir beobachten auch innerhalb der Siedlungsstruktur eine notorisch wachsende Entropie. Überall dasselbe Durcheinander, dieselbe Beziehungslosigkeit, dieselbe Beliebigkeit.

Ist dieses Abwirtschaften der räumlichen Gestaltung Schicksal? Oder liegt es an der Verkümmerung des Sinns der Subjektivität für die eigenen Verlangen? Ist es ein Preis des Wachstums von Bevölkerung und Sozialprodukt? Liegt es an der Schwäche politischer Steuerung in der
commercial society? Oder hat es auch damit zu tun, dass die Ausbildung architektonischen Talents nicht mithalten konnte mit der Expansion der Bauproduktion?

Diese Fragen sind keine, die sich in Hypothesen der empirischen Sozialwissenschaft gießen ließen. Sie sind voller Wertung und
‘scientifically not correct’. Sie sind aber Fragen, denen sich die Lehre der Architektur stellen muss. Die Lehre muss eine Antwort finden, und zwar eine Antwort, die einschließt, wie mit den Folgen der Verbauung umzugehen ist. Wir bräuchten, anders gesagt, eine Entwurfslehre wie die von Durand, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Es geht nicht um die Bewältigung einer Bauflut, die vor uns liegt, sondern um die Bewältigung der Flurschäden, die die hinter uns liegende Flut zurückgelassen hat. Es geht um die Frage, wie ein aus den Fugen geratener architektonischer Raum noch zu sanieren ist.


Für einen neuen Begriff des Architektonischen Raums

Im Vergleich zu dieser Grundfrage sind die Fragen, wie mit den Neuerungen der Entwurfstechnik umzugehen ist, sekundär. Verlangt ist eine Antwort desjenigen Formats, wie sie einst durch die Einführung der akademischen Lehre überhaupt gegeben wurde. Es geht um eine Sicht der Dinge, die es dem architektonischen Denken erlaubt zu agieren. Es geht um ein Paradigma, das geeignet ist, Wissen und Können zu aktivieren, um es an der Aufgabe wachsen zu lassen. Ein solches Paradigma ist noch nicht etabliert. Auch ist noch kein neuer Durand am Horizont aufgetaucht. Allenfalls abzusehen ist, worin das Update jener alten Lehre zu bestehen hätte.

1.    Es reicht nicht mehr, in Sachen räumlicher Organisation nur über Typologie zu reden. Architektur in der Agglomeration ist Architektur in der Gesellschaft anderer Architektur. Darauf muss ein zeitgemäßer Begriff des architektonischen Raums triftig eingehen. Die Maßstabsebene des Gebäudes muss sich bruchlos in die Ebenen der Stadt und der Agglomeration einfügen. Bruchlos heißt, dass sich der Übergang zwischen den Maßstabsebenen ganz natürlich, aus der Sache heraus ergibt.
 

2.    Die Architektur ist Raumkunst, sie ist deshalb aber nicht indifferent gegen die Zeit. Die Nutzung besteht in Prozessen, nämlich in Aktivität. Die Prä-Okkupation mit dem Raum hat dazu geführt, dass die Funktion als eine abstrakte Kategorie behandelt wird. Damit ist das Band zerschnitten, das Funktion und Ästhetik zusammenhält. Es geht also darum, die Funktion als etwas ganz Konkretes zu denken. Konkret wird die konkrete Nutzung als Prozess. Also heißt es, die Funktion in Begriffe der Dynamik zu übersetzen.
 

3.    Sodann gilt es, die Trennung von Funktion und Ästhetik zu hinterfragen. Gewiss existiert ein Unterschied zwischen der räumlichen Organisation und dem formensprachlichen Ausdruck. Damit eine Architektur jedoch überhaupt funktioniert, muss sie auch ästhetisch funktionieren. An die Stelle der Differenz von Bautyp und Bauform sollte daher ein Begriff architektonischer Qualität treten, der beide Seiten zusammenfasst.

Zu 1. Was ist unter dem architektonischen Raum zu verstehen? Obwohl er in der Literatur oft genannt wird, sind nähere Bestimmungen ausgesprochen rar.[7] Ganz gewiss darf der architektonische Raum nicht mit dem perspektivischen Raum gleichgesetzt werden, denn er ist keineswegs identisch mit dem Sehraum. Die Architektur wird gerade nicht nur im Modus des Sehens wahrgenommen, sondern mit sämtlichen Sinnen: den Fernsinnen, den Nahsinnen und dem körperlichen Selbstgefühl. Zudem ist an Benjamins Bestimmung der Architektur als derjenigen Kunst zu erinnern, die nicht nur durch aufmerksame Wahrnehmung, sondern auch durch Gebrauch und Gewohnheit rezipiert wird.

Der Begriff des architektonischen Raums sollte vom Gebrauch, nämlich von den Anforderungen ausgehen, die das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum an die räumliche Organisation stellt. Ein solcher Begriff bezieht ganz von selbst die Maßstabsebenen der Stadt beziehungsweise der Agglomeration mit ein. Auch verhindert er von vornherein die Einschränkung auf den Sehraum. Zu den Voraussetzungen des ersprießlichen Zusammenlebens vieler Menschen auf engem Raum gehört erstens, dass Räume eingeteilt werden, die von außen geschützt und gegeneinander abgeschirmt sind, und zweitens, dass sämtliche Räume von allen anderen aus erreichbar sind. Nimmt man hinzu, dass die Räume zum Verweilen nicht nur umschlossen und erschlossen, sondern auch natürlich belichtet und belüftet sein sollen, dann folgt aus diesen Vorgaben bereits eine charakteristische Struktur. Wenn sämtliche Räume von allen anderen aus zugänglich sein sollen, dann kann dies nämlich nicht dadurch geschehen, dass alle direkt mit allen anderen verbunden werden. Da auch Verbindungswege Raum in Anspruch nehmen, wäre der Raumverbrauch für Erschließung dieser Art bei nicht trivialen Anzahlen von Räumen exorbitant, ja ziemlich schnell überhaupt raumfüllend. Zudem wäre der allseits direkte Zugang disfunktional, was die Abschirmung der Räume voneinander und die Filterung des Zugangs betrifft. Tatsächlich hat sich denn auch eine ganz andere Lösung des Problems durchgesetzt und weltweit eingespielt. Überall, wo wir Siedlungen beobachten, beobachten wir nämlich folgendes System: Sämtliche Räume übernehmen die doppelte Funktion, dass sie einerseits stationäre Nutzungen aufnehmen und andererseits erschließende Funktion übernehmen. Jeder Raum wird von einem anderen Raum erschlossen und erschließt seinerseits einen oder mehrere andere Räume. Immer ist der erschließende Raum um eine Stufe öffentlicher als der erschlossene, der erschlossene um einen Grad privater als der erschließende. Zwischen den Räumen höchster Öffentlichkeit – wie zum Beispiel Flughäfen, Autobahnen oder Zentralbahnhöfen – und den Räumen intimster Privatheit – wie Schlafzimmern, Badezimmern oder Klosetts – bildet sich eine Stufenleiter, auf deren jeder Stufe sich die Relation zwischen der einerseits erschlossenen und andererseits erschließenden Funktion wiederholt. Diese Stufenleiter birgt die Leiter der Maßstabsebenen Gebäude, Stadt, Agglomeration. Sie hat aber eine sehr klare und kompakt zu beschreibende Struktur. Wir beobachten nämlich eine Strukturinvarianz, die sich auf einer Abfolge von Maßstabsebenen wiederholt. Diese Art Iteration wird durch die fraktale Geometrie beschrieben. Mit der Wiederholung der Invarianz von Erschließen und Erschlossenwerden haben wir allerdings mit Fraktalität statt auf der Ebene der Geometrie auf derjenigen der Topologie zu tun. Die Beschreibung und Modellierung dieser Topologie stellt ein anspruchsvolles Unterfangen der Wissenschaft im engeren Sinne dar. Um zu gelingen, muss sie einen unvergleichlich höheren Grad an Wissenschaftlichkeit annehmen, als dies je sinnvoll gewesen wäre, für die Typologie zu fordern.

Die Kaskade der erschließenden und erschlossenen Räume macht Schluss mit der dichotomischen Trennung von privatem und öffentlichem Raum. Die primitive Zweiteilung weicht einer Graduierung zwischen maximal öffentlich und ganz privat. Jede Architektur fügt sich in diese Kaskade ein, wenn freilich nicht immer mit demselben Geschick. Je zwangs- und friktionsloser sie sich einfügt, um so besser funktioniert die Architektur. Der hier vorgeschlagene Begriff des architektonischen Raums enthält sämtliche Kriterien für die Funktionalität auf der Ebene der räumlichen Organisation.

Zu 2. Doch damit nicht genug. Er öffnet sich auch ganz von selbst einer dynamischen Interpretation. Wir stellen nämlich fest, dass sich die Kaskade zwischen Öffentlich und Privat von selbst organisiert. Wir finden sie nicht nur in geplanten, sondern auch in eher gewachsenen Städten, in den
‘central business districts’ ebenso wie in den Favelas. Was ist der Grund? Prozesse der Selbstorganisation sind von ihrer Dynamik her inzwischen gut verstanden und beschrieben. Sie treten auf, wo es zu einer Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen kommt.

Stabilität bei Prozessen heißt nicht, dass nichts passiert, sondern dass das, was passiert, immer wieder passiert. Der Inbegriff stabiler Prozesse sind Rhythmen. Das Maß für die Stabilität von Rhythmen ist die Zeit, die der Prozess nach einer Störung braucht, um sich zu erholen. Instabile Prozesse sind solche, die Störungen aufschaukeln statt wegzudämpfen. Hochgradig instabile Prozesse werden chaotisch genannt. Für die Entstehung und Entwicklung von Städten sind stabile und instabile Prozesse von gleichermaßen zentraler Bedeutung, denn die Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen ist die Voraussetzung für die Selbstorganisation von Strukturen.

Es würde hier zu weit führen, auf die Dynamik derjenigen Prozesse einzugehen, die für die Selbstorganisation zentrierter Siedlungsstrukturen verantwortlich sind.[8] Es muss der Hinweis genügen, dass Städte, als Prozesse betrachtet, Systeme synchronisierter Rhythmen darstellen. Der Grundrhythmus, in dem Städte schwingen, ist die tägliche Umverteilung von Tag- und Nachtbevölkerung. Diesen Grundrhythmus überwölben wöchentliche, saisonale, jährliche und mehrjährige Rhythmen. Darunter erstreckt sich ein tiefes Gefälle von kürzeren und immer kürzer werdenden Rhythmen. Die Hierarchie dieser Rhythmen ist keinesfalls nur oberflächlich analog zur Kaskade der erschließenden und erschlossenen Räume.

Der Kaskade von erschließenden und erschlossenen Räumen entspricht die Hierarchie von pendelnden Bewegungen in den Mustern der nutzenden Aktivität. Überall ergibt es sich, dass die Bewohner so und so oft im Zimmer umhergehen, bevor sie auf den Gang treten, dass die Beschäftigten so und so oft dieselben Handgriffe verrichten, bevor sie die Werksatt oder das Büro verlassen, dass man so und so oft auf dem Gang hin- und hergeht, bevor man die Tür zum Treppenhaus oder zum Vorplatz benutzt, dass man sich so und so oft im Quartier hin- und herbewegt, bevor man es in Richtung zentralerer Orte verlässt, dass man so und so oft in der Stadtregion hin- und herfährt, bevor man in andere Städte reist, dass man so und so oft im eigenen Land unterwegs ist, bevor man es in Richtung anderer Länder verlässt, um schließlich auch von dort wieder zurückzukommen. Betrachtet man diese Bewegungen, die in charakteristischer Weise zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, als eine Gesamtheit von stabilen Prozessen, dann zeigt sich, dass die  Länge der Rhythmen einen sowohl zeitlichen als auch räumlichen Aspekt hat. Die größeren Rhythmen kommen seltener vor, nehmen längere Zeit in Anspruch und überspannen längere Distanzen im Raum.

Die Beschreibungssprache der dynamischen Theorie stabiler und instabiler Prozesse ist bestens geeignet, auf statistische Ensembles angewandt zu werden. Freilich stellt diese Beschreibung und erst recht die Modellierung des Prozesses, den ein Stadtganzes darstellt, ein noch einmal anspruchsvolleres wissenschaftliches Unterfangen dar als das der Modellierung der räumlichen Kaskade.

Zu 3. Erst als Prozess, nämlich als architektonische Raumzeit modelliert, ist der Begriff des architektonischen Raums aber so weit entwickelt, dass er zur Architektur als ästhetischer Gestaltung aufschließt. Die Muster der Aktivität, die zu jener Hierarchie der Rhythmen führen, bestehen nämlich nicht nur aus Pendelbewegungen physischer Körper. In sie sind vielmehr auch alle Muster der Aktivität eingeladen, die in rituellem, symbolischem und expressivem Verhalten bestehen. Verhalten, das etwas bedeutet und zu verstehen gibt, unterliegt den Abhängigkeiten der semantischen Bedeutung vom Kontext. Es bedeutet etwas anderes, in der Kirche als beim Heurigen zu singen. Die Bedeutung des Verhaltens hängt vom Charakter und damit von der Architektur der Räume ab. In diesem semantischen Sinn funktioniert die Architektur dann, wenn sie der Bedeutung des rituellen, symbolischen, expressiven Verhaltens, dem sie gewidmet ist, gerecht wird, wenn sie das angemessene Verhalten von sich aus nahelegt, wenn sie orientiert, ohne dass Hinweisschilder aufgestellt werden müssen. In diesem Sinn funktionieren die Verkehrsführungen, Bahnhöfe und Flughäfen ausgesprochen schlecht, in denen wir uns nur noch zurechtfinden, indem wir Beschilderungen folgen.

Architektur funktioniert ästhetisch dann, wenn sie die Bedeutung der Gebäude und Räume sinnfällig, nämlich den Sinnen zugänglich macht. Grundsätzlich entscheidend für die Bedeutung von Verhalten ist der Grad der Öffentlichkeit beziehungsweise der Privatheit der Räume, in denen es spielt. Darum kommt es ganz besonders auf die Markierung der Übergänge an, und deshalb war die Ausgestaltung  der Schwellen schon immer eine zentrale Aufgabe der Architektur. Weil es ein langwieriger Prozess des Ausprobierens nicht nur, sondern auch der sozialen Verständigung ist, in dem herausgefunden wird, was die Bedeutung von Räumen und Schwellen sinnfällig macht, ist dort, wo die Architektur es zu einer Disziplin in einem ausdifferenzierten Kulturbetrieb gebracht hat, in die Aktivitätsmuster des symbolischen Verhaltens ein öffentlicher Diskurs eingelassen, wo die Bauproduktion besprochen und ästhetisch bewertet wird.

Wo ein solcher Diskurs aufkommt, beginnt der evolutionäre Prozess auf sich selbst zu reflektieren. Die testende Aktivität wird sich darüber bewusst – und kann sich darüber Rechenschaft ablegen –, was sie tut. Dieses Reflexivwerden bedeutet zwar noch keineswegs, dass der Prozess des tastenden Probierens sich selbst transparent und somit von Grund auf planbar würde. Die Wünsche des bewussten Erlebens bleiben nach wie vor auf Funde angewiesen, in denen sie sich entdecken können. Der Prozess bleibt einer des Suchens nach Unvorhergesehenem, auch wenn er sich selbst beobachtet und zu verstehen sucht. Dennoch liegt es an dieser Selbstbeobachtung und Selbstverständigung, wenn die Architektur – und zwar die Architektur als solche – als Wissenschaft angesprochen werden kann. Die Architektur als Wissenschaft ist Evolution, die um sich weiß. Dieses Wissen um sich schließt ein, dass sie um die Hoffnungslosigkeit weiß, das intuitive Forschen überwinden zu wollen. Es ist Unsinn, auf die Gaben der Intuition herabzublicken, wo die Wahrnehmung mehr merkt, als der Verstand versteht.

Gerd de Bruyn rückt die bewusste Reflexion des evolutionären Geschehens viel weiter in den Vordergrund, als das hier geschehen ist. Er bringt die kunsthistorischen Kategorien der Stilgeschichte in engen Kontakt mit den intellektuellen Kategorien der Geistesgeschichte. Er beobachtet, wie sich das Denken der Architektur in der Epochengeschichte entwickelt hat. Auch in diesem Bild sind es nun aber die künstlerische und die theoretische Forschung gemeinsam, die den Charakter der enzyklopädischen Wissenschaft Architektur ausmachen. Die Auffassung der Architektur als eines gesellschaftlichen Großversuchs, wie es den Menschen gemäß ist, ihr Zusammenleben baulich einzurichten, setzt den Akzent etwas anders. Sie achtet speziell auf die räumlich-zeitlichen Muster der nutzenden Aktivität. Der Begriff des architektonischen Raums – beziehungsweise der architektonischen Raumzeit – möge verstanden werden als eine regulative Idee, als der erste Schritt hin zu einer Arbeitsumgebung, die das entwerferische Denken in den größeren Zusammenhang des Erprobungsgeschehens stellt, dessen Teil es ist, und von dem es lernen muss, wenn Aussicht auf eine Sanierung der verbauten Welt bestehen soll.


 


 

Anmerkungen:

 

[1] Gerd de Bruyn, Die enzyklopädische Architektur. Zur Reformulierung einer Universalwissenschaft, Bielefeld: transcript Verlag, 2008

[2] Siehe Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, Bd. 1-2, S. 471-508, hier S. 504f.

[3] Zur Ausführung siehe Georg Franck & Dorothea Franck, Architektonische Qualität, München: Carl Hanser, 2008.

[4] Siehe Eva Jablonka & Marion J. Lamb, Evolution in Four Dimensions: Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic. Variation in the History of Life, Cambridge. Mass.: MIT Press, 2006.

[5] Siehe Tomor Elezkurtaj & Georg Franck, Algorithmic support of creative architectural design,
in: Umbau 19 (Juni 2002), S. 129-37;
http://www.iemar.tuwien.ac.at/publications

[6] Siehe Michael Garey & Davis S. Johnson, Computers and Intractability. A Guide to the Theory of NP-Completeness, New York: W.H. Freeman & Co, 1979.

[7] Zu den seltenen Fällen und dazu, dass die Bestimmungen in ganz andere Richtung als die hier vorgestellte gehen, siehe Dom H. van der Laan, Der architektonische Raum, Leiden u. a.: E. J. Brill, 1992; und Philippe Boudon, Der architektonische Raum. Über das Verhältnis von Bauen und Erkennen, aus dem Französischen von Marianne Uhl, Basel u. a.: Birkhäuser, 1991.

[8] Siehe dazu Georg Franck & Michael Wegener, Die Dynamik räumlicher Prozesse, in: Dietrich Henckel und Matthias Eberling (Hg.), Raumzeitpolitik, Opladen: Leske & Budrich, 2002, S. 145-62;
http://www.iemar.tuwien.ac.at/publications




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