Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Martin Düchs
München
  thin and thick conceptions of morality
Eine moralphilosophische Debatte als Analogie für die Architektur und ihre Interpretation

 

   

1. thick and thin conceptions of morality

Mit thin and thick conceptions of morality werden in der Moralphilosophie zwei in vielen Punkten gegensätzliche Konzepte bezeichnet, die eine ab Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre vor allem im angelsächsischen Raum stattfindende Debatte prägten. Dabei werden mit den Begriffen dicke und dünne Moral nur die beiden gegensätzlichen Hauptströmungen der Argumentation benannt. Innerhalb der beiden Hauptrichtungen vertritt jeder Autor unterschiedliche Auffassungen zu Teilbereichen und z. T. Zwischenpositionen, so dass eine ganz exakte und scharfe Trennung nicht möglich ist. Eine genaue Analyse bleibt philosophischen Spezialuntersuchungen überlassen und ist hier nicht intendiert. Im Folgenden sollen nur die großen Linien der Argumentation der thin and thick conceptions of morality nachgezeichnet werden, um dann eine Analogie zu diesen Konzepten für die Architektur und deren Interpretation vorstellen zu können.


1.1  thin conceptions of morality

Unter thin conceptions of morality wird eine bestimmte Art ethischer Argumentation verstanden, die vor allem im angelsächsischen Raum zur Mitte des 20. Jahrhunderts starken Einfluss hatte. Als Vorläufer dieses Konzeptes kann man D. Hume, I. Kant und J. St. Mill bezeichnen. Prägende Autoren aus jüngerer Zeit sind beispielsweise R. M. Hare, der in der Tradition des Utilitarismus argumentiert, B. Russell oder G. E. Moore, die als Väter der analytischen Philosophie gelten, oder G. Ryle mit seiner Position eines philosophischen Behaviorismus.[1]
Die als „dünn“ bezeichneten Konzepte der Moral stehen inhaltlich vor allem in einer (weit verstandenen) kantischen Tradition mit Betonung der Vernunft und einem klassischen Freiheitskonzept der Wahlmöglichkeit. Charakteristisch ist das logisch-positivistische Ideal der (Natur)Wissenschaftlichkeit, das auch für die Ethik angestrebt wird.
Das moralische Leben des Individuums wird gesehen als eine Serie von offenen Wahlmöglichkeiten, die alle in genau spezifizierbaren Situationen stattfinden. Ein moralisches Urteil ist gestützt durch rationale und intersubjektiv nachvollziehbare Gründe, die für jeden in der gleichen Situation gelten würden. Innere psychologische Prozesse spielen eine untergeordnete Rolle, da wir die moralische Qualität der Handlungen eines Menschen nur durch dessen Verhalten beurteilen können.
Moralische Aussagen sind Empfehlungen oder Verbote, die begleitet werden durch eine objektive Beschreibung der Situation, die kommunizierbar und nachvollziehbar ist. „Objektiv“ impliziert, dass die Schilderung der Tatsachen wertneutral formuliert sein muss. Fakten und Werte müssen strikt getrennt werden, um den universalen Anspruch der Ethik aufrechterhalten zu können.
Moral besteht aus Sicht der thin conceptions darin, Entscheidungen vor einem Hintergrund von Fakten anhand bestimmter Regeln zu treffen. Die Fakten sind dabei objektiv und so genau wie notwendig beschreibbar, allen zugänglich und intersubjektiv kommunizierbar. Die Regeln sind universal gültig, da sie sich nicht auf partikulare Tatsachen beziehen, sondern von allgemeiner Art sind. Das einzelne moralische Problem wird durch die Anwendung der universalen Regeln lösbar. Moral[2] und vor allem Ethik werden so rational und (natur-)wissenschaftlich.

Die Methode, nach der die Vertreter der thin conceptions of morality vorgehen, ist eine linguistisch-analytische. Die Sprache wird untersucht, um eine zugrunde liegende Struktur der Wirklichkeit aufzudecken. Nur die Wörter „gut“ und „sollen“ werden dabei als basale ethische Wörter akzeptiert. Alle anderen moralischen Wörter werden als Ableitungen aus diesen angesehen. Es wird versucht, moralischen Wörtern definierte faktische Kriterien für die Anwendung zu geben, ohne Bezug auf transzendente Entitäten oder Bewusstseinszustände zu nehmen.

So genannte dicke moralische Begriffe, die – zumindest oberflächlich betrachtet – eine Einheit von Fakten und Werten ausdrücken, werden analysiert als aus einer deskriptiven und einer präskriptiven Komponente bestehend. Als Beispiel sei ein Wort wie „feige“ oder „grausam“ genannt, das gemäß der dünnen Konzeption aus der wertneutralen Beschreibung einer Tatsache und einer Handlungsanweisung bzw. einem Gebot oder Verbot besteht.

Gründe für eine Handlung können von einem Menschen mittels seiner Ratio gewonnen werden, d. h. er kann kraft seiner Vernunft zu der gebotenen Handlung motiviert werden. Bernard Williams spricht in diesem Zusammenhang von externen Gründen.

Ein weiteres Merkmal der dünnen Moralkonzepte ist eine stark ausgedünnte Axiologie. Im Extremfall umfasst diese nur einen einzigen Wert. Im Utilitarismus ist dieser zentrale Wert beispielsweise die Leidensminimierung bzw. die Nutzenmaximierung. Die thin conceptions leiten von einem oder einigen wenigen zentralen Werten ihre Normen her und versuchen, sie rein rational und allgemein verbindlich, unabhängig von Raum und Zeit, zu begründen. Weitere Werte werden abgelehnt oder als sekundär betrachtet.
Die Vorteile dieses Ethikkonzeptes liegen zum einen darin, dass es so möglich wird, Ethik als „reine Wissenschaft“ zu betreiben, ohne über innere psychologische Prozesse zu spekulieren. Zum anderen präjudiziert dieses Ethikkonzept eine bestimmte Anthropologie, in der der moralisch Handelnde frei, verantwortlich und rational ist, was dem alltäglichen Empfinden entspricht.

Die Kernpunkte der dünnen Konzepte sind also zusammenfassend folgende[3]

-          Eine sprachanalytische Methode, die versucht, mittels Untersuchung der Sprache eine zugrunde liegende Struktur der Wirklichkeit zu entdecken.

-          Eine strikte Dichotomie von Fakten und Werten: Moralische Urteile stützen sich auf Werte und erfolgen vor dem Hintergrund objektiver Fakten. Moralische Begriffe, die eine Einheit von Fakten und Werten ausdrücken, lassen sich in eine deskriptive und eine präskriptive Komponente aufteilen.

-          Eine Universalisierbarkeit moralischer Urteile aufgrund ihrer objektiven Struktur. Somit ergibt sich die Möglichkeit einer Ethik, die mit naturwissenschaftlicher Strenge betrieben werden kann.

-          Eine stark ausgedünnte Axiologie. Die Handlungen und die Normen orientieren sich an einem zentralen Wert oder einigen wenigen Werten.

-          Eine Anthropologie in kantischer Tradition, die den Menschen als rational, verantwortlich und frei sieht. Freiheit wird dabei im üblichen Sinn verstanden, als Möglichkeit, sich innerlich zu distanzieren, die Fakten zu bewerten und sich dann zwischen zwei Alternativen zu entscheiden.

-          Eine behavioristische Behandlung innerer psychologischer Phänomene bzw. deren Nicht-Beachtung.


1.2  thick conceptions of morality

Quand on n'a pas de caractère, il faut bien se donner une méthode.” (Albert Camus, La Chute)
Diesen Satz stellt Bernard Williams (1929-2003) seinem 1985 erschienenen Buch „ethics and the limits of philosophy“ voran. Der bedeutende englische Moralphilosoph ist einer der Autoren, die den Mainstream der philosophischen Meinung zur Ethik in den 1950er Jahren scharf und scharfsinnig angreifen. Daneben sind Autoren wie Philippa Foot, John McDowell, Iris Murdoch oder Elizabeth Anscomb zu nennen, die wichtige Beiträge zu dieser Diskussion mit jeweils unterschiedlichen Akzenten geleistet haben. Den oben beschriebenen Ansatz einer Ethik bezeichnen diese Autoren teils explizit, teils zumindest der Idee nach als „dünne Konzepte der Moral“ und setzen ihm einen eigenen „dicken Ansatz der Moral“ entgegen. Frei übersetzt mit „Wenn man keinen Charakter hat, muss man sich eine Methode geben" bezeichnet der Satz von Camus sehr gut das Problem, das mit Hilfe der dicken Konzepte kritisiert wird. Es geht darum, zu zeigen, dass die Versuche die alltägliche Moral in einer Ethik zu systematisieren und zu rationalisieren letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Die alltäglich gelebte und praktizierte Moral ist demnach zu vielschichtig bzw. eben zu „dick“, um sie auf eine logisch-positivistische Theorie mit naturwissenschaftlicher Methodik reduzieren zu können. Die thick conceptions betonen die Existenz und Bedeutung von so etwas wie moralischer Sehkraft bzw. Charakter. So wird verständlich, warum Bernard Williams den Satz von Camus seinem Buch, in dem er die vorherrschenden Moralphilosophien einer fundamentalen Kritik unterzieht, voranstellt. Der Charakter bzw. die moralische Sehkraft oder Intuition ist demnach primär; erst wenn sie fehlt, muss man gemäß dem Satz von Camus auf die rationale Moral-Theorie – die Ethik – als Methode zurückgreifen.

Die dicken Konzepte erinnern mit den Ideen von einem quasi artspezifischen spontanen moralischen Wissen an aristotelische Gedanken, während die dünnen Konzepte der Moral mit Betonung der Reflexion und Rationalität in kantischer Tradition stehen.
Einer der Hauptkritikpunkte an den thin conceptions ist aus Sicht der Vertreter „dicker“ Konzepte die Dichotomie von Fakten und Werten. Die Ethik beginnt in den dünnen Konzepten mit der Bewertung der Tatsachen aufgrund bestimmter von ihnen unabhängiger Werte. Für die Vertreter der thick conceptions erfolgt dieser Ansatz zu spät, da die fundamentale ethische Kategorie die Wahrnehmung sei. Bernard Williams erläutert dies mit seinem Diktum des „one thought too many“. Dieser berühmte Vorwurf an Kant meint, dass der normale Mensch in moralischen Entscheidungssituationen wie dem drohenden Ertrinken einer Person nicht erst reflektieren und prüfen muss, ob seine rationalen Gründe für oder gegen eine Rettung sprechen. Demnach können wir niemals wertneutral wahrnehmen. Entscheidend ist nicht, wie wir uns entscheiden, sondern wie wir die Welt sehen.

In der dünnen Konzeption erscheinen moralische Unterschiede als Unterschiede durch eine verschiedene Wahl vor dem Hintergrund der gleichen Fakten. Dem wird die Auffassung von der grundlegenden Wichtigkeit der Wahrnehmung entgegen gesetzt.
Iris Murdoch, eine weitere wichtige Vertreterin der dicken Konzepte, schreibt zu den Unterschieden: „Here [in den dicken Konzepten] moral differences look less like differences of choice, given the same facts, and more like differences of vision, in other words, a moral concept seems less like a movable and extensible ring, laid down to cover a certain area of fact, and more like a total difference of Gestalt. We differ not only because we select different objects out of the same world but because we see different worlds.”[4]
Die Grundannahme, dass die Wahrnehmung moralisch fundamental ist, hat weit reichende Konsequenzen, und allen Hauptüberzeugungen der Vertreter der dünnen Moralkonzepte werden so von den Protagonisten der dicken Konzepte eigene Positionen entgegen gesetzt. Das behavioristische Bild, das innere psychologische Vorgänge ausschließt, wird mit der Beobachtung der tatsächlichen Entscheidungsvorgänge der Menschen, die wesentlich komplexer und vielschichtiger ablaufen, gekontert.[5] Auch die strenge Wissenschaftlichkeit und Objektivität der Ethik, die die dünne Konzeption erreichen will, ist für die dicke nicht haltbar, da unsere Wahrnehmung prinzipiell nie rein objektiv erfolgen kann[6]. Aus der Annahme der Fundamentalität der Wahrnehmung ergeben sich auch entscheidende Konsequenzen für die Anthropologie und insbesondere für den Freiheitsbegriff. Der (neo)kantianische Freiheitsbegriff lässt sich nicht halten. Wenn bereits in unserer Wahrnehmung Wertungen enthalten sind und wir uns niemals von diesen befreien können, ist eine völlige innere Distanzierung und eine folgende Entscheidung aufgrund einer Wertung von Fakten und des eigenen Willens nicht mehr möglich. Freiheit wird z. B. von Murdoch eher als aufmerksame und akkurate Wahrnehmung der Wirklichkeit[7], die zu richtigem Handeln führt, verstanden. Die Autoren der dicken Konzepte betonen, dass unser moralisches Leben zu vielfältig, zu individuell, kurz zu „dick“ sei, als dass es von einer verallgemeinernden und abstrahierenden Theorie der Moral – einer Ethik – adäquat beschrieben werden kann.

Die Methode der dicken Konzepte lässt sich eher als phänomenologisch beschreiben. Es wird versucht, das tatsächliche Erleben und moralische Leben der Menschen zu beschreiben. Auf der sprachlichen Ebene betonen die Vertreter der dicken Konzepte, dass eine strikte Trennung von Fakten und Bewertungen weder in der tatsächlich gelebten Moral erfolgt noch auf der theoretischen Ebene möglich sei. Ebenso wird die Möglichkeit einer Trennung „dicker Ausdrücke“, wie z.B. „feige“, „stolz“, „mutig“ oder „grausam“ in einen präskriptiven und einen deskriptiven Teil bestritten. Es gibt in dieser Sichtweise keine solchen Begriffen zugrunde liegende Struktur der Wirklichkeit[8].
Als Gründe für Handlungen werden – zumindest von B. Williams – nur so genannte interne Gründe akzeptiert. Das heißt, motivierend können nur diejenigen Gründe sein, die einen Bezug zum motivationalen Set (Wünsche, Intentionen etc.) eines Menschen haben.
Auch die Sichtweise der Axiologien ist in den dicken Konzepten der Sichtweise der dünnen entgegengesetzt. Sie sind wie die Menschen vielschichtig, individuell verschieden und flexibel.
Die Vorteile der dicken Konzepte liegen darin, dass sie dem normalen moralischen Erleben eher entsprechen als die reflektierten rationalen dünnen Konzepte. Allerdings wird diese Annäherung an das alltägliche Erleben der Moral erkauft mit dem Verlust der möglichen Universalisierbarkeit und dem wissenschaftlich-exakten Anspruch ethischer Positionen.[9]

Die Kernpunkte der dicken Konzepte lassen sich folgendermaßen charakterisieren[10]:

-          Eine eher phänomenologische Methode, die versucht, die Realität zu beobachten. Es wird nicht versucht, auf eine hinter der normalen Sprache liegende wirkliche Struktur zu stoßen, sondern die normale Sprache zu beobachten und für real zu nehmen.

-          Keine strikte Dichotomie von Fakten und Werten. Die Möglichkeit einer strikten Trennung von Fakten und Werten wird bestritten: Moralische Urteile stützen sich auf eine schon moralische gefärbte Wahrnehmung der Welt. Moralische Begriffe, die eine Einheit von Fakten und Werten ausdrücken, sind unteilbar und drücken mehr aus als mit einem deskriptiven und einem präskriptiven Teil gesagt werden kann.

-          Keine Universalisierbarkeit. Moralische Urteile sind aufgrund ihrer subjektiven Struktur nicht universalisierbar und somit kann Ethik nicht mit naturwissenschaftlicher Strenge betrieben werden.

-          Die Axiologien sind vielgestaltig, individuell und flexibel. Die Handlungen und die Normen orientieren sich an diesen dicken Axiologien.

-          Die Anthropologie der dünnen Konzepte wird kritisiert als Wunschbild, das nicht von der Wirklichkeit gestützt wird.

-          Innere psychologischer Phänomene werden als wichtig auch für die Moral anerkannt.



2. thick and thin conceptions of architecture

Die vorgestellte moralphilosophische Debatte lässt sich als Analogie sowohl für die Architektur als auch für ihre Interpretation verwenden. Üblicherweise würde man Fragen der Architektur in der Ästhetik diskutieren, da es aber traditionell und inhaltlich eine große Nähe zwischen ästhetischen und ethischen Fragen gibt, scheint es aussichtsreich, die ethische Debatte um dicke und dünne Konzepte (analog) auch auf den Bereich der Architektur und der Architekturinterpretation zu übertragen.[11]

Für die Entwicklung einer Analogie in der Architektur sollen zwei Elemente der Diskussion um die dicken und dünnen Moralkonzepte herausgegriffen werden, zum einen die vielgestaltigen oder ausgedünnten Axiologien und zum anderen die behauptete oder abgelehnte Dichotomie von Fakten und Werten in der Sprache.

Wenden wir uns zunächst den Axiologien zu. Man kann sagen, dass die wichtigsten Architekturtheorien des 20. Jahrhunderts ein „dünnes Konzept von Architektur“ vertraten, insofern ihre Axiologien stark ausgedünnt und vereinfacht sind. Diese betonen einen bestimmten Aspekt bzw. ein kleines Set von Aspekten der Architektur. Welcher Aspekt bzw. welcher Wert dies ist, unterscheidet sich von Autor zu Autor. Als Beispiel sei der Modulor von Le Corbusier genannt. Mit Hilfe dieses Maßsystems bestimmte Le Corbusier ideale Maße z. B. für die Höhe von Wohnräumen und baute nach diesen theoretisch ermittelten Maßen z. B. die Unité d'Habitation in Marseille. Dies ist insofern eine dünne Konzeption, als nur ein Aspekt bzw. ein Wert, der für die Höhe eines Raumes von Belang sein kann, berücksichtigt wird. In diesem Fall ist es eine Entsprechung zum theoretisch entwickelten Maßsystem. In anderen Fällen ist es ein kleines Set von Werten, das als wichtig definiert wird. Im Fall von Le Corbusier ist für die gesamte Architektur deren soziale Funktion von zentralem Interesse. So kann er in seinem Buch „vers une architecture“ auch zu dem Schluss kommen, dass die Lösung großer gesellschaftlicher Konflikte von der Architektur abhängt: „Zusammenfassung: Es handelt sich um ein Problem unserer Zeit. Mehr noch, um DAS Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht unserer Gesellschaft hängt ab von der Lösung des Bauproblems. Fassen wir das Dilemma mit der Formulierung Baukunst oder Revolution zusammen; diese Formulierung ist vertretbar."[12] Einschränkend muss man an dieser Stelle hinzufügen, dass Le Corbusiers Theorie nicht so eindimensional ausgerichtet war, wie es jetzt vielleicht erscheint. An verschiedenen Stellen betont er z. B. das „poetische Gefühl“, das Baukunst benötigt[13]. Insgesamt hebt Le Corbusier in seiner Theorie aber einige wenige Aspekte der Architektur besonders hervor, und somit kann seine Konzeption mit Recht als dünn bezeichnet werden.
Weitere wichtige architekturtheoretische Entwürfe im 20. Jahrhundert lassen sich als Reaktionen auf die in der einen oder anderen Hinsicht ausgedünnten und stark hierarchisierten Axiologien der Architektur-Moderne interpretieren. Selbst die Forderung von Robert Venturi nach Komplexität in der Architektur[14] kann angesichts der einseitigen Betonung der kunstgeschichtlichen Aspekte der Architektur entgegen dem anders lautenden Titel als dünne Konzeption der Architektur verstanden werden. Genauso kann die Hervorhebung des geistigen Gehalts und der philosophischen Funktion der Architektur durch Peter Eisenman oder der Gültigkeit von ewigen unveränderlichen Prinzipien der Gestaltung bzw. der Schönheit durch Architekten wie Oswald Mathias Ungers oder Aldo Rossi als „dünnes Konzept“ im geschilderten Sinn verstanden werden. Auch die so genannte grüne Architektur stellt mit Nachhaltigkeit oder Ökologie einen bestimmten Wert in den Mittelpunkt.[15] Insofern Architektur eine Aufgabe ist, die eine Vielzahl von wichtigen Aspekten zu berücksichtigen hat, kann man Konzepte, die diese Vielzahl von Aspekten radikal beschneiden oder zumindest in eine starre Hierarchie bringen, als dünne Konzepte der Architektur bezeichnen.

Wichtig erscheint es an dieser Stelle zu betonen, dass mit der Bezeichnung „dünnes Architekturkonzept“ keineswegs per se eine negative Kritik verbunden ist, im Gegenteil. Die Architekturgeschichte hat gezeigt, dass eine gewisse Radikalität der Theorie und der praktischen Entwurfshaltung, verbunden mit dem Willen, einen Aspekt besonders zu betonen, für die Entwicklung der Architektur wichtige Impulse liefert.[16]

Von dünnen Konzepten in der Architektur zu reden, ist nur sinnvoll, wenn sich als Gegenstück auch die dicken Konzepte beschreiben lassen. Analog zur Beschreibung in der Philosophie würden diese keinen bestimmten Aspekt betonen, sondern versuchen, Architektur umfassend zu konzipieren. Sie beachten gleichermaßen Aufgabe und Ort, Konstruktion und Funktion, Ästhetik, Materialität, Haptik, Umweltverträglichkeit und vieles mehr. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch einen hohen „geistigen Gehalt“ aus und sind von einem hohen Reflexionsgrad geprägt. Dicke Architekturkonzepte sind vielschichtig, tiefgehend und reflektiert, wenn auch nicht unbedingt spektakulär und logisch. Theoretisch sind diese Konzepte sehr viel schwerer zu fassen als die dünnen, da ihnen das zentrale, prägende Element fehlt, um das die Vertreter der dünnen Konzepte ihre Theorie aufbauen. Eher noch lassen sich gebaute Beispiele nennen, die weniger durch ihre außergewöhnliche, besondere oder spektakuläre Konzeption auffallen als durch ihre Ausgeglichenheit. Diese Bauten balancieren die vielen verschiedenen Anforderungen an Architektur souverän aus, ohne eine bestimmte zu betonen. Fast wie in John Rawls berühmtem reflective equilibrium[17] halten sich Intuition und geistige Konstruktion hier die Waage. Als Beispiel sei die Villa Mareia (1938/39) von A. Aalto oder die Markuskirche (1956/60) von S. Lewerentz genannt. Analog zur Ethik könnte man davon sprechen, dass diese Architekturen sowohl gefühlt als auch gedacht sind. Diese Entwürfe folgen keiner beherrschenden theoretischen Maxime, sondern sind Ausdruck der Meisterschaft eines Architekten, die darin besteht, Denken und Fühlen, rationale Überlegung und Intuition harmonisch auszubalancieren. Sie antworten direkt und ohne zuviel Reflexion im Sinne eines „one thought too many“ auf Bedürfnisse des menschlichen Seins als Wohnen in der Welt[18].


Auch die Dichotomie von Werten und Fakten lässt sich in der Architektur finden. Die philosophische Diskussion bezieht sich rein auf sprachliche Ausdrücke. Doch was kann als Ausdruck in der Architektursprache verstanden werden? Kann es in dieser Sprache überhaupt wertende Aussagen geben? Müsste dann nicht mit einem bestimmten Material oder einer Form als Ausdruck der Architektursprache ein bestimmter Wert verbunden sein? Doch wie soll eine Form oder ein Material per se einen Wert ausdrücken? Hier ist die Dichotomie von Fakten und Werten im Sinne einer Nicht-Existenz von dicken Ausdrücken nahe liegend, ganz unabhängig davon, ob sich solche Ausdrücke in eine präskriptive und eine deskriptive Hälfte trennen lassen. Im Normalfall wird ein Ziegelstein ein Ziegelstein sein, ohne dass damit ein Wert verbunden ist. Aber es lassen sich durchaus Situationen denken, in denen der Architekt oder der Bauherr durch ein bestimmtes Material, eine bestimmte Form oder die spezielle Verbindung der beiden einen Wert ausdrückt. Dies ist z. B dann der Fall, wenn man die gebaute Form oder das verwendete Material als Kommentar zur Umgebung verstehen kann. Als Beispiel sei das Schröder-Haus (1924) von Gerrit Rietveld in Utrecht genannt, das am Ende einer Reihe stilistisch traditioneller Reihenhäuser steht und durch seine Form ein starkes Werturteil im Sinne einer Bejahung neuer Formen und auch der damit verbundenen sozialen bzw. der philosophischen-weltanschaulichen Werte der De-Stijl-Bewegung darstellt. Hier könnte man mit Recht von implizit wertenden Tatsachen reden.[19] In Bezug auf Materialien lassen sich ähnlich gelagerte Fälle konstruieren: Die demonstrative Verwendung von Sichtbeton in einem traditionell durch Holzbau geprägten Umfeld drückt bereits eine bestimmte Werthaltung aus.
Für die Analogie zur Moralphilosophie bleibt die Frage, ob sich eine solche Aussage in einen deskriptiven und einen präskriptiven Teil trennen lässt. Hier könnte ein Vertreter der dünnen Konzepte argumentieren, dass weder das Material noch die Form an sich schon Träger von Werten sein können und sich insofern das Werturteil von den Tatsachen trennen lässt, als das Werturteil in einem architektonischem Ausdruck vom Architekten zu der Tatsache der Form und des Materials quasi dazugelegt würde, das heißt, ein architektonischer Ausdruck wäre teilbar in einen deskriptiven Teil – ein Material oder eine Form an sich – und in einen präskriptiven Teil – eine wertende Aussage zur Umgebung oder zur eigenen Entwurfskonzeption durch den Architekten.
Ein Vertreter der dicken Architektur würde dagegen halten, dass es das Material bzw. die Form an sich in der Realität nicht gibt, sondern nur konkrete Situationen, in denen z. B. Beton in einer bestimmten Form in einem bestimmten Kontext verwendet wird. Dementsprechend gehen aus Sicht der dicken Konzepte Fakt und Wert eine untrennbare Verbindung ein, und Architektur ist insofern auch immer eine wertende Aussage.
Somit lässt sich auch in der Architektur die Dichotomie von Fakt und Wert dick oder dünn konzipieren. Dabei muss man anmerken, dass die detaillierte Ausbuchstabierung der Analogie hier eher akademischer Natur ist. Wichtig scheint aber die grundsätzliche Feststellung, dass auch in der Architektur mit Gebäuden oder Bauteilen wertende Aussagen gemacht werden können, und dass man von Bauteilen als dicken Begriffen sprechen kann, unabhängig davon, ob eine Teilung in deskriptiv und präskriptiv möglich ist.



3. thick and thin conceptions of interpreting architecture

Auch für die Interpretation von Architektur lässt sich eine Analogie zur Moralphilosophie finden. Auf der sprachlichen Ebene versuchen dünne Konzepte der Architekturinterpretation, Bauten zunächst rein objektiv zu beschreiben und davon getrennt zu werten. Da sich dicke Begriffe dafür nicht eignen, wird ihre Verwendung vermieden. Dicke Interpretations-Konzepte können dagegen Architektur als „feige“, „stolz“ oder „erhaben“ bezeichnen und so Beschreibung und Bewertung zusammenfassen. Dies hat den Vorteil, dass eine dicke Sprache alltagsnäher ist und insofern besser verstanden wird bzw. mehr Nuancen transportieren kann als eine „objektivierte“ Sprache, die eventuell Schwierigkeiten hat, Stimmungen oder Atmosphären adäquat auszudrücken. Der Nachteil dieser Konzeption ist gleichzeitig der Vorteil der dünnen Konzepte: die fehlende bzw. gegebene Anschlussfähigkeit an eine Wissenschaftlichkeit mit ihren zentralen Forderungen nach Universalisierbarkeit und intersubjektiv nachprüfbaren und kommunizierbaren Aussagen.

Auf inhaltlicher Ebene interpretieren die thin conceptions of interpretation ein Bauwerk bzw. Architektur hinsichtlich eines bestimmten Kriteriums oder eines relativ kleinen Sets von Aspekten, die als wichtig angesehen werden. Dies birgt die Gefahr eines Zirkelschlusses: Wenn ein Gebäude G hinsichtlich der Werte oder Aspekte A B C als gut beurteilt wird, erfordert dies eine Definition von guter Architektur, die an den Werten A B C festgemacht wird. Wenn man sich bei dieser Definition wiederum exemplarisch auf das Gebäude G bezieht, das ein Beispiel für gute Architektur sei, weil A B C erfüllt seien, ist der Zirkel perfekt. Wenn der Zirkel vermieden wird, verschiebt sich das Problem um eine Ebene. Es ist dann zu zeigen, was gute Architektur ist, und diese Definition ist zu begründen. Die Analogie zur Moralphilosophie ist wiederum offensichtlich: Es muss begründet werden, was das Gute ist, in der Architektur oder in der Moral. Egal, wie die Definition ausfällt: Der Vorwurf der dicken Konzepte wird immer lauten, dass das Gute in der Ethik oder in der Architektur zu komplex, zu vielschichtig oder mit einem Wort zu dick sei, als dass es in das Korsett einer systematisierenden allgemeinen Theorie passen würde. So ist es nicht erstaunlich, dass die thin conceptions of interpretation die Kritik einer Ausdünnung der Architektur auf sich gezogen haben[20]. Dicke Konzepte würden demgegenüber betonen, dass eine Kritik eines Entwurfs anhand des Sets A B C von Werten leicht andere wichtige Aspekte wie D bis X der Architektur ins Hintertreffen geraten lässt.

Hinsichtlich der Methode der Interpretation würde dem umfassenden Ansatz der dicken Konzepte ein Vorgehen in phänomenologischer Manier entsprechen, während der eher partikulare Ansatz der dünnen Konzepte durch das angestrebte streng (natur)wissenschaftliche Vorgehen unterstützt wird.
Dies würde für eine dicke Interpretation bedeuten, dass man sich in phänomenologischer Manier an ein Gebäude herantastet, es gedanklich umkreist, versucht, sein Wesen darzustellen. Architektur würde dabei, wie Kunst, nicht eindeutig einer rein geistigen oder körperlichen Sphäre zugeordnet verstanden, sondern als eine quasi prä-descartes’sche Einheit verstanden. Insofern eine Architektur-Interpretation als wissenschaftlicher Text eine rein rationale Angelegenheit ist, bleibt bei Interpretationen dieser dicken Art allerdings ein unüberbrückbarer Hiatus zwischen der Welt der Ratio und der Welt der Emotion, des Gefühls und der Körperlichkeit. Aufheben ließe sich diese Trennung nur in literarischen Texten, die als Kunstwerk selbst sozusagen eine Einheit von Geist und Welt sind. Als Beispiele lassen sich für den Bereich der Ethik die literarischen Arbeiten von Iris Murdoch, für den Bereich der Architektur-Interpretation das Buch „Die unsichtbaren Städte“ von Italo Calvino[21] nennen.

In den Architekturkritiken der Feuilletons wird meist eine dicke Konzeption der Architekturinterpretation vertreten. Als Beispiel seien die Besprechungen des neuen Opernhauses in Oslo von Snøhetta in der „Zeit“ und in der „Süddeutschen Zeitung“[22] genannt. Die Sprache dieser Artikel ist durchsetzt von Begriffen, die wertend beschreiben. Offenbar ist es so, dass diese „dicken“ Ausdrücke für die Beschreibung von Architektur gut geeignet sind, und dass diese auch im Zusammenhang mit Architektur verstanden werden. Auch inhaltlich geht die Tendenz hier zu den dicken Konzepten der Architektur und somit dahin, die Gebäude hinsichtlich verschiedenster Aspekte zu beurteilen.
Im Gegensatz dazu finden sich in Fachpublikationen zur Architektur bzw. zur Kunst- oder Architekturgeschichte meist Texte, die analog zum Vorgehen der dünnen Konzepte in der Moralphilosophie konzipiert sind. Gebäude werden zunächst rein objektiv vorgestellt und erst am Schluss des Artikels wird, wenn überhaupt, ein Urteil gefällt. Dem dünnen Konzept entsprechend erfolgt das Urteil hinsichtlich eines bestimmten, für den Autor zentralen Wertes. So kann ein Gebäude als hervorragend beurteilt werden, weil einige Aspekte sehr gelungen sind, obwohl andere Aspekte schlecht oder gar nicht gelöst sind. Trotzdem bleiben derlei Interpretationen in sich schlüssig, weil vorher ein Set von Werten definiert wurde, die „gute Architektur“ ausmachen sollen.

So fällt eine Diskrepanz zwischen Texten der Fachpresse und den Feuilletons der Tageszeitungen auf. Die Gründe für diese Diskrepanz liegen in der Wissenschaftlichkeit, die eine Fachzeitschrift nach allgemeinem Empfinden anstreben muss. Artikel in Tagszeitungen dürfen dagegen feuilletonistisch sein. Das heißt, sie können – ganz im Sinne einer dicken Konzeption – Architektur vermitteln wie in einem normalen Gespräch unter gebildeten, reflektierenden Menschen. Dies beinhaltet, dass Ausdrücke wie „kühn aufragend“ im Zusammenhang mit der Beschreibung von Baukörpern verstanden werden. Und es erlaubt außerdem, verschiedenste Aspekte von der Konstruktion, der Materialwahl, der Form der Baukörper, der Konzeption bis hin zur Brauchbarkeit im Alltag differenziert zu beurteilen.



4. Schluss

Diese Ausführungen sollten nicht missverstanden werden als Plädoyer für ausschließlich dicke Konzepte in der Architektur und der Architekturkritik.[23] Wie in der Moralphilosophie haben beide Konzepte ihren Platz und ihre Berechtigung.[24] Dies gilt sowohl für die Architektur wie auch für ihre Interpretation. Sowohl die Unité d’habitation in Marseille von Le Corbusier als auch die Markuskirche von Lewerentz sind herausragende und bedeutende Gebäude. Und sowohl die objektive Analyse einer Architektur mit anschließendem Urteil als auch der feuilletonistische Streifzug durch ein Gebäude können wichtige Erkenntnisse über Architektur vermitteln. Ebenso kann aber auch sowohl eine allzu nüchterne Untersuchung wie auch ein ausuferndes feuilletonistisches Elaborat darin fehlgehen, Wesen und Bedeutung eines Gebäudes adäquat zu kritisieren. In der Architektur ist eine reine „Kopfgeburt“ in den seltensten Fällen herausragend gute Architektur genau so wenig, wie ein x-beliebiges Haus, das nur auf diffusen Gefühlen des Architekten errichtet wurde. Für sich genommen ist dies eine Erkenntnis, die nicht sehr hilfreich ist. Was allerdings sowohl für einen Architekten wie für einen Autor nützlich sein kann, ist, sich über den Standpunkt eines Entwurfes oder eines Textes im Spannungsfeld der Pole, die mit der Analogie zu den thick and thin conceptions of morality hinsichtlich des Konzepts der Architektur und der Interpretation beschrieben wurde, klar zu werden, und sei es nur, um als Autor eines Gebäudes oder einer Interpretation einen Mittelweg zu gehen oder sich bewusst auf die eine oder die andere Seite zu schlagen.




Der Autor dieses Beitrages wird durch ein Stipendium der Deutschen Bundesstiftung Umwelt DBU finanziert.


 



Literatur: 

Calvino, Italo, Die unsichtbaren Städte, München 101999.

Chappell, Timothy, Bernard Williams, in: Zalta, Edward N., The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Spring 2006.

Führ, Eduard, Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster 2000.

Foot, Philippa, Natural Goodness Oxford, 2003.

Foot, Philippa, The Grammar of Goodness, In: Harvard Review of Philosophy XI (2003), p. 32-44.

Le Corbusier, 1922. Ausblick auf eine Architektur, 4. Aufl., Nachdr. 1995; Braunschweig, Wiesbaden 1982.

Murdoch, Iris, Metaphysics As A Guide To Morals, New York, London 1992.

Murdoch, Iris, The Sovereignty of Good, London, New York 1970.

Murdoch, Iris, Existentialists And Mystics, New York, London 1998.

Murdoch, Iris, The Fire And The Sun: Why Plato Banished The Artists, Oxford 1977.

Murdoch, Iris, The Sovereignty of Good over other concepts, Cambridge 1967.

Murdoch, Iris, Acastos – two platonic dialogues, New York 1987.

Pahl, Jürgen, Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts, München, London, New York 1999.

Rawls, John, Gerechtigkeit als Fairness, Frankfurt 2003.

Ricken, Friedo, Allgemeine Ethik, Stuttgart, Berlin, Köln ³1998.

Spector, Tom, The Ethical Architect, New York 2001.

Trampota, Andreas, Autonome Vernunft oder moralische Sehkraft? Das epistemische Fundament der Ethik bei Immanuel Kant und Iris Murdoch, Stuttgart 2003.

Trampota, Andreas, Wahrheit ohne Tugend? Oder: Setzt eine adäquate Wahrnehmung der Wirklichkeit Tugend voraus?, in: zur debatte, 7/2003 S. 38-39, 33. Jahrgang, München 2003.

Venturi, Robert, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1978); Basel, Gütersloh 2003.

Williams, Bernard, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999.


 



Anmerkungen:

 

[1] Vgl. zur Charakterisierung der dünnen Konzepte der Moral an dieser Stelle und im Folgenden: Murdoch 1998, p. 77.

[2] Es sei darauf hingewiesen, dass in der Literatur unterschiedliche Bezeichnungen von „Moral“ und „Ethik“ verwendet werden. Unter „Moral“ verstehe ich in Anschluss an Ricken [Ricken ³1998, S. 14] ein allgemeines, zunächst unreflektiertes Gefühl für die Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft. Im Gegensatz dazu bezeichne ich mit „Ethik“ die wissenschaftliche Untersuchung der Moral.

[3] Es sei angemerkt, dass diese Beschreibung eine starke Vereinfachung darstellt, die als Zusammenfassung der Haupttendenzen nicht alle Feinheiten einzelner Positionen abdeckt.

[4] Murdoch 1998, S. 82.

[5] Dazu schreibt Murdoch: „When we apprehend and assess other people we do not consider only their solutions to specifiable practical problems, we consider something more elusive which may be called their total vision of life, as shown in their mode of speech or silence, their choice of words, their assessments of others, their conception of their own lives, what they think attractive or priseworthy, what they think funny: in short the configurations of their thought which show continually in their reactions and conversation. These things, which may be overtly and comprehensibly displayed or inwardly elaborated and guessed at, constitute what, making different points in the two metaphors, one may call the texture of a man’s being or the nature of his personal vision.” [Murdoch 1998, S. 82]

[6] „Moral philosophy cannot avoid taking sides, and would-be neutral philosophers merely takes sides surreptitiously.” [Murdoch 1967, S. 2] Das heißt für Murdoch aber keinesfalls, dass Ethik irrelevant wäre, weil sie nicht neutral sein kann. Im Gegenteil, sie hält ausgefeilte ethische Überlegungen und Diskussionen für elemetar für das menschliche Leben, was sich nicht nur in ihren philosophischen Schriften, sondern auch in ihren literarischen Arbeiten zeigt.

[7] Wichtig in diesem Zusammenhang ist Murdochs Verständnis von Wirklichkeit und Realität. Gemeint ist nicht die sichtbare Welt der Dinge und Gegenstände. Murdoch geht eher von einer platonischen Welt aus, in der den Ideen höchste Realität zukommt und die Dinge bloße Abbilder der Ideen sind. Ziel der Moralphilosophie muss es demnach sein, die Idee des Guten zu erkennen. Dies geht wiederum nur, indem man ständig seine Sicht der Welt verbessert und im platonischen Sinn versucht von den Erscheinungen zur Realität zu gelangen. Murdoch redet von einer just vision, die Ziel eines moralischen Lebens sein muss. Das ist bemerkenswert, da normalerweise richtiges Verhalten als Ziel  des moralisch guten Lebens gilt. Murdoch ist aber der Meinung, dass eine richtige Sicht der Welt richtiges Verhalten hervorruft.

[8] Andreas Trampota verdanke ich den Hinweis auf eine Anekdote, die Philippa Foot in einem Interview als Schlüsselerlebnis für ihre Philosophie bezeichnet. Sie berichtet von einem Gespräch mit ihrer Lehrerin Elizabeth Anscombe, in dem diese die Trennung von Fakten und Werten in Frage stellte, was für Foot wohl einem revolutionärem Erlebnis gleich kam.
"After lunch in college, we’d sit down and talk philosophy. She’d propound some topic, and though she hardly ever agreed with what I said, she was always willing to consider my objection, and to wonder why I had made it. At one crucial moment, I remember saying of some sentence that it must have a mix of descriptive and evaluative meaning. And she said, “Of what? what?” And I thought, “my God, so one doesn’t have to accept that distinction!
One can say what?!" [Foot 2003, p. 34].

[9] Neuere Tendenzen in der Moralphilosophie versuchen die beiden geschilderten Konzepte miteinander zu versöhnen. Vgl. z. B.: Trampota 2003.

[10] Vgl. Fußnote Nr. 2.

[11] Die Ähnlichkeit von Moral und Kunst ist allerdings nicht völlig unstrittig. Iris Murdoch nimmt häufig Bezug auf Kunst und setzt ethische Fragen in Analogie zu ästhetischen bzw. künstlerischen Problemen. In ihrem Essay Vision and Choice in morality schreibt sie dazu: „Some people stress the dissimilarity between art and morals because they want to insist that morality is rational, in the sense of legislating for repeatable situations by specification of morally relevant facts. Other people stress the similarity between art and morals because they want to insist that morality is imaginative and creative and not limited to duties of special obligation.”  [Murdoch 1998, S. 86] Zweifellos gehört Murdoch zu denjenigen, die die Ähnlichkeit von Kunst und Moral betonen. Wohingegen Bernard Williams auf die Unterschiede hinweist, wenn er zwei grundsätzlich unterschiedliche Sphären der Erkenntnis beschreibt. Der eine Pol wird von ihm mit „das Naturwissenschaftliche“ bezeichnet, den anderen Pol nennt er „das Ethische“ und besteht darauf, dass dieser Bereich nicht mit dem Ästhetischen gleichgesetzt wird. "Die grundlegende Differenz besteht zwischen den Bereichen des Ethischen und des Naturwissenschaftlichen. […] Der Bereich wird nicht »das Wertende« genannt, weil darunter zumindest noch das ästhetische Urteilen fällt, das seine eigenen Fragen aufwirft." [Williams 1999, S. 190].

[12] Le Corbusier 1982, S. 200.

[13] Le Corbusier 1982, S. 154.

[14] Vgl. Venturi 1978.

[15] Dabei sei darauf hingewiesen, dass Ökologie und Nachhaltigkeit im Gegensatz zur überwiegenden Meinung der Architektenschaft keinesfalls das gleiche meinen. Das Konzept der Nachhaltigkeit stellt im Kern eine Gerechtigkeitskonzeption dar, deren besonderes Merkmal eine Ausweitung der Gerechtigkeit in Raum und Zeit darstellt. Die Forderung nach inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit lässt sich philosophisch völlig unterschiedlich begründen und ausformulieren. Somit ist eine Forderung nach nachhaltiger Architektur allein völlig nichts sagend, weil schlichtweg alles darunter subsumiert werden kann, wenn man nur die richtige Begründung wählt.

[16] Dies gilt dabei sowohl für ein teleologisches als auch für ein nicht-teleologisches Verständnis der Architekturgeschichte.

[17] Vgl. Rawls 2003, S. 59ff.

[18] Vgl. dazu M. Heideggers Aufsatz „Bauen-Denken-Wohnen“ und die diversen Interpretationen dazu in Führ 2000.

[19] Das Beispiel lässt sich auch quasi umgekehrt konstruieren, wenn z. B. eine neoklassizistische Villa in moderner Umgebung errichtet wird, könnte man dies als eine faktische Aussage werten, die auch eine Wertaussage enthält.

[20] Vgl. z.B. Spector 2001.

[21] Calvino 101999.

[22] „Süddeutsche Zeitung“ Nr.86 vom 12./13. April 2008, „Die Zeit“ Nr. 16 vom 10. April 2008.

[23] Spector 2001, p.118ff. wendet sich beispielsweise ganz explizit gegen die dünnen Konzepte und argumentiert bzw. plädiert für dicke Konzepte der Architekturinterpretation.

[24] Dies wird zumindest in der Ethik zunehmend erkannt. Vgl. dazu: Trampota 2003.



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