Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

__Marisol Vidal Martinez
Graz
  Hormigón concreto. Concrete concrete

 

   

„Konkretion“ und „Beton“ haben auf Englisch – und teilweise auf Spanisch[1] – die gleiche etymologische Herkunft. Beide stammen von den lateinischen Wörtern für einwachsen oder zusammenfügen ab: concretus = com (zusammen) + crescere (wachsen). Aber nicht nur das Zusammenfügen von mehreren Teilen zu einem artikulierten Ganzen ist sowohl dem Beton als auch der künstlerischen Konkretion immanent. Im folgenden Text werden weitere Zusammenhänge erläutert, die im Wortspiel concrete concrete stecken.


Die konkrete Gestaltung Max Bills

Im Juni 1936 fand die Ausstellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik im Kunsthaus Zürich statt. Diese Schau war den künstlerischen Tendenzen der nicht-figurativen Kunst in der Schweiz gewidmet. Max Bill war in der Kommission für die Auswahl der einzuladenden Künstler involviert und gestaltete das Plakat. Im Katalog der Ausstellung war neben Essays von Sigfried Giedion und Le Corbusier auch sein Manifest zu finden, in dem er erstmals seine Vorstellungen von nicht-figurativer Kunst formulierte und den Begriff konkrete Gestaltung wie folgt definierte:

„konkrete gestaltung ist jene gestaltung, welche aus ihren eigenen mitteln und gesetzen entsteht, ohne diese aus äußeren naturerscheinungen ableiten oder entlehnen zu müssen.“[2]

Der Begriff konkret war zwar sechs Jahre zuvor von Theo van Doesburg in dessen Manifest der konkreten Kunst schon verwendet worden, aber Max Bill präzisierte mit seinem Text die Definition, schaffte damit erstmals eine deutliche Abgrenzung zur Abstraktion und erweiterte das Anwendungsgebiet der Konkretion. Indem er die Konkretion als Verfahren definierte, ging er über die künstlerische Tätigkeit hinaus in die Gestaltung der Alltagswelt: Gebrauchsgegenstände, Bauten, Grafiken, Bühnenbilder, Ausstellungsgestaltungen etc. zählten zu seinem Schaffen ebenso wie Kunstwerke im klassischen Sinn.
Als Architekt beschäftigte sich Max Bill in erster Linie mit einfachen Konstruktionselementen und der Art ihrer Fügung zu einem gesamten, einheitlichen Werk. In seiner Aufforderung, „den strukturellen Aufbau wieder mehr als Gestaltungselement wirken [zu] lassen“,[3] spricht er sich für die Verwertung des ästhetischen Potentials einer Bauweise aus. Zu den wesentlichen Mitteln und Gesetzen der Architektur zählt Max Bill demnach auch ihre Technologie, die Konstruktion.


Concrete concrete

Die Wegbereiter des Betonbaus wussten, dass ihr unternehmerischer Erfolg an die Anmeldung von Patenten gebunden war. Stahl, Zement, Sand und Wasser konnte jeder kaufen; um daraus Beton zu machen, brauchte man allerdings ein Rezept. Ein Jahrhundert später kommen immer noch neue Zutaten und neue Rezepte auf den Markt, aber das Rezept allein ist keine Garantie für das Ergebnis. Eine Betonrezeptur ist sinnlos, wenn sie nur über die Natur und Dosierung der Zutaten informiert, nicht aber auch die Verarbeitungsdauer bekannt gibt, den Weg vom Betonwerk zur Baustelle beschreibt, die Temperatur von Frischbeton, Außenluft – einschließlich Luftfeuchtigkeit – usw. dokumentiert.
Dazu kommen etliche Zufallsfaktoren und der Einfluss der Menschen, die dauerhaft Spuren hinterlassen. Angesichts der Anzahl der beteiligten Köche sind Innovations- aber auch Fehlerpotential, die im Beton stecken, entsprechend groß.

Es sagt viel über das Wesen eines Materials aus, wenn selbst nach langer Erfahrung das Ausschalen jedes Mal aufs Neue mit großer Spannung erwartet wird, weil sich erst dann zeigt, ob der Beton gelungen ist. Mit Beton zu bauen, ist ein komplexes Vorhaben, das sowohl von der physikalisch und chemisch exakt begründeten und erprobten Technologie, von der Alchemie der Mischung, von zahlreichen Zufallsfaktoren und dem menschlichen Fehlerspielraum beeinflusst wird. Die Relevanz dieser Faktoren ist mindestens jener der materiellen Zutaten seiner Komposition gleichzusetzen. In diesem Sinn ist die Bezeichnung als Material vielleicht nicht mehr ausreichend. Adrian Forty formuliert es sehr treffend:

“Concrete, let us be clear, is not a material, it is a process: concrete is made from sand and gravel and cement – but sand and gravel and cement do not make concrete; it is the ingredient of human labour that produces concrete.”[4]

Forty hat mit diesem Text die Vielfalt an formalen Möglichkeiten, die aus der Steuerung der Parameter dieses Prozesses resultieren können, im Auge. In dieser Analogie steckt aber viel mehr Potential als nur formale Vielfalt: Im Spannungsfeld zwischen Architektur und Technologie bedeutet dies, dass Sichtbeton – als Prozess verstanden – sowohl an den Planungs- als auch an den Bauprozess gekoppelt ist und diese innig miteinander verbindet. Mit Sichtbeton zu bauen, erfordert also eine strenge konzeptuelle Disziplin seitens der Planer: Konstruktionsfragen sind wesentlich früher in der Planung zu klären, bzw. können Entwurfsfragen bis zur Fertigstellung nicht vollständig geklärt werden: Die Mittel und Gesetze nach denen aus inerten Substanzen Beton entsteht und das Ergebnis dieses Prozesses sind untrennbar. Beton ist der Prozess selbst, Beton ist seine eigenen Mittel und Gesetze. Beton ist somit das konkrete Material par excellence.

Der Bezug zur Konkretion geht beim Sichtbeton sogar einen Schritt weiter. Es gibt keine Kurskorrektur bei Sichtbeton: Auf einer Betonoberfläche sind dauerhaft die Spuren seiner Entstehung eingeprägt. Der dreidimensionale Abdruck der Schalung auf der gehärteten Oberfläche entspricht der technischen Wahrheit der Konstruktion und enthüllt die Spuren des Produktionsprozesses. Auch jene, die nicht der Öffentlichkeit gezeigt werden sollen. Dieses exhibitionistische Verhalten lässt auch lange nach der Fertigstellung die innige Beziehung zwischen der Architektur und ihren Mitteln und Gesetzen erkennen. Deshalb sind Sichtbetonbauten das ideale Reagenzglas für eine Untersuchung der Konkretion in der Architektur.


Die Semantik des Sichtbetons

Ästhetisch relevant für die Erscheinung des Betons sind vier technische Faktoren: die Mischung, die Schalhäute, die Art und Weise, wie die beiden Schalungen zusammengehalten werden – die Ankerstellen – und die aus logistischen Gründen unvermeidbaren Spuren der Betonierabschnitte, die Arbeitsfugen. Aus ihrer bewussten Steuerung seitens der Architekten entsteht das rohe Abbild der Herstellung.

Die Frage nach der geeigneten Oberfläche des sichtbaren Betons bereitete den Architekten Anfang des 20. Jahrhunderts mindestens so viele Sorgen wie seine immanenten statischen Potentiale und die damit einhergehenden neuen Proportionsverhältnisse. Versuche aller Art wurden unternommen, um eine etwas würdigere Oberfläche zu finden: der Beton wurde poliert, gewaschen, kaschiert, gehämmert, gespritzt etc. Die radikalste Variante – die rohen Schalungsspuren sichtbar zu lassen – wurde außerhalb von Militär- und Nutzbauten erst mit der Unité d’habitation in Marseille von Le Corbusier (1942) salonfähig und öffnete dem béton brut Tür und Tor. Daraus entstand ab den 1960er Jahren die Debatte zwischen künstlich-glatt (smooth) und natürlich-rau
(rough). Neue technische Entwicklungen sowohl im Bereich der Schalungstechnik als auch in der Plastizität der Betone eröffnen heutzutage weitere Wege, um sowohl besonders glatte als auch raue Oberflächen zu produzieren. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass für rough meistens auf industrialisierte Herstellungstechniken zurückgegriffen wurde, die eigentlich das smooth zum Ziel hatten.

Dieses Paradoxon kann gegenwärtig wieder beobachtet werden, wenn z. B. selbstverdichtender Beton (SVB) – der in der Lage ist, so glatte Oberflächen wie noch nie zuvor zu produzieren – gerade aus diesem Grund vermehrt dazu eingesetzt wird, besonders plastische Oberflächenergebnisse zu erzielen. Digital gesteuerte Fertigungsmethoden eröffnen hier zusätzliche ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten. Auch ist es durch die verfügbaren Geräte erst heutzutage möglich, die äußere Schicht gezielt abzutragen und damit Fehler und Unregelmäßigkeiten, wenn auch nicht gänzlich auszuschalten, so zumindest in den Hintergrund treten zu lassen.

Derzeit, in einem Moment, zu dem die Möglichkeiten die Bedürfnisse übertreffen, steht Sichtbeton nicht mehr als Gegenpol zu verbreiteten Verkleidungen und verschönernden Hüllen. Es sind wenige Bauwerke, die derzeit Beton in seiner ungeschönten Rohheit präsentieren. Stattdessen wird Beton u. a. poliert (Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz von Morger & Degelo), geprägt (Universitätsbibliothek in Utrecht von Wiel Arets), gehämmert (Kongresszentrum in Adeje von AMP arquitectos), mit Einlagen versehen (Vitra-Pavillon in Weil am Rhein von Tadao Ando), bedruckt (Bibliothek für Forstwirtschaft in Eberswalde von Herzog & de Meuron) usw. Technische Entwicklungen im Bereich der Schalungstechnik werden dieses Phänomen in den kommenden Jahren weiter forcieren. Es sei dahin gestellt, ob diese Experimente erst durch die technischen Entwicklungen ermöglicht wurden oder ob das wieder erwachte Bedürfnis nach Ornamenten jene Kraft ist, die aktuell die Beton- und Schalungstechnik vorantreibt.

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Abb. 1:
Baustelle eines achtgeschossigen Wohnhauses, Murcia 2007


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Abb. 2:
Javier García-Solera, Universitätsgebäude, Alicante 2000


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Abb. 3:
aceboXalonso, Centro das Artes,
La Coruña (derzeit im Bau)


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Abb. 4.
Eduardo de Miguel,
Musiktheater, Valencia 2003

 
Der Trend zur Ornamentation im Sichtbeton weist zum Teil verbrecherische Züge im Loos’schen Sinn auf: Mittels plastischer Schalungselemente aus Kunststoff, EPS oder Elastomermaterialien können Gesimse und Texturen aller Art nachgebildet werden. In diesen formalen Perversionen überwiegt das Semantische: Die Form und die Oberfläche sind alleiniger Träger einer externen Bedeutung, die den restlichen Aspekten des Bauwerks (Material, Tragverhältnisse, Typologie usw.) absolut fremd sind.


Syntaktik statt Semantik

Grundsätzlich geht es in der konkreten Kunst nicht darum, gestalterische Mittel zu verabsolutieren, sondern die sichtbaren Beziehungen zwischen den Mitteln hervorzuheben. In der Konkretion muss also die semantische Ebene der Konstruktion zurückgenommen werden, für den Ausdruck sorgen eher die Ordnungszusammenhänge innerhalb der Mittel. Die Raffinesse der Oberflächen verliert an Relevanz, konstruktive Ordnungssysteme gewinnen an Bedeutung. Konkretion im künstlerischen Sinn bedeutet also, die Befreiung von der bisherigen Relevanz der Semantik zugunsten der Bedeutung der Syntaktik.

Der Informationsgehalt über den Herstellungsprozess der Betonoberfläche soll nach Bill keine ästhetische Rolle spielen. Betonoberflächen werden aber durch jeden Schritt im Herstellungsprozess zunehmend semantisch aufgeladen. Sowohl die Wahl des Schalungsmaterials als auch die Zusammensetzung der Mischung oder eine eventuelle Nachbearbeitung tragen dazu bei. Eine gewisse semantische Aussage von Betonoberflächen ist somit unvermeidbar. Der Spruch Paul Watzlawicks, „Man kann nicht nicht kommunizieren“,[5] gilt auch für Sichtbeton.

Ein Konkretionsfall liegt aber vor, wenn syntaktische Ordnungssysteme eine wichtigere Rolle als die Oberfläche selbst spielen und dieser übergeordnet sind. Das heißt, bei den Planungsentscheidungen, die die Betonoberfläche definieren, soll der ästhetische Wert der Oberfläche nicht bestimmend sein. Viel eher übernimmt die Betonoberfläche eine gliedernde Aufgabe in der konstruktiven Grammatik. Materialentscheidungen und konstruktive Details sind selbstverständlich, aber sie werden in der Konkretion den formalen Strukturen untergeordnet und uninteressant gemacht. Die gestalterische Intention ist rein syntaktisch. Die Artikulation der Maßstabsebenen spielt dabei eine wesentliche Rolle.


Konkretion im 21. Jahrhundert

Paradoxe sind dem Material Beton immanent. Der eigene und untrennbar architektonische Ausdruck von Beton war schon Anfang des 20. Jahrhunderts äußerst umstritten. Trotz Allgegenwärtigkeit und einfacher Verfügbarkeit des Materials ist die Situation heutzutage – ein Jahrhundert später – zumindest so konfus wie damals: es wird immer noch über das Potential und die unerschöpften Möglichkeiten von Beton debattiert, als ob er ein neues, noch nie verwendetes Material wäre.

“[Concrete is] a mongrel material, neither one thing nor another.”
Frank Lloyd Wright, 1928

“The dialectic of dual coding is a property intrinsic only to concrete.”
Günter Pfeifer, 2005

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Abb. 5:
Dissertation der Autorin
  Die Unbestimmtheit, die dem Beton inne wohnt, macht die Faszination dieses Materials aus. Die nicht eindeutige Identität des Betons kann im Entwurf unterdrückt werden, indem die eine oder andere Eigenschaft betont wird. Dies führt leider heutzutage allzu oft zu den vorher erwähnten semantischen Aufladungen. Dieser verbreiteten Banalität der Sichtbetonoberflächen könnte entgegen gewirkt werden, in dem eine Gestaltungsmethode zur Anwendung kommt, die zwar eine kritische Disziplin besitzt, aber ohne Stil und ohne formale Konventionen auskommt – wie es bei der künstlerischen Konkretion der Fall ist.
Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert.

„Wir stehen heute am Beginn einer neuen Epoche der Architektur, in der die Erfahrungen von Technik und Kunst zu einer großen Syntax vereinigt werden müssen. Dem Eisenbeton fällt in einer solchen Syntax die Hauptaufgabe zu.“[6]




 




Abbildungsnachweis:
Alle Aufnahmen stammen von der Autorin.
 

Erläuterungen:

Abb. 1: Nachbildung einzelner Elementen der klassischen Architektur mit Hilfe von EPS-Schalungsprofilen. Hier erfüllt der Betonbauteil eine rein semantische Funktion, ohne jeglichen Zusammenhang mit dem restlichen Bauwerk.

Abb. 2: Schalungsformat und Proportionen der Baukörper bedingen einander. Aus diesem Grund schaden die Spuren der nicht besonders qualitätsvollen Ausführung dem Gesamteindruck nicht, sondern bringen die Relation zwischen Konstruktionsmittel und Gestaltung erst richtig zur Geltung.

Abb. 3: Der aus statischen Gründen mit selbstverdichtendem Beton ausgeführte Baukörper gibt das Schalungsbild penibelst wieder. Obwohl die Bretterschalungen vertikal verzahnt wurden, bleiben die Spuren der Betonierabschnitte sichtbar. Dies war von den Architekten durchaus erwünscht, da diese doppelte Dialektik die Gliederung der großflächigen Betonfassaden übernimmt.

Abb. 4: Die vertikale Bretterschalung und die tieferen Marken der Betonierabschnitte gliedern und artikulieren ein Volumen das – auf Grund der Lage des Gebäudes, eingeschlossen zwischen bestehenden Brandmauern – sehr unregelmäßige Konturen aufweist. Die Oberfläche dient somit allein der Grammatik des Baukörpers.

Abb. 5: Dieser Beitrag beinhaltet Teile meiner Dissertation Hormigón Concreto: Parallelen zwischen der zeitgenössischen spanischen Architektur und der Konkretion Max Bills analysiert anhand von Sichtbetonbauten.
Diese wurde von Prof. Roger Riewe betreut und im November 2008 an der TU Graz abgeschlossen. Eine zweisprachige Publikation (spanisch/deutsch) befindet sich derzeit in Arbeit.




 




Anmerkungen:


[1] „Concreto“ bedeutet in den meisten Teilen Südamerikas aufgrund des sprachlichen Einflusses des Englischen nicht nur „konkret“ sondern ebenso „Beton“. Daher ist dieser Begriff zwar im europäischen Spanisch eindeutig, im südamerikanischen Spanisch erlaubt er aber das gleiche Wortspiel wie die englische Übersetzung: „concrete concrete“.

[2] Bill, Max u. a.: Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik, Ausstellungskatalog, Zürich 1936.

[3] Zitiert nach Rüegg, Arthur; Krucker, Bruno: Konstruktive Konzepte der Moderne – Fallstudien aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2001, S. 106.

[4] Forty, Adrian: The Material without a history, in: Liquid Stone. New Architecture in Concrete, Basel 2006, S. 34.

[5] Watzlawick, Paul; Beavin, Janet; Jackson, Don: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969.

[6] Bill, Max: Der architektonische Ausdruck von reinen Bauwerken, Möriken-Wildegg 1946.





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