Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Fred Truniger
Zürich
  Bilder akkumulieren –
Eine filmische Deutung der englischen Landschaft

 

   

Dem Wissen ist eigen, weder zu sehen, noch zu zeigen, sondern zu interpretieren.“
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. S. 72.



Michel Foucault verweist auf das Verhältnis von Sprache und Bild als Korrelate:

Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern und Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist. (Foucault 1999: 38)

Die sprachlichen Möglichkeiten bis an die Grenzen belastend, reibt sich vergeblich auf, wer sprechend oder schreibend die Stimmung und Atmosphäre einer Landschaft erfassen möchte. Ebenso schwierig ist es, landschaftliche Situationen zu beschreiben, für die keine Namen existieren: vor allem urbane Restflächen müssen oft mühsam umschrieben werden, um sich auf sie beziehen zu können.
In einem Bild dagegen lassen sich Situationen bisweilen mühelos darstellen, nur fehlt ihm wiederum die Präzision, das Gewünschte unmissverständlich zu fassen. Verstehen zwei Menschen ein Bild tatsächlich gleich? Löst es bei beiden eine identische Reaktion aus?

Bilder bieten Raum für Interpretationen, sie sind nicht eindeutig definiert. Erst der Kontext, in welchem sie erscheinen – in manchen Fällen auch der Kontext in welchem sie erstmalig erschienen sind und sich in das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft eingegraben haben – verleiht ihnen in der konkreten Situation eine Bedeutung. Während die Malerei, wie Walter Benjamin bemerkte, noch zur "frei schwebenden Kontemplation" einlud, so lässt der Authentizitätswert der Fotografie diese zu "Beweisstücken im historischen Prozess" werden (Benjamin 1977: 21). Voraussetzung dafür, dass sie "richtig" verstanden werden kann, ist ihre zeitliche, geografische und inhaltliche Einordnung. Dies geschieht oft durch die Bildlegende, die "Beschriftung" (ebda.), doch hat die Geschichte auch Super-Ikonen hervorgebracht, die in gewissen Kulturkreisen über limitierte Zeiträume hinweg assoziativ eine gesellschaftsweite Kontextualisierung erfahren haben: Das Bild der brennenden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 ist sicherlich eine der Wichtigsten dieser Ikonen.

Das Medium Film bietet eine Reihe anderer Formen der Kontextualisierung von Bildern, die gleichfalls eine deutliche Bedeutungszuschreibung leisten können.
Etwa wird jede Einstellung innerhalb einer Sequenz gelesen: Bilder werden nicht nur durch spezifisch filmische Varianten der klassischen "Beschriftung" kontextualisiert, etwa durch einen Off-Kommentar oder eine Texteinblendung, sondern auch durch andere Bilder. In manchen Fällen, wenn sowohl ein Kommentar als auch Texteinblendungen unterbleiben, stellen sie den einzigen innerfilmischen Kontext dar, in welchem ein Bild interpretiert werden kann. Die jüngsten Werke des amerikanischen Experimentalfilmers James Benning, die aus mehrere Minuten langen, unbewegten und unkommentierten Einstellungen bestehen, sind radikale Beispiele dafür.
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Natürlich ist nicht auszuschließen, dass jeder Zuschauer sein spezifisches Vorwissen und seine Seherwartung mit in die Visionierung eines Filmes hineinträgt und sich so noch ein weiterer Kontext für die Bilder bildet, doch dieser ist in einem Ausmaß unkontrollierbar und kontingent, dass er hier nicht betrachtet werden kann.

Die Einordnung von Bildern durch Bilder sowie von Bildern durch den Off-Kommentar, eröffnet dem Film eine Interpretationsebene, die kaum ein anderes Medium (abgesehen von der inzwischen etwas in die Jahre gekommenen Tonbildschau und der moderneren Power-Point-Präsentation) zu bieten hat. Aber da die "unbewegten Schnitte" (Deleuze 1989: 26) meist einzelne Momente einer Abfolge darstellen, die in schneller Abfolge projiziert den Eindruck von Bewegung hervorrufen, so ergibt sich für das einzelne, in der Projektion allerdings nicht distinkt wahrnehmbare Filmkader darüber hinaus eine kontextuelle Ebene, die ausschließlich dem Film und seinen Nachfahren vorbehalten ist: Jedes der Bilder ist Teil der Repräsentation eines Entwicklungsprozesses und kann als solcher nur verstanden werden, wenn es innerhalb des Dispositivs des Kinos rezipiert wird.

Ein weiterer Kontext des Filmbildes ist der Ton, der außer aus dem Off-Kommentar aus Geräuschen und Musik bestehen kann. James Benning beispielsweise verwendet ungewöhnliche Sorgfalt auf die Tonspur seiner Filme. Er setzt sie aus Umgebungstönen des jeweiligen Drehortes zusammen, die aber nicht zwingend mit dem gezeigten Bild synchron sind. Gesprächsfetzen aus dem filmischen Off können so die Wirkung des Ortes, wie er visuell dargestellt wird, in Frage stellen: Außerhalb des kadrierten Bildes scheinen Dinge vor sich zu gehen, die nicht mit dem Abgebildeten vereinbar sind. Der britische Architekt und Filmemacher Patrick Keiller sagt dazu:

Sound is a much more appropriate medium for representing space, as it isn’t constrained by the frame. (Pichler 1998: 52)

Als letzter Kontext ist schließlich die Narration zu nennen. Fast jeder Film weist eine Form von Narration auf und diese bestimmt maßgeblich, wie der Filmzuschauer interpretiert, was er sieht. Der Filmtheoretiker David Bordwell hat sich eingehend mit der Frage der Narration im fiktionalen Film befasst und ist gar der Meinung, dass narrative Schemen die wichtigste Funktion des Filmverstehens darstellen. Narrativ verknüpfte Informationen können besser erinnert werden, als rein sequentielle (Bordwell 1985: 29ff.) und spielen daher eine überragende Rolle dafür, wie ein Film wahrgenommen und wie er in der Folge interpretiert wird.
Narrative Schemen des Filmverstehens – Modelle zur Voraussage, was in einer Handlung als nächstes passieren wird – sind aber andererseits auch dafür verantwortlich, dass der Zuschauer sich in der Handlung eines Films quasi verliert und mit den handelnden Personen "mitlebt". Seine Urteilsfähigkeit darüber, was er tatsächlich sieht, nimmt umgekehrt proportional dazu ab, wie sehr er sich auf das narrative Verstehen einlässt, das ihm laufend die Interpretation des Gesehenen weitgehend abnimmt. Am Ende eines Films klafft oft weit auseinander, was der Zuschauer glaubt, gesehen zu haben, und was tatsächlich auf die Leinwand projiziert wurde.
So weist das Lesen/Verstehen von Film und von Landschaft deutliche Ähnlichkeiten auf: Auch der Blick auf die Topografie kann durch kulturell tradierte Narrationen völlig verstellt werden. Wer bemerkt schon, wie Simon Schama schreibt, dass der Parkplatz vor den Toren des Yosemite-Nationalparks heute fast ebenso groß ist, wie der eigentliche Park? Starke Narrationen strafen uns bisweilen mit kultureller Blindheit: Weiterhin geistert in unseren Köpfen das Bild einer unberührten Wildnis herum, die keine Spuren menschlicher Präsenz aufweist. (Schama 1995: 7)

Die beschriebenen Interpretationsebenen des Films machen das Medium zu einem komplexen Repräsentationsinstrument, das zu Recht immer wieder als manipulativ bezeichnet wurde. Nicht ohne Grund erhob Lenin den Film in den Rang der wichtigsten Kunst (Kuchenbuch 1978: 63). Es bedarf folglich einer präzisen formalen Lesart der filmischen Mittel, um verstehen zu lernen, wie Filme Interpretieren. Nur so können Wirkungsweisen im Detail analysiert werden, die dem inhaltlichen Blick des normalen Kinogängers hinter Blicklust und narrativen Verstehen verborgen bleiben.
Wieso sich aber erst ein formales Verständnis der Filmsprache erwerben, das keinen Zugriff auf die primäre Welt erschließt, sondern lediglich eine gleichzeitig visuelle, sprachliche und auditive mediale Interpretation neuerdings zu interpretieren erlaubt?
Für die Analyse von Landschaftsfilmen spricht ein gewichtiger Vorteil, den das Bildmedium gegenüber sprachlichen Interpretationen auszeichnet: Film interpretiert in Bildern. Die Filmmontage ist eine Form des visuellen Denkens und schafft einen unverstellten interpretativen Zugriff auf die sichtbare Welt.
Die Filmanalyse eröffnet damit die Möglichkeit, direkt dahin vorzudringen, was Foucault mit schlichten Worten als das "was man sieht" bezeichnete.


England interpretieren

Elias Canetti beschrieb das Verhältnis der Engländer zu ihrer Heimat mit der Metapher des Schiffs auf dem Meer. Das sich ständig verändernde Meer muss von der Seefahrernation Großbritannien beherrscht werden, die Insel dagegen ist der Komplementär: Ein sicherer und unveränderlicher Ort. (Canetti 1960: 193f.)
Die Qualitäten der Landschaften Englands sind als Schauplatz jahrtausendealter kultureller Besitznahme oft beschworen worden: Von Institutionen wie dem National Trust sorgfältig konserviert und mit historisierenden Erzählungen erschlossen, wird sie als quasi ewige und unveränderliche Kulturleistung wahrgenommen, deren Bestand jederzeit den Anspruch Englands als Kulturnation zu unterstreichen geeignet ist. Im zweiten Weltkrieg wurde das Heart of Britain, wie ein kurzer propagandistischer Film von Humphrey Jennings betitelt ist (GB 1941), an der Heimatfront als Wert beschworen, den gegen die deutschen Angriffe zu bewahren sich lohnt. Bilder sanfter Hügel, gewaltiger Kathedralen und spektakulärer Felsenlandschaften dienen dem Film dazu, beim Zuschauer den Bewahrungstrieb zu wecken und als Ansporn, die Hoffnung angesichts der isolierten Situation im Meer eines von Deutschland beherrschten Europas nicht zu verlieren.

Im Film Robinson in Space zitiert Patrick Keiller einige dieser Bilder als Negativform für seine eigene Sicht des Kulturraums England: Der Süden der Insel ist seiner Meinung nach längst zu einem postindustriellen Konglomerat von Produktionsstandorten und Infrastrukturlandschaften geworden.

Die auffälligste Eigenschaft der Filme Patrick Keillers ist die sorgfältige Kadrierung von Architektur und Landschaft. Der Autor war Architekt, bevor er Filme zu drehen begann. Schon während des Studiums interessierte er sich für die Architektur- und Landschaftsfotografie und reihte sich damit in eine lange Tradition ein: Die Landschaft zu gestalten und abzubilden ist in England seit jeher eine wichtige künstlerische Ausdrucksweise. Während Keillers Studienzeit erhielt diese Tradition einen wichtigen Impuls in einer bemerkenswerten Serie von Landschaftsfilmen. Filmemacher wie Chris Welsby, William Raban und Jenny Okun schufen in den 1970er und 1980er Jahren ein umfangreiches Korpus von experimentellen Filmen ("Struktureller Film"), die sich ausschließlich mit der Landschaft auseinandersetzten. Zu den wichtigsten Werken dieser von einer Ausstellung in der Tate Gallery 1975 zusammenfassend als "Avant-Garde Landscape Films" bezeichneten, künstlerischen Bewegung gehören River Yar von Chris Welsby und William Raban (Doppelprojektion, GB 1972), Chris Welsbys Seven Days (GB 1974), William Rabans Surface Tension (GB 1974-76) und Jenny Okuns Clouds (GB 1975).

Wenn eine Beeinflussung Keillers durch diese damals in London sehr bekannten Filme auch möglich scheint, so sieht er sich selber doch nicht in ihrer direkten Nachfolge (Pichler 1998: 52). Er nimmt für sich eher einen ironischen Zugang zum Landschaftsbild in Anspruch, der mit der geplanten Zufälligkeit und strengen Form der meisten der strukturellen Filme nichts gemein hat:

I try to maintain an ironical attitude to the process of image making. I always think "what is the most obvious way of making an image of this subject?" and then do it. (Pichler 1998: 52)

Die Zentralperspektive kennzeichnet viele dieser "most obvious way(s)", doch fällt Keillers Blick vor allem auf landschaftliche Situationen, die so alltäglich sind, dass sie für die meisten Menschen – obwohl physisch vorhanden – längst "unsichtbar" geworden sind. So widersprechen viele Einstellungen inhaltlich der aus der Renaissance stammenden Bildtradition.

Vor Robinson in Space drehte Keiller den Film London (GB 1994), der eine identische Grundanlage aufweist: Ein von Paul Scofield gesprochener Ich-Erzähler nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise, die er mit seinem Freund und Wissenschaftler Robinson unternimmt. Zu Beginn des ersten Films berichtet der Erzähler, dass Robinson von der Regierung den Auftrag erhalten habe, das "Problem Londons" zu untersuchen. Er glaubte, "that if he looked at it hard enough he could cause the surface of the city to reveal to him the molecular basis of historical events. And in this way he hoped to see into the future."
Die Stadt als Palimpsest, den es zu lesen gilt, und die Vergangenheit als Quelle für die Entwicklungen der Zukunft – Keillers Robinson scheint sich in der jüngeren Landschaftstheorie bestens auszukennen!
Seine Untersuchung betreibt Robinson in der Tradition der Peripatetiker, indem er sich auf drei Fußwege durch London begibt. Dabei stellt er fest, das "Problem Londons" sei die Angst der Engländer vor der Stadt und vor allem die Leere in ihrem Zentrum: der Financial District, der ziemlich genau den Ausdehnungen der ursprünglichen römischen Gründung der Stadt entspricht. Hier wohnen nur gerade 6000 Menschen, und nach getaner Arbeit entvölkert er sich Abend für Abend fast vollständig. Die eigentliche Identität Londons, so der Erzähler, sei die Absenz jeglicher Identität: "London was the first metropolis to disappear."

Zu Beginn von Robinson in Space überbrückt der Ich-Erzähler die Jahre seit der Studie über London schnell und berichtet, dass Robinson ihn kürzlich wieder kontaktiert habe. Eine bekannte, international tätige Werbeagentur sei neuerdings mit dem Auftrag an ihn herangetreten, eine "peripatetische Studie" zu verfassen, die sich diesmal aber mit dem "Problem Englands" beschäftigt. Robinson nimmt den Auftrag an, der Ich-Erzähler willigt ein, ihn abermals zu begleiten. Über allem steht ein aus Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray entliehenes Motto, das an jenes des vorherigen Films erinnert:

'It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery of the world is the visible, not the invisible...' (Keiller 1999: 5)

Der Film will das Sichtbare zeigen und das Mysteriöse der Welt lesen, das sich darin offenbart. Die beiden Forscher unternehmen sieben Reisen durch das post­industrielle England (und einen Abstecher über den Ärmelkanal), die sie immer weiter in den Norden Englands führen.
Mit ihrer Bewegung nehmen sie eine Tätigkeit auf, die für die Bildung der britischen Nation mitverantwortlich war, denn die Insel konnte erst durch die literarischen Reiseberichte des 18. Jahrhunderts als Ganzes wahrgenommen werden. Die Idee "England" aber auch die Idee "Großbritannien" entwickelte sich erst als Folge dieser Beschreibungen (Burke 2006: 12).

Die Reisen Robinsons und seines Gefährten aber verlegen diese Tradition nun in den Bereich des Visuellen. Wie vor ihnen Daniel Defoe für seinen Reisebericht A Tour through the whole Island of Great Britain von 1724-1726 vermitteln sie in sowohl zeitlich als auch geografisch komprimierter Form, was in der Realität weit auseinander und weitgehend unverbunden zu Tage liegt. Bereits der berühmte Schöpfer von Robinson Crusoe war überzeugt, dass das Reisen weit auseinander liegende, soziale und ökonomische Phänomene verbindet, und gleichzeitig deren Integration in eine vertraute Erzählform leistet – jene des Reiseberichts. Die wesentliche Eigenschaft der Reisebeschreibung ist damit ihre Funktion als Kompressor: Sie erlaubt, Phänomene direkt miteinander in Verbindung zu setzen, die im Alltag völlig unabhängig voneinander wahrgenommen werden. So tauchen denn im Bild immer wieder ähnliche Situationen auf, die sich nach und nach zu Typologien gruppieren lassen.


Reisen in Bildern

Die Bildebene von Robinson in Space ist reduziert: Es sind fast ausschließlich starre Einstellungen, die der Film zeigt. Menschen rücken kaum ins Bild, stattdessen stille Ansichten meist landschaftlicher Motive. Die Kadragen sind mit größter Sorgfalt eingerichtet, so dass die Situationen auch dort in ästhetischen Bildern gezeigt werden, wo kein klassisch schönes Motiv vorhanden ist. Selbst Müllhalden und Abbruchhäuser erhalten eine ansprechende, meist die Zentralperspektive unterstreichende Repräsentation. Patrick Keiller erläutert hierzu in einem Interview seine Entscheidung, den Film auf 35mm-Material zu drehen:

Having made a number of short films in 16mm, I thought that a longer film ought to put more emulsion on the screen. [...] London was the first film I had made in colour. We tried out a couple of emulsions, but the Eastman stock selected produced fine detail, high contrast and strong colour saturation. (Pichler 1998: 52f.)

"To put more emulsion on the screen": Das gegenüber dem für kleinere Produktionen gängigeren, weil bezahlbareren, Super-16mm flächenmäßig fast viermal größere Bild des 35mm-Films entspricht also einer bewussten Entscheidung für ein möglichst opulentes Bild – Keiller beabsichtigte echte Landschaftsbilder zu drehen. Auch Robinson in Space ist in 35mm gedreht. Sein Schauwert ist wie jener seines Vorgängers hoch, und die Starre sowie die relative Länge der Einstellungen geben dem Betrachter genügend Zeit, die ästhe­tisch anspruchsvollen Ansichten zu studieren, zu genießen und sich einzuprägen.

Für die Abbildung der Landschaft hat die starre Kamera vor allem eine Konsequenz: Robinsons Reisen finden nicht im Bild, sondern zwischen den Bildern statt (auch wenn der Kommentar in der zweiten Reise den Kauf eines Gebrauchtwagens zur weiteren Fortbewegung bekannt gibt, der aus der peripatetischen Studie im Grunde eine automotive Studie macht, welche bewegte Reisebilder geradezu herausfordert). Keillers Einstellungen zeigen keine Bewegung, nur Orte, die auf der Reise aus weitgehend unbekannt bleibenden Gründen besucht werden.
Die eigentliche Reise vollzieht der Kommentar. Unablässig macht er zeitliche und geografische Angaben, die es dem Zuschauer ermöglichen, die Routen mit Hilfe einer Karte bei Bedarf recht genau nachzuvollziehen. Die reichliche Nennung von Ortsnamen lässt keine Zweifel über die filmische Geografie aufkommen und erdet die gezeigten Situationen immer wieder im realen England der 1990er Jahre. Die Bildebene von Robinson in Space also präsentiert Veduten und bemerkenswerte Details, die Bewegung in der Landschaft aber wird erzählt.
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In der Tradition Defoes lässt Keiller seine beiden fiktiven Reisenden gemäß der subjektiven und interpretativen Tätigkeit der Reise Berge statistischer Daten aufbereiten. Der Zuschauer findet darin zunehmend Hinweise auf die eigentliche Narration des Films: eine spezifische Typologie der Landschaften Englands. Die schiere Akkumulation immer wieder ähnlicher, scheinbar zusammenhangsloser sprachlicher Informationen schafft einen integrativen Rahmen für die ebenfalls immer wieder ähnlichen und scheinbar zusammenhangslosen Bilder. Unversehens bilden sich typologische Reihen, an denen nicht nur die Oberfläche, sondern die Struktur der englischen Landschaft sichtbar wird: Vor Robinsons Auge zeichnen sich die Konturen eines postindustriellen Landes am Ende einer konservativen politischen Ära ab,
[3] zerrissen zwischen der noch immer gepflegten Logik einer romantisierten industriellen Produktion viktorianischer Tradition und neuen Formen der Wertschöpfung, die auf unsichtbaren, hoch technisierten und globalisierten Prozessen und Produktionsformen beruhen.
Keillers Tätigkeit entspricht also weitgehend jener eines Wissenschaftlers: Er liest Spuren im sichtbaren Universum der landschaftlichen Topografie, ordnet sie und spannt nach und nach ein Netz von Beobachtungen und Hintergrundinformationen, das sich am Ende des Films zu einem tragfähigen Argumentarium und einer plausiblen Interpretation der zeitgenössischen Entwicklung der englischen Landschaft verdichten lässt.


Besitzverhältnisse. Eine Typologie der "alten" und "neuen" Landschaften Englands

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Bilder 1-6:
Seehäfen,
Stills aus Robinson in Space,
(courtesy BBC/BFI)
 
  Beispielsweise die Seehäfen: Auf die Themsehäfen Londons folgen Bilder aus Sheerness, Ipswich, Felixstowe, Dover, Southhampton, Bristol, Liverpool, Immingham, Hull, The Tees und schließlich Barrow. Zu jedem dieser Häfen erhält der Zuschauer Informationen betreffend des Verkehrsaufkommens, des Verhältnisses von Import und Export, der hauptsächlich im jeweiligen Hafen gelöschten Güter, des Ranglistenplatzes unter den englischen, europäischen oder gar globalen Häfen oder der Besitzerkonsortien. Hingewiesen wird auch auf die Produktion von Schiffen oder U-Booten vor Ort. (Bilder 1-6)

Ein weiteres, unzählig variiertes, visuelles Thema sind die Firmensitze international operierender Unternehmen und deren Produktionsstätten, die wiederum mit Bemerkungen zu ihrer Produktion, der Anzahl der Beschäftigten, deren Anstellungsbedingungen sowie oft – auch hier – mit den Besitzverhältnissen der Betreibergesellschaften bedacht werden.

Wiederum ist die Polarität von "alten" und "neuen" Landschaften präsent: Besitztum spielt sowohl in den Einstellungen eine Rolle, in welchen die alten Gemäuer feudaler Herrschaftssitze, aber auch neue Business-Parks gezeigt werden. Die dazugehörigen Informationen sind im Grunde von derselben Art: Sind es bei den Schlössern, Manors und Prunkgärten anekdotische Anmerkungen zur feudalen Ordnung, zu Hochzeiten und zu Wegerechten, so berichtet der Kommentar bei den modernen Businessparks von internationalen Mergers in der Firmenwelt, von familiären Verstrickungen zwischen einzelnen Konzernen und vom globalen Wettbewerb um Produktionsanteile.

Die Ansichten eines statuengesäumten Eingangs zu einem klassischen englischen Landschaftspark werden vom Aufstieg der Familie Drax zu den Earls of Charborough begleitet:

Towards Dorchester, we passed Charborough Park.
Col Henry Drax left Yorkshire after the Civil War and settled in Barbados, where, in a few years, from £300 in sugar plantations he acquired an estate of £8'000 to £9'000 a year.
His successor married the heiress of the Earls of Charborough
. (Keiller 1999: 93)

Zu Bildern von Bautafeln (erst für einen großen Science Park, dann für eine neue Beefeater-Filiale), der Ansicht eines großen Fabrik-Komplexes, einer Frontalen der Oxford Spiritualist Church und eines älteren, aber gut gepflegten Automobils, schweift der Kommentar in einem ähnlich großen Bogen über die Weltgeschichte hinweg zu einem ironischen Kommentar der privaten Verbindungen, die den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen maßgeblich mitbestimmen können:

On the evening of June 12th, we arrived in Oxford, the King's headquarters in the Civil War, and Hitlers preferred capital had he occupied England.
Most of what was once the Morris Motor Works at Cowley was demolished in 1993, and the site is now a business park owned by British Aerospace, who sold the Rover group to BMW in 1994.
There's been little made of the fact that Bernd Pischetsrieder, the chairman of BMW is the great-nephew of the late Alec Issigonis, whose innovative designs for Morris and its successors could probably have given the company a ten-year lead over Volkswagen in the European mass market
. (Keiller 1999: 54ff.)

Früher wie heute lässt der Kommentar die Landschaft Englands so als Territorium erscheinen, in welchem Besitz- und Herrschaftsverhältnisse darüber bestimmen, wie es entwickelt wird, und letztlich wie es aussieht. Oder, um es mit Pierre Bourdieu zu sagen: Unter der Oberfläche des sichtbaren physischen Raums, den die Kamera abbildet, entdeckt der Kommentar einen sozialen Raum, der offenbar niemals von den Bewohnern angeeignet werden konnte, sondern immer von gesellschaftlichen Machfaktoren bestimmt wurde. Ehemals war dies die Aristokratie und die Politik; heute die globalisierte Ökonomie. Die früher wie heute zu konstatierende Ohnmacht des Einzelnen, sich in einer dergestalt verstrickten Welt den Raum physisch anzueignen, macht bereits der Frontispiz deutlich, mit welchem sich der Kommentator erstmals zu Wort meldet:

Sitting comfortably, I opened my copy of The Revolution of Everyday Life.
'Reality, as it evolves, sweeps me with it. I'm struck by everything and, though not everything strikes me in the same way, I am always struck by the same basic contradiction: although I can always see how beautiful anything could be if only I could change it, in practically every case there is nothing I can really do. Everything is changed into something else in my imagination, then the dead weight of things changes it back into what it was in the first place. A bridge between imagination and reality must be built
...'. (Keiller 1999: 1)
 

Die Peripherie des Sichtbaren

Alte und neue Machtrepräsentationen (Stills aus Robinson in Space)

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Bilder 7-12:
"alte" Landschaften
© courtesy BBC/BFI



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Bilder 13-18:
"neue" Landschaften
(courtesy BBC/BFI)



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Bilder 19-30:
Unsichtbare" Orte
"at the ends of roads"
(courtesy BBC/BFI)





  Enttäuscht von der Entwicklung Englands, doch mit der viel geschätzten britischen Ironie, präsentiert der Film Bilder der Macht- und Besitzverhältnisse, welche die Topografie im Wesentlichen bestimmen. Die unteren Schichten hatten nie wirklichen Anteil an der Gestaltung ihrer Umwelt, doch einen entscheidenden Unterschied zwischen der Jetztzeit und der klassischen Periode der englischen Landschaftsgestaltung gibt es dennoch: Waren es einst sichtbare Machthaber, die die Landschaft gestalteten, so ist es heute die mehrheitlich unsichtbar bleibende, strukturell einflussreiche Ökonomie, die das Gesicht der Landschaft bestimmt:

The Victory, Nelson's flagship, is preserved at Portsmouth and is the principal Monument of the 18th century British navy, the largest industrial unit of its day in the western world, on whose supremacy was built the capitalism of land, finance and commercial services centred on the city of London, which dominates the economy of the south of England.
Those of us aesthetes who view the passing of the visible industrial economy with regret, and who long for an authenticity of appearance based on manufacturing and innovative, modern design, are inclined to view this English culture as a bizarre and damaging anachronism, but if so, it is not an unsuccessful one
. (Keiller 1999: 90)

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Herrschaftssysteme illustriert Robinson in Space in vielen Einstellungen. Weit herum sichtbar, auf unbestreitbare Weise materiell manifest, finden sich Zeugen der alten Machstrukturen in Form von Manors, Schlössern und weitläufigen Gärten und Parks. Sie sind für den Filmemacher heutzutage problemlos zugänglich, da säkularisiert und meist vom National Trust als Museen verwaltet. (Bilder 7-12)
Die neuen "Herrscher" hingegen beschränken (wie ehedem die alten) die Repräsentation ihrer Macht – wenn man von ihren überall zu findenden, überall gleich aussehenden Fabrikations- und Lagergeländen absieht – im Großen und Ganzen auf Werbe- und Hinweistafeln, die sie an den Zufahrten zu ihren umzäunten, weitläufigen Firmengeländen aufgestellt haben. (Bilder 13-18) Sie zu betreten, das heißt die repräsentativen Architekturen des 20. Jahrhunderts von nah zu sehen, ist heute für den normalen Bürger ebenso schwierig, wie der Besuch eines der Manors für einen Zeitgenossen des vorletzten Jahrhunderts. Noch immer manifestieren die Herrschenden ihren Besitzanspruch durch die Besetzung von Raum, doch auf die Repräsentation durch die Architektur wird heutzutage an den raumgreifendsten dieser Besetzungen weit weniger Wert gelegt, als dies in der alten Ordnung der Fall war. Die eigentliche Repräsentationsarchitektur findet sich anderswo, in den urbanen Zentren, von wo aus die Geschicke der Wirtschaft gelenkt werden.

Die Feststellungen des Erzählers entbehren nicht des Witzes, etwa wenn er die Rolle der ehemals viel einflussreicheren Politik heute als reines Steigbügelhalten abschreibt, indem internationale Firmen mit Vergünstigungen, Zuschüssen und Steuererleichterungen anzulocken versucht wird. Selbst für die Abgänger der altehrwürdigen Kaderschmiede Eton scheint die Politik heute nicht mehr sonderlich attraktiv zu sein:

With the departure of Douglas Hurd for the NatWest, there remained three Old Etonians in a Cabinet of 23, about an eighth.
Between 1868 and 1955, of the 294 Cabinet ministers who held office, over a quarter attended Eton, so that either Eton is no longer what it was, or, more likely, government is no longer an occupation that is so necessary for Etonians to be concerned with
. (Keiller 1999: 25)

Die Erwähnung Douglas Hurds in dieser Passage birgt einen versteckten (und unbeabsichtigten) Hinweis auf das oben erwähnte Motto, das Keiller seinem Film vorangestellt hat. Hurd verließ seine Stellung als Minister für äußere Angelegenheiten im Juli 1995 und ging zur National Westminster Bank Plc. (NatWest). Im Zusammenhang mit Robinsons Besessenheit vom Unsichtbaren ist ein Ereignis bemerkenswert, das sich erst nach der Premiere des Films ereignete: Im Dezember 1997 wurde Hurd zum Vorsitzenden der International Financial Services, London gewählt, einer privaten Organisation zur Promotion des britischen Finanzsektors, die damals noch als British Invisibles (!) firmierte. Sie war aus dem 1968 gegründeten Comittee on Invisible Exports hervorgegangen.
Die Namensgebung dieses Verbandes der Finanzinstitute macht deutlich, dass Robinsons Fixierung auf das Sichtbare und das Unsichtbare, sein Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen, nicht allein der Fiktion entspringt. Vielmehr überträgt sie die real existierende Sprachregelung in Großbritannien für die Wertschöpfung aus Serviceleistungen britischer Firmen im Ausland in die Diskussion über die Landschaft: Banktransfers, Versicherungsleistungen und Firmenbeteiligungen werden als "invisible exports" bezeichnet. Sie sind, wie Keiller in Robinson in Space argumentiert, (aus dem Hintergrund heraus) maßgeblich an der Gestaltung der englischen Landschaft beteiligt.
Keillers Gebrauch des Begriffs des Unsichtbaren unterscheidet sich vom offiziellen lediglich indem er neben den tatsächlich unsichtbaren "Waren", mit welchen die moderne Ökonomie handelt, auch jene Produktionen mit einschließt, die an der Peripherie der alltäglichen Wege angesiedelt lieber unsichtbar bleiben wollen: Vor allem militärische Einrichtungen entfachen im Laufe des Films mehr und mehr Robinsons Interesse.

Was Keiller mit London im ökonomischen Zentrum Englands begann, führt er mit Robinson in Space in der Peripherie fort und erkennt, dass es gerade die Randregionen sind, die in der neuen Ökonomie eine eminent wichtige Rolle spielen. War es im ersteren Film die City, die als reines Finanzdienstleistungszentrum einen Hang zur Unsichtbarkeit entwickelt und damit die Idee der Stadt gründlich unterhöhlt hat, so sind es in Robinson in Space die Orte "at the ends of roads" (Keiller 1999: 233), denen seine Aufmerksamkeit gilt. Hier stehen sie, die Produktionsstrassen von Unternehmen, die sich mit ihren Erzeugnissen nicht ins Bewusstsein der Endverbraucher drängen wollen (oder können) und deren soziales Gewissen als Teil der globalisierten Wirtschaft etwa so weit ausgeprägt ist, wie der Vegetarismus bei Raubtieren. Über eine Recycling-Firma im Südwesten Englands beispielsweise weiß der Kommentar Folgendes zu sagen:

Co-Steel Sheerness recycles scrap into steel rod and bar. The Canadian company evangelises 'total team culture' in which overtime is unpaid and union members fear identification. (Keiller 1999: 48)

Wie nachhaltig diese unsichtbaren Ökonomien sich im Landschaftsbild niederschlagen zeigen die Häfen, Kraftwerke, Müllhalden, Abhöranlagen, militärischen Sperrgebiete, Business Parks und Verteilzentren, die als Teil dieser neuen "Industrie" funktionieren. Sie nehmen ausgedehnten Raum ein – doch eine eigentliche Produktion, die sich der Reisende wünscht, an der namentlich auch Menschen als Arbeiter beteiligt wären, rückt mit ihnen nicht in Sicht. (Bilder 19-30)

Zwischen den beiden Polen, die in Robinson in Space abgebildet werden, wird das von Robinson identifizierte "Problem Englands" im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar, welches er zu untersuchen beauftragt worden ist: die Gespaltenheit Englands zwischen einer althergebrachten industriellen und einer sich erst formierenden, grundlegend erneuerten, postindustriellen nationalen Identität, in welcher die Politik nur noch die Rahmenbedingungen stellen kann, sich aber dabei gleichzeitig in einem globalisierten Wettstreit befindet, den sie oft nur noch reaktiv erlebt. Letztlich entscheidet eine Firma wie Ford selber darüber, ob der Auftrag für den Bau eines neuen Kleinwagens nach Dagenham bei London vergeben wird, oder doch eher nach Valencia in Spanien – und damit gleichzeitig über das Entwicklungspotential ganzer Regionen (Keiller 1999: 37).


Das Unsichtbare sichtbar machen

Robinson in Space erinnert in seiner Anlage an die Arbeit eines anderen Briten, der sich ein­gehend mit dem Thema der Landschaft beschäftigt hat: 1995 stellte Simon Schama in Land­scape and Memory fest, dass eine Landschaft erst wirklich erkannt werden kann, wenn man sich durch die Ebenen der kulturellen Erinnerung hindurchgearbeitet hat, die über die Jahr­hunderte den Umgang mit und die Wahrnehmung der Landschaft geprägt haben (Schama 1995: 3ff.). Für Robinson ist es die Blindheit, die durch die allgegenwärtige Romantisierung des Englischen Erbes hervorgerufen wird, die verhindert, dass das England nach fast zwei Dekaden Tory-Regentschaft und der rigorosen Privatisierung der staatlichen Betriebe tatsächlich wahrgenommen werden kann: "It's only shallow people who do not judge by appearances". Oder sie schauen nicht genügend genau hin.
So ist denn auch die nordwest­englische Stadt Blackpool mit seinem ausgedehnten Vergnügungsangebot der Schlüssel zu seiner Utopie: "Blackpool stands between us and Revolution." (Keiller 1999: 194) Denn hier zeigt sich gewissermaßen im hell erleuchteten Stadtbild die wahre Natur des Menschen, die sich nur zu gerne durch die Angebote der Konsumindustrien einwickeln und blenden lässt.

Das polemische Motto vom Beginn des Films, wonach das wahre Mysterium im Sichtbaren, nicht dem Unsichtbaren liege, hat sich auf seine Weise bewahrheitet: Indem Robinson auf seinen Reisen Landschaft gewordene Spuren "unsichtbarer Ökonomien" identifiziert und sichtbar nebeneinander aufreiht, werden die richtigen Fragen augenscheinlich, die das Verständnis der heutigen Gestalt Englands erweitern. Das unsichtbare Wesen der treibenden Ökonomien zu identifizieren, ist dem menschlichen (oder dem Kamera-) Auge nicht grundlegend unmöglich. Doch es ist der Ballast etablierter Narrationen und die Entropie des landschaftlichen Raums, die es im Alltag schier unmöglich machen, zu erkennen, was tatsächlich vorhanden ist. Diese bestimmenden Narrationen und die Entropie zu überwinden, gelingt durch die Akkumulation von Bildern, die das Unsichtbar-Sichtbare wieder sichtbar machen. Ihre narrative Verdichtung gibt den Bildern wie den Gedanken durch die zeitliche und räumliche Raffung eine Ordnung. Disparate Elemente der Landschaft werden zusammengeführt und die offen zu Tage liegenden, aber gewissermaßen im Rauschen des Alltags undeutlich gewordenen Strukturen der landschaftlichen Entwicklung lesbar. Das tatsächlich Unsichtbare – und damit die eigentliche Interpretation des Sichtbaren – steuert der Film mit den sprachlichen Mitteln der Erzählung bei und spielt dabei seine doppelte Verfasstheit als audiovisuelles Medium aus. So lässt sich die "molecular basis of historical events" schließlich tatsächlich aus der Oberfläche der sichtbaren Dinge lesen.



 



Literatur:

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 1977. S. 7-44.

Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. University of Wisconsin 1985.

Burke, Andrew: Nation, Landscape and Nostalgia in Patrick Keiller's Robinson in Space. in: Historical Materialism, Vol. 14, Nr. 1. (2006). S. 3-29.

Canetti, Elias: Masse und Macht. Düsseldorf 1960.

Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main 1989/1983.

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main 1999/1966.

Keiller, Patrick: Robinson in Space. London 1999.

Kuchenbuch, Thomas: Film Analyse. Theorie Modelle Kritik. Köln 1978.

Mitchell, W.J.T. (Hg.): Landscape and Power. Chicago 1994.

Pichler, Barbara: Landscapes of the Mind. The Idea of Landscape in Patrick Keiller's London and Andrew Kötting's Gallivant. London 1998. (unveröffentlichte Diplomarbeit).

Schama, Simon: Landscape and Memory. New York 1995.



Die besprochenen Filme von Patrick Keiller sind auf DVD im Handel erhältlich, ebenso die Filme von William Raban, Chris Welsby und Humphrey Jennings.

 



Alle Abbildungen stammen aus dem besprochenen Film, mit freundlicher Genehmigung der BBC und des BFI.

 




Anmerkungen:
 

[1] In der so genannten California Trilogy (El Valley Centro, USA 1999; LOS, USA 2000; Sogobi, USA 2000) besteht jeder der drei Filme aus 35 unbewegten und unkommentierten Einstellungen von 2.5 Minuten Dauer. Erst am Ende des Films werden die gezeigten Orte und der jeweilige Besitzer genannt. Radikaler noch sind seine beiden folgenden Filme 13 Lakes (USA 2004) und 10 Skies (USA 2004). Die Länge jeder einzelnen Einstellung beträgt bei beiden 10 Minuten. Gezeigt werden, wie die Titel andeuten, in starren und kommentarlosen Einstellungen 13 große amerikanische Seen respektive 10 verschiedene Wolkenformationen am Himmel.

[2] Patrick Keiller selber kommentiert hierzu: "Sound is a much more appropriate medium for representing space, as it isn’t constrained by the frame." (Aus dem oben genannten Interview, S. 52)

[3] Wenige Monate nach der Premiere von Robinson in Space ist die Tory-Regierung John Majors, die auf die 11-jährige Regierung Margret Thatchers folgte, nach knapp sieben Jahren im Amt abgewählt worden.



 


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