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Die Architektur,
scheinbar die konkreteste aller Kunstformen und in ihrer Praxis auf den
Umgang mit konkreten Situationen verwiesen, gibt sich in ihren Darstellungen
meist eigentümlich abstrakt. Während in der bildenden Kunst gerade auch mit
Alltagsästhetiken gearbeitet wird, sind Architekten und Architektinnen an
reinen Formen interessiert. Insbesondere fällt die Abstraktheit der
Architekturfotografie auf. Was in
Architekturzeitschriften zu sehen ist, ist Architektur ohne die geringsten
Spuren ihres Gebrauchs.[1] Dieses Architekturverständnis scheint gegenwärtig eine Erweiterung zu
erfahren. Unter Bezugnahme auf Begriffe wie „Atmosphäre“ und „Präsenz“
äußert sich ein neues Interesse an Materialien, an sinnlicher Erfahrung und
an den Gefühlen, die Architektur bei denjenigen erzeugt, die sich in ihr
aufhalten.[2] Dabei verändert sich auch die Architekturfotografie: Alltagsgegenstände
treten ins Bild, und sogar Menschen und Ausschnitte städtischer Umgebungen
sind zu sehen. Ein Bezugspunkt dieses Diskurses ist Gernot Böhmes Konzept
der Atmosphäre, das bereits auf dem Feld der akademischen Ästhetik in den
ästhetischen Alltag geführt hat und das nun auch im Architekturdiskurs zu
einer Erweiterung des ästhetischen Verständnisses beiträgt. Jedoch gibt es
auch hier Abstraktionen. Das unmittelbare leibliche Wahrnehmen, und dies vor
allem in handlungsentlasteten Situationen, stellt für Böhme die Urszene der
Ästhetik vor – die Medialität der Wahrnehmung, das Ästhetische des Gebrauchs
und der Zusammenhang sozialer und materialer Faktoren werden als scheinbar
nicht genuin ästhetische Fragen ausgeblendet.
Im
Folgenden soll Böhmes Konzept der Atmosphäre kritisch diskutiert werden. Ihm
werden die Benjamin’schen Begriffe der zerstreuten Wahrnehmung, der
Gewöhnung und des Gebrauchs gegenübergestellt. Der Untertitel „Zu zwei
Grundbegriffen der Architekturästhetik“ ist dabei relativ gewagt: Während
„Atmosphäre“ bereits als ein solcher Grundbegriff eingeführt ist, kann dies
vom Begriff „Gebrauch“ nicht gesagt werden. Er ist auch bei Walter Benjamin
nicht als ein Kern einer Theorie ausformuliert.[3]
Der Untertitel ist demnach mehr ein Postulat: Der Begriff „Gebrauch“ ist
noch als ein Grundbegriff der Architekturästhetik auszuarbeiten – dieser
Versuch möchte dazu einen Beitrag leisten. Er greift dabei auf die wenigen
Textstellen Benjamins zurück, in denen der Begriff auftaucht, sowie auf die
Arbeiten des österreichischen Architekten Ottokar Uhl, die in den 1960er bis
80er Jahren entstanden sind und in den letzten Jahren wieder Aufmerksamkeit
erfahren haben. Uhl hat in Texten und Bauten versucht, so etwas wie eine
Ästhetik des Gebrauchs zu entwickeln: Für ihn ist das Material der Wände
ebenso konkret und gestaltbar wie es die Bezüge menschlicher Körper sind,
die zeitlichen Rhythmen der Nutzung, die Gesprächsformen und technischen
Netze, die insgesamt eine konkrete ästhetische Situation ausmachen.
Das Konzept der „Atmosphäre“ – eine Kritik
Eine zentrale Leistung im Konzept von Böhme ist die Loslösung der Ästhetik
aus dem Bereich der Kunst und der Kunstkritik und ihre Erweiterung hin auf
eine Analyse und Kritik alltäglicher Gestaltungen. Es geht ihm um eine
Abkehr von der Urteilsästhetik und um eine (erneute) Hinwendung zur Ästhetik
als Lehre von der Wahrnehmung, von aisthesis selbst.[4]
Insofern findet hier eine tatsächliche Erweiterung des ästhetischen
Verständnisses statt; eine Entwicklung, die für die Ästhetik insgesamt seit
den 1980er Jahren zutrifft.[5]
Als
Grundlage einer solchen neuen Ästhetik arbeitet Böhme den Begriff der
Atmosphäre aus, die für ihn das primäre Wahrnehmungsereignis ist, von dem
her Wahrnehmung und Ästhetik zu denken sind.[6]
„Wahrnehmung“ wird dabei „verstanden als die Erfahrung der Präsenz von
Menschen, Gegenständen und Umgebungen“,[7]
sie ist leibliches Spüren, das „Spüren von Anwesenheit“.[8]
Atmosphäre ist zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt
aufgespannt und kann keinem von beidem zugeordnet werden. Sie hat sowohl
etwas mit den „objektiven“ Eigenschaften von Dingen zu tun, die Böhme als
ekstatisch, als ausstrahlend begreift, wie mit der Befindlichkeit des
Subjekts, das sich selbst mitspürt, und allem, was dazwischen liegt. Als
Beispiele nennt Böhme das Stehen unter einem Baum, der nicht „gesehen“,
sondern in seiner Mächtigkeit „gespürt“ wird; oder die Anwesenheit einer
sirrenden Mücke, die in ihrer bedrohlichen Kopräsenz empfunden wird.[9]
Böhme übt mit diesem Konzept Kritik an der klassischen Ontologie, die die
Dinge als vorgängig ansieht; gleichzeitig ist es aber eine Kritik des
Alltagsverständnisses, denn auch dieses geht von Dingen und Körpern aus, mit
denen man etwas machen kann, und weniger vom spürenden Leib.[10]
Jedoch steht das Spüren von Atmosphären für Böhme am Beginn jedweder
Wahrnehmung, sie sind das „fundamentale“ Wahrnehmungsereignis – die Dinge
werden erst dann entdeckt. Sie entstehen Böhme zufolge erst in der
Interaktion durch eine Distanzierung, die sie vom eigenen Leib sondert und
anderswo im Raum verortet.[11]
„Fundamental“ scheint diese Wahrnehmung eher im Sinne eines Anspruchs als in
dem einer Grundlage. Die übliche Wahrnehmung, die Böhme im heutigen
städtischen Alltag wie im Umgang mit technischen Medien feststellt, ist auch
eine ganz andere. Hier dominiert die Orientierung an Signalen, die Böhme als
defizient markiert; eine von Zeichen gelenkte Wahrnehmung und semiotische
Wahrnehmungstheorien erscheinen ihm als verkürzt.[12]
Und
so stammen seine Beispiele häufig aus Gegenwelten: Böhmes Atmosphären finden
sich in der kontemplativen Naturbetrachtung, werden aus künstlerischen
Darstellungen abgeleitet und etwa auch aus Benjamins Begriff der „Aura“.
Hier ist es folgende Stelle, die Böhme interessiert:
„Was
ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige
Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag
ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen
Schatten auf den Ruhenden wirft.“[13]
Böhmes
Subjekt steht in den meisten Fällen still und spürt. Auch wenn er seine
Wahrnehmung gerade nicht aus einer dem Kunstkontext geschuldeten besonderen
ästhetischen Wahrnehmung ableiten will, sind es handlungsentlastete
Kontexte, die Böhme in den Sinn kommen. Selbst da, wo Böhme städtische
Atmosphären beschreibt,[14]
ist es ein ruhendes Individuum, das das Leben in den Straßen wahrnimmt.
Wahrnehmung im Handlungsvollzug kommt in Böhmes Konzept der Atmosphäre nicht
vor.
Welchen Beitrag leistet Böhme nun zur Architekturästhetik? Wesentlich ist
seine Kritik am üblichen Vorrang der visuellen Wahrnehmung: Dem Sehen von
Formen stellt Böhme das Wahrnehmen von Klängen und Gerüchen, das leibliche
Spüren von Enge und Weite, die Materialität, das taktile Empfinden
gegenüber. Auch gesellschaftliche Charaktere können Atmosphären bestimmen,
womit Böhme ihnen einen gewissen zeichenhaften Anteil zugesteht, aber ohne
dies näher auszuformulieren.[15]
Die Wahrnehmung von Architektur wird damit auf alle Sinne erweitert; die so
eingeholten Erfahrungen werden jedoch im Wesentlichen auf Raumdimensionen
und Materialien zurückgeführt. Der Gebrauch von Architektur leistet als
Quelle von Geräuschen und Gerüchen einen Beitrag zur Atmosphäre, dieser
erscheint jedoch nicht als gestaltbares Element. Böhmes Sicht auf
Architektur ist relativ konventionell: Funktionalität und Ästhetik werden
als getrennt und voneinander unabhängig vorgestellt – was Böhme
interessiert, ist letztere.[16]
Die moderne Hinwendung zur Gestaltung der Nutzung selbst, der
Funktionalismus, erscheint ihm als Sündenfall der Architektur, den die
Postmoderne wieder ins Lot bringt.[17]
Gebrauch und Erscheinung von Architektur werden von Böhme nicht in
Zusammenhang gebracht. Die Befindlichkeit des wahrnehmenden Subjekts scheint
nicht davon beeinflusst zu sein, wie es sich bewegen kann und wie sich seine
Handlungsmöglichkeiten gestalten. Aber auch die Tätigkeit des Subjekts,
scheinbar das Gegenteil des Empfindens, Erfahrens, Empfangens, hat ein
pathisches Element: Wie ich etwas machen kann und wie ich mich dabei fühle,
hat Einfluss darauf, wie mir eine Situation erscheint und ist damit eine
ästhetische Frage.
Das Ästhetische
des „Gebrauchs“
Walter Benjamin wird von Böhme mehrfach zitiert; immer ist es der Begriff
der „Aura“, der ihn interessiert, und dabei jene Stelle, wo er in Bezug auf
Naturbetrachtung verwendet wird. Die zentralen Thesen Benjamins finden keine
Berücksichtigung – schließlich wird der Begriff „Aura“ in Bezug auf die
Kunstrezeption entwickelt und dies vor dem Hintergrund, dass diese im
Verfall begriffen sei. „Aura“ und eben auch „Atmosphäre“ stehen in der
Gegenwart nicht mehr einfach zur Verfügung. Die Kernthesen Benjamins sind
bekannt:[18]
Die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken verändert die Rezeption
und auch den Status von Kunst, sie schafft neue Wahrnehmungsweisen und ein
neues Verhältnis von Kunst und Publikum. Ist Kunst zuvor einmalig und an ein
Hier und Jetzt gebunden, die wesentlichen Bedingungen ihrer „Aura“, so ist
nun die Möglichkeit einer massenhaften Distribution gegeben, die diese
zerstört. Der Zugang zu Kunst erfolgt nun nicht mehr individuell und
kontemplativ, wie etwa im Museum, sondern Kunst kann, etwa als Film, auch
massenhaft rezipiert werden, ihre Rezeption erfolgt dann kollektiv und
zerstreut – was Benjamin, im Gegensatz etwa zu Adorno und Horkheimer, als
revolutionäres Moment begrüßt.
Der Film, und um diesen geht es Benjamin in erste Linie, wirkt durch die
Geschwindigkeit seiner Schnitte schockartig und geradezu körperlich auf sein
Publikum ein und erlaubt keine distanzierte Betrachtung. Die Aufmerksamkeit
des Betrachters, der Betrachterin wird fortwährend gestört und „zerstreut“.
Dieselbe Art der Rezeption schreibt Benjamin auch dem wesentlich älteren
Medium der Architektur zu; eine Stelle, die ein wichtiger Ausgangspunkt
jeder Architekturästhetik sein müsste:
„Die
Architektur bot von jeher den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in
der Zerstreuung und durch das Kollektivum erfolgt.“
Und weiter:
„Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und
durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch.“[19]
Architektur kann still und in einer aufmerksamen Haltung als Schauspiel
genossen werden, normalerweise wird sie jedoch beiläufig im Tun bemerkt.
Architektur prägt Gewohnheiten, körperliche Haltungen und Formen des
Gebrauchs, ihre Wahrnehmung erfolgt körperlich.
Das Verhältnis von „Aura“ und „Gebrauch“ ist jedoch komplexer und lässt sich
nicht in einer einfachen Gegenüberstellung einholen – denn auch das Spüren
von Aura ist bestimmten Praktiken geschuldet. Benjamins Kunstwerk-Aufsatz,
der die Kunstgeschichte in großen Zügen durchstreift, beginnt nicht mit der
kontemplativen Kunsterfahrung des 19. Jahrhunderts, sondern mit der älteren,
bei der Kunst noch einen „Gebrauchswert“ hat und das Kunstwerk in kultische
Handlungen eingebettet ist. Die Aura älterer Kunst entsteht dadurch, dass
sich in ein an ein Hier und Jetzt gebundenes Objekt eine Tradition
einschreibt und Spuren hinterlässt. Seine Echtheit verdankt es der spürbaren
Geschichte seines Gebrauchs.[20]
Die Aura hängt nicht am Ding selbst, sondern sie ändert sich „mit jeder
Bewegung, die das Ding macht“.[21]
Nach Boris Groys entsteht „Aura“ als eine bestimmte „Topologie des
Kontextes“.[22]
Dies trifft gerade auch auf die moderne Kunsterfahrung zu: Die Aura eines
musealen Objekts entsteht dadurch, dass es an einen Ort gebunden ist und der
Betrachter sich zu ihm hin bewegen und ihm in einer bestimmten Art und Weise
begegnen muss. Auch die stille Kunstbetrachtung ist also immer noch von
Ritualen, wenn auch gänzlich anderen, gerahmt.
Im engen Zusammenhang mit dem Kunstwerk-Aufsatz steht Benjamins
Baudelaire-Aufsatz; auch hier geht es um veränderte Wahrnehmungsformen,
diesmal nicht in Bezug auf neue Technologien, sondern in Bezug auf einen
veränderten städtischen Raum. Die moderne Großstadt ist von
enormen
Geschwindigkeiten gekennzeichnet, wer sich in ihren Straßen aufhält, bewegt
sich in der Masse und wird von dieser bewegt. Benjamin
„macht deutlich, daß die
Moderne einen kontemplativen Betrachter erst gar nicht mehr zuläßt“,
so Jonathan Crary.[23]
So wie der Film übt die Großstadt Schocks auf ihre Betrachter aus, sie stößt
ihnen sozusagen zu. Dadurch wird Benjamin zufolge Erfahrung fundamental
verändert: ältere Lebenswelten waren vergleichsweise statisch, die Erfahrung
von Neuem war in Gewohntes eingebettet; Architektur und städtisches Umfeld
bestätigten das durch Traditionen abgesicherte Handeln. Dieser Zusammenhang
ist in den modernen Lebenswelten aufgebrochen. Das hier Wahrgenommene wird
nicht mehr Teil einer sich anreichernden „Erfahrung“, es bleibt momentanes
„Erlebnis“.[24]
Mit dieser veränderten Wahrnehmung korrespondieren neue Handlungsmuster und
auch diese werden ruckartiger; vormals unbekannte „Gebärden des
Schaltens, Einwerfens, Abdrückens“ werden zum normalen Bestand.
Augenscheinlich wird diese Veränderung im Vergleich von Handwerker und
Fabrikarbeiter. Die Tätigkeit des ersteren beruht auf Erfahrung und Übung,
während der moderne Arbeiter auf die Schnelligkeit der Maschinen, mit denen
er arbeiten muss, nur automatisch reagieren kann.[25]
Damit zerbricht ein wechselseitig eng aufeinander bezogenes Verhältnis von
Dingen und wahrnehmendem und handelndem Subjekt, das auf Übung und Erfahrung
angewiesen ist und nach Benjamin eine wesentliche Voraussetzung auratischer
Situationen darstellt.[26]
„Aura“, und allgemeiner: „Atmosphäre“, verdankt sich der Einbettung von
Dingen in den Gebrauch und umgekehrt von Tätigkeiten in Dinge und
Architektur. Für eine Architekturästhetik wesentlich ist demnach die Frage,
inwieweit die Architektur als Speicher von Erfahrungen, als Gedächtnis
fungiert.[27]
Einbettungen verschiedenster Art sind im 19. Jahrhundert brüchig geworden,
die Architektur fungiert immer weniger als Gedächtnisraum. Jedoch hat gerade
das 19. Jahrhundert einen Raumtypus hervorgebracht, der in übermäßiger Weise
„einbettet“, wenngleich auch nur noch im privaten Bereich – das Interieur.
Benjamin beschreibt das 19. Jahrhundert als „wohnsüchtig“, Wohnen im „Etui“,
im „Futteral“ einer exzessiven Anhäufung von Spuren und
Erinnerungsgegenständen.[28]
Mit eben dieser erstickenden Atmosphäre hadert Benjamin. Es geht ihm nicht
darum, Gewohnheiten und Traditionen zu pflegen, sondern, ganz im Gegenteil,
soll die falsche Aura bürgerlichen Kunst- und Wohnsinns zertrümmert, sollen
neue Gewohnheiten zusammengesetzt werden.[29]
Die neue Kunst, die Benjamin sich wünscht, basiert nicht mehr auf Magie und
schönem Schein, an die Stelle einer „Fundierung aufs Ritual“ tritt
eine „Fundierung auf Politik“.[30]
Und diese Politik basiert wie die neue Kunst darauf, dass ein neues
Publikum, ein Massenpublikum konstituiert wird. Dieses bedarf neuer
Kommunikationsformen – und diese sieht Benjamin in zerstreuter Wahrnehmung,
„Gewöhnung“ und körperlicher Kommunikation.[31]
Ein neuer Zusammenhang von Dingen und Subjekten, neue Formen von Übung und
Gebrauch können sich so entwickeln, vielleicht sogar auch wieder so etwas
wie Aura. Sie wird nun aber auf die neueste Technik gestützt sein.[32]
Wahrnehmung wird bei Benjamin historisch gedacht, es gibt sie nur im Plural,
abhängig von den sie rahmenden Medien, Praktiken und Techniken. Benjamin ist
damit einer der Begründer von Medientheorie und -ästhetik.[33]
Von dieser setzt sich die am Leib orientierte, auf eine unmittelbare
Sinnlichkeit zielende Ästhetik Böhmes dezidiert ab.[34]
Wie ich zu zeigen versucht habe, ist diese unmittelbare Sinnlichkeit aber
ein Abstraktum: Sie abstrahiert von den den Leib konstituierenden Praktiken
und Erfahrungen, und sie denkt den Leib tendenziell als einzelnen. Auch
Benjamin spricht von einem „Leibraum“;[35]
dieser ist jedoch als „Kollektivleib“ gedacht, zusammengesetzt aus
menschlichen Leibern, technischen Apparaturen und den sie verknüpfenden
Gebrauchsformen.[36]
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Abb. 1:
Ottokar Uhl,
Kapelle Ebendorferstraße,
Wien 1958
Abb. 2, 3:
Ottokar Uhl, Kapelle
Peter Jordan-Straße, Wien 1961-63
Abb. 4, 5:
Ottokar Uhl, Kirche Priesterseminar, Boltzmanngasse, Wien 1969-70
Abb. 6, 7, 8:
Ottokar Uhl, Bundesgymnasium,
Völkermarkt 1970-74
Abb. 9, 10:
Ottokar Uhl, Wohnhaus
„Wohnen mit Kindern“, Wien 1981-84
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Ottokar Uhl –
konkrete Situationen gestalten
Zur Veranschaulichung dieser ästhetischen Haltung scheinen mir die Arbeiten
von Ottokar Uhl denkbar geeignet.[37]
Uhl war offensiv auf der Suche nach einer neuen Ästhetik, einer „Ästhetik
der Nähe“, die Sinnlichkeit ernst nimmt, die „Präsenz“ aber insbesondere
auch von der Kommunikation her denkt. Er war ein wesentlicher Vertreter der
Idee der Partizipation in der Architektur; Präsenz meint für ihn auch die
Erfahrung des Austauschs und des gemeinsamen Entwerfens.
Uhl, der
seine Haltung in Texten beschrieben hat, nennt dies eine „demokratisierte
Ästhetik“, eine „soziale Ästhetik“ oder auch eine „handlungsorientierte
Ästhetik“ – ich würde gerne von einer „Ästhetik des Gebrauchs“
sprechen.[38]
Uhl hat sich
intensiv mit Kirchenräumen beschäftigt. Zu seinen ersten Projekten zählt
eine Reihe an Hauskapellen, die in den 1960er und 70er Jahren in der
Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Vatikanum entstanden sind. Uhl traf hier
auf aufgeschlossene Auftraggeber, die sich dezidiert eine auch
institutionelle Umgestaltung wünschten. Ein solcher Auftraggeber war die
Katholische Hochschulgemeinde in Wien, mit der Uhl eine Hauskapelle
entwickelt hat (Abb. 1). Auffällig ist hier die Geringfügigkeit der Eingriffe, ein
großer Teil der Gestaltung ergibt sich aus dem Bestand. Intensive Arbeit
wird jedoch in das Durchdenken der liturgischen Abläufe investiert: Uhl
begleitet die Hochschulgemeinde über Jahre beim „Gebrauch“ ihrer Kapelle und
beim daraus resultierenden andauernden Umbau; Tabernakel, Ambo und anderes
Inventar wandern im Raum. Dabei geht es um eine ganz spezifische
„Atmosphäre“. Diese soll gerade nicht auratisch sein, wie Böhme sich das für
Sakralräume wünscht,[39]
sondern sie soll eine
„aktive Teilnahme“ ermöglichen und die Kirchengemeinde
emanzipieren. Von diesem Aufbruch spricht auch die Materialästhetik – die
reduktive Materialwahl ist nicht (nur) einer architektonischen Vorliebe
geschuldet, sondern sie ist als offensives Aufbrechen überkommener
Symboliken zu verstehen.[40]
Ein verwandtes Projekt ist die Hauskapelle eines Wiener Studentenheims,
dessen Ausgangspunkt eine neue Auffassung der Messfeier ist, die die
Gemeinde stärker einbeziehen möchte (Abb. 2, 3). Uhl hat diesen Kirchenraum zweipolig
angelegt, es gibt einen niedrigeren, dunkleren Teil für den Wortgottesdienst
und einen höheren, helleren für die Mahlfeier. Insbesondere geht es hier um
eine Neugestaltung des Ablaufs der Messe, der mit den Hausbewohnern
entwickelt wird: nach dem Wortgottesdienst stehen die Feiernden auf und
versammeln sich um den Altar.
Wesentlich für die Erfahrung dieses Raumes ist damit
weniger die architektonische Fassung als die Art und Weise, wie man sich im
Raum bewegt und zueinander verhält. Besonders intensiv zeigt sich dieser
Gestaltungsschwerpunkt in der Kirche des Priesterseminars in Wien; hier wird
deutlich, wie stark die Atmosphäre eines Raumes von der Situierung jener
abhängt, die ihn wahrnehmen. In diesem Fall handelt es sich um
eine barocke Kirche, in die Uhl kaum sichtbar eingreift: Er lässt den
Fußboden auf einer Höhe durchlaufen, der Volksaltar hat kein Podest mehr,
als Sitzmöbel fungieren bewegliche Stühle. Diese minimalen Interventionen
ermöglichen, verschiedene Formationen der Gemeinde zu erproben und zu
wechseln. Dazu gab es nach der Fertigstellung auch Seminare, „Übungen zur
aktiven Raumnutzung“, bei denen Tisch, Ambo und Stühle hin und her
gerückt wurden (Abb. 4, 5). Uhl schreibt wenig architektonisch fest, er überlässt die
Raumgestaltung beweglichen Objekten und den Menschen, die sie gebrauchen und
die im Spiel mit diesen Elementen erst einen spezifischen Raum
konstituieren.
Uhl, dem es um die Emanzipation der Nutzer und Nutzerinnen geht, hat immer
versucht, Räume herzustellen, die einen sich verändernden Gebrauch
unterstützen. Dieses Konzept eines Raumes, der kaum mehr als
architektonische Form wahrnehmbar ist, sondern der sich permanent im
Gebrauch verändert, hat Uhl gemeinsam mit Herbert Thurner für ein Gymnasium
in Kärnten verwirklicht (Abb. 6-8). Der Bau ist eingeschossig und wirkt von außen
relativ verschlossen. Sein Inneres wird durch fixe Raumelemente wie Atrien,
Turnsäle und Nasszellen strukturiert, der Großteil des Raumprogramms wird
aber durch ein Konstruktionsraster mit beweglichen Wänden bewältigt. Was in
Erscheinung tritt, ist nicht die Architektur, vielmehr wird ihr Gebrauch
selbst wahrgenommen – wie er sich in Personengruppen und Gegenständen, in
Zonen verschiedener Intensität an Beleuchtung, Geräuschen und Gerüchen
präsentiert. Ein
solches Konzept einer funktionalen Offenheit bedarf spezifischer Techniken.
Die Variabilität von Grundrissen ist kaum möglich ohne vorherige Festlegung
einer minimalen sozialen und räumlichen Ordnung, die Anschlussfähigkeit
herstellt. Insofern setzt sich Uhl intensiv mit flexiblen
Konstruktionssystemen und modularen Ordnungen auseinander.
Die schematischen Plandarstellungen Uhls, die kein Abbild des
Gebäudes geben, sondern Zonen mit gewissen Qualitäten und erste Konturen
eines späteren Gebrauch zeigen, mögen manchen als Zeichen einer unsinnlichen
Architekturauffassung gelten – im Gegenteil sprechen sie vom Respekt
gegenüber dem Gebrauch und späteren Entwicklungen. Dem Gebrauch wird
zugestanden, Spuren zu hinterlassen und sich wahrnehmbar zu manifestieren.
Eine solche Erscheinungsweise, eine solche Ästhetik deutet
Eingriffsmöglichkeiten an und
wird zu einem „Zeichen für ‚Handlungsfähigkeit‘“.[41]
In den 1980er Jahren mündet diese Haltung in partizipatorische Wohnprojekte,
bei denen ein großer Teil der Arbeit in die Kommunikation mit den künftigen
Bewohnern und Bewohnerinnen fließt. Entwerfen stellt für Uhl kein
geradliniges Lösungsverfahren dar, sondern es geht ihm um die Gestaltung
eines Verfahrens, um die dramaturgische Bearbeitung eines Settings, in dem
kollektiv entworfen werden kann. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich
nicht auf das fertige Objekt, sondern „der Gesamtzusammenhang der
Entstehung wird als ästhetischer Vorgang [...] in den Brennpunkt des
Interesses gerückt“.[42]
Der Entwurfsprozess selbst wird bereits unter ästhetischen Gesichtspunkten
betrachtet, und dieser trägt auch wesentlich zum architektonischen Ergebnis
wie zu den möglichen Gebrauchsformen bei. Wenn ein Raum angestrebt wird, der
disponibel sein soll und in dem die Nutzer und Nutzerinnen mehr Freiraum als
üblich haben sollen, dann muss dieser Freiraum schon im Vorfeld erarbeitet
werden. Ein Beispiel dafür ist das Partizipationsprojekt „Wohnen mit
Kindern“, für das ein Bewohnerverein gegründet wurde (Abb. 9, 10). Die wesentliche
Qualität dieses Wohnbaus liegt darin, dass er Räume enthält, die individuell
und kollektiv genutzt werden können; ohne ein festgeschriebenes Regularium
ermöglicht die soziale und rechtliche Situation die ungezwungene Nutzung
gemeinsamer Räume. In diesem Projekt zeigt sich deutlich, dass Kommunikation
wesentlich zur Herstellung einer bestimmten Atmosphäre beiträgt, dazu, wie Räume genutzt und erlebt werden. Ästhetische Arbeit ist hier umfassend
gedacht: sie meint sowohl das Gestalten von Gesprächssituationen, von
architektonischen Anordnungen wie von Erprobungen eines spezifischen
Gebrauchs.
Eine solche Auffassung von Architektur geht davon aus, dass der Gebrauch
eine ästhetische Dimension hat und gestaltbar ist. Diese Haltung ist der
klassischen Architekturmoderne verpflichtet, der es darum ging, in die
gesellschaftliche Wirklichkeit einzugreifen und nicht nur Oberflächen zu
gestalten. Im Unterschied dazu werden Tätigkeiten aber nicht als
berechenbare „Funktionen“ aufgefasst, sondern als sinnlich und kommunikativ
ausgestaltete Gebrauchsformen. Tätigkeiten werden in ihrer ästhetischen und
emotionalen Dimension erfasst – es geht um ihre Strukturierung in Raum und
Zeit, es geht um Spielräume und Handlungsmöglichkeiten. Davon sind
Atmosphären
nicht ablösbar. Sie sind nicht allein an das Hier und Jetzt gebunden,
sondern hängen von Gewohnheiten ebenso ab wie von den
Handlungsmöglichkeiten, die eine Situation bietet.
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Abbildungsnachweis:
Alle Fotos
und Pläne stammen aus dem Archiv Ottokar Uhl, das vom Architekturzentrum
Wien verwaltet wird. Ich bedanke mich für die freundliche Überlassung der
Materialien.
Abb. 1: Architekturzentrum Wien, Foto: Mischa Erben
Abb. 2, 3, 5: Architekturzentrum Wien, Fotos: Gerd Schlegel
Abb. 4, 6-10: Architekturzentrum Wien
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu z.B. auch Confurius 2002.
[2] Vgl. Arch plus 178, 2006.
[3] Auch wenn etwa Peter Bürger ganz selbstverständlich im Zusammenhang mit Benjamin von einer „Ästhetik des Gebrauchs“ spricht, vgl. Bürger 2002.
[4] Böhme 1995, S. 7; 2001, S. 7.
[5] Vgl. Barck, Heininger, Kliche 2000, S. 309ff.
[9] Ebd., S. 45ff., 35ff.
[12] Böhme 1995, S.17, 47; 2006, S. 12.
[13] Benjamin zit. n. Böhme 1995, S. 26.
[14] Böhme 2006, S. 126ff.
[21] Benjamin zit. n. Fürnkäs 2000, S. 107.
[24] Benjamin 1991b; Weber 2000.
[25] Benjamin 1991b, S. 631ff.
[26] Vgl. Reisch 1992, S. 176.
[27] Vgl. Schöttker 2002.
[28] Benjamin 1991e, S. 53; 1991f, S. 292.
[29] Vgl. Benjamin 1991c, S. 217f.
[30] Benjamin 1991a, S. 482.
[32] Vgl. Reisch 1992, S. 117f.
[33] Vgl. Schöttker 2002, S. 411ff.; 2007, S. 167ff.; Barck u. a. 1990.
[35] Benjamin 1991d, S. 309f.
[36] Fürnkäs 2000, S. 122; vgl. Benjamin 1991g, S. 359.
[37] Zu Leben und Werk von Ottokar Uhl siehe Steger 2007.
[38] Vgl. Uhl 2003b, 2003c; Kamleithner 2005.
[40] Böhme 2006, S. 139ff.
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