Brüssel |
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Unser Verhältnis zur Stadt ist gestört – wie
sonst hätten wir das Wohnen vom Stadtleben trennen können?
Als wir vor zwei Jahren dieses frei geräumte Bahngelände in Brüssel
durchstreiften, stießen wir auf diesen eigentlich traurigen Ort in einem
Moment unglaublicher Poesie. Das Licht. Der Schatten. Das Ornament der
Konstruktion. Der Blick auf die Stadtsilhouette. Das Gefühl, plötzlich in
einem fremden Schlafzimmer zu stehen. Das Bett musste noch warm sein. Alle
Begriffe von Öffentlichkeit und Privatheit außer Kraft gesetzt. Keine
Grenze, kein Schutz. Unwürdige Lebensbedingungen – und dennoch nicht
würdelos. Ein Niemandsland zwischen Natur und Kultur.
Ich möchte ein paar Gedanken loswerden, denen ich nachgegangen bin: Wohnen in der
Stadt – Leben mit der Stadt. Ein Versuch, ein Essay über das Verhältnis
Privatheit und Öffentlichkeit. Es ist alles bekannt. Es darf nur nicht
vergessen werden.
Drei Themen: Nähe. Ansehen. Auftritt. Oder, um es für Architekten zu
übersetzen: Tür. Fenster. Straße.
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1. Das Prinzip der Nähe: „Wenn man die Tür
aufmacht, ist man schon in der Stadt“
Ich wohne in der Stadt – ich lebe mit der Stadt. Mittendrin. Eine Weile
mussten wir am Stadtrand wohnen – im Traumhaus des Deutschen, in einem
freistehenden Einfamilienhaus mit großem Garten. Ein Architektenhaus, dessen
Familie die fünf Jahre Umbau nicht überlebt hatte. In dieser Zeit habe ich
wertvolle Erkenntnisse sammeln können. Als wir endlich nach einigen Jahren
in die Stadt ziehen konnten, kam Freude auf in der ganzen Familie – nicht
zuletzt unter den fast erwachsenen Kindern. Auf meine Frage, was denn so
schön daran wäre, kam postwendend die Antwort der Jüngsten: „Man braucht
nur die Tür aufzumachen und ist in der Stadt“. Sie hatte ihre Pubertät
gerade hinter sich und das Leben vor sich – aber am liebsten in Form von
Stadt direkt vor der Haustür.
Alles Wesentliche ist in diesem lapidaren Satz enthalten: „Wenn man die
Tür aufmacht, ist man schon in der Stadt“.
Das ganze Wertgefüge des privaten Rückzugs aus dem Öffentlichen gerät mit
diesem Satz ins Wanken. Sichtbar wird der faszinierende Gegensatz von Innen
und Außen, von einerseits und andererseits. Die Chance, sich anders zu sehen
und zu erleben als nur innerhalb des Systems Familie und der Wohnung – wo
das Kinderzimmer häufig eine Sackgasse ist, aus der nur die Technik
Fluchtmöglichkeiten bietet mit Video, Internet, Fernsehen. Lauter subversive
Systeme des Öffentlichen – des analogen, öffentlichen Lebens, das wir mit
Stadt und Raum verbinden und für das wir uns verantwortlich fühlen. |
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Für alle, die ihre Fähigkeiten entdecken und
erweitern wollen, die in das Leben aufbrechen, ist dort „innen“, wo das
öffentliche Leben ist: das Angebot der Stadt mit ihrer Vielfalt, Anonymität,
Freiheit unmittelbar zugänglich zu haben – eine Gegenwelt zur Intimität der
Familie, deren Ordnung als Begrenzung erfahren wird. Dem Leben mit der Natur
draußen zu entkommen, die ja doch nur so ereignis- und kommunikationslos
dahinvegetiert.
Die Chance zur Selbständigkeit, zu eigenen Erfahrungen und Anregungen in
einem öffentlichen Raum, der jedem Zugang und Schutz gewährt – notfalls auch
vor der eigenen Familie. Nur die Tür öffnen zu müssen – und schon im Netz zu
sein – im Raum der öffentlichen Welt.
Hier bietet sich traditionell der Zugang zur Welt. Der öffentliche
Raum ist die physische Struktur eines kommunikativen, sozialen Netzes, zu
dem jedermann Zugang hat. Das ist die große Errungenschaft unserer
Zivilisation. Diese ist ursprünglich an den städtischen, physischen Raum
gebunden.
Mit unseren technischen Errungenschaften haben wir den Raum unserer
Wahrnehmung und unseres Austauschs jedoch ausgedehnt. Eisenbahn, Auto,
Schiff und Flugzeug erlauben uns, am Ziel der Reise unmittelbar Eindrücke,
Informationen zu verarbeiten. Aber die Zeit für diese Raumüberwindung setzt
uns Grenzen. Tageszeit. Reisezeit. |
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Post oder Telefon eröffnen uns einen Dialog
über große Distanz. Rundfunk oder Fernsehen machen uns zum duldsamen
Empfänger endloser Monologe über Nachrichten weltweiter Ereignisse. Das
Internet bündelt und verteilt Schrift, Text, Bild und Ton zu einem
weltweiten Kommunikationsnetz. Hier entstehen unüberschaubare, neue Formen
der Kommunikation zwischen Welt und Individuum, in der das Private und das
Öffentliche als produktive entgegengesetzte Sphären nicht mehr greifen. |
Paris
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Die sozial und sinnlich erfassbare
Wirklichkeit lässt sich jedoch nur ausschnitthaft dehnen und wirft uns immer
wieder auf den Ort unseres Daseins zurück. Dort, wo wir leben, wo unser
Körper sich befindet, wo unsere Sinne uns die Welt vermitteln, wo eine
Vielheit von Menschen uns begegnet und eine Vielfalt von Sichtweisen
wahrgenommen werden, dort entsteht gemeinsame Wirklichkeit. Diese Kompetenz
besitzt nur die Stadt mit ihren öffentlichen Räumen. Es ist das Prinzip der
Nähe, das hier wirksam ist – abgestimmt auf die seit Jahrtausenden
erworbenen körperlichen, sinnlichen und geistigen Fähigkeiten.
Und es ist das Prinzip der Nähe, das wir in unseren städtischen Strukturen
erneuern und wirksam machen müssen. Das letzte Jahrhundert ist geprägt durch
das Ideal der Entfernung, euphorisch gefeiert als Eröffnung neuer Räume,
Mobilität als Voraussetzung individueller Freiheit. Das Gegenteil ist der
Fall. Die Geschwindigkeit der Bewegung zur Überwindung des Raums zerstört
diesen in seiner öffentlichen und sozialen Wirkung. Der technische Zugriff
auf Raum fördert gleichzeitig Organisationsformen, die zu Konformität, Masse
und Bürokratie führen. |
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Mannheim
Hannover
Brunswick Terrace, Brighton |
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Der Rückzug in das Private scheint ein Ausweg,
ist in Wirklichkeit jedoch nur eine Funktion dieses Prinzips. Die
konzentrierte Privatheit unserer „reinen Wohngebiete“ mit Sammelstraßen und
Wohnwegen ist weit entfernt von jeder Öffentlichkeit – und ebenso einseitig
wie die konzentrierten Arbeitsstätten oder Einkaufsmärkte.
„Wenn
man die Tür aufmacht, ist man schon in der Stadt“.
Dies scheint mir ein zentrales Kriterium –
wobei wir uns Gedanken machen müssen, wie wir sozialen, gesellschaftlichen,
politischen Raum vor der Tür gestalten – wie weit wir ihn überhaupt noch
aushalten können.
Den technischen Raum reiner Verkehrsstraßen jedenfalls können wir weder für
die Entfaltung der privaten noch der öffentlichen Sphäre verwenden. Das
Mindeste, das ihn auszeichnen muss, ist seine soziale Gebrauchsfähigkeit.
Die Zugänglichkeit der Stadt und ihrer öffentlichen Räume ist deshalb
die erste Grundbedingung. Dies heißt:
Die Stadt muss vor der Tür beginnen – nicht erst nach einer Autofahrt oder
langen Wegen.
Der Raum vor der Tür muss als Lebensraum gestaltet sein und zwingend soziale
und ästhetische Qualitäten haben. Ein Parkplatz reicht nicht. |
Hildesheim |
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Möglichst viele Türen zur Straße oder zum
Platz geben dem Stadtleben – nicht nur dem Wohnen, sondern auch dem Laden, der
Werkstatt, dem Büro, der Schule usw. – gemeinsame Substanz. Türen in
unterschiedliche Welten. Erst hier beginnt der Austausch
produktiv zu werden.
Bei größeren Baustrukturen erfordert dies zusätzliche räumliche Bindeglieder
wie Foyer, Vorhalle, Hof und Vorgarten – zur Vermittlung der Gegensätze. |
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Braunschweig |
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Neue Wohngebiete müssen den unmittelbaren
räumlichen Verbund mit anderen städtischen Gebieten herstellen – für
Fußgänger und Radfahrer.
Das Netz der Erschließung ist immer auch der Raum sozialer Erfahrung.
Verkehr ist zwingend in diese kommunikativen und kulturellen Anforderungen
einzuordnen und zu einer verträglichen Ästhetik zu führen.
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2. Das Prinzip der Vielfalt: „Jeder
Augenblick ist kostbar“
Wissen Sie, wie viel Wert Ihre Augenblicke haben, die Sie nebenbei,
unbewusst verteilen? Ich werde Ihnen das nachher vorrechnen – jedenfalls
einen Stundensatz, der Ihr Wertgefühl verändern wird.
Die Stadt, und das ist das Magische an ihr, folgt einem unsichtbaren Plan,
einem heimlichen Auftrag, den wir ihr immer und immer wieder aufs Neue
selbst geben und selbst zu erfüllen suchen.
Fast alles was wir darin veranstalten dient einem Zweck den wir nie
aussprechen, so, als genierten wir uns, das einzugestehen. Diese Aufgabe der
Stadt heißt: Ansehen. Ansehen ermöglichen. Ansehen schaffen.
Die Stadt ist eine Maschinerie, die Ansehen erzeugt und Ansehen verteilt.
Deshalb ist die Stadt so sehr dem „Augenblick“ verpflichtet – dem Blick der
Augen und dem ihm zugehörigen Moment. Sie ist eine Einrichtung zur
Produktion von Augenblicken, von gemeinsamer Wahrnehmung, also zur
Herstellung von Wirklichkeit und – in einem nächsten Schritt, zur
Herstellung von gesellschaftlichem Zusammenhang.
Ursprünglich gilt der Blick dem andern, der Begegnung der Blicke zwischen
zwei Menschen, der gegenseitigen Wahrnehmung. Außerhalb jeder festen
Gemeinschaft, die sich auf Vertrauen gründet, ist diese Wahrnehmung
existentiell. Ohne diesen prüfenden, neugierigen „Augenblick“ hätten wir
keine „Einsicht“ in den anderen und kein Erkennen seiner „Absichten“. Und
müssten auch auf die stille Freude über einen liebenswerten Blick
verzichten. |
Goslar |
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Im mauergeschützten, mittelalterlichen
Stadtraum gibt es den „Augenblick“ lediglich als ein kurzes Erkennen des
anderen als Mitglied der städtischen Gemeinschaft – oder als Eindringling.
Die mittelalterlichen Räume weisen deshalb grundsätzlich Größen auf, die es
immer noch ermöglichen, jeden Mitbürger mit einem Blick zu identifizieren.
Der Blick ist Teil der Sicherheit und gegenseitigen Bestätigung. Ansonsten
ist der Raum vor allem Hören, Verständigung und Verstehen. Der Raum ist
schützende Hülle für Austausch und Arbeit. Gleichzeitig erhält jeder Bürger
hier sein Grundmaß an Ansehen. Die Fassaden sind geprägt durch die Fenster,
die den „Blick“ von innen auf die Straße ermöglichen. Sie verdeutlichen die
Bedeutung der Gemeinschaft und gegenseitigen Sicherung – und den Wert des
Raums als wichtigster Kommunikationsraum.
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Mit der Renaissance ändert sich dieser
„Augenblick“. Er wird überhaupt erst als ein Konstrukt erkannt und
eingesetzt. Ein „Durchblick“ im wörtlichen Sinne: Die „Perspektive“ erlaubt
die zeichnerische Darstellung des Raums auf dem Papier, erlaubt
perspektivische Täuschung auf der Bühne und die Übertragung auf den
Stadtraum. Die Konstruktion des Raums und damit des Ansehens wird zu einer
Kunst. Adel und Patrizier gelangen durch geschicktes Aufbrechen der
mittelalterlich geschlossenen Welt und ihrer dunklen Räume an den Schlüssel
der Wahrnehmung. Durch geschickten Einsatz werden die Blicke gelenkt, wird
das Licht der Wahrheit – bis dahin nur als göttliche Erleuchtung in den
farbigen Fenstern der Kathedralen architektonisch zelebriert – umgelenkt in
weltliche Prachtentfaltung.
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Rom |
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Das Sehen und Hören als Teil einer
mittelalterlichen Selbstverständigung tritt zurück gegenüber dem Prinzip der
Achtung und Ehrerbietung vor den Patriziern, die ihre Städte als Bühne
gestalten und ihren Reichtum und ihre Kunstfertigkeit zur Schau stellen. Der
Raum organisiert die Wahrnehmung, die sie haben ersinnen lassen, bündelt den
Blick, schafft subtile Sichtachsen auf Loggien, Erker, Balkone, Galerien,
Treppen und Fenster, in und auf denen sie selbst erscheinen. Die Stadt wird
zur Szenerie für die neue Ordnung einer Gesellschaft. Das Ansehen wird zu
einem Privileg, in der sich die Oberschicht Jahrhunderte sonnt. Die banale
Straße und der gewöhnliche Platz erhalten hierdurch mehr Glanz – Abglanz.
Die Architektur hat die Aufgabe, dieses Ansehen mit ihren Mitteln zu
erhöhen. Die Stadt wird zu ihrem Erscheinungsraum.
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Place des Victoires, Paris
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Place d’Etoile, Paris
Napoléon-Relief |
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Im Laufe der Jahrhunderte greift dieses Spiel
um sich, wird vereinfacht. Die Absicht tritt unverhüllter zu Tage. Sicht-
und Wegeachsen, geometrische Ordnungen und zum Beispiel sternförmige Anlagen
wie in Karlsruhe verdeutlichen königliche Macht über Raum und Untertan –
erzwingen die Achtung.
Wer auf diese Weise soviel „Ansehen“ erhält wie Louis XIV., kann sich
gerechtfertigt Sonnenkönig nennen und nach Versailles zurückziehen. Seine
Statue im Mittelpunkt des kreisrunden Place des Victoires
sichert sein Ansehen ohne seine Präsenz. Repräsentation wird zum Merkmal
besonderer Bedeutung – ein Ansehen, das ohne wirkliche Gegenwart auskommt.
Dieses Prinzip wird von Napoléon mit dem
Place d’Etoile und dem Arc de
Triomphe perfektioniert. Das Netz wird größer, schneller und
komfortabler. Er erhält für seine Siege eine dauerhafte „Einschaltquote“ der
Stadt – nein, der ganzen Republik. Denn um deren Ansehen geht es nunmehr.
Hier wird Selbstbewusstsein einer Nation erzeugt mit Mitteln des Stadtraums,
der Architektur, des Sehens.
Der Einzelne kann nur als Teil dieser Nation dieses Ansehen auf sich
übertragen – es gilt letztlich nicht dem Menschen als Individuum, sondern
der Idee. Der Raum wird politisch.
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Champs Elysées am 14. Juli, Paris
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Barcelona
50er Jahre Architektur,
Braunschweig |
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Mit dem Wachstum der Städte
im 19. Jahrhundert bildet sich die moderne Gesellschaft und ringt im
Stadtbild um ihr Ansehen. Die bewährten Prinzipien der Perspektive, der
Achsen und Point-de-Vues werden, wie in Berlin,
flächenmäßig eingesetzt, um den Raum zu ordnen – nach Privatheit und
Öffentlichkeit. Die öffentlichen Bauten bilden Fixpunkte.
Aber auch die Gesellschaft zeigt Gesicht in Form standardisierter Fassaden.
Hier äußert sich das Interesse am öffentlichen Leben. Die Teilhabe am
öffentlichen Raum, das Ansehen, das man selbst genießen möchte,
repräsentiert sich in der Architektur – und vor allem im Fenster. Es
entsteht zwar Masse, Stadtmasse, aber immer mit Bezug auf das menschliche
Maß. Die Proportion der vertikalen Fenster antizipiert den Menschen, der
hier wohnt. Die aufwändigen Steinrahmungen überhöhen sein Erscheinungsbild.
Hier, am Beispiel aus Barcelona, versteht man Hannah Arendts Begriff vom
„Erscheinungsraum“ – und spürt die soziale Dichte, die der Raum hierdurch
erhält.
Wie anders wirken hier hingegen die Standards des Wiederaufbaus. Hier zeigt
sich bei aller Not der Zeit auch eine Gesellschaft, die ihr Ansehen und
Gesicht vollkommen verloren hat. Ausdruckslose Lichteinlässe, Lüftungsflügel
– kein Detail überhöht den Menschen. Achtungslosigkeit umgekehrt auch für
den Raum, der ebenfalls an Bedeutung verliert. Jeder Schmuck, jede private
positive Äußerung wird vermieden.
Zurück in den Süden und ins 19. Jahrhundert: Das Verhältnis Öffentlichkeit –
Privatheit erhält seine spannungsreichste Ausformung. Nur eine dünne Membran
trennt die beiden Sphären. Die Fenster erlauben den Blick aus dem Privaten
in das Öffentliche, das wesentlich erst durch dieses Fenster erschaffen
wird. Fünf Schichten dosieren die Beziehung Innen-Außen und geben Ausdruck
über die Befindlichkeit: Sonnenschutz, Brüstungsgitter, Fensterflügel,
Gardine und Vorhang – einzeln – oder miteinander kombinierbar.
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Marseille
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Braunschweig
Siegfriedviertel, Braunschweig |
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Die Bedeutung des
Öffentlichen für die Innenwelt wird hierin sichtbar. Das Fenster zum
Öffentlichen zeigt sich als repräsentatives Bild an bzw. in der Wand. Die
Schönheit des Raums vor der Tür, des Gegenübers und des Ausblicks sind Teil
der guten Adresse, die durch Städtebau, Architektur, Kunst und Infrastruktur
geschaffen werden.
Doch wir lernen und sind auf dem Wege, unser Ansehen wieder herzustellen.
Neuere innerstädtische Projekte zeigen zunehmend das raumhohe Fenster als
Austritt. Beide Seiten profitieren hiervon. Und selbst die Kleinsten können
so ihre ersten Augenblicke in eine erstaunlich andere Welt werfen.
Weiter in der Geschichte: Die 20er Jahre halten noch ihre Orientierung am
öffentlichen Raum, öffnen sich jedoch in die Innenbereiche, suchen Halt in
der Gemeinschaft. Die englische Gartenstadt wird Vorbild – wie hier in der
Siegfriedsiedlung in Braunschweig. |
Südstadt, Braunschweig |
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Das dritte Reich erzwingt
dies auf brachiale Weise: Der Raum wird zurecht gebaut für das Ansehen einer
völkischen Gemeinschaft. In monströsen Achsen für militärische Paraden und
theatralischen Gauforen einerseits und heimattümelndem Siedlungsbau
andererseits wird Größe und Tradition behauptet. Das öffentliche Bewusstsein
zerbricht unter dieser Gewalt – und der öffentliche Raum unter den Bomben
der Alliierten.
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Weststadt, Braunschweig
Wohnen im Grünen,
Braunschweig |
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Unsere zerstörte
Selbstachtung hält in der Folge den Spiegel des Öffentlichen nicht mehr aus.
Lieber schauen wir ins Grüne, flüchten an die Ränder, zerlegen den
verendeten Volkskörper in Einzelfunktionen, konstruieren eine neue Stadt aus
lauter isolierten Organen. Der Zusammenhang wird planerisch und technisch
bewältigt. Der inzwischen so genannte „gesellschaftliche Wohnungsbau“ baut
Masse ohne Ansehen, Stadtteile ohne „Erscheinungsraum“, sozialen Wohnungsbau
mit Straßen ohne soziale Eigenschaften – und fließenden Raum, um sich
gegenseitig aus dem Wege zu gehen.
Dies macht im Prinzip auch der andere Teil der Bevölkerung, der auf eigenem
Grundstück im Einfamilienhaus den Neuanfang probiert und Stadt,
Nachbarschaft und Welt hinter dem Grün verbirgt.
Nur wenige Städte bauen ihre öffentlichen Räume wieder auf, suchen ihr
Ansehen in ihren Straßen, Plätzen und Architekturen wieder zu finden, um so
einen Teil ihrer Geschichte und ihres kollektiven Gedächtnisses zu retten.
Andere opfern auch noch letzte intakte Stadtviertel dem Fortschritt.
Ansehen verschafft uns die Ferne, die Entfernung. Das Haus außerhalb der
Stadt. Das Ferienhaus auf Mallorca. Die Reise in die Karibik. Und vor allem
das Auto – siehe oben.
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Der Raum vor der Tür bleibt
gleichgültig. Unsere Wahrnehmung wird immer stärker medial bestimmt.
Öffentlichkeit anderer Art entsteht im Fernsehen, nicht auf dem Marktplatz.
Die Beteiligung ist ein Millionenfaches dessen, was wir über den Raum
erreichen können. Hier erhält man messbares Ansehen – die Einschaltquote
zählt. An den Werbeetats und den Kosten für ein paar Sekunden unserer
Aufmerksamkeit können wir den Wert eines Augenblicks ermessen. Ihr
persönlicher „Augenblick“ im Jahre 2006 war auf dem Werbemarkt 375 Euro
wert. Die Brutto-Werbeausgaben für die klassischen Medien betrugen im
letzten Jahr insgesamt 30,3 Milliarden – d.h. pro Kopf 375 Euro/Jahr.
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Sanierungsgebiet Bahnhofsviertel,
neue Wohnbebauung Friedrichstraße, Braunschweig
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Mit diesem Etat könnte eine
Stadt wie Braunschweig jährlich locker 90 Millionen zusätzlich in den
öffentlichen Raum investieren. Können Sie sich vorstellen, welche Qualitäten
damit realisierbar wären? Resozialisierung der autonomen Verkehrsstraßen.
Oder jedes Jahr ein neues Schloss – mit Inneneinrichtung, Park und ohne ECE.
Oder lieber: Förderung des Wohnungsbaus in der Innenstadt. Sanierung oder
Neubau der gesichtslosen Bauten der 50er Jahre. Leonhards Garten. Oder ...
Machen wir uns das klar: Der gemeinsame Blick schafft Wirtschaftsimperien,
Nationalstaaten, Gesellschaften, Gemeinschaften – und Städte. Und manchmal
sogar ein Tor für Eintracht Braunschweig. Aber wenn wir wegschauen, fällt
alles zusammen. Und wenn wir zulange wegschauen, fällt auch die
„Wirklichkeit“ zusammen – so jedenfalls folgere ich aus Hannah Arendts
Gedanken.
Jetzt noch die versprochene Berechnung Ihres Augenaufschlags: Wenn Sie, wie
ich selbst schätze, vielleicht 20 Minuten insgesamt Aufmerksamkeit für
Werbung aufbringen im Jahr, ist nach obiger Rechnung eine Stunde Ihrer
Aufmerksamkeit über 1.000 Euro wert. Also: Jeder Augenblick ist kostbar –
und am kostbarsten die, die wir den anderen schenken. (Aus diesem Grund
mahnt mich meine Frau auch, nicht mehr nächtelang Vorträge vorzubereiten –
ihr fehlen jetzt schon mehrere Millionen.)
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Kohlmarkt, Braunschweig
Letztlich sind wir es selbst, die wir uns gegenseitig Ansehen
verschaffen müssen. Gefühlsmäßig suchen wir lieber Räume mit Fassaden, die
uns ansehen, die selbst ausdrucksfähig sind und Auskunft geben über ihre
Bewohner, die vor allem Leben und Lebensgefühl vermitteln.
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Innenhöfe der Bebauung am Kohlmarkt, Braunschweig
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Das Fenster ist hierzu die
bauliche Schnittstelle. Hinter diesen Fenstern können sich Wohnparadiese
verbergen – genau dieses hier. Unter dem Hof liegen großzügige
Geschäftsflächen, hier sind individuelle Wohnungen und Ateliers. Die Wohnungen erhalten ihren Charakter unmittelbar aus der Besonderheit des
Umfelds, der zentralen Lage.
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M. C. Escher hat diesen
Zusammenhang auf seine eigene, sinnestäuschende Weise umgesetzt. Letztlich
sind Innen und Außen nicht zu trennen – sie sind ein einziger Lebensraum,
der unser Wirklichkeitsgefühl fundamental prägt: Vertrautheit, die auf
Vertrauen beruht. Ausblick, der Ansehen erzeugt. Unsere Existenz, die wir
nicht ohne umgebenden Raumzusammenhang denken können. Wenn eine der beiden
Seiten fehlt, das Öffentliche oder das Private, haben wir vermutlich
schlechte Perspektiven für unsere Zukunft.
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3. Das Prinzip der Form:
„Der Raum ist gebaut Umgangsform“
Wenn wir in diesem Sinne ein Leben für notwendig erachten, das sich im
Öffentlichen niederschlägt, sich im städtischen Raum Ansehen verschafft und
für unsere Sinne habhaft wird, so dass wir dies als Wirklichkeit erfahren
können – so haben wir eigentlich eine Aufgabe definiert, die unserer
Gestaltung bedarf. Wir haben einen Inhalt – unseren Umgang miteinander – der
seiner Form bedarf.
Das ist das „Prinzip Gugelhupf“: Jeder Inhalt braucht seine Form. Und
es gilt auch umgekehrt: jede Form braucht ihren Inhalt.
Ohne Form werden wir es nicht schaffen, Öffentlichkeit zu erzeugen und zu
stabilisieren. Der Raum bietet den Rahmen für den öffentlichen Auftritt. Wir
können uns ungebunden in jeder Natur bewegen – unter freiem Himmel oder
unter Brücken schlafen. Jede Wildnis bietet Erleben. Aber gegenseitige
Wahrnehmung und Ansehen innerhalb einer städtischen Gesellschaft entsteht
nur durch Aufeinandertreffen der verschiedenen Ansichten im Raum und
gemeinsamen Umgang. Diese Erkenntnis verdanken wir Hannah Arendt, die dies
in ihrem Buch „Vita activa“ folgendermaßen ausdrückt:
„Menschlich und politisch
gesprochen,
sind Wirklichkeit und Erscheinung dasselbe,
und ein Leben,
das sich außerhalb des Raumes, in dem allein
es in Erscheinung treten kann,
vollzieht,
ermangelt nicht des Lebensgefühls,
wohl aber des Wirklichkeitsgefühls,
das dem Menschen nur dort entsteht,
wo die Wirklichkeit der Welt
durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist,
in der eine und dieselbe Welt
in den verschiedensten Perspektiven erscheint.“
Dies ist die Basis für das Kommunale, das Gemeinsame.
Seit der Renaissance, die uns die Augen geöffnet hat für die Welt,
entwickelt sich die Stadt immer mehr zur Bühne – mit allen Verlockungen für
die Herrschenden, das Stück und die Rollen ein für allemal fest zu
schreiben. Oder durch permanente „öffentliche Spiele“ – heute Event und
Erlebnis – die Stadt zum Spektakel zu machen um von den politischen Fragen
des Zusammenlebens abzulenken.
Die Bühne Stadt können wir verstehen als ein offenes, synchrones Theater mit
vielen Szenerien. Jeder Raum bietet aufgrund seiner Form und Ausstattung
eigene Anregungen, erlaubt Auftritte unterschiedlichster Art. Wichtiges
Merkmal ist die Dauerhaftigkeit des Bühnenbilds und der Bühnenräume.
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Bohlweg,
Braunschweig 2003 |
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Nicht die Kulissen werden verschoben, sondern
die Menschen bewegen sich und führen das Stück über Generationen und
Jahrhunderte hindurch auf. Lassen sich Operetten einfallen und neue Dramen,
wechseln die Kostüme und erproben neue Rollen – bis sie vielleicht eine
ihnen besonders passende Rolle gefunden haben und hierüber zu Beifall und
hohem Ansehen gekommen sind. Oder gefallen sich in der Rolle des Statisten
oder Zuschauers.
Ich verstehe deshalb den „öffentlichen Raum als gebaute Umgangsform“.
Mit diesem Satz malträtiere ich die Braunschweiger seit einigen Jahren.
Um aus dem Verständnis heraus zu kommen, das Leben sei lediglich eine
Addition von Funktionen, die man durch Technik am schnellsten hinter sich
bringen kann: Das ist jedoch das Gegenteil von Öffentlichkeit. Unter dieser
Prämisse filetiert man Städte, wie mit diesen Straßen in den 70er Jahren
Braunschweig zerlegt wurde. Der öffentliche Raum unterliegt einzig dem
Anspruch, so schnell wie möglich durchquert zu werden.
Anlass war die Diskussion um ECE und das Schloss. Für mich bestand die
Chance, diese technischen Unbeherrschtheiten loszuwerden, die insgesamt eine
einzige Erziehung zur Rücksichtslosigkeit dargestellt hatten und die zur
Verrohung im Alltag beigetragen haben. Solche Szenerien erwarten eher die
Rolle von Rambo. |
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Schlosspark, Braunschweig 2003
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Leben am Bohlweg,
Braunschweig 2003
Ringerbrunnen,
Innenstadt, Braunschweig
ECE Schloss-Arkaden,
Braunschweig 2007 |
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So sah das Ganze von oben aus: ein Eiland, das nur bei Ebbe zu erreichen
war: kein Fußweg am Rande, nur drei Zugänge.
War dieser Park wirklich öffentlich? Er war grün und bei Sonne eine Oase.
Aber muss man Wüsten schützen – nur um Oasen nicht zu verlieren?
Ergebnis waren Räume und Inseln, die nicht mehr richtig am Austausch
beteiligt sind, Biotope, in denen sich eigene Formen des Handels entwickeln
und auch die entsprechenden Rollen und Gesten früh einstudiert werden.
Es wurde heftigst gerungen – öffentlich – um die Fortsetzung des Stücks, um
die Veränderung des Raums und seinen Charakter. Es gab so gut wie niemanden
in Braunschweig und Region, der nicht um seine Meinung und Rolle gekämpft
hätte. Die Intensität der Auseinandersetzung hat überrascht.
Die Assoziation „Kulisse“ ist letztlich nicht verkehrt – wobei gerade durch
den öffentlichen Kampf das verlorene Schloss in der Geschichte der Stadt
wieder verankert wurde. Das ist nicht zynisch gemeint: Die Geschichte dieses
Ortes wurde fortgeschrieben. Die Zonengrenze Bohlweg wurde beseitigt und zu
einem öffentlichen Raum als Teil eines öffentlichen Netzes gestaltet. Das
Spektrum der Öffentlichkeit hat zwar den Hintergrund des forcierten
Einkaufens – ist aber deutlich breiter geworden.
Der Raum hat Form bekommen. Dies war mein wichtigstes Anliegen: den Impuls
des Marktes zu nutzen, einer technischen Lebensauffassung, die sich so weit
entfernt hat von einem öffentlichen Leben, den Spielraum zu nehmen und statt
dessen Räume zu schaffen, in denen zivilisiertere Rollen zu neuem Ansehen
finden. Räume, die hoffentlich mit der Zeit das Stück beeinflussen und zu
einem allmählichen „Sinneswandel“ führen – mit mehr Rücksichtnahme und
Dialog und mit zivilen Umgangsformen.
Letztlich geht es um die Geschichte, die im Gebauten Gestalt bekommt und
damit Geschichte werden darf. Deshalb ist „Nachhaltigkeit“ so wichtig – im
ökologischen Sinne, um unsere natürliche Basis nicht zu verlieren – und im
ästhetischen, um unsere kulturelle Basis nicht zu verlieren.
Unser Bauen weist über uns selbst hinaus. Dies ist die Verantwortung der
Architektur und derer, die bauen. |
Schlossplatz,
Braunschweig 2007 |
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Noch einmal zum Schluss ein Gedanke von Hannah Arendt, der diese
Verpflichtung ausdrückt und begründet:
„Eine Welt, die Platz für
Öffentlichkeit haben soll,
kann nicht nur für eine Generation errichtet
oder nur für die Lebenden geplant sein;
sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.
Ohne dies Übersteigen in eine mögliche
menschliche Unsterblichkeit kann es im Ernst
weder Politik noch eine gemeinsame Welt
noch eine Öffentlichkeit geben.“
Ich hätte mir auch eine Stadtgesellschaft gewünscht, die gemeinsam dazu
bereit gewesen wäre, diese unsäglichen Räume der 70er Jahre mit eigenen
Mitteln zu „resozialisieren“ und sie für öffentliches Leben zu gestalten –
als integrierte, anregende, lebendige Stadträume. Doch dazu waren wir alle
nicht in der Lage, weil wir den Wert wohl nicht sehen.
Die Werbung hat den Stellenwert der Stadt erkannt und zur Basis ihres
Handelns gemacht. Verstehen wir unsere Aufgabe als Architekten nicht als
Styling – als Life-Styling. Wir bauen auch nicht nur Häuser. Wir bauen
Stadt. |
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Urban experiment: Die Stadt als Bühne für immer
neue Stücke. Aber die Stadt bleibt.
Deshalb ist mein letzter Satz eine Aufforderung an alle Architekten, die
verständlicherweise ein wieder aufgebautes Schloss als eine verlorene
Chance sehen:
Setzen Sie sich für die Herstellung aller städtischen Räume als öffentliche
Räume ein, in denen alle Menschen ohne Einschränkungen und Ausgrenzungen
aufrecht gehen und auch zu Ansehen kommen können. Wir haben in Braunschweig
noch viel zu tun. Geben wir den Räumen Form. Planen wir diese von den
Rändern her, geben dieser empfindlichen Zone des Austauschs zwischen
Privatheit und Öffentlichkeit mehr Bedeutung, schaffen ausreichend breite
und sichere Fußwege, sorgen für eine friedliche Stimmung und fügen unseren
motorisierten Verkehr sorgfältig ein, ohne die offene Atmosphäre zu
zerstören.
Wenn wir allen Straßen und Plätzen mit den Mitteln der Architektur Raum,
Zugang und Ansehen geben, wird auch die Architektur Achtung erfahren ohne
spektakulär sein zu müssen.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, gehalten im Rahmen
des Symposiums „Zukunft des Wohnens“ der Stadt Braunschweig in
Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und der
niedersächsischen Architektenkammer 2007.
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