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Die
wissenschaftliche Perspektive, in der wir kulturelle Phänomene interpretieren,
wechselt, wie uns die Kulturwissenschaften lehren, in unterschiedlichen
Richtungen und Wendungen, den so genannten cultural turns. Sie
geben den jeweiligen Interpretationsrahmen, das Paradigma vor, nicht als
Lehrmeinung, sondern im Sinne von Wahrnehmungseinstellungen, operativen
Zugängen und Analysekategorien.[1]
Der interpretive turn erstreckt sich über alle anderen Spielarten
des cultural turn. Kulturelle Phänomene – also auch die Architektur
– wären danach nicht als festgelegte Strukturen zu verstehen, sondern
als „Text“ zu lesen, der auszulegen, zu erklären, zu übersetzen ist. Umfassender
aber als die sprachliche Bedeutung von „Text“ (im linguistic turn)
schließt das Interpretationsparadigma auch andere Beschreibungsperspektiven
ein.
So hat beispielsweise die Beobachtung, dass unsere Kultur global von Bildern
beherrscht wird, jene Blickwendung ausgelöst, die unter dem Stichwort
iconic oder pictorial turn die kulturellen Phänomene im
Bildparadigma betrachtet. Obwohl diese Perspektive nicht neu ist, sondern
schon der ikonographischen Interpretation von Kunst und Architektur in
der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt, die sich auch
auf Bildformen außerhalb der Kunst erstreckt, ist ihre Aktualität natürlich
unstrittig. Parallel dazu hält man aber in den Kulturwissenschaften unter
dem Stichwort spatial turn zum Teil für dieselben Phänomene unserer
Kultur ein Raumparadigma für aufschlussreicher.
Seltsam ist dabei übrigens, dass sich die Kulturwissenschaften (Ethnologie,
Geographie, Soziologie, Geschichte, Literatur etc.) zur Zeit verstärkt
am Raumparadigma orientieren[2],
wobei die Architektur kaum vorkommt, dass aber auf der anderen Seite eine
„fortschrittliche“ Architekturtheorie dem Bildparadigma frönt und das
Raumparadigma in der Architektur für obsolet hält. Doch vielleicht ist
„Raum gegen Bild“ ja die falsche Kontroverse – als ob überhaupt klar wäre,
was Raum heißt und was Bild heißt, und ob nicht die Paradigmen teilweise
zur Deckung kommen. In der „Bildanthropologie“[3]
etwa, wo man vom „Körper als Ort der Bilder“ spricht, deutet sich ein
spatial turn im iconic turn an.
Der spatial turn befördert ein kritisches Raumverständnis. In dieser
Konsequenz wäre auch der Begriff des architektonischen Raums und des Stadtraums
im Spannungsfeld zwischen Objekthaftigkeit und situativer Erfahrung neu
zu reflektieren. Der iconic turn indessen lenkt den Blick nicht
nur auf das Medium des Bildes als solches, sondern auch auf seinen Gebrauch,
vom Alltagshandeln bis zur Politik. Dafür sind die Repräsentationstechniken
von Raum in der jeweiligen Situation entscheidend. Für beide Überlegungen
ist eine prozess- und handlungsorientierte Perspektive hilfreich, für
die es natürlich auch wieder das passende Wissenschaftsparadigma gibt,
den performative turn, der es erlauben könnte, in Überlagerung
mit den beiden anderen Paradigmen für Architektur und Urbanismus eine
Sicht zu eröffnen, die ihrer heutigen Vielschichtigkeit gerecht wird.
Vor diesem aktuellen Hintergrund verdient Interesse, dass sich der Wiener
Kunstwissenschaftler Dagobert Frey schon 1925 in dem Versuch einer „Wesensbestimmung
der Architektur“[4]
nicht auf die Festlegung einer Position einlässt, wonach die Architektur
etwa primär „Raumbildnerin“ sei, gemäß der Auffassung von August Schmarsow[5]
oder aber die „Kunst körperlicher Massen“, wie Heinrich Wölfflin gesagt
hatte[6].
Vielmehr beruht seine Wesensbestimmung der Architektur, bei der es ihm
vor allem um die Abgrenzung gegenüber den Bilddisziplinen geht, auf der
bemerkenswerten Feststellung, das sei Sache der Interpretation.
„Wie wir wissenschaftlich an ein und dasselbe Objekt verschiedene Fragen
stellen können, die den verschiedenen Wissenschaften zugeordnet sind,
so können wir auch ein und dasselbe Objekt künstlerisch verschieden betrachten,
wir können es zum Beispiel malerisch, plastisch oder architektonisch sehen.“[7]
„Wir können es also auch so ausdrücken: wenn ich ein Objekt als wirklich
nehme, wenn ich seine räumliche Bestimmung mit dem Ich-Raum identisch
setze, das heißt, wenn ich mich mit ihm im gleichen Raume befindlich fühle,
so betrachte ich es architektonisch. [...] Daß aber ein künstlerisches
Gebilde als ein architektonisches schlechthin zu bezeichnen ist, heißt,
daß es aus einer architektonischen Betrachtung schöpferisch hervorgegangen
ist, daß es demgemäß eine architektonische Betrachtung verlangt, daß ihm
nur eine architektonische Betrachtung gerecht zu werden vermag.“[8]
Frey fährt fort: „Ein Architekturwerk muss aber keineswegs architektonisch
betrachtet werden. Es ist sogar bezeichnend, daß der Laie vielfach mehr
zu einer malerischen Auffassung neigt, daß er mehr die zufälligen Gruppierungen
und Überschneidungen, die bildmäßigen Ausschnitte, die ‚malerischen Winkel’
sucht und bevorzugt. Das Wesentliche dieser malerischen Betrachtung liegt
bezeichnenderweise in der bildmäßigen Isolierung und Distanzierung. Den
‚malerischen Winkel’ erleben wir nicht im Herumsehen und Herumgehen als
einen uns umschließenden Raum; er ist vielmehr an einen bestimmten Standpunkt,
von dem er zur Geltung kommt, an einen bestimmten Ausschnitt, gebunden.
Man beachte wie eine Architektur, durch einen rahmenden Torbogen oder
ein Fenster gesehen, sofort bildhaften, malerischen Charakter annimmt.
Es ist bezeichnend, wie sich dabei sofort der Eindruck von etwas Unwirklichem
einstellt.“[9]
Ein und dieselbe Sache kann nach dieser Auffassung entweder als Architektur
oder aber als Bild aufgefasst werden. Da Bildern in unserer Kultur heute
eine immer größere Bedeutung zukommt, sollte uns nun allerdings interessieren,
ob das Verhältnis von Architektur und Bildern tatsächlich nur in dieser
Ausschließlichkeit gesehen werden kann, ob es nicht eine besondere Beziehung
zwischen Bild und Architektur gibt, und ob Bilder womöglich sogar eine
vorrangige Rolle in der Interpretation von Architektur spielen. Es müsste
um eine Art der Bildlichkeit gehen, die in der Architektur wirksam ist,
ohne ihr das Architektonische zu nehmen.
Auch ohne von einem iconic turn zu wissen, interpretiert jeder
seine räumliche Umwelt bereits unter dem Einfluss einer „ikonischen Differenz“,
wenn man darunter den Kontrast zwischen dem vordergründig Wahrgenommenen
und einer darüber hinausgehenden anschaulichen Wirklichkeit versteht,
einem Kriterium für das, was nach Gottfried Boehm ein Bild ausmacht.[10]
Graf Karlfried von Dürckheim, ein Psychologe der ganzheitspsychologischen
Leipziger Schule der 1930er Jahre, hat darauf hingewiesen, dass etwa in
der Betrachtung einer Landschaft „alles Einzelne, sofern es in relativer
Selbständigkeit hervortritt, nicht einfach hier oder dort, dies und das,
von dieser oder jener fest umrissenen, eindeutig fixierbaren Form und
Größe [ist], sondern selbst ein bestimmtes Wesen, in charakteristischer
ausdruckshaltiger Weise in sich zentriert, aufeinander und auf das Ganze
bezogen.“[11]
Er nennt dies die „physiognomische Erlebniswirklichkeit“, weil dabei tatsächlich
physiognomische und gestische Elemente durch räumliche Merkmale zur Bildhaftigkeit
der erlebten Eindrücke beitragen.
Diese Beschreibung beinhaltet mehr als nur die phänomenologische Grundeinsicht,
dass Wahrnehmung immer schon Wahrnehmung von etwas ist, dass ein visuelles
Feld unwillkürlich, immer und überall in eine Welt umschlägt, wohin wir
blicken.[12]
Denn wir machen diese Erfahrung nicht automatisch immer, sondern nur unter
günstigen Bedingungen – zu denen womöglich auch die Beschaffenheit der
Architektur gehört. Im Unterschied zur schlichten Wahrnehmung als Wahrnehmung
von etwas, beispielsweise als Ding mit Form und Größe, handelt es sich
bei der „physiognomischen Erlebniswirklichkeit“, um eine eigentümliche
Betrachtungsweise, die bereits ein interpretatives Moment enthält.
„Das Einzelne ist hier also überhaupt kein Gebilde, dessen Eigenart ich
fasse, wenn ich seine mehr oder weniger festumrissene Form beschreibe,
denn das Entscheidende an ihm ist, dass es sich [...] verhält.
So etwa ‚erhebt sich’ in einer bestimmten Landschaft ein Berg, an seinem
Fuß entlang ‚zieht sich’ ein Wald, ‚erstreckt sich’ ‚weit ausladend’ eine
Mulde, Felder ‚breiten sich aus’, ein Pfad ‚schlängelt sich’ hindurch
und dies alles geschieht in durchaus eigentümlicher, dem Wesen des Einzelnen
eigentümlicher Weise.“[13]
Wir können diese Beobachtungen ergänzen durch ausdruckshafte und gestische
Beispiele aus der Architektur: Kuppeln „wölben sich“, eine niedrige Decke
„drückt“, ein Platz „weitet sich“, eine Brücke „schwingt sich“ über den
Fluss.
Dass diese Beispiele aus der Architektur stammen, bedeutet alleine noch
nicht, dass sie eine architektonische Betrachtungsweise repräsentieren.
Solche Beobachtungen lassen sich nämlich nicht nur in unserer räumlichen
Umwelt und in der Architektur machen, sondern beispielsweise auch an gegenstandsloser
Malerei. Auch dort „verhalten“ sich einzelne Elemente durch eigentümliche
gestische Eigenschaften. Da „breitet sich“ womöglich eine Farbfläche aus,
eine Kurve „steigt“ auf, eine Form „drängt sich“ nach vorne. Das alles
ist für Bildinterpretationen (Tafelbild, Fotografie etc.) bekannt. Aber
die „sich ausbreitende“ Farbfläche beansprucht nicht den Raum des Betrachters,
die „nach vorne drängende“ Form kommt ihm nicht wirklich nahe. Denn im
Unterschied zur Architektur ist für Bilder wesentlich, dass die von ihnen
intendierte – nämlich imaginäre – Wirklichkeit eine andere ist als die
konkrete Realität des materiellen Bildobjekts und des Betrachters.
Was dagegen die „sich wölbende“ Kuppel und der „sich weitende“ Platz intendieren,
gehört keiner imaginären Wirklichkeit an, sondern wirkt real auf jeden,
der den Raum oder den Platz betritt und durchschreitet. Der Grund dafür
ist die „existenziale Räumlichkeit“ des menschlichen Daseins.[14]
„Eigenraum“ oder „Selbstraum“ nennt Dürckheim die um unser „Gesamtselbst“
zentrierte Räumlichkeit. Der „Selbstraum“ „konstituiert ein besonderes
‚Innen’, dessen Außen in einem konkreten Verhältnis zu seinem
Selbst steht und dessen ‚Außen’ als ‚Herumraum’ erlebt wird. Im persönlichen
Raum ist das ‚Innen’ und das ‚Drinsein’ nicht bloße Lagebestimmung, sondern
ein qualitativ besonderes Erlebnis, in dem uns die Zugehörigkeit des Raumes
zu unserem Selbst fühlbar zum Bewußtsein kommt.“[15]
Das Innere unseres „Eigenraums“ „ist nicht etwa mit der Haut zu Ende,
auch nicht nur das Kleid gehört dazu, sondern stets auch eine bestimmte
Zone der freien Bewegung und über dies all das, womit man leiblich geeint
ist und dessen Verstellt- oder Gefährdetsein als leibliche Selbstgefährdetheit
empfunden wird.“[16]
Im realen Raum interagiert nun die Gerichtetheit und Ausdehnung unseres
Selbstraumes mit den räumlichen Elementen in ihrem physiognomischen und
gestischen „Verhalten“. Beide befinden sich in derselben räumlichen Realität.
„Man kann der Sphäre, die einen umschließt, also nicht gegenüberstehen
wie einem Tafelbild,“ sagt Peter Sloterdijk.[17]
Jetzt kommt es darauf an, wie diese Interaktion erlebt wird.
Dazu nochmals Dürckheim: „Im physiognomischen Raumerleben fühlt sich der
Mensch in spezifischer Weise ‚berührt’, ‚angemutet’, ‚angesprochen’, und
er spricht nun seinerseits in spezifischer Weise an. Was heißt das? Es
heißt, daß da offenbar eine eigentümliche Resonanz des Erlebnissubjekts
auf die Raumcharaktere vorliegt. Es ist ein eigentümliches Überspringen
der im Raum erlebten Artungs- und Stimmungsgestalt in das Erlebnisselbst,
ein Hineingezogenwerden in die eigentümliche Dynamik, ein unwillkürliches
Ergriffenwerden von der Wesenheit dessen, dem man da begegnet.“[18]
Wenn wir darauf achten, merken wir zum Beispiel, wie unsere individuelle
Raumsphäre geradezu durch die räumliche Struktur der Umgebung „als bestimmt
geartetes Möglichkeits- und Widerstandsgefüge“ abgeformt wirken kann.
Wir kommen uns selbst darin auf charakteristische Art ausgedehnt und hingewendet
vor. „Und indem man den Raum in der leibhaftigen Gliederung seiner körperlichen
Verhältnisse wahrnimmt als ein eigenmächtiges Gefüge, das in dieser bestimmten
Ordnung ruht, erfüllt er zugleich das Innesein mit dem vielzügigen Gefüge
der in ihm möglichen Bewegung.“[19]
„Ob das erlebende Subjekt [...] sich eben wirklich körperlich bewegt oder
bewegen will, ist eine sekundäre Frage: auch wo das nicht der Fall ist,
insonderheit auch bezüglich derjenigen Raumregionen, in denen das gar
nicht möglich wäre, erlebt es ihn nie nur als eigen-sinniges ‚Bildganzes’,
sondern als ein Ganzes für mögliche Bewegung. Herumschauend vollzieht
es den Raum, ihn dabei empfangend und aufbauend zugleich, nicht nur mit
dem ‚Auge’, d. h. als eine bestimmt gegliederte Bildgestalt, sondern es
durchwandert, durchfliegt ihn, geht in ihm herum, umkreist und umtastet
seine Mannigfaltigkeit, kurz nimmt ihn auf und herein, vollzieht ihn schon
im Hinnehmen als ‚Bewegungsraum’, als Gegenform einer sich innerlich tatsächlich
ereignenden eigenartigen Bewegung.“[20]
Was es bedeutet, sich auf die räumliche Situation als anschauliche Ganzheit
einzulassen, hat auf ähnliche Weise auch der britische Architekturtheoretiker
Geoffrey Scott unter dem Stichwort „Humanismus der Architektur“ beschrieben:
„Wir passen uns intuitiv an die Räume an, in denen wir uns befinden, projizieren
uns in sie hinein und füllen sie idealerweise mit unseren Bewegungen.“[21]
„Durch die Räume können wir unsere eigenen Bewegungen wahrnehmen, die
Massen sind wie wir in der Lage, Kraft und Gegenkraft auszuüben; die Linien
und Umrisse könnten, wenn wir ihnen folgten, unser eigener Weg und unsere
Gesten sein.“[22]
Man sieht, dass diese Interpretationen räumlichen Erlebens, obwohl ganz
im architektonischen Sinne, doch auch gewisse bildhafte Eigenschaften
enthalten – im Übrigen auch ein performatives Moment. Was im Raumerleben
ikonisch intendiert wird, ist zunächst eine Kräftestruktur, die sich aus
dem „Verhalten“ der räumlichen Elemente und unserem eigenen Verhalten
zu einem anschaulichen Ganzen zusammensetzt. Doch anders als Bilder im
üblichen Sinne repräsentieren solche Erlebnisse keine außerhalb liegende
Wirklichkeit, sondern artikulieren die aktuell gegebene Realität so, dass
sie durch verschiedene andere Eigenschaften, wie sie Bildern ebenfalls
zukommen, für uns als Wirklichkeit wirksam wird: Anschaulichkeit, innere
Konsistenz und suggestive Wirkung. Zudem korrespondiert der pikturale
Akt, in dem der Mensch ein stabiles Bildfeld aus dem diffusen Wahrnehmungsfluss
ausgrenzt, mit der fundamentalen architektonischen Funktion, eine Situation
räumlich zu konturieren, im weitesten Sinne ein Innen gegen ein Außen
abzuschirmen.
Vermutlich hat jeder schon einmal die Situation in einer Stadt oder in
einem Raum erlebt, wo die gewöhnlich beiläufige Wahrnehmung der Architektur
sich kurzfristig zu einer Intensität verändert, durch die wir – noch weitgehend
unterschwellig – die ganze räumliche Situation unter Beteiligung unserer
eigenen Person in einer Prägnanz wahrnehmen, die sie wie in einem Bild
erscheinen lässt. Für solche Erlebnisse spielt auch die räumliche Gestalt
des Schauplatzes eine Rolle. Durch die Architektur können räumliche Situationen
so durchstrukturiert werden, dass sie eine Bildprägekraft erlangen, die
es uns erleichtert, uns ein „Bild“ von ihr zu machen. Sich ein Bild von
einer Situation zu machen, soll hier bedeuten, über einen vereinzelten
Standpunkt hinaus den situativen Gesamtzusammenhang treffend zu erfassen,
in dem auch der – wechselnde – Einzelstandpunkt seinen Platz findet. Verschiedene
disparate Aspekte erhalten durch das Bild einen charakteristischen Zusammenhalt.
Dabei werden wir nicht nur unseres eigenen Im-Raum-Seins inne, sondern
im günstigen Fall erleben wir die Situation als charakteristische Struktur.
Nicht nur statisch, sondern als charakteristische performative Struktur,
in der die räumlichen Elemente im Sinne einer „Bewegungsformel“[23]
mit dem Handeln der Akteure zusammenwirken. Dieser Zusammenhang kann gezielt
gestaltet werden, nicht nur durch die Architektur, sondern auch im Sinne
einer Inszenierung des Handelns.
Gemäß diesen auf der Erlebnisebene gesammelten Beobachtungen deutet sich
nun auf der theoretisch-methodischen Ebene eine für die Architektur spezifische
bildhafte Interpretationsperspektive an. Um sie mit anderen Bildauffassungen
nicht zu verwechseln, können wir sie vorläufig die Interpretation als
„architektonisches Bild“ nennen (eine terminologische Schwierigkeit liegt
allerdings darin, dass vermutlich auch andere, für die Architektur weniger
spezifische Bildauffassungen diesen Namen beanspruchen könnten). Es bleibt
dabei durchaus fraglich, ob „Bild“ die richtige Bezeichnung ist. Man könnte
die beschriebene situative Wahrnehmung von Architektur auch ganz einfach
als „Situation“ bezeichnen. Es soll aber nicht nur um die generelle Einsicht
in eine existenziale Räumlichkeit gehen, eine mit Gefühlen, Wünschen und
Bedeutungen durchsetzte Raumpraxis als „welthaltige“ dynamische Situation.[24]
Da Bilder für unsere Kultur – besonders heute – eine so große Rolle spielen,
interessiert uns hier vielmehr, was gerade eine bildhafte Interpretation
von Architektur leistet. Und in der Tat zeichnet sich ab, dass sich das
Erleben von Architektur neben dem allgemeinen Situationscharakter genauer
durch bildhafte Merkmale wie Ausdrucks- und Gestalthaftigkeit, Anschaulichkeit
und bestimmte Formen von ikonischer Differenz beschreiben lässt.
Durch die Interpretation im „architektonischen Bild“ kommen nun zwei Interpretationsrahmen
zur Deckung: Zum einen liegt eine architektonische Betrachtungsweise (u.
a. im Sinne von Dagobert Frey) vor. Zum anderen haben wir es mit einer
Bildauffassung zu tun, die sich zwar von anderen Bilddefinitionen unterscheidet,
aber durch die ihr eigentümliche ikonische Differenz den spezifischen
Bildcharakter von Architektur kennzeichnet. Anders als Bilder vom Typ
des Abbilds wirken solche Situationen nicht durch den Verweis auf einen
virtuellen Bildinhalt, sondern die Bildwirkung konzentriert sich auf die
vorliegende reale Situation selbst. Diese selbstreferentielle Wirkung
des architektonischen Bildes korrespondiert mit der anthropologischen
Disposition der „Exzentrizität“[25]:
Das bedeutet, die Menschen sind in der Lage, sich selbst beim Handeln
in der Welt zuzusehen, sie sind Akteure und (ihre eigenen) Zuschauer zugleich.
Diese Selbstwahrnehmung beschränkt sich nicht auf das Sehen, sondern umfasst
die leibliche Ganzheit, eingebettet in eine raum–zeitliche Situation.
Menschliches Erleben ist in fundamentaler Weise „szenisches Erleben“,
das „architektonische Bild“ auch „szenisches Bild“.[26]
Um nun noch einmal auf jene andere Bildauffassung zurückzukommen, die
Dagobert Frey in der eingangs angeführten Passage als Gegensatz zur architektonischen
Betrachtungsweise beschrieben hatte, so beruht nicht nur das Interesse
der Laien an der „malerischen“ Betrachtung von Architektur auf einer Bildsicht,
die Frey zufolge eine außerarchitektonische Interpretation von Architektur
darstellt. Auch die Interpretation von „Architektur als abbildende Kunst“[27]
durch die kunsthistorische Ikonographie müsste man dazu rechnen, die
architecture parlente und die Zuweisung einer fiktionalen und narrativen
Rolle an die Architektur in der Postmoderne,[28]
ihre Verwendung als Zeichen oder als plakatives Image in den aktuellen
Vermarktungsstrategien. Auch die in letzter Zeit zunehmende Konzentration
architektonischer Gestaltung auf die Fassade mit ihren zwischen Bildfläche
und räumlicher Tiefe changierenden optischen Ereignissen weist in die
gleiche Richtung.[29]
Nicht zuletzt auch die zunehmende Verlagerung architektonischer Rezeption
in ihre fotografische und digitale Reproduktion und Simulation. Sich in
einem imaginären Raum zu bewegen, beinhaltet solange noch keine architektonische
Erfahrung, wie sie als Bildrealität von der Betrachterwirklichkeit getrennt
bleibt.
Es gibt also – gerade aus dem Blickwinkel des iconic turn – eine
ganze Reihe von Bildperspektiven, die für die Architektur eine entscheidende
Rolle spielen mögen und heute von großer Aktualität sind, die aber genau
genommen keine spezifisch architektonische Bildinterpretation darstellen.
Mit dieser Diskrepanz wird man sich beschäftigen müssen.
Zusammenfassend kann man sich den Unterschied zwischen einer Sichtweise,
die einer eher außerarchitektonischen (Dagobert Frey) Bildbetrachtung
entspricht, und einer Bildauffassung, die zugleich als eine architektonische
Interpretation gelten soll, am Beispiel des Übergangs von einem zum anderen
klar machen.
Als isoliertes und distanziertes Bild erscheint ein Gebäude vor allem
meinem fixierten Blick statisch, im gerahmten Durchblick, im Ausschnitt
des Kamerasuchers oder Monitors, bevorzugt auf die Fassade gerichtet,
oder auf kompositorische Ordnungen in der Bildebene, die sich als interessante
Formüberschneidungen abzeichnen – von Piranesi bis Gehry. Besondere Bedeutung
erhalten in einem solchen Bild formale Eigenschaften. Das schöne Bild
der Architektur, die sich von ihrer fotogenen Seite zeigt, stützt sich
auf Flächenproportionen und Maßverhältnisse, attraktive Farbigkeit und
Oberflächeneffekte, das Spiel von Fläche und Tiefe, außerdem plakative
Zeichenhaftigkeit, Symbolkraft und Werbewirkung. Es wird fast ausschließlich
visuell wahrgenommen. Und es bietet den Vorteil einer weitgehenden Kontrollierbarkeit,
lässt sich leicht reproduzieren und anschließend global verbreiten, etwa
um im Prozess des branding eine Marke zu vertreten.
Diese „Projektion“ hat eine Chance, umzuschlagen in eine architektonische
Bildsicht, wenn sie sich aus der Fixierung löst. Sobald der Raum mich
in die Tiefe hineinzieht und umfängt oder durch körperhafte Konfrontation
ein räumliches Spannungsfeld aufbaut, kann es passieren, dass die Qualitäten
des vorherigen Bildes verblassen und sich die andere Bildsicht aufdrängt.
Im „Herausdrehen“ aus der ausschnitthaften Perspektive erwacht das „architektonische
Bild“. In dieser Bildsicht mögen die visuellen Qualitäten des vorherigen
Zustands noch am Rande mitspielen. Charakteristische Merkmale sind nun
aber eine bestimmte Gestik und Bewegungsstruktur, eine Wahrnehmungsfülle,
die auch Akustik, Geruch, alle Sinne umfasst, vor allem aber die Erfahrung,
selbst Teil des Bildes zu sein.
Dieses Bild macht fremd, schärft unser Interesse und lässt uns unerwartet
wahrnehmen, was uns vorher unwichtig schien. Durch die facettenreichen
Kontraste der ikonischen Differenz wird unsere Wahrnehmung entregelt,
von der Fixierung aufs rein Dienliche befreit und kann sich mit gestreuter
Aufmerksamkeit von der Fülle des Ganzen gefangen nehmen lassen. Vielleicht
kann man es jederzeit darauf anlegen, sich in ein solches Bild zu versetzen.
Doch dieses Bild kann brüchig, zerfallend, von geringem Zusammenhalt und
flüchtiger Konsistenz sein, oder aber stimmig, prägnant und von suggestiver
Kraft. Wodurch Architektur günstige Bedingungen für die Prägnanz, Lebendigkeit
und Intensität einer architektonischen Bilderfahrung schafft, wäre indessen
ein anderes Thema.
Anmerkungen:
[1]
Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns.
Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften.
Reinbek 2007, S. 10.
[2]
Vgl. hierzu die neueste Textsammlung: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan
(Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
Bielefeld 2008.
[3]
Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft,
München 2001.
[4]
Dagobert Frey, Wesensbestimmung der Architektur (1925). In:
Ders., Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Wien 1946.
[5]
Schmarsow, August, Das Wesen der architektonischen Schöpfung.
Leipzig 1894.
[6]
Wölfflin, Heinrich, Renaissance und Barock. München 1888, S.
63.
[7]
Frey, a. a. O., S. 93.
[10]
Boehm, Gottfried, Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders. (Hg.),
Was ist ein Bild, München 1994.
[11]
Dürckheim, Karlfried Graf von, Untersuchungen zum gelebten Raum
(1932), hg. von Jürgen Hasse, Frankfurt/M 2005, S. 65.
[13]
Dürckheim, a. a. O., S. 65f.
[14]
„Das Dasein hat selbst ein eigenes «Im-Raum-Sein» [...].“ Heidegger,
Martin, Sein und Zeit. Tübingen (17. Aufl.) 1993, S. 56. „Im
Sichrichten auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus
seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern
es ist seiner primären Seinsart nach immer schon «draußen»[...],“
Ebd., S. 62.
[15]
Dürckheim, a. a. O., S. 92.
[16]
Ebd., S. 94. Vgl. auch Gosztonyi, Alexander, Der Raum. Geschichte
seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Freiburg München
1976, S. 1005. „Der Mensch erweitert seine eigene, persönliche Raumsphäre
von seinem Leib her sukzessiv und bezieht somit alles Räumliche in
sein ‚räumliches Leben’; er konstituiert also den Raum von seinem
‚Leibraum’ her.“ Vgl. auch Sommer, Robert, Personal Space.
Englewood Cliffs 1969, S. 26ff; Hall, Edward T., The Hidden Dimension,
New York 1966, S. 113-129: „Personal (space) bubble“ nannte man die
persönliche Raumsphäre in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen,
die in den 60er Jahren wurde unter der Bezeichnung „proxemics“ (von
engl. proximity, Nähe) durchgeführt wurden.
[17]
Sloterdijk, Peter, Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche.
Stuttgart 1993, S. 10.
[18]
Dürckheim, a. a. O., S. 72f.
[21]
Scott, Geoffrey, Die Architektur des Humanismus. Eine Untersuchung
zur Geschichte des Geschmacks. In: Neumeyer, Fritz (Hg.), Quellentexte
zur Architekturtheorie. München u. a. 2002, S. 377. Scotts Beobachtungen
sind hier nicht im Sinne der Einfühlungstheorie (z. B. Theodor Lipps,
Heinrich Wölfflin) zu verstehen, nach der „wir unwillkürlich mit unserer
Organisation die fremden Formen nachzubilden versuchen [...] Kräftige
Säulen bewirken in uns energische Innervationen“. Wölfflin, Heinrich,
Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. In: Neumeyer, Fritz
(Hg.), a. a. O., 278. Scott beschreibt hier nicht, wie wir uns in
Bauformen einfühlen, sondern wie wir mit dem Raum interagieren.
[23]
Dürckheim, a. a. O., S. 38, 46.
[24]
Vgl. hierzu etwa Baier, Franz Xaver, Der Raum. Prolegomena zu einer
Architektur des gelebten Raumes. Köln 1996.
[25]
Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung
in die philosophische Anthropologie (1928),
Berlin New York 1975, S. 288-293.
[26]
Vgl. hierzu Janson, Alban; Jäkel Angelika (Hg.), Mit verbundenen
Augen durch ein wohlgebautes Haus. Zur szenischen Kapazität von Architektur.
Frankfurt/M. 2007.
[27]
Vgl. etwa Sedlmayr, Hans, Architektur als abbildende Kunst,
in: Sitzungsbericht der österreichischen Akademie der Wissenschaft,
225. Band, 3. Abhandlung. Wien 1948.
[28]
Vgl. etwa Venturi, Robert u. a., Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie
und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig 1979;
Jencks, Charles, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die
Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 1978.
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