Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

__Walter Ackers
Braunschweig
  Wohnen in der Stadt – Leben mit der Stadt.
Gedanken zu den Themen Wohnen, Privatheit und Öffentlichkeit

 

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Brüssel

 

Unser Verhältnis zur Stadt ist gestört – wie sonst hätten wir das Wohnen vom Stadtleben trennen können?

Als wir vor zwei Jahren dieses frei geräumte Bahngelände in Brüssel durchstreiften, stießen wir auf diesen eigentlich traurigen Ort in einem Moment unglaublicher Poesie. Das Licht. Der Schatten. Das Ornament der Konstruktion. Der Blick auf die Stadtsilhouette. Das Gefühl, plötzlich in einem fremden Schlafzimmer zu stehen. Das Bett musste noch warm sein. Alle Begriffe von Öffentlichkeit und Privatheit außer Kraft gesetzt. Keine Grenze, kein Schutz. Unwürdige Lebensbedingungen – und dennoch nicht würdelos. Ein Niemandsland zwischen Natur und Kultur.

Ich möchte ein paar Gedanken loswerden, denen ich nachgegangen bin: Wohnen in der Stadt – Leben mit der Stadt. Ein Versuch, ein Essay über das Verhältnis Privatheit und Öffentlichkeit. Es ist alles bekannt. Es darf nur nicht vergessen werden.
Drei Themen: Nähe. Ansehen. Auftritt. Oder, um es für Architekten zu übersetzen: Tür. Fenster. Straße.



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1. Das Prinzip der Nähe: „Wenn man die Tür aufmacht, ist man schon in der Stadt“

Ich wohne in der Stadt – ich lebe mit der Stadt. Mittendrin. Eine Weile mussten wir am Stadtrand wohnen – im Traumhaus des Deutschen, in einem freistehenden Einfamilienhaus mit großem Garten. Ein Architektenhaus, dessen Familie die fünf Jahre Umbau nicht überlebt hatte. In dieser Zeit habe ich wertvolle Erkenntnisse sammeln können. Als wir endlich nach einigen Jahren in die Stadt ziehen konnten, kam Freude auf in der ganzen Familie – nicht zuletzt unter den fast erwachsenen Kindern. Auf meine Frage, was denn so schön daran wäre, kam postwendend die Antwort der Jüngsten: „Man braucht nur die Tür aufzumachen und ist in der Stadt“. Sie hatte ihre Pubertät gerade hinter sich und das Leben vor sich – aber am liebsten in Form von Stadt direkt vor der Haustür.

Alles Wesentliche ist in diesem lapidaren Satz enthalten: „Wenn man die Tür aufmacht, ist man schon in der Stadt“.

Das ganze Wertgefüge des privaten Rückzugs aus dem Öffentlichen gerät mit diesem Satz ins Wanken. Sichtbar wird der faszinierende Gegensatz von Innen und Außen, von einerseits und andererseits. Die Chance, sich anders zu sehen und zu erleben als nur innerhalb des Systems Familie und der Wohnung – wo das Kinderzimmer häufig eine Sackgasse ist, aus der nur die Technik Fluchtmöglichkeiten bietet mit Video, Internet, Fernsehen. Lauter subversive Systeme des Öffentlichen – des analogen, öffentlichen Lebens, das wir mit Stadt und Raum verbinden und für das wir uns verantwortlich fühlen.

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Für alle, die ihre Fähigkeiten entdecken und erweitern wollen, die in das Leben aufbrechen, ist dort „innen“, wo das öffentliche Leben ist: das Angebot der Stadt mit ihrer Vielfalt, Anonymität, Freiheit unmittelbar zugänglich zu haben – eine Gegenwelt zur Intimität der Familie, deren Ordnung als Begrenzung erfahren wird. Dem Leben mit der Natur draußen zu entkommen, die ja doch nur so ereignis- und kommunikationslos dahinvegetiert.

Die Chance zur Selbständigkeit, zu eigenen Erfahrungen und Anregungen in einem öffentlichen Raum, der jedem Zugang und Schutz gewährt – notfalls auch vor der eigenen Familie. Nur die Tür öffnen zu müssen – und schon im Netz zu sein – im Raum der öffentlichen Welt.

Hier bietet sich traditionell der Zugang zur Welt. Der öffentliche Raum ist die physische Struktur eines kommunikativen, sozialen Netzes, zu dem jedermann Zugang hat. Das ist die große Errungenschaft unserer Zivilisation. Diese ist ursprünglich an den städtischen, physischen Raum gebunden.

Mit unseren technischen Errungenschaften haben wir den Raum unserer Wahrnehmung und unseres Austauschs jedoch ausgedehnt. Eisenbahn, Auto, Schiff und Flugzeug erlauben uns, am Ziel der Reise unmittelbar Eindrücke, Informationen zu verarbeiten. Aber die Zeit für diese Raumüberwindung setzt uns Grenzen. Tageszeit. Reisezeit.

   

Post oder Telefon eröffnen uns einen Dialog über große Distanz. Rundfunk oder Fernsehen machen uns zum duldsamen Empfänger endloser Monologe über Nachrichten weltweiter Ereignisse. Das Internet bündelt und verteilt Schrift, Text, Bild und Ton zu einem weltweiten Kommunikationsnetz. Hier entstehen unüberschaubare, neue Formen der Kommunikation zwischen Welt und Individuum, in der das Private und das Öffentliche als produktive entgegengesetzte Sphären nicht mehr greifen.

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Paris
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Die sozial und sinnlich erfassbare Wirklichkeit lässt sich jedoch nur ausschnitthaft dehnen und wirft uns immer wieder auf den Ort unseres Daseins zurück. Dort, wo wir leben, wo unser Körper sich befindet, wo unsere Sinne uns die Welt vermitteln, wo eine Vielheit von Menschen uns begegnet und eine Vielfalt von Sichtweisen wahrgenommen werden, dort entsteht gemeinsame Wirklichkeit. Diese Kompetenz besitzt nur die Stadt mit ihren öffentlichen Räumen. Es ist das Prinzip der Nähe, das hier wirksam ist – abgestimmt auf die seit Jahrtausenden erworbenen körperlichen, sinnlichen und geistigen Fähigkeiten.

Und es ist das Prinzip der Nähe, das wir in unseren städtischen Strukturen erneuern und wirksam machen müssen. Das letzte Jahrhundert ist geprägt durch das Ideal der Entfernung, euphorisch gefeiert als Eröffnung neuer Räume, Mobilität als Voraussetzung individueller Freiheit. Das Gegenteil ist der Fall. Die Geschwindigkeit der Bewegung zur Überwindung des Raums zerstört diesen in seiner öffentlichen und sozialen Wirkung. Der technische Zugriff auf Raum fördert gleichzeitig Organisationsformen, die zu Konformität, Masse und Bürokratie führen.

   

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Mannheim

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Hannover

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Brunswick Terrace, Brighton

 

Der Rückzug in das Private scheint ein Ausweg, ist in Wirklichkeit jedoch nur eine Funktion dieses Prinzips. Die konzentrierte Privatheit unserer „reinen Wohngebiete“ mit Sammelstraßen und Wohnwegen ist weit entfernt von jeder Öffentlichkeit – und ebenso einseitig wie die konzentrierten Arbeitsstätten oder Einkaufsmärkte.
 

„Wenn man die Tür aufmacht, ist man schon in der Stadt“.
 

Dies scheint mir ein zentrales Kriterium – wobei wir uns Gedanken machen müssen, wie wir sozialen, gesellschaftlichen, politischen Raum vor der Tür gestalten – wie weit wir ihn überhaupt noch aushalten können.
Den technischen Raum reiner Verkehrsstraßen jedenfalls können wir weder für die Entfaltung der privaten noch der öffentlichen Sphäre verwenden. Das Mindeste, das ihn auszeichnen muss, ist seine soziale Gebrauchsfähigkeit.
Die Zugänglichkeit der Stadt und ihrer öffentlichen Räume ist deshalb die erste Grundbedingung. Dies heißt:
Die Stadt muss vor der Tür beginnen – nicht erst nach einer Autofahrt oder langen Wegen.

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Der Raum vor der Tür muss als Lebensraum gestaltet sein und zwingend soziale und ästhetische Qualitäten haben. Ein Parkplatz reicht nicht.

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Hildesheim
 

Möglichst viele Türen zur Straße oder zum Platz geben dem Stadtleben – nicht nur dem Wohnen, sondern auch dem Laden, der Werkstatt, dem Büro, der Schule usw. – gemeinsame Substanz. Türen in unterschiedliche Welten. Erst hier beginnt der Austausch produktiv zu werden.

Bei größeren Baustrukturen erfordert dies zusätzliche räumliche Bindeglieder wie Foyer, Vorhalle, Hof und Vorgarten – zur Vermittlung der Gegensätze.

   

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Braunschweig

   

Neue Wohngebiete müssen den unmittelbaren räumlichen Verbund mit anderen städtischen Gebieten herstellen – für Fußgänger und Radfahrer.
Das Netz der Erschließung ist immer auch der Raum sozialer Erfahrung. Verkehr ist zwingend in diese kommunikativen und kulturellen Anforderungen einzuordnen und zu einer verträglichen Ästhetik zu führen.



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2. Das Prinzip der Vielfalt: „Jeder Augenblick ist kostbar“

Wissen Sie, wie viel Wert Ihre Augenblicke haben, die Sie nebenbei, unbewusst verteilen? Ich werde Ihnen das nachher vorrechnen – jedenfalls einen Stundensatz, der Ihr Wertgefühl verändern wird.

Die Stadt, und das ist das Magische an ihr, folgt einem unsichtbaren Plan, einem heimlichen Auftrag, den wir ihr immer und immer wieder aufs Neue selbst geben und selbst zu erfüllen suchen.
Fast alles was wir darin veranstalten dient einem Zweck den wir nie aussprechen, so, als genierten wir uns, das einzugestehen. Diese Aufgabe der Stadt heißt: Ansehen. Ansehen ermöglichen. Ansehen schaffen.

Die Stadt ist eine Maschinerie, die Ansehen erzeugt und Ansehen verteilt. Deshalb ist die Stadt so sehr dem „Augenblick“ verpflichtet – dem Blick der Augen und dem ihm zugehörigen Moment. Sie ist eine Einrichtung zur Produktion von Augenblicken, von gemeinsamer Wahrnehmung, also zur Herstellung von Wirklichkeit und – in einem nächsten Schritt, zur Herstellung von gesellschaftlichem Zusammenhang.

Ursprünglich gilt der Blick dem andern, der Begegnung der Blicke zwischen zwei Menschen, der gegenseitigen Wahrnehmung. Außerhalb jeder festen Gemeinschaft, die sich auf Vertrauen gründet, ist diese Wahrnehmung existentiell. Ohne diesen prüfenden, neugierigen „Augenblick“ hätten wir keine „Einsicht“ in den anderen und kein Erkennen seiner „Absichten“. Und müssten auch auf die stille Freude über einen liebenswerten Blick verzichten.

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Goslar
 

Im mauergeschützten, mittelalterlichen Stadtraum gibt es den „Augenblick“ lediglich als ein kurzes Erkennen des anderen als Mitglied der städtischen Gemeinschaft – oder als Eindringling. Die mittelalterlichen Räume weisen deshalb grundsätzlich Größen auf, die es immer noch ermöglichen, jeden Mitbürger mit einem Blick zu identifizieren. Der Blick ist Teil der Sicherheit und gegenseitigen Bestätigung. Ansonsten ist der Raum vor allem Hören, Verständigung und Verstehen. Der Raum ist schützende Hülle für Austausch und Arbeit. Gleichzeitig erhält jeder Bürger hier sein Grundmaß an Ansehen. Die Fassaden sind geprägt durch die Fenster, die den „Blick“ von innen auf die Straße ermöglichen. Sie verdeutlichen die Bedeutung der Gemeinschaft und gegenseitigen Sicherung – und den Wert des Raums als wichtigster Kommunikationsraum.


   

Mit der Renaissance ändert sich dieser „Augenblick“. Er wird überhaupt erst als ein Konstrukt erkannt und eingesetzt. Ein „Durchblick“ im wörtlichen Sinne: Die „Perspektive“ erlaubt die zeichnerische Darstellung des Raums auf dem Papier, erlaubt perspektivische Täuschung auf der Bühne und die Übertragung auf den Stadtraum. Die Konstruktion des Raums und damit des Ansehens wird zu einer Kunst. Adel und Patrizier gelangen durch geschicktes Aufbrechen der mittelalterlich geschlossenen Welt und ihrer dunklen Räume an den Schlüssel der Wahrnehmung. Durch geschickten Einsatz werden die Blicke gelenkt, wird das Licht der Wahrheit – bis dahin nur als göttliche Erleuchtung in den farbigen Fenstern der Kathedralen architektonisch zelebriert – umgelenkt in weltliche Prachtentfaltung.


   

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Rom

   

Das Sehen und Hören als Teil einer mittelalterlichen Selbstverständigung tritt zurück gegenüber dem Prinzip der Achtung und Ehrerbietung vor den Patriziern, die ihre Städte als Bühne gestalten und ihren Reichtum und ihre Kunstfertigkeit zur Schau stellen. Der Raum organisiert die Wahrnehmung, die sie haben ersinnen lassen, bündelt den Blick, schafft subtile Sichtachsen auf Loggien, Erker, Balkone, Galerien, Treppen und Fenster, in und auf denen sie selbst erscheinen. Die Stadt wird zur Szenerie für die neue Ordnung einer Gesellschaft. Das Ansehen wird zu einem Privileg, in der sich die Oberschicht Jahrhunderte sonnt. Die banale Straße und der gewöhnliche Platz erhalten hierdurch mehr Glanz – Abglanz. Die Architektur hat die Aufgabe, dieses Ansehen mit ihren Mitteln zu erhöhen. Die Stadt wird zu ihrem Erscheinungsraum.


   

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Place des Victoires, Paris


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Place d’Etoile, Paris

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Napoléon-Relief

 

Im Laufe der Jahrhunderte greift dieses Spiel um sich, wird vereinfacht. Die Absicht tritt unverhüllter zu Tage. Sicht- und Wegeachsen, geometrische Ordnungen und zum Beispiel sternförmige Anlagen wie in Karlsruhe verdeutlichen königliche Macht über Raum und Untertan – erzwingen die Achtung.

Wer auf diese Weise soviel „Ansehen“ erhält wie Louis XIV., kann sich gerechtfertigt Sonnenkönig nennen und nach Versailles zurückziehen. Seine Statue im Mittelpunkt des kreisrunden Place des Victoires sichert sein Ansehen ohne seine Präsenz. Repräsentation wird zum Merkmal besonderer Bedeutung – ein Ansehen, das ohne wirkliche Gegenwart auskommt.

Dieses Prinzip wird von Napoléon mit dem Place d’Etoile und dem Arc de Triomphe perfektioniert. Das Netz wird größer, schneller und komfortabler. Er erhält für seine Siege eine dauerhafte „Einschaltquote“ der Stadt – nein, der ganzen Republik. Denn um deren Ansehen geht es nunmehr. Hier wird Selbstbewusstsein einer Nation erzeugt mit Mitteln des Stadtraums, der Architektur, des Sehens.

Der Einzelne kann nur als Teil dieser Nation dieses Ansehen auf sich übertragen – es gilt letztlich nicht dem Menschen als Individuum, sondern der Idee. Der Raum wird politisch.


   

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Champs Elysées
am 14. Juli, Paris

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Barcelona

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50er Jahre Architektur,
Braunschweig

 

Mit dem Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert bildet sich die moderne Gesellschaft und ringt im Stadtbild um ihr Ansehen. Die bewährten Prinzipien der Perspektive, der Achsen und Point-de-Vues werden, wie in Berlin, flächenmäßig eingesetzt, um den Raum zu ordnen – nach Privatheit und Öffentlichkeit. Die öffentlichen Bauten bilden Fixpunkte.

Aber auch die Gesellschaft zeigt Gesicht in Form standardisierter Fassaden. Hier äußert sich das Interesse am öffentlichen Leben. Die Teilhabe am öffentlichen Raum, das Ansehen, das man selbst genießen möchte, repräsentiert sich in der Architektur – und vor allem im Fenster. Es entsteht zwar Masse, Stadtmasse, aber immer mit Bezug auf das menschliche Maß. Die Proportion der vertikalen Fenster antizipiert den Menschen, der hier wohnt. Die aufwändigen Steinrahmungen überhöhen sein Erscheinungsbild. Hier, am Beispiel aus Barcelona, versteht man Hannah Arendts Begriff vom „Erscheinungsraum“ – und spürt die soziale Dichte, die der Raum hierdurch erhält.

Wie anders wirken hier hingegen die Standards des Wiederaufbaus. Hier zeigt sich bei aller Not der Zeit auch eine Gesellschaft, die ihr Ansehen und Gesicht vollkommen verloren hat. Ausdruckslose Lichteinlässe, Lüftungsflügel – kein Detail überhöht den Menschen. Achtungslosigkeit umgekehrt auch für den Raum, der ebenfalls an Bedeutung verliert. Jeder Schmuck, jede private positive Äußerung wird vermieden.

Zurück in den Süden und ins 19. Jahrhundert: Das Verhältnis Öffentlichkeit – Privatheit erhält seine spannungsreichste Ausformung. Nur eine dünne Membran trennt die beiden Sphären. Die Fenster erlauben den Blick aus dem Privaten in das Öffentliche, das wesentlich erst durch dieses Fenster erschaffen wird. Fünf Schichten dosieren die Beziehung Innen-Außen und geben Ausdruck über die Befindlichkeit: Sonnenschutz, Brüstungsgitter, Fensterflügel, Gardine und Vorhang – einzeln – oder miteinander kombinierbar.


   

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Marseille

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Braunschweig

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Siegfriedviertel, Braunschweig

 

Die Bedeutung des Öffentlichen für die Innenwelt wird hierin sichtbar. Das Fenster zum Öffentlichen zeigt sich als repräsentatives Bild an bzw. in der Wand. Die Schönheit des Raums vor der Tür, des Gegenübers und des Ausblicks sind Teil der guten Adresse, die durch Städtebau, Architektur, Kunst und Infrastruktur geschaffen werden.

Doch wir lernen und sind auf dem Wege, unser Ansehen wieder herzustellen. Neuere innerstädtische Projekte zeigen zunehmend das raumhohe Fenster als Austritt. Beide Seiten profitieren hiervon. Und selbst die Kleinsten können so ihre ersten Augenblicke in eine erstaunlich andere Welt werfen.

Weiter in der Geschichte: Die 20er Jahre halten noch ihre Orientierung am öffentlichen Raum, öffnen sich jedoch in die Innenbereiche, suchen Halt in der Gemeinschaft. Die englische Gartenstadt wird Vorbild – wie hier in der Siegfriedsiedlung in Braunschweig.

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Südstadt, Braunschweig
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Das dritte Reich erzwingt dies auf brachiale Weise: Der Raum wird zurecht gebaut für das Ansehen einer völkischen Gemeinschaft. In monströsen Achsen für militärische Paraden und theatralischen Gauforen einerseits und heimattümelndem Siedlungsbau andererseits wird Größe und Tradition behauptet. Das öffentliche Bewusstsein zerbricht unter dieser Gewalt – und der öffentliche Raum unter den Bomben der Alliierten.

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Weststadt, Braunschweig

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Wohnen im Grünen,
Braunschweig
 

 

Unsere zerstörte Selbstachtung hält in der Folge den Spiegel des Öffentlichen nicht mehr aus. Lieber schauen wir ins Grüne, flüchten an die Ränder, zerlegen den verendeten Volkskörper in Einzelfunktionen, konstruieren eine neue Stadt aus lauter isolierten Organen. Der Zusammenhang wird planerisch und technisch bewältigt. Der inzwischen so genannte „gesellschaftliche Wohnungsbau“ baut Masse ohne Ansehen, Stadtteile ohne „Erscheinungsraum“, sozialen Wohnungsbau mit Straßen ohne soziale Eigenschaften – und fließenden Raum, um sich gegenseitig aus dem Wege zu gehen.

Dies macht im Prinzip auch der andere Teil der Bevölkerung, der auf eigenem Grundstück im Einfamilienhaus den Neuanfang probiert und Stadt, Nachbarschaft und Welt hinter dem Grün verbirgt.

Nur wenige Städte bauen ihre öffentlichen Räume wieder auf, suchen ihr Ansehen in ihren Straßen, Plätzen und Architekturen wieder zu finden, um so einen Teil ihrer Geschichte und ihres kollektiven Gedächtnisses zu retten. Andere opfern auch noch letzte intakte Stadtviertel dem Fortschritt.
Ansehen verschafft uns die Ferne, die Entfernung. Das Haus außerhalb der Stadt. Das Ferienhaus auf Mallorca. Die Reise in die Karibik. Und vor allem das Auto – siehe oben.

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Der Raum vor der Tür bleibt gleichgültig. Unsere Wahrnehmung wird immer stärker medial bestimmt. Öffentlichkeit anderer Art entsteht im Fernsehen, nicht auf dem Marktplatz. Die Beteiligung ist ein Millionenfaches dessen, was wir über den Raum erreichen können. Hier erhält man messbares Ansehen – die Einschaltquote zählt. An den Werbeetats und den Kosten für ein paar Sekunden unserer Aufmerksamkeit können wir den Wert eines Augenblicks ermessen. Ihr persönlicher „Augenblick“ im Jahre 2006 war auf dem Werbemarkt 375 Euro wert. Die Brutto-Werbeausgaben für die klassischen Medien betrugen im letzten Jahr insgesamt 30,3 Milliarden – d.h. pro Kopf 375 Euro/Jahr.

   

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Sanierungsgebiet Bahnhofsviertel,
neue Wohnbebauung Friedrichstraße, Braunschweig

   

Mit diesem Etat könnte eine Stadt wie Braunschweig jährlich locker 90 Millionen zusätzlich in den öffentlichen Raum investieren. Können Sie sich vorstellen, welche Qualitäten damit realisierbar wären? Resozialisierung der autonomen Verkehrsstraßen. Oder jedes Jahr ein neues Schloss – mit Inneneinrichtung, Park und ohne ECE. Oder lieber: Förderung des Wohnungsbaus in der Innenstadt. Sanierung oder Neubau der gesichtslosen Bauten der 50er Jahre. Leonhards Garten. Oder ...

Machen wir uns das klar: Der gemeinsame Blick schafft Wirtschaftsimperien, Nationalstaaten, Gesellschaften, Gemeinschaften – und Städte. Und manchmal sogar ein Tor für Eintracht Braunschweig. Aber wenn wir wegschauen, fällt alles zusammen. Und wenn wir zulange wegschauen, fällt auch die „Wirklichkeit“ zusammen – so jedenfalls folgere ich aus Hannah Arendts Gedanken.

Jetzt noch die versprochene Berechnung Ihres Augenaufschlags: Wenn Sie, wie ich selbst schätze, vielleicht 20 Minuten insgesamt Aufmerksamkeit für Werbung aufbringen im Jahr, ist nach obiger Rechnung eine Stunde Ihrer Aufmerksamkeit über 1.000 Euro wert. Also: Jeder Augenblick ist kostbar – und am kostbarsten die, die wir den anderen schenken. (Aus diesem Grund mahnt mich meine Frau auch, nicht mehr nächtelang Vorträge vorzubereiten – ihr fehlen jetzt schon mehrere Millionen.)


   

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Kohlmarkt, Braunschweig


Letztlich sind wir es selbst, die wir uns gegenseitig Ansehen verschaffen müssen. Gefühlsmäßig suchen wir lieber Räume mit Fassaden, die uns ansehen, die selbst ausdrucksfähig sind und Auskunft geben über ihre Bewohner, die vor allem Leben und Lebensgefühl vermitteln.


   

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Innenhöfe der Bebauung am Kohlmarkt, Braunschweig

   

Das Fenster ist hierzu die bauliche Schnittstelle. Hinter diesen Fenstern können sich Wohnparadiese verbergen – genau dieses hier. Unter dem Hof liegen großzügige Geschäftsflächen, hier sind individuelle Wohnungen und Ateliers. Die Wohnungen erhalten ihren Charakter unmittelbar aus der Besonderheit des Umfelds, der zentralen Lage.


   

M. C. Escher hat diesen Zusammenhang auf seine eigene, sinnestäuschende Weise umgesetzt. Letztlich sind Innen und Außen nicht zu trennen – sie sind ein einziger Lebensraum, der unser Wirklichkeitsgefühl fundamental prägt: Vertrautheit, die auf Vertrauen beruht. Ausblick, der Ansehen erzeugt. Unsere Existenz, die wir nicht ohne umgebenden Raumzusammenhang denken können. Wenn eine der beiden Seiten fehlt, das Öffentliche oder das Private, haben wir vermutlich schlechte Perspektiven für unsere Zukunft.



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3. Das Prinzip der Form: „Der Raum ist gebaut Umgangsform“

Wenn wir in diesem Sinne ein Leben für notwendig erachten, das sich im Öffentlichen niederschlägt, sich im städtischen Raum Ansehen verschafft und für unsere Sinne habhaft wird, so dass wir dies als Wirklichkeit erfahren können – so haben wir eigentlich eine Aufgabe definiert, die unserer Gestaltung bedarf. Wir haben einen Inhalt – unseren Umgang miteinander – der seiner Form bedarf.

Das ist das „Prinzip Gugelhupf“: Jeder Inhalt braucht seine Form. Und es gilt auch umgekehrt: jede Form braucht ihren Inhalt.

Ohne Form werden wir es nicht schaffen, Öffentlichkeit zu erzeugen und zu stabilisieren. Der Raum bietet den Rahmen für den öffentlichen Auftritt. Wir können uns ungebunden in jeder Natur bewegen – unter freiem Himmel oder unter Brücken schlafen. Jede Wildnis bietet Erleben. Aber gegenseitige Wahrnehmung und Ansehen innerhalb einer städtischen Gesellschaft entsteht nur durch Aufeinandertreffen der verschiedenen Ansichten im Raum und gemeinsamen Umgang. Diese Erkenntnis verdanken wir Hannah Arendt, die dies in ihrem Buch „Vita activa“ folgendermaßen ausdrückt:


„Menschlich und politisch gesprochen,
sind Wirklichkeit und Erscheinung dasselbe,
und ein Leben,
das sich außerhalb des Raumes, in dem allein
es in Erscheinung treten kann,
vollzieht,
ermangelt nicht des Lebensgefühls,
wohl aber des Wirklichkeitsgefühls,
das dem Menschen nur dort entsteht,
wo die Wirklichkeit der Welt
durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist,
in der eine und dieselbe Welt
in den verschiedensten Perspektiven erscheint.“


Dies ist die Basis für das Kommunale, das Gemeinsame.

Seit der Renaissance, die uns die Augen geöffnet hat für die Welt, entwickelt sich die Stadt immer mehr zur Bühne – mit allen Verlockungen für die Herrschenden, das Stück und die Rollen ein für allemal fest zu schreiben. Oder durch permanente „öffentliche Spiele“ – heute Event und Erlebnis – die Stadt zum Spektakel zu machen um von den politischen Fragen des Zusammenlebens abzulenken.

Die Bühne Stadt können wir verstehen als ein offenes, synchrones Theater mit vielen Szenerien. Jeder Raum bietet aufgrund seiner Form und Ausstattung eigene Anregungen, erlaubt Auftritte unterschiedlichster Art. Wichtiges Merkmal ist die Dauerhaftigkeit des Bühnenbilds und der Bühnenräume.

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Bohlweg,
Braunschweig 2003

 

Nicht die Kulissen werden verschoben, sondern die Menschen bewegen sich und führen das Stück über Generationen und Jahrhunderte hindurch auf. Lassen sich Operetten einfallen und neue Dramen, wechseln die Kostüme und erproben neue Rollen – bis sie vielleicht eine ihnen besonders passende Rolle gefunden haben und hierüber zu Beifall und hohem Ansehen gekommen sind. Oder gefallen sich in der Rolle des Statisten oder Zuschauers.
Ich verstehe deshalb den „öffentlichen Raum als gebaute Umgangsform“. Mit diesem Satz malträtiere ich die Braunschweiger seit einigen Jahren.

Um aus dem Verständnis heraus zu kommen, das Leben sei lediglich eine Addition von Funktionen, die man durch Technik am schnellsten hinter sich bringen kann: Das ist jedoch das Gegenteil von Öffentlichkeit. Unter dieser Prämisse filetiert man Städte, wie mit diesen Straßen in den 70er Jahren Braunschweig zerlegt wurde. Der öffentliche Raum unterliegt einzig dem Anspruch, so schnell wie möglich durchquert zu werden.

Anlass war die Diskussion um ECE und das Schloss. Für mich bestand die Chance, diese technischen Unbeherrschtheiten loszuwerden, die insgesamt eine einzige Erziehung zur Rücksichtslosigkeit dargestellt hatten und die zur Verrohung im Alltag beigetragen haben. Solche Szenerien erwarten eher die Rolle von Rambo.

   

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Schlosspark, Braunschweig 2003

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Leben am Bohlweg,
Braunschweig 2003

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Ringerbrunnen,
Innenstadt, Braunschweig

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ECE Schloss-Arkaden,
Braunschweig 2007

 

So sah das Ganze von oben aus: ein Eiland, das nur bei Ebbe zu erreichen war: kein Fußweg am Rande, nur drei Zugänge.
War dieser Park wirklich öffentlich? Er war grün und bei Sonne eine Oase. Aber muss man Wüsten schützen – nur um Oasen nicht zu verlieren?
Ergebnis waren Räume und Inseln, die nicht mehr richtig am Austausch beteiligt sind, Biotope, in denen sich eigene Formen des Handels entwickeln und auch die entsprechenden Rollen und Gesten früh einstudiert werden.

Es wurde heftigst gerungen – öffentlich – um die Fortsetzung des Stücks, um die Veränderung des Raums und seinen Charakter. Es gab so gut wie niemanden in Braunschweig und Region, der nicht um seine Meinung und Rolle gekämpft hätte. Die Intensität der Auseinandersetzung hat überrascht.

Die Assoziation „Kulisse“ ist letztlich nicht verkehrt – wobei gerade durch den öffentlichen Kampf das verlorene Schloss in der Geschichte der Stadt wieder verankert wurde. Das ist nicht zynisch gemeint: Die Geschichte dieses Ortes wurde fortgeschrieben. Die Zonengrenze Bohlweg wurde beseitigt und zu einem öffentlichen Raum als Teil eines öffentlichen Netzes gestaltet. Das Spektrum der Öffentlichkeit hat zwar den Hintergrund des forcierten Einkaufens – ist aber deutlich breiter geworden.

Der Raum hat Form bekommen. Dies war mein wichtigstes Anliegen: den Impuls des Marktes zu nutzen, einer technischen Lebensauffassung, die sich so weit entfernt hat von einem öffentlichen Leben, den Spielraum zu nehmen und statt dessen Räume zu schaffen, in denen zivilisiertere Rollen zu neuem Ansehen finden. Räume, die hoffentlich mit der Zeit das Stück beeinflussen und zu einem allmählichen „Sinneswandel“ führen – mit mehr Rücksichtnahme und Dialog und mit zivilen Umgangsformen.

Letztlich geht es um die Geschichte, die im Gebauten Gestalt bekommt und damit Geschichte werden darf. Deshalb ist „Nachhaltigkeit“ so wichtig – im ökologischen Sinne, um unsere natürliche Basis nicht zu verlieren – und im ästhetischen, um unsere kulturelle Basis nicht zu verlieren.
Unser Bauen weist über uns selbst hinaus. Dies ist die Verantwortung der Architektur und derer, die bauen.

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Schlossplatz,
Braunschweig 2007
 

Noch einmal zum Schluss ein Gedanke von Hannah Arendt, der diese Verpflichtung ausdrückt und begründet:


„Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll,
kann nicht nur für eine Generation errichtet
oder nur für die Lebenden geplant sein;
sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.

Ohne dies Übersteigen in eine mögliche
menschliche Unsterblichkeit kann es im Ernst
weder Politik noch eine gemeinsame Welt
noch eine Öffentlichkeit geben.“

Ich hätte mir auch eine Stadtgesellschaft gewünscht, die gemeinsam dazu bereit gewesen wäre, diese unsäglichen Räume der 70er Jahre mit eigenen Mitteln zu „resozialisieren“ und sie für öffentliches Leben zu gestalten – als integrierte, anregende, lebendige Stadträume. Doch dazu waren wir alle nicht in der Lage, weil wir den Wert wohl nicht sehen.

Die Werbung hat den Stellenwert der Stadt erkannt und zur Basis ihres Handelns gemacht. Verstehen wir unsere Aufgabe als Architekten nicht als Styling – als Life-Styling. Wir bauen auch nicht nur Häuser. Wir bauen Stadt.

Ack_Abb_54_web.jpg (41075 Byte)   Urban experiment: Die Stadt als Bühne für immer neue Stücke. Aber die Stadt bleibt.
Deshalb ist mein letzter Satz eine Aufforderung an alle Architekten, die verständlicherweise ein wieder aufgebautes Schloss als eine verlorene Chance sehen:

Setzen Sie sich für die Herstellung aller städtischen Räume als öffentliche Räume ein, in denen alle Menschen ohne Einschränkungen und Ausgrenzungen aufrecht gehen und auch zu Ansehen kommen können. Wir haben in Braunschweig noch viel zu tun. Geben wir den Räumen Form. Planen wir diese von den Rändern her, geben dieser empfindlichen Zone des Austauschs zwischen Privatheit und Öffentlichkeit mehr Bedeutung, schaffen ausreichend breite und sichere Fußwege, sorgen für eine friedliche Stimmung und fügen unseren motorisierten Verkehr sorgfältig ein, ohne die offene Atmosphäre zu zerstören.

Wenn wir allen Straßen und Plätzen mit den Mitteln der Architektur Raum, Zugang und Ansehen geben, wird auch die Architektur Achtung erfahren ohne spektakulär sein zu müssen.




Dieser Text basiert auf einem Vortrag, gehalten im Rahmen des Symposiums „Zukunft des Wohnens“ der Stadt Braunschweig in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und der niedersächsischen Architektenkammer 2007.

     

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