Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Christian Holl
& Luc Merx

Stuttgart / Kaiserslautern
  Geschichte als Potenzial des architektonisch Konkreten

 

    In der aktuelle Architekturdiskussion scheint die Verwendung von geschichtlichen Referenzen und Zitaten, die weitgehende Adaption geschichtlicher Formen und Typen im Entwurf nicht mehr auf die Weise tabuisiert zu sein, wie das bis vor wenigen Jahren der Fall war. Doch werden die Möglichkeiten, solche Referenzen für die architektonische Konkretion zu nutzen, nicht ausgeschöpft. Auf der Basis des Projekts Rokokorelevanz soll gezeigt werden, inwiefern architektonische Konkretion sich aus geschichtlichen Referenzen gewinnen lässt und wie unter der Nutzung und Weiterentwicklung von Prinzipien wie von formalen Anleihen aus Bauten der Architekturgeschichte eine unmittelbare atmosphärische und performative Präsenz entstehen kann.[1]
Im Projekt Rokokorelevanz wird nach den Themen gesucht, die in der Regel für die Verwendung als formale Anleihen im Entwurfsprozess ausgeschlossen werden. Die übliche Praxis der Referenzen bezieht sich auf Vokabulare, deren Verwendung sich auf eine Weise etabliert hat, dass deren Bedeutungen im öffentlichen Diskurs anerkannt sind. Die Gedanken von Richard Rorty zu Kontingenz, Ironie und Solidarität[2] beziehen wir nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf architektonische Ausdrucksformen.[3] Dann ist die Entwicklung eines eigenen, individuellen Vokabulars in der Architektur nicht nur möglich und legitim, weil es die Basis zu einer individuellen Selbsterschaffung gibt.

Rorty zeigt, dass individuelle Vokabulare das Potenzial besitzen, in einem Sprachspiel der Öffentlichkeit einen Platz zu bekommen, eine Rolle zu spielen, eine Bedeutung zu gewinnen, nämlich die, „phantasievollere Beiträge zur Wirklichkeit zu bekommen.“
[4] Akzeptiert man den Transfer dieser Argumentation in die Architektur, dann kann die persönliche Reaktion auf bestehende architektonische Vokabulare zum Ausgangspunkt der Entwicklung eines neuen werden, dessen Möglichkeiten vor seiner Entfaltung noch nicht erkannt werden können: „Das neue Vokabular macht die Formulierung seines Zwecks erst möglich.“[5]

Die persönliche Aversion kann ein Hinweis auf ein tabuisiertes Potenzial sein. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns im Projekt Rokokorelevanz auf das, was bei uns selbst Aversion hervorruft. Eine solche Aversion kann Hinweise liefern, auf die Beschränkungen in der Entfaltung eines eigenen Vokabulars sowie auf die Erforschung von Möglichkeiten der Konkretion, weil persönliche Entwurfsrituale an die Erwartungen des Umfelds gekoppelt und durch sie konditioniert sind.

Bei Entwurfsprozessen, die darauf zielen, akzeptiert zu werden und eine Chance auf Realisierung zu haben, sind Tabus Teil eines ritualisierten Entwurfsablaufes, Teil eines optimierten Gestaltungsvorgangs. Ein solcher Prozess ist wegen seiner Effizienz hilfreich in einer Situation, in der die Randbedingungen für das Entwerfen stabil sind, in der vom Ergebnis eine An- und Einpassung in einen stabilen Kontext erwartet wird. Das Tabu garantiert gesellschaftliche Akzeptanz, weil es bestimmte Vokabulare ausschließt und beugt der Verschwendung von Energie dort vor, wo die Erfahrung gelehrt hat, dass sie zu keinem Ergebnis führt. Durch neue Entwurfs- und Produktionswerkzeuge, durch veränderte gesellschaftliche Randbedingungen hat sich das Entwerfen in den letzten Jahren stark verändert und wird sich noch weiter verändern. Das Tabu bremst die Erkundung der neuen Möglichkeiten.

Wir vertreten die These, dass die Referenz auf Geschichte helfen kann,
Tabus zu hinterfragen und ein eigenes Vokabular zu entwickeln. Dazu muss man Geschichte auf eine andere Weise rezipieren, als dies im aktuellen Diskurs der Fall ist. Wir vertreten die These, dass trotz der scheinbar gestiegenen Bedeutung von geschichtlichen Referenzen im architektonischen Entwurf die Verwendung der Referenzen einem Prozess unterworfen ist, der deren Historizität leugnet. Wir glauben zeigen zu können, dass das Potenzial der Referenz dann besser genutzt werden kann, wenn man die Historizität der Referenz nicht leugnet, dass aber im Gegenteil das Nichtanerkennen von Historizität Tabus aufbaut oder bestehende stabilisiert. In einem Exkurs zu aktuellen Diskursthemen möchten wir zeigen, wie die Frage nach den Möglichkeiten geschichtlicher Referenzen durch solche Tabus eingeschränkt wird.


Projektbeispiel 1: Gartensaal 05

Eines der ersten Projekte von Rokokorelevanz soll hier unser Vorgehen und die Ziele, die wir damit verfolgt haben, zeigen. Diese Ziele bildeten die Basis weiterer Auseinandersetzungen.
Am Anfang des Projekts stand die Faszination für einen Ort, den Gartensaal der Würzburger Residenz, und das Interesse, sich ausgehend von diesem Ort mit der Brauchbarkeit von Geschichte als Entwurfsreferenz zu beschäftigen. Aversion wurde in diesem Projekt zum ersten Mal als Indikator für persönliches Entwicklungspotenzial getestet. Zum einen setzt das Projekt sich mit dem Widerspruch auseinander, der zwischen der Begeisterung für eine bestimmte historische Architektur und der Unmöglichkeit, die darin erkannten Prinzipien in die eigene Arbeit zu integrieren, besteht.

Unsere Arbeit war bis dahin, wie bei den meisten Architekten unserer Generation, vor allem geprägt durch einen anerzogenen Hang zum Pragmatischen und zur Reduktion. Die Würzburger Residenz stellt genau die Wertung dieser Entwurfsqualitäten in Frage. Das Dogma einer ehrlichen und aufrichtigen Architektur spielt hier keine Rolle, oder wenn, dann höchstens als dessen Negation. Ihre Planer waren vor allem an der Wirkung ihrer Arbeit auf den Betrachter und an der Effizienz der erzeugten Bilder interessiert. In der Behandlung der Oberflächen wird dies sichtbar:
Sie sind von Steinimitationen, Ornamenten und Bildern geprägt. Die Oberflächen selbst sind zu doppelt gekrümmten Flächen verformt.
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Abb. 1:
Die Installation Gartensaal 05
in der Würzburger Residenz


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Abb. 2:
Im Innern der Installation
Gartensaal 05

  Erstaunlicherweise waren die Faszination und die Erkenntnis der Unvereinbarkeit mit dem eigenen Schaffen in der spätbarocken Residenz genau dort konzentriert, wo auch bei der Arbeit mit dem Computer Probleme auftauchten. Der hatte schon längst angefangen, unsere Arbeit zu verändern, schränkte sie aber durch dieselben Faktoren ein, die auch die Adaption des Barock erschwerten. Einer der Punkte, der uns in der Würzburger Residenz am meisten interessierte, war die Parallele zwischen der Geometrie der Rocaille und Balthasar Neumanns Gewölben einerseits und den Versprechungen des Computers andererseits.

Realisiert wurde eine Installation.[6] Sie besteht aus vier sich durchdringende Kammern, die Haut ist zweischalig und besteht aus leichter Ballonseide und robusterem Airbaggewebe im Bodenbereich. Die zwei Membranen bilden eine Luftkammer. Die Außenform, die entsteht, spiegelt die Geometrie der erwähnten Gewölbe Balthasar Neumanns, während das Innere die räumlichen Qualitäten der Augsburger Ornamentstiche reflektiert. In Wachsmuths Stichen wird nicht zwischen Boden, Wand und Decke differenziert, Raumgrenzen werden verschliffen und fragmentiert. Die Wahl von Material und Konstruktion der Installation wurde so getroffen, dass die Möglichkeiten des direkten Zitats eingeschränkt und die Entwicklung eigener Formen durch die Kopie von Elementen aus dem Gegenstand der Auseinandersetzung nahezu ausgeschlossen werden kann.

Den Unterschied zwischen der Methode, in der eigenen Arbeit Geschichte als Potenzial zu nutzen und der Art, wie im Architektur- und Stadtdiskurs Bedeutung der Geschichte als Potenzial gesehen wird, sehen wir dabei auf zwei Ebenen. Zum einen formulieren wir mit der Arbeit einen Anspruch auf radikale Subjektivität. Dabei richtet sich Rokokorelevanz gegen ein Geschichtsverständnis, das Geschichte auf Brauchbares im Dienste einer eigenen, bereits vorgefassten Auffassung über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Architektur untersucht und dabei auf eine Weise selektiert, die das geschichtliche Werk seiner Komplexität beraubt, es isoliert und so zu einem Museumsstück macht. Geschichte wird dabei zur Illustration eines ‚richtigen‘ Verständnisses von Architektur und Städtebau, die Notwendigkeit, sie in ihrem komplexen Strukturgefüge von Gesellschaft, Ökonomie und Politik zu sehen, entfällt. Aber auch, wenn man diese Auffassung von Geschichte ablehnt, ist es nicht möglich, die Komplexität der geschichtlichen Referenz zu adaptieren. Anstatt dann aber Geschichte so für den Entwurf zu verwenden, dass ihre Komplexität reduziert wird, weil man den vergangenen Kontext nicht simulieren oder wiederherstellen kann, versuchen wir, Geschichte zum Ausgangspunkt zu nehmen, um eine eigene Komplexität zu generieren.
Zum andern vertreten wir die These, dass das Potenzial, das die Nutzung von geschichtlicher Referenz im architektonischen Entwurf bietet, in der architektonischen Konkretion nicht ausgeschöpft werden kann, wenn nicht eingestanden wird, dass auf Geschichte referiert wird.


Exkurs: Geschichtliche Referenz in der aktuellen Stadtdebatte

Ende November wurde der Wettbewerb zum Neubau auf dem Berliner Schlossplatz, das so genannte Humboldt-Forum, entschieden. Wichtige Entscheidungen über die Kubatur und die drei repräsentativen Fassaden wurden bereits im Vorfeld getroffen. In diesem wie in anderen Fällen aktueller Rekonstruktionsvorhaben muss man Zweifel haben, dass es sich dabei wirklich um Auseinandersetzung mit Geschichte handelt. Wenn ja, dann handelt es sich zumindest um eine Auseinandersetzung in Ausschnitten, die andere Teile ausblendet.
[7] Auch in Berlin sollen nur drei Fassaden rekonstruiert werden. Nicht berücksichtigt wird paradoxerweise genau die, die die Geschichtlichkeit des Schlosses vor seiner Zerstörung am besten gezeigt hatte, die spätmittelalterliche Bauteile und solche aus der Renaissance aufwies. Sie hätte, so Wolfgang Pehnt, mehr zu sagen gehabt, „über das schwierige Verhältnis von Stadt und Stadtherrschaft [...] als die drei soviel repräsentativeren, barocken Seiten.”[8]

In gleicher Weise wird in Abrede gestellt, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit den architektonischen und städtebaulichen Formen der 1950er und 60er Jahre um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Architektur- und Stadtbaugeschichte handelt.
[9] So wird im Planwerk Innenstadt die Baugeschichte Berlins als kontinuierlicher Entwicklungsprozess gedacht, der durch die städtebaulichen Planungen der Nachkriegszeit empfindlich gestört wurde. Gestört werden kann ein solcher Prozess aber nur, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist – und irgendwann abgeschlossen sein wird. Für die Stadt wird also hier das Bild des Organismus gesetzt: Im natürlichen, maßvollen Wachstum, dem in der gleichen Metaphernebene die „Wucherungen“ (und demnach also krankhaften) Bebauungen am Stadtrand entgegengehalten werden, vollzieht sich der Sinn des Organismus; ihm hat sich auch ein Neubau unterzuordnen.[10] Die Entwicklung der Stadt erhält damit den Charakter naturgesetzmäßiger Notwendigkeit.

Was damit geleistet wird, fasst der Soziologe Andreas Pott zusammen: Eine auf ein begrenztes städtisches Territorium bezogene Semantik stelle

„der Alltagserfahrung des Verlusts der räumlichen Integration der Gesellschaft und dem Unsicherwerden von Konzepten wie dem nationalen Territorialstaat oder der Stadt als einer territorial begrenzten sozial-räumlichen Einheit räumliche Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit gegenüber.“[11]

Brüche, Lücken und Unstimmigkeiten im entwickelten und kommunizierten Bild sind für diese Kompensationswirkung ebenso schädlich wie uneinheitliche räumliche Konstruktionen, weswegen das „historische“ Zentrum auch in der Regel die günstigste Voraussetzung für eine solche Konstruktion bietet. Denn darum handelt es sich: um Konstruktionen, die aus Geschichte, kultureller Wertzuschreibung und baulicher Substanz den Ort des Tourismus erst aufbauen. Für die Funktionstüchtigkeit eines touristischen Konzepts sind Ansprüche an Korrektheit von Namen und räumlichen Zusammenhängen daher nachrangig, sowohl im Hinblick auf Rekonstruktionen von Gebäuden, als auch im Hinblick auf das Erzeugen von touristisch vermarktbaren Atmosphären.
Geschichte wird hier benutzt, um ein einheitliches und homogenes Stadtbild zu legitimieren. In diesem Bild wird bereits der ideale, nicht mehr zu verändernde Zustand erkennbar. Das Bild dieser Stadt verspricht Stabilität, Sicherheit, Ordnung und Geborgenheit.

Doch das Bild der einheitlichen Stadt zu inszenieren, die wenn nicht jetzt, so doch irgendwann ihren idealen Zustand erreichen könnte, hat einen hohen Preis: Architektur als Teil einer Kontinuität, die den permanenten Veränderungen entgegengesetzt wird, verspricht nur dann Stabilität, wenn sie die Bedrohung, die Geschichtlichkeit eigentlich mit sich bringt, leugnet. Nämlich dem Einfluss der Zeitlichkeit ausgesetzt zu sein, sich unter dem Einfluss der Bewohner und der Nutzung zu verändern, Risse zu bekommen, Schaden zu nehmen, aber eben auch, unter dem Einfluss veränderter Rahmenbedingungen wieder zu verschwinden. Dies schränkt das Ausdruckspotenzial von Architektur in ihren konkreten Formen ein. Architektur muss suggerieren, dass die Bedrohung, sich in der Zeit zu verändern, nicht besteht, indem sie sich den präzise lesbaren Referenzen verweigert, die einer Epoche oder einem Stil zugeordnet werden können. Denn nur wenn die Gebäude in ihren Formen nicht präzise zugeordnet werden können, lassen sie sich als Teil einer scheinbar naturgesetzmäßigen Entwicklung lesen. Es entsteht ein paradoxer Anspruch, der einer vorgeblich geschichtlichen Kontinuität ohne das konkrete Zeichen, das auf Geschichte verweist; das Konkrete verstanden als das Material, das unsere Sinne reizt, bevor wir es mit Bedeutungen koppeln und als Repräsentation verstehen.



Projektbeispiel 2: Lampshade The Fall of The Damned


An dieser Stelle scheint es angebracht, zur Ausgangsthese zurückzukommen. Wir glauben, dass der Exkurs deutlich machen konnte, dass es bei der Referenz auf Geschichte darum geht, die Deutungshoheit dafür in Anspruch zu nehmen, was als geschichtliche Referenz im Architektonischen für die Gesellschaft akzeptiert werden darf und was nicht. Das setzt voraus, dass man in Distanz zur Geschichte tritt und sie gleichsam von außen betrachtet.

Geschichtliche Distanz wird in dem Zusammenhang dafür genutzt, den Standpunkt des Involvierten aufzuheben. Es ist dann möglich, beispielsweise Rubens oder Bernini zu achten, ohne dabei den Anspruch zu erheben, genau das, was man an deren Kunst schätzt, für die eigene Arbeit überhaupt nutzen zu wollen. Die bewunderte Arbeit wird als grandios eingeschätzt, ihr wird aber ein Platz in der Geschichte zugewiesen, der sie von der Relevanz für aktuelle Gestaltung trennt. Solange dieser Platz in der Geschichte fixiert ist, wird die Komplexität des historischen Umfelds zu einer Barriere, die die Verwendung der Referenz ausschließt. Um verwendet werden zu können, müssen die Zitate, die verwendet werden, zuerst ungeschichtlich werden: Nur dann können sie sich von einem Platz in der Geschichte lösen, der sie daran hindert, auf aktuelle Gestaltung übertragen zu werden. Das setzt einen Glauben an eine Wahrheit an sich für Architektur und Stadtplanung voraus, die hinter den geschichtlichen Formen zu finden ist. Geschichte wird so unter der Hand zu einem Prozess, der die hinter den Erscheinungen liegende Wahrheit sichtbar macht – und erst dann gibt es einen gestalterischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der etwas anderes ist als eine Abfolge von Epochen und Ereignissen, die zu untersuchen uns verstehen hilft, warum wir bestimmte Dinge heute so und nicht anders tun, verstehen, auffassen, sehen.

Die Idee eines gestalterischen und gesellschaftlichen Fortschritts impliziert, dass das Niveau der vorgefundenen Kunst längst überwunden und die Überlegenheit des Betrachters von heute garantiert ist. Der distanzierte Blick auf die Geschichte folgt ähnlichen Mechanismen wie die erwähnten Entwurfstabus. Geschichte, die nicht als ein Prozess der fortschreitenden Wahrheitsfindung interpretiert wird, zwingt und befreit erst dann dazu, die eigenen Entwurfsabläufe in Frage zu stellen, wenn man historische Zeugnisse auf seine eigene Arbeit bezieht, wenn man sie konsequent auf ihre Brauchbarkeit als Referenz überprüft. Dieses Aufheben der Distanz erfordert und ermöglicht eine radikal subjektive Betrachtung der Geschichte. Die Untersuchung der Geschichte wird dann zu einem Instrument, mit dem ein nach Automatismen ablaufender Entwurfsprozess in Frage gestellt wird. Geschichte wird im Projekt Rokokorelevanz also dazu gebraucht, die Routine des alltäglichen Arbeitsablaufs in Frage zu stellen, eine Routine, die blind für das macht, was auf seine Eignung für den Entwurf noch nicht befragt wurde.

Stattdessen soll die Neigung, Bekanntes zu wiederholen, hinterfragt werden, um damit technische Neuerungen besser ausnutzen zu können. Wir interessieren uns nicht für Fortschritt, sondern für eine Architektur, die auf das aktuelle Umfeld reagiert und die ihr zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten nutzt. Die Gefahr dabei besteht darin, die Routine der alltäglichen Gewöhnung durch eine Routine des Modischen zu ersetzen. Auch dagegen sollen geschichtliche Referenz und der Umgang mit eigenen Aversionen wappnen.

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Abb. 3:
Die Lampe The Fall of The Damned
 

Um dies zu verdeutlichen, möchten wir als zweites Beispiel an dieser Stelle die Lampe The Fall of The Damned[12] vorstellen, als eine jener Arbeiten, in denen Geschichte als gestalterische Referenz reaktiviert wird. Die Lampe verstößt gegen eine Reihe von Tabus, die im 20. Jahrhundert der Gestaltung auferlegt wurden. Sie ist figurativ, ornamental und narrativ. Die (individuelle, persönliche) Überwindung, die es kostet, einen figurativen Gebrauchsgegenstand zu entwerfen, bildet den Ausgangspunkt für die Lampe. The Fall of The Damned ist eine Studie zum Potenzial des Narrativen. Das Bild verschmilzt mit technischen Problemen wie Material, Konstruktion, Produktion und ist auch Ausdruck dieser Parameter.

Der Lampenschirm, scheinbar eine schwebende Ornamentmasse, opulent und bombastisch, löst sich beim Nähertreten auf. Es werden einzelne, angstverzerrte Körper sichtbar, die wie im Sturz eingefroren scheinen. Die räumliche Komposition aus Körpern bezieht ihre Anregungen aus Arbeiten von Giambologna, Bernini und Rubens. Ihre rhythmische Anordnung irritiert. Sie erst macht die Körper zum Ornament. Weich, als seien sie aus Fleisch, brechen die Körperteile, Beine und Bäuche das Licht. Weil sie vom Dunkel der Eigenschatten verdeckt werden, sind von den Körpern immer nur Teile im Vordergrund sichtbar. Auch der helle Innenbereich der Lampe ist nur fragmentiert wahrnehmbar. Die Einblicke in den hellen Kern verändern sich stark, wenn der Betrachter sich bewegt. Die starren Körper bekommen dadurch ihre Dynamik.

Der Wechsel zwischen Ornamentalem und Figurativem in Abhängigkeit von der Entfernung des Betrachters von der Lampe, die Assoziationen an den Sturz der Verdammten, das Bild für Schuld und Strafe, machen die Lampe zu einem ambivalenten Werk: Ist die Lampe moralische Botschaft, formalistischer Akt, oder beides? Angereichert wird diese Mehrdeutigkeit auch durch eine aktuelle ikonographische Referenz, die die Unsicherheit in der Dechiffrierung des Objekts noch vergrößert: die der Falling Men des World Trade Centers. Die Deutungsmöglichkeiten bleiben offen – es ist eine Metapher, der (noch) keine eindeutige Rolle im Sprachspiel, keine Bedeutung zugewiesen wurde, die die Vielzahl von Bedeutungen, die durch assoziative Bilder ständig in unserem Alltag in uns aktiviert werden, beschreibt.

Diese Untersuchung der gestalterischen Möglichkeit eines Objekts wird durch ein neues Verständnis von Technik ermöglicht. Technik generiert nicht mehr die Form, sondern forciert durch ihre enorme Bandbreite von Möglichkeiten gestalterische Freiheit und fordert zur Entscheidung, die auch mit der Wahl des Materials und der Verarbeitungstechnik allein nicht mehr gefällt ist. Wir antworten darauf nicht mehr mit einer bislang üblichen, inzwischen freiwillig auferlegten gestalterischen Selbstbeschränkung, sondern verlieren uns in dieser Freiheit und liefern uns der Virtuosität der Maschine aus. Insofern ist die Arbeit auch als eine Reflexion der Situation des Gestalters selbst interpretierbar.

Die Lampe wird in einem Verfahren hergestellt, das Selective Laser Sinthering (SLS) genannt wird. Beim SLS wird Polyamidpulver Schicht für Schicht angeschmolzen. Wie beim Schichtmodell aus Pappe entsteht aus dem geschmolzenen Polyamid die gewünschte Form. Mit der Lampe wird versucht, den Moment festzuhalten, in dem eine neue Technik existiert, aber noch so unbekannt ist, dass mit ihr erzeugte Produkte überraschen. In diesem Zusammenhang verstehen wir die geschichtliche Referenz als eine notwendige Form von Subversion, die dazu provoziert, neue Bedeutungszuordnungen zu finden und anzuerkennen, dass Bedeutungszuordnungen nicht fixiert sind, sondern sich ändern können. Bedeutungen von architektonischen Elementen können vergessen werden, sie können durch andere ersetzt werden. Dadurch öffnen sie sich einer Neuinterpretation, einer spielerischen Anverwandlung. Solchen Neuinterpretationen von historischem Material können Bedeutungen erst noch zugeordnet werden, diese Zuschreibungen bleiben vorerst noch offen.

Insofern sind sie subversiv, politisch, wenn die Deutungshoheit über solche Zuweisungen in Anspruch genommen wird, von wem auch immer. The Fall of The Damned operiert dabei mit einer Provokation, die die Provokation des Entwerfers selbst mit einschließt. Diese Provokation wird dadurch größer, dass die in kleinen Stückzahlen produzierte und nur zu einem hohen Preis zu erwerbende Lampe wie ein Luxusgut des Kunstmarkts ein elitäres Konsumverhalten in Widerspruch zur Mahnung an Vergänglichkeit und Verdammnis setzt. So wird auf die Gleichheit aller im Angesicht des Todes verwiesen; eine Mahnung, die um so eindringlicher wirkt, wenn von einem Verständnis von Geschichte ausgegangen wird, das Leistungen im Hinblick auf einen Endpunkt der Geschichte addiert.

Fassen wir das Gesagte zusammen. Wir verstehen Bedeutungszuweisungen als prinzipiell offen; Offenheit kann gezielt forciert werden. Sie ist eine Form der Subversion, weil sie geltende Schemata der Bedeutungszuweisung in Frage stellt. Damit es solche Subversion nicht gibt, wird in der herrschenden Praxis darauf hingearbeitet, auf die Verwendung von entzifferbaren historischen Elementen weitestgehend zu verzichten, am besten, indem man behauptet, es gehe nicht um Geschichte. Mit dieser Prämisse verarmen architektonische Ausdrucksformen.
Wenn dagegen Geschichtlichkeit in der Architektur auf eine Form quasi naturgegebener Ordnung eines scheinbar immer schon existierenden Idealbilds von Architektur und Stadt reduziert und damit idealisiert wird, dann werden die Potenziale, Architektur und Stadt im Zusammenspiel von symbolischem und konkretem Gehalt zu entfalten, verkürzt. Dann wird das Symbolische dem Konkreten vorangestellt und dominiert es als Prämisse, die auch im Ergebnis das Konkrete in den Hintergrund drängt.



 



Abbildungsnachweis:


Abb. 1, 2: Fotos: Luc Merx
Abb. 3:
Gagat international, Aachen und Materialise.MGX


 



Anmerkungen:

[1] Vgl. www.rokokorelevanz.de und Architekturgalerie am Weißenhof (Hg.): Rokokorelevanz/Weiße Wand, Baunach 2006.

[2] Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992.

[3] Diese Freiheit der Übertragung legt Rorty selbst nahe. Vgl. Richard Rorty: Vom Nutzen der Philosophie für den Künstler, in: Arch plus, H. 156, 2001, S. 40-44, hier S. 43

[4] Ebd.

[5] Rorty 1992, S. 36.

[6] In Zusammenarbeit mit Core (Alexander Buchop, Holger Grobe, Petra Langer, Holger Leibmann, Sascha Querbach, Marcellus Schwarz), TU Darmstadt.

[7] Vgl. Bartetzko, Dieter: Potsdamer Stadtschloss. Wer Geschichte nachbaut, muss ihr treu sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.2009.

[8] Pehnt, Wolfgang: Sehnsucht nach Geschichte, Vortrag bei der Stiftung Baukultur am 11.07.2008. http://schlossdebatte.de/?p=277#more-277 (Stand 08.07.2009).

[9] Stimmann, Hans: Wohngebirge für die neue Gesellschaft, Megastrukturen und Eskapismus: Was bleibt von der Architektur der 68er?, in: Die Welt, 28.03.2008.

[10] Vgl. Hennecke, Stefanie: Berlin soll „wachsen“ – Kritik am organischen Stadtmodell, in: Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, hg. von Annette Geiger, Stefanie Hennecke, Christin Kempf, Berlin 2005, S. 149-163.

[11] Pott, Andreas: Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld 2007, S. 182.

[12] Lampe Fall of The Damned. Materialise.MGX. Entwurf: Gagat international, Luc Merx.

 


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