Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

___Andreas Feldtkeller
Tübingen
  Zum ruhigen Wohnen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Vergleich zwischen Horwards geplantem ‘Cluster of Cities’ und Burgess’ sozialtypisch suburban wachsender Stadtregion

 

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In einer dreihundert Generationen andauernden Geschichte der Städte und der Stadtgesellschaften in der westlichen Welt ist es eine nur kurzfristige (und möglicherweise vorübergehende) Erscheinung, wenn im 20. Jahrhundert Wohnen als eine selbständige soziale Funktion siedlungsräumlich die Stadtentwicklung beherrscht. Ausgelöst wird diese Erscheinung a) durch die Entstehung und Entwicklung technischer Kommunikations- und Mobilitätsmedien und b) durch die Vorstellung einer Elite aus Architekten, Stadt- oder Raumplanern und Wissenschaftlern, durch diese technischen Medien ließen sich face-to-face Kontakte und ‚kurze Wege‘ zwischen den Alltagsfunktionen aus Produktion und Reproduktion gesellschaftlich gleichwertig ersetzen (‚Urbanität findet in den Netzen statt‘).

Ob die erwähnte, in der Geschichte der Stadt unvergleichliche Erscheinung vorübergehend und wenigstens teilweise umkehrbar ist, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehen. Es ist jedenfalls zur Kenntnis zu nehmen, dass das Leitbild des ruhigen Wohnens zeitgleich auftritt mit einer massenhaften Zuwanderung in die Stadtregionen, also mit einer in der Geschichte so vorher nie da gewesenen Urbanisierung. Die Folge ist eine städtebauliche Verfestigung der irrtümlicherweise angenommenen Ersetzbarkeit von Nähe und kurzen Wegen im persistenten Bestand der Städte und Stadtregionen. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung in den Stadtregionen der westlichen Welt dürften inzwischen in Verhältnissen leben‚ in denen Wohnen nicht mehr kleinteilig und im Alltag erfahrbar mit der Arbeitswelt verknüpft ist.

Die genannten, nebeneinander her laufenden Entwicklungen sind – so die hier vorgetragene These – keineswegs kausal miteinander verbunden. Die starke Zuwanderung in die Städte hätte durchaus planerisch anders organisiert werden können. Aber das Resultat – die Einführung eines Kults der siedlungsräumlichen Trennung der Funktionen des Alltags und dessen Omnipräsenz in den bestehenden Siedlungsstrukturen – ist inzwischen so in die Stadtlandschaft und in die Köpfe eingeschrieben, dass eine Revision nur noch mit großen Mühen machbar erscheint.


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Wohnen ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die sich im Fortgang der Industrialisierung immer weiter verfestigt hat. Zur siedlungsräumlichen Sphäre des ruhigen Wohnens gehört eine auf ein Minimum beschränkte Ausrüstung der Nachbarschaft mit Wohnfolgeeinrichtungen (ohne Wahlmöglichkeiten!), die nicht als Produktion, sondern als Versorgung wahrgenommen wird.

Ein unverdächtiges Zitat hierzu aus Wikipedia:

„Die heutigen Assoziationen mit dem Begriff ‚Wohnen‘ sowie viele heutige Ausprägungen des Wohnens haben ihre grundlegenden Wurzeln im 19. Jahrhundert, im aufkommenden Bürgerlichen Zeitalter, d. h. in einer Zeit, in der das Bürgertum zur einflussreichen Bevölkerungsgruppe wird. In dieser Zeit werden Wohnung und Familie zum Rückzugsraum und Intimbereich des Bürgertums. Die Industrialisierung verlagert das Arbeiten an andere Orte. Die nun von Arbeitsfunktionen befreite Wohnung wird zum trauten Heim, zum Gegenentwurf zur rauen Realität außen.“

Die neue Ausprägung des Wohnens wird übertragen auf das Wohnquartier, an das jetzt dieselben Ansprüche gestellt werden, wie an die Wohnung: Rückzugsraum, Freihalten von Störungen, Abseitsstellen der rauen Realität, Vorrang für das Aufwachsen im Grünen usw. Stadtsoziologische Begründungen für die Aussperrung der Arbeitswelt aus der Sphäre des Wohnens mit der zunehmenden Arbeitsteilung sind bemerkenswert:

„Die für die Stadtentwicklung wichtigste Differenzierung war die durch eine Veränderung der Produktionsweise eingetretene Trennung von Arbeitsstätte und Wohnstätte. Während beispielsweise in dem Haus des Kaufmanns im 19. Jahrhundert noch Speicher, Kontor und Wohnung vereinigt waren, trennten sich in der Folgezeit diese ‚Funktionen‘ zu unterschiedlichen Gelegenheiten und Standorten. […] Eine sozialökologische Annahme ist, dass Arbeitsteilung und Konkurrenz in der Stadt zu einer Differenzierung des Stadtgebietes in homogene Subgebiete führen, homogen tendenziell hinsichtlich Nutzung und/oder der Bevölkerung.“ (Friedrichs 1981, 70f.) 

Aus dem individuell getrennten Standort von Arbeitsplatz und Wohnort wird kurzschlüssig gefolgert, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft habe das Wohnen in Gebieten stattzufinden, in denen die Arbeitswelt insgesamt nichts mehr zu suchen hat. Wohnen wird zum zentralen Inhalt der Stadtplanung. Dazu gehört auch die Art und Weise, wie siedlungsräumliche Dichte gemessen wird, nach Bewohnern, nie nach Bewohnern + Arbeitskräften. Distinktion schlägt Kooperation.


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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt sich die etablierte Stadtplanung vor, Urbanität in Gebieten herzustellen, die auf die traditionell selbstverständliche kleinteilige Mischung aus Wohnen und vielfältiger Arbeitswelt verzichtet. Auf ‚Urbanität durch Dichte‘ folgt ‚Urbanität durch Stadtarchitektur‘. Die praktische Erfahrung zeigt dann: Dichte und Stadtarchitektur sind zwar notwenige, aber keineswegs zureichende Bestandteile städtischer, also lebendiger Strukturen.

An der Art und Weise wie das Projekt ‚Gartenstadt‘ Ebenezer Howards vom Ende des 19. Jahrhunderts in der Folgezeit rezipiert wird, lässt sich zeigen, wie die Fehleinschätzung zur Herstellbarkeit von Urbanität zustande kommt.

Howard geht es in seinem Projekt um die Frage, wie das Wachstum großer Städte in alltagstaugliche Bahnen gelenkt werden kann. Er will, dass sich die Städte nicht uferlos in die Landschaft hinein ausdehnen mit immer weiter zunehmenden Wegen zum Arbeitsplatz. Im Unterschied zu den früheren Konzepten der Arbeitersiedlungen fortschrittlicher Fabrikherren propagiert er eigenständige und komplette, dicht bebaute neue Städte im Umfeld der bestehenden Zentren. Das Ziel ist ein ‚cluster of cities‘, in dem mehrere Städte von beschränktem Umfang sich mit einer größeren Stadt verbinden, und zwar so, dass zwischen den Einheiten definierte Landschaftsgürtel erhalten bleiben. Die vorgesehene Dichte dieser Ensembles ist wert, hier festgehalten zu werden: Durchmesser der neuen Städte 2 Kilometer, Entfernung von Stadt zu Stadt 5 Kilometer, Erreichbarkeit der Städte untereinander per Schiene in 5 Minuten. Es ergeben sich Städtecluster mit mehr als 250 Tausend Einwohnern.

Howard wird nun in der Folge nicht als Vorkämpfer der polyzentralen Stadtregion, sondern als Erfinder der Suburbanisierung (Suburbanisierung = siedlungsräumliche Auflockerung + Trennung von Wohnen und Arbeitswelt) apostrophiert. Wie kommt dies zustande? Was am Ende des 19. Jahrhunderts – und noch lange in das 20. Jahrhundert hinein – selbstverständlich war und nicht besonders beschrieben zu werden brauchte, war schon in den 1960er Jahren bei den Kommentatoren offensichtlich nicht mehr präsent: Das Grundmodul der urbanen Stadt ist das kleinteilig funktionsgemischte und dicht bebaute Quartier (planungsrechtlich das Wohn- und Geschäftsgebiet), zu dem naturgemäß das Kommunikationsmedium der Straße mit Aufenthaltsqualität gehört. Das Projekt Howards ist natürlich nicht zu begreifen, wenn die Bedeutung dieses Grundmoduls außer Acht gelassen wird.

Der moderne Städtebau, der sich von der eigenen Vorgeschichte losgesagt hat, liest das Projekt Howards mit einer Brille, die sich ausschließlich auf die Ergebnisse der Gartenstadt-Bewegung richtet. Howard hatte sich ausdrücklich gegen Vorstädte gewandt, die Praxis der Stadterweiterung kam aber nie über das Modell der Vorstadt hinaus – auch die späteren New Towns wurden nie mehr etwas anderes als so genannte Schlafstädte, denen exakt das fehlte, was zum Tabu geworden war: die kleinteilige und alltagsbezogene dichte Funktionsvielfalt als maßgebliche Voraussetzung für die Entstehung von Stadt.

   

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Zur Unterstützung von gelebter Urbanität kommt es entscheidend darauf an, dass es für die Bevölkerung nach eigener Wahl genügend Möglichkeitsräume = Quartiere gibt, in denen distanziert mit Anderen und Fremden (d. h. mit Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören) funktional und alltagsbezogen kooperiert werden kann. Dafür sind in ausreichendem Umfang Orte notwendig, die Wohnen und Arbeitswelt (in ihren vielfältigsten Ausprägungen) kleinteilig und mit den Sinnen erfahrbar verbinden. Bauliche und soziale Dichte sind dabei Voraussetzungen insofern, als sich durch sie das Kommunikationsmittel Öffentlicher Raum entfalten kann. ‚Nach eigener Wahl‘ setzt ein Denken voraus, wonach Stadt unterschiedlich gestaltete Möglichkeitsräume = Quartiere anbietet, zwischen denen die Menschen frei wählen können, urbane neben sub- oder antiurbanen.

Nutzungsmischung ist seit etwa zwei Jahrzehnten wieder stadtplanerisch akzeptiert, nur handelt es sich um eine Spielart, in der nicht nach den integrativen Effekten des Mischens gefragt wird. Ausprägungen der Arbeitswelt werden dabei von der Planung nur soweit akzeptiert, wie sie das Wohnen nicht stören: das gängige Stichwort heißt wohnverträgliches Arbeiten: ruhiges Wohnen bleibt das unangefochtene Leitbild. ‚Urbanes Wohnen‘ wird als neue Marke der Immobilienentwicklung zu einer neuen Variante von vorgeblicher aber auch vergeblicher Urbanität.
[Anmerkung: kennzeichnend für alltagstaugliche Funktionsmischung sind Nichtwohnnutzungen, die das Wohnen ‚nicht wesentlich‘ stören, also durchaus beeinträchtigen dürfen; siehe so sogar in der geltenden BauNVO].


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Hätte sich die regionale Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nach dem Grundmuster vollzogen, das sich Howard vorstellte, hätten wir heute eine Siedlungsstruktur, die perfekt dem Bild der nachhaltigen, polyzentalen Stadt entspräche. Es wären Stadtregionen, in denen sich ein völlig anderes Zahlenverhältnis zwischen großen, mittleren und kleinen Betrieben eingependelt hätte; wir hätten Städte, in denen es sogar die Problematik des heute vielfach beklagten Schrumpfens gar nicht gäbe.

Dass das aus dem städtischen Zusammenhang heraus gelöste Wohnen längst nicht mehr allgemein mit den Bedürfnissen der Alltagsbewältigung zusammenpasst, wird in einem seit einiger Zeit beobachteten Trend ‚zurück in die Stadt‘ deutlich. Dieser Trend verlangt nach einer Revision des habitualisierten Leitbilds einer möglichst durchgehend Funktionen trennenden Stadt, in der nur noch Reste aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Ansprüchen an lebendiger Urbanität genügen. Aber in den mutierten Gehirnen ist – als Ausdruck herrschender „Mixophobie“ (Zygmunt Bauman) – das abgesonderte Wohnen so eingebrannt, dass in der Zukunft eher eine ausgesprochene Suburbanisierng der Innenstädte zu erwarten ist. Es entsteht ein erneutes Auseinanderklaffen von individuellen wie gesellschaftlichen Bedürfnissen und gebauter Stadt.

Im gesellschaftlichen Wandel vollzieht sich mit der wirtschaftlichen Globalisierung eine ‚Entgrenzung von Arbeit und Leben‘.

„Die Anforderungen an die nahräumliche wie zunehmend auch an eine überregionale (und sogar globale) Beweglichkeit steigen massiv – nicht nur für ‚Global Players‘. In immer mehr Berufen werden die Bereitschaft und Fähigkeit zur Mobilität, eine regelrecht ‚mobile‘ Lebensform, zur Einstellungsvoraussetzung. Vereinbarkeit von ‚Arbeit und Leben‘ bedeutet daher nicht mehr nur die Vereinbarkeit von getrennten Orten für Erwerbstätigkeit und Privates, sondern die Auswahl und Gestaltung mehrerer Arbeits- und Lebensorte und die Bewältigung der aufwändigen Mobilität zwischen diesen. Noch hat sich eine solche ‚Raumkompetenz‘ nicht als ein neues Feld von Qualifikationen etabliert.“ (Kerstin Jürgens, G. Günter Voß 2007).

Aktuelle Planung und Politik sind bisher nicht imstande, die in den zurückliegenden Generationen aufgerichteten Grenzen zwischen den Funktionen im Sinne einer Stadt der kurzen Wege auch nur stellenweise zu durchbrechen. Nicht einmal eine kritische Auseinandersetzung mit der schizophrenen Diskrepanz aus veränderten ‚sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Bevölkerung‘ (Baugesetzbuch §1) und den Vorgängen am Immobilienmarkt ist mehr möglich.

Die gesellschaftlichen Folgen sind horrend, aber als solche in der Öffentlichkeit so gut wie nicht zu erkennen. Ein konkretes und aktuelles Beispiel zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Angesichts des wenig alltagstauglichen siedlungsräumlichen Bestands überträgt die Bundesregierung den Kommunen die Aufgabe, Einrichtungen zur Betreuung eines vorgegebenen Prozentanteils der 0- bis 3-Jährigen zu schaffen. Der Staat greift – ohne, dass irgendwo Widerspruch entsteht! – in einen eindeutig der Zivilgesellschaft zugehörigen Bereich ein – mit auch noch verheerenden Folgen für die Gemeindefinanzen: die dringend notwendige Umstrukturierung der Stadtlandschaft zur Alltagstauglichkeit scheint sich zu erübrigen.

Dies ist nur ein ausgewähltes Beispiel. Man könnte zahlreiche andere Erscheinungen, die heute konstatiert und resignierend beklagt werden, nennen. Sie erscheinen nicht kurierbar, weil sie eben als gesellschaftliche – sozusagen naturwüchsige – Phänomene aufgefasst werden. Sind sie nicht vielmehr in erheblichem Umfang stadtplanerischer Mixophobie anzulasten?



 


 

Literatur:

 

Baethge, Martin: Abschied vom Industrialismus“. In: Martin Baethge, Ingrid Wilkens (Hg.), Die große Hoffnung für das 21. Jahrhundert?. Opladen 2001.

Bauman, Zygmunt: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Hamburg 2008.

Feldtkeller, Andreas: Die ‚Stadt der kurzen Wege‘ – ein Mosaik unterschiedlicher Lebensqualitäten“. In: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21. Jahrhundert. Berlin 2006.

Friedrichs, Jürgen: Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft. Braunschweig 1977.

Howard, Ebenezer: Garden Cities of To-Morrow. London 1898/1965.

Jacobs, Jane: The Death and Life of Great American Cities. New York 1961.

Jürgens, Kerstin; Voß, G. Günter: Gesellschaftliche Arbeitteilung als Leistung der Person“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34/2007: Entgrenzung von Arbeit und Leben. Bonn 2007.

Posener, Julius (Hg.): Ebenezer Howard. Gartenstädte von morgen. Das Buch und seine Geschichte. Bauwelt Fundamente 21. Berlin Frankfurt/M. Wien 1968.

 

 


 

Abbildungsnachweis:

 

Abbildungen entnommen aus: Ebenezer Howard, Garden Cities of To-Morrow. London 1898/1965, S. 143 und Ulf Hannerz, Exploring the City. New York 1980, S. 29.





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