Das Konkrete und die
Architektur |
__Marisol
Vidal Martinez Graz |
Hormigón concreto. Concrete concrete |
„Konkretion“ und „Beton“ haben auf Englisch – und teilweise auf Spanisch[1] – die gleiche etymologische Herkunft. Beide stammen von den lateinischen Wörtern für einwachsen oder zusammenfügen ab: concretus = com (zusammen) + crescere (wachsen). Aber nicht nur das Zusammenfügen von mehreren Teilen zu einem artikulierten Ganzen ist sowohl dem Beton als auch der künstlerischen Konkretion immanent. Im folgenden Text werden weitere Zusammenhänge erläutert, die im Wortspiel concrete concrete stecken. „konkrete gestaltung ist jene gestaltung, welche aus ihren eigenen mitteln und gesetzen entsteht, ohne diese aus äußeren naturerscheinungen ableiten oder entlehnen zu müssen.“[2] Der Begriff konkret war zwar sechs Jahre zuvor von Theo van Doesburg in dessen Manifest der konkreten Kunst schon verwendet worden, aber Max Bill präzisierte mit seinem Text die Definition, schaffte damit erstmals eine deutliche Abgrenzung zur Abstraktion und erweiterte das Anwendungsgebiet der Konkretion. Indem er die Konkretion als Verfahren definierte, ging er über die künstlerische Tätigkeit hinaus in die Gestaltung der Alltagswelt: Gebrauchsgegenstände, Bauten, Grafiken, Bühnenbilder, Ausstellungsgestaltungen etc. zählten zu seinem Schaffen ebenso wie Kunstwerke im klassischen Sinn. “Concrete, let us be clear, is not a material, it is a process: concrete is made from sand and gravel and cement – but sand and gravel and cement do not make concrete; it is the ingredient of human labour that produces concrete.”[4] Forty hat mit diesem Text die Vielfalt an formalen Möglichkeiten, die aus der Steuerung der Parameter dieses Prozesses resultieren können, im Auge. In dieser Analogie steckt aber viel mehr Potential als nur formale Vielfalt: Im Spannungsfeld zwischen Architektur und Technologie bedeutet dies, dass Sichtbeton – als Prozess verstanden – sowohl an den Planungs- als auch an den Bauprozess gekoppelt ist und diese innig miteinander verbindet. Mit Sichtbeton zu bauen, erfordert also eine strenge konzeptuelle Disziplin seitens der Planer: Konstruktionsfragen sind wesentlich früher in der Planung zu klären, bzw. können Entwurfsfragen bis zur Fertigstellung nicht vollständig geklärt werden: Die Mittel und Gesetze nach denen aus inerten Substanzen Beton entsteht und das Ergebnis dieses Prozesses sind untrennbar. Beton ist der Prozess selbst, Beton ist seine eigenen Mittel und Gesetze. Beton ist somit das konkrete Material par excellence. |
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Abb. 1: Baustelle eines achtgeschossigen Wohnhauses, Murcia 2007 Abb. 2: Javier García-Solera, Universitätsgebäude, Alicante 2000 Abb. 3: aceboXalonso, Centro das Artes, La Coruña (derzeit im Bau) Abb. 4. Eduardo de Miguel, Musiktheater, Valencia 2003 |
Der Trend zur Ornamentation im Sichtbeton weist zum Teil verbrecherische Züge im Loos’schen Sinn auf: Mittels plastischer Schalungselemente aus Kunststoff, EPS oder Elastomermaterialien können Gesimse und Texturen aller Art nachgebildet werden. In diesen formalen Perversionen überwiegt das Semantische: Die Form und die Oberfläche sind alleiniger Träger einer externen Bedeutung, die den restlichen Aspekten des Bauwerks (Material, Tragverhältnisse, Typologie usw.) absolut fremd sind. Syntaktik statt Semantik Grundsätzlich geht es in der konkreten Kunst nicht darum, gestalterische Mittel zu verabsolutieren, sondern die sichtbaren Beziehungen zwischen den Mitteln hervorzuheben. In der Konkretion muss also die semantische Ebene der Konstruktion zurückgenommen werden, für den Ausdruck sorgen eher die Ordnungszusammenhänge innerhalb der Mittel. Die Raffinesse der Oberflächen verliert an Relevanz, konstruktive Ordnungssysteme gewinnen an Bedeutung. Konkretion im künstlerischen Sinn bedeutet also, die Befreiung von der bisherigen Relevanz der Semantik zugunsten der Bedeutung der Syntaktik. Der Informationsgehalt über den Herstellungsprozess der Betonoberfläche soll nach Bill keine ästhetische Rolle spielen. Betonoberflächen werden aber durch jeden Schritt im Herstellungsprozess zunehmend semantisch aufgeladen. Sowohl die Wahl des Schalungsmaterials als auch die Zusammensetzung der Mischung oder eine eventuelle Nachbearbeitung tragen dazu bei. Eine gewisse semantische Aussage von Betonoberflächen ist somit unvermeidbar. Der Spruch Paul Watzlawicks, „Man kann nicht nicht kommunizieren“,[5] gilt auch für Sichtbeton. Ein Konkretionsfall liegt aber vor, wenn syntaktische Ordnungssysteme eine wichtigere Rolle als die Oberfläche selbst spielen und dieser übergeordnet sind. Das heißt, bei den Planungsentscheidungen, die die Betonoberfläche definieren, soll der ästhetische Wert der Oberfläche nicht bestimmend sein. Viel eher übernimmt die Betonoberfläche eine gliedernde Aufgabe in der konstruktiven Grammatik. Materialentscheidungen und konstruktive Details sind selbstverständlich, aber sie werden in der Konkretion den formalen Strukturen untergeordnet und uninteressant gemacht. Die gestalterische Intention ist rein syntaktisch. Die Artikulation der Maßstabsebenen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Konkretion im 21. Jahrhundert Paradoxe sind dem Material Beton immanent. Der eigene und untrennbar architektonische Ausdruck von Beton war schon Anfang des 20. Jahrhunderts äußerst umstritten. Trotz Allgegenwärtigkeit und einfacher Verfügbarkeit des Materials ist die Situation heutzutage – ein Jahrhundert später – zumindest so konfus wie damals: es wird immer noch über das Potential und die unerschöpften Möglichkeiten von Beton debattiert, als ob er ein neues, noch nie verwendetes Material wäre. “[Concrete is] a mongrel material, neither one thing nor another.” | |
Abb. 5: Dissertation der Autorin |
Die Unbestimmtheit, die dem Beton inne wohnt, macht die Faszination dieses Materials aus. Die nicht eindeutige Identität des Betons kann im Entwurf unterdrückt werden, indem die eine oder andere Eigenschaft betont wird. Dies führt leider heutzutage allzu oft zu den vorher erwähnten semantischen Aufladungen. Dieser verbreiteten Banalität der Sichtbetonoberflächen könnte entgegen gewirkt werden, in dem eine Gestaltungsmethode zur Anwendung kommt, die zwar eine kritische Disziplin besitzt, aber ohne Stil und ohne formale Konventionen auskommt – wie es bei der künstlerischen Konkretion der Fall ist. Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert. „Wir stehen heute am Beginn einer neuen Epoche der Architektur, in der die Erfahrungen von Technik und Kunst zu einer großen Syntax vereinigt werden müssen. Dem Eisenbeton fällt in einer solchen Syntax die Hauptaufgabe zu.“[6] Erläuterungen: Abb. 1: Nachbildung einzelner Elementen der klassischen Architektur mit Hilfe von EPS-Schalungsprofilen. Hier erfüllt der Betonbauteil eine rein semantische Funktion, ohne jeglichen Zusammenhang mit dem restlichen Bauwerk. Abb. 2: Schalungsformat und Proportionen der Baukörper bedingen einander. Aus diesem Grund schaden die Spuren der nicht besonders qualitätsvollen Ausführung dem Gesamteindruck nicht, sondern bringen die Relation zwischen Konstruktionsmittel und Gestaltung erst richtig zur Geltung. Abb. 3: Der aus statischen Gründen mit selbstverdichtendem Beton ausgeführte Baukörper gibt das Schalungsbild penibelst wieder. Obwohl die Bretterschalungen vertikal verzahnt wurden, bleiben die Spuren der Betonierabschnitte sichtbar. Dies war von den Architekten durchaus erwünscht, da diese doppelte Dialektik die Gliederung der großflächigen Betonfassaden übernimmt. Abb. 4: Die vertikale Bretterschalung und die tieferen Marken der Betonierabschnitte gliedern und artikulieren ein Volumen das – auf Grund der Lage des Gebäudes, eingeschlossen zwischen bestehenden Brandmauern – sehr unregelmäßige Konturen aufweist. Die Oberfläche dient somit allein der Grammatik des Baukörpers. Abb. 5: Dieser Beitrag beinhaltet Teile meiner Dissertation Hormigón Concreto: Parallelen zwischen der zeitgenössischen spanischen Architektur und der Konkretion Max Bills analysiert anhand von Sichtbetonbauten.
[1] „Concreto“ bedeutet in den meisten Teilen Südamerikas aufgrund des sprachlichen Einflusses des Englischen nicht nur „konkret“ sondern ebenso „Beton“. Daher ist dieser Begriff zwar im europäischen Spanisch eindeutig, im südamerikanischen Spanisch erlaubt er aber das gleiche Wortspiel wie die englische Übersetzung: „concrete concrete“. [2] Bill, Max u. a.: Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik, Ausstellungskatalog, Zürich 1936. [3] Zitiert nach Rüegg, Arthur; Krucker, Bruno: Konstruktive Konzepte der Moderne – Fallstudien aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2001, S. 106. [4] Forty, Adrian: The Material without a history, in: Liquid Stone. New Architecture in Concrete, Basel 2006, S. 34. [5] Watzlawick, Paul; Beavin, Janet; Jackson, Don: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969. [6] Bill, Max: Der architektonische Ausdruck von reinen Bauwerken, Möriken-Wildegg 1946.
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