Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1,Mai 2009

 

___Ulrike Sturm
Cottbus
  ‚Against Interpretation‘ oder eine Begegnung mit dem Bauhausgebäude in Dessau

 

    Als Susan Sontag in den 1960er Jahren mit ihrem Aufsatz „Against Interpretation“ Aufsehen erregte, zog sie gegen eine Haltung zu Felde, die ihres Erachtens dem Kunstwerk seine Lebendigkeit und damit die Fähigkeit zu bewegen raubte. Im Blick hatte sie dabei vor allem die Literaturkritik, aber auch die Kritik bildender Kunst, die sie als Instrument des Übersetzens von ambivalenten und vor allem sinnlichen Gebilden in einen Übertext sah, der das Kunstwerk auf einen verstehbaren Inhalt reduzierte. Sie plädierte für einen anderen Umgang mit Kunstwerken, eine Art sympathetischer Beschreibung anstelle einer Übersetzung in verständnisfähige Inhalte.

The function of [art] criticism should be to show how it is what it is, even that it is what it is, rather than to show what it means.“ (Sontag, 1967, 14)

Anlog zur Literatur- und Kunstkritik, nicht allein der 60er Jahre, wie Susan Sontag sie im Visier hatte, deutet auch die Architekturkritik ihren Gegenstand vielfach als Träger von Bedeutungen. Oft genug wird durch diese Art der Architekturinterpretation das Gebäude so, wie es ist und wie es erlebt wird, geradezu verdeckt. Der Architekturtheoretiker Juhani Pallasmaa diagnostiziert gegenwärtig einen „architektonischen Autismus“ bei den Architekten selbst, der zur Verselbständigung eines intellektuellen Diskurses über das Gebaute führe:

The current over-emphasis on the intellectual and conceptual dimensions of architecture further contributes to the disappearance of the physical, sensual and embodied essence of architecture. Contemporary architecture posing as the avant-garde is often more engaged with the architectural discourse itself and mapping the possible marginal territories of the art, than responding to human existential questions. This reductive focus gives rise to a sense of architectural autism.” (Pallasmaa, 1996, 22)

Die Qualität eines Gebäudes wird häufig von Kritikern wie von den Architekten selbst nicht nach seinen primären Gebäudeeigenschaften, über die noch zu sprechen sein wird, sondern nach seinem Symbolwert in einem bedeutungs-orientierten Diskurs bemessen.

Wie verhält es sich aber nun mit der von Susan Sontag eingeforderten Aufgabe des Kritikers „to show how it is what it is, even that it is what it is“? Übertragen auf die Architektur wäre hierunter zunächst eine strukturelle Beschreibung, d.h. eine Klärung von Lage und formalem Aufbau des Gebäudes, zu verstehen, welche erfasst, was da ist  – also „what it is“. Bis zu einem gewissen Grad liefert jeder Kritiker eine Beschreibung des Gebäudes, auch die Spezialisten der Architektur-Bedeutung, da der Symbolwert ja gerade auch als materialisiert verstanden wird. Allerdings fallen die Angaben zum Gebäude mitunter recht selektiv aus. Werden die Eigenschaften des Gebäudes herausgefiltert, die es zum Symbolträger qualifizieren, so bleiben die Eigenschaften, die es für den Gebrauch qualifizieren, meist ausgeblendet. Dass eine solche Haltung nicht ohne Rückwirkung auf den Entwurfsprozess bleibt, hat Juhani Pallasmaa deutlich gemacht.

Es sind aber gerade die Gebrauchseigenschaften eines Gebäudes, die wesentlich mitbestimmen und erklären, ob es „gut“ oder „schlecht“ ist. Dabei geht es sowohl um Fragen der Orientierung (wie finde ich meinen Weg durch das Gebäude etc.), wie auch um Atmosphärisches (Aufenthaltsqualitäten) oder die Frage, wie formale Gestaltungen auf diejenigen wirken, die nicht in architekturtheoretischer, sondern in praktischer Absicht das Gebäude betreten. Die Qualität eines Gebäudes, so die hier vertretene These, lässt sich nicht (allein) an seiner Bedeutung, sondern vor allem auch daran ablesen, ob und wie es funktioniert  – „how it is what it is“.

Anhand eines Gebäudes, das selbst zum Symbol für die architektonische Avantgarde seiner Zeit geworden ist, soll im Folgenden gezeigt werden, dass die symbolische Interpretation einem Gebäude nur in Teilen gerecht wird. Am Beispiel der Ikone der Neuen Sachlichkeit, dem Bauhaus-Gebäude von Walter Gropius in Dessau, möchte ich verdeutlichen, wie es gerade die meist ungenannten Eigenschaften des Gebäudes sind, die ihm eine Nutzungsqualität verleihen, die bei der späteren Rezeption der neuen Sachlichkeit nahezu vergessen worden ist. Von Anfang an entging sie den Kommentatoren, deren Blick ganz auf die symbolischen Qualitäten des Gebäudes fokussiert war.


1. Das Bauhausgebäude – what it means

Eine kanonische Interpretation des Bauhaus-Gebäudes findet sich bei Sigfried Giedion in seinem architekturtheoretischen Text „Space, Time, Architecture. The Growth of a New Tradition“ aus dem Jahr 1941. Giedions Kanonisierung des Gebäudes baut auf einer ganzen Reihe von Deutungen auf, die das Bauhaus-Gebäude seit seiner Entstehung als gelungene Verwirklichung der Ideen des Neuen Bauens interpretierten. Ihm vorangegangen waren neben den Architekturkritikern Adolf Behne, Gustav Adolph Platz und Walter Curt Behrendt auch die Kuratoren der Ausstellung „International Style“ Russel-Hitchcock und Philip Johnson oder der Architekturhistoriker Nicolaus Pevsner.[1] Eine kurze Zusammenstellung der verschiedenen „Lesarten“, die das Bauhausgebäude als Ikone des Neuen Bauens erfahren hat, findet sich in Wolfgang Thöners gleichnamigem Beitrag im Sammelband „Ikone der Moderne“.[2]

Giedions symbolische Deutung des Gebäudes findet sich am Ende eines Kapitels, das ganz dem Bauhaus-Gebäude gewidmet ist. Auf die strukturelle Beschreibung des Baus durch Giedion, mit der er das Kapitel beginnt, werde ich weiter unten eingehen. Gleichsam als Fazit der Überlegungen heißt es am Ende des Textes:

Der Bauhauskomplex war ein Zusammenspiel von Kuben, die einander gegenübergestellt wurden, Kuben verschiedener Größe, Material and Lage. Das Ziel war nicht, sie im Boden zu verankern, sondern sie gleichsam über dem Grund schweben zu lassen. Das war der Anlaß für die flügelähnlichen Verbindungsbrücken und die großzügige Verwendung von Glas. Glas wurde wegen seiner entmaterialisierenden Qualität verwendet. [...] Diese Kuben wurden einander gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gesetzt. Tatsächlich durchdrangen sie einander so subtil und eng, dass die Grenzen der verschiedenen Volumen nicht mehr scharf voneinander geschieden werden konnten.“ (Giedion, 1992, 313)

Das Bauhaus wird hier als Verschmelzung unterschiedlicher Kuben interpretiert, die, so die Kernaussage, nicht lasten, sondern schweben. Architektonische Elemente wie Brückenbauten und das für die Schaufassade des Werkstattgebäudes vorwiegend verwendete Material Glas dienen nach Giedion dazu, den Eindruck des Schwebens hervorzubringen. Die kubische Komposition aus drei Hauptbaukörpern und ihren Verbindungstrakten führt zu einem Gebäude, das als statisches Gebilde die Bewegung im Raum symbolisiert. Diese Eigenschaft zeitigt, so Giedion, neue Betrachtungsformen. So heißt es im Anschluss an die eben zitierte Passage:

Die Vogelschau zeigt, wie sorgfältig jedes Element in der einheitlichen Komposition aufging. Das Auge vermag diesen Komplex nicht mit einem Blick zu umfassen; es ist nötig, ihn von allen Seiten her zu umschreiten und ihn von oben sowie von unten zu betrachten. Dieses ergab neue Dimensionen für die künstlerische Imagination, eine vorher unbekannte Vielseitigkeit.
Dem Grundriß fehlt jede Tendenz, sich nach innen zu konzentrieren: er dehnt sich aus und breitet sich allseits über den Grund. Im Umriß gleicht er jenem Feuerwerk, dem Feuerrad, das mit drei hakenförmigen Armen von einem Zentrum ausstrahlt. Der Eindruck ist ähnlich dem des gläsernen Treppenhauses der Kölner Ausstellung von 1914: eine Bewegung im Raum, die plötzlich ergriffen und festgehalten wird
.“ (Giedion, 1992, 313)

Die Idee, das Gebäude müsse zunächst umgangen werden, um sich zu „erschließen“, ist komplexer als sie zunächst anmutet. Bewegung lässt sich als Bestandteil zweier unterschiedlicher Haltungen zur Architektur begreifen, zum einen derjenigen des Architekturkritikers oder -theoretikers, der das Prinzip des Gebäudes verstehen soll, zum anderen derjenigen des Architekturbenutzers, der das Gebäude gewissermaßen aus der Bewegung heraus wahrnimmt. Bei Gropius selbst finden sich Belege für beide Sichtweisen. In seiner Publikation über die Bauhaus-Gebäude in Dessau (1930) untertitelt er den Lageplan der Gesamtanlage, der nach einer Serie von Luftbildern gezeigt wird, mit folgenden Worten:

der typische bau der renaissance, des barock zeigt die symmetrische fassade, auf deren mittelachse der zuweg führt. das bild, das sich dem nahenden beschauer bietet, ist flächig, zweidimensional.
ein aus dem heutigen geist entstandener bau wendet sich von der repräsentativen erscheinungsform der symmetriefassade ab. man muß rund um diesen bau herumgehen, um seine körperlichkeit und die funktion seiner glieder zu erfassen
.“ (Gropius, 1930, 19)

Die Sicht des Architekturtheoretikers, dem es bei der Betrachtung des Gebäudes darum geht, „seine körperlichkeit und die funktion seiner glieder zu erfassen“, wird als angemessene Haltung gegenüber Architektur betont. Dennoch ist zunächst von einem „nahenden Beschauer“ die Rede, der andere Interessen verfolgen mag. Ohne auf die wenig treffende Deutung von Renaissance- oder Barockarchitektur durch Gropius näher eingehen zu wollen,[3] stellt sich die Frage, was sich seit der Renaissance für den „nahenden Beschauer“ verändert hat. Derjenige, der auf eine axial-symmetrischen Anlage, sei es der Renaissance oder des Barock, auf den mittig platzierten Haupteingang zuschreitet, kann, so die Grundaussage von Gropius, bereits aus der Ferne die Anordnung der Anlage und ihre Grundidee erkennen. Dies ist beim Bauhausgebäude nicht möglich. Die Wirkung des Ensembles verändert sich je nach Stand- (oder Schreit-) punkt des Betrachters.

Soll nun aber der Besucher oder Bauhäusler das Gebäude wirklich erst umschreiten, bevor er es betritt? Der von Gropius favorisierte Blick auf das Bauhaus aus der Luft und das Einfordern des Rundganges um das Gebäude haben manch späteren Kommentator zu seltsamen Schlussfolgerungen geführt. In einer Untersuchung zum Staatlichen Bauhaus von Christian Grohn aus dem Jahr 1991 liest sich die Beschreibung des Gebäudes zunächst wie eine Paraphrase von Giedions Beschreibung in „Space, Time, Architecture“:

Dem ‚dynamisch-exzentrischen‘ Prinzip entsprechend, erscheint das Bauhaus-Gebäude nur in der Bewegung in seiner ‚Harmonie‘ erfassbar – in der fotographischen Reproduktion wird seine ‚Idee‘ wohl am ehesten mit einer Ansicht aus der Vogelschau zum Ausdruck gebracht. Aus diesem Blickwinkel erscheint das Gebäude fast wie ein Propeller, dessen ungleiche Flügel eben in der Bewegung inne hielten.“

Am Ende dieser Beschreibung wird die Perspektive ganz auf den „Besucher“ in architekturtheoretischer Absicht verengt:

Etwas schwerer als der gedachte Pilot hat es da der tatsächliche Besucher, dem sich das Gebäude erst in der Umgehung erschließt.“ (Grohn, 1991, 34)

Für die Absicht, das Gebäude schlicht aufsuchen zu wollen, ist gedanklich kein Raum mehr. Tatsächlich haben es die Nutzer des Bauhausgebäudes weit weniger schwer, und dafür hat der Architekt Gropius wohlweislich gesorgt, der nicht allein ein Symbol sondern vor allem auch ein brauchbares Gebäude schaffen wollte. In einer Reflexion über das Verhältnis von Architektur und Bild im Vorwort des Buches von 1930 lesen sich seine Überlegungen zur Dreidimensionalität des Gebäudes entsprechend anders.

die mittel der darstellung von bauten in einem buch sind sehr beschränkt. die fotografie vermag das erlebnis des raumes nicht wiederzugeben. die wahren maßverhältnisse eines raumes oder eines baukörpers im verhältnis zu unserer feststehenden, absoluten körpergröße erzeugen vor dem bauwerk selbst im beschauer erregende spannungen, die das verkleinerte flächenabbild überhaupt nicht zu vermitteln vermag. Schließlich sind masse und raum auch gehäuse und hintergrund für das leben selbst, dem sie dienen sollen, – die bewegungsvorgänge, die sich in ihnen abspielen, sind nur in übertragenem sinne darstellbar. ich glaubte, das wesentliche dieser bauten, die ordnung der sich in ihnen abspielenden lebensfunktionen und den daraus resultierenden räumlichen ausdruck, aus allen diesen gründen nur dadurch wiedergeben zu können, dass ich den leser nacheinander an zahlreichen bildausschnitten vorüberführe, um ihm durch diesen wechsel der sichten die illusion des gedachten räumlichen ablaufs zu vermitteln.“ (Gropius, 1930, 11)

Es geht Gropius also wesentlich um einen Bewegungsablauf, der dem Leben im Bauhaus entspricht, und nicht ausschließlich um eine architekturtheoretische Besichtigungstour. Das Wechselverhältnis von Raum, Baukörper und „Beschauer“, das Gropius bei der Renaissance- und Barockarchitektur nicht gelten lassen wollte, bestimmt dabei die Wahrnehmung des Gebäudekomplexes.[4]


2. Das Bauhausgebäude – what it is

In der Publikation von Gropius aus dem Jahr 1930 findet sich eine recht nüchterne strukturelle Beschreibung dessen, was da ist.[5] Gropius zählt hier die drei Hauptbaukörper – den Bauhaustrakt, das Atelierhaus und die Fachschule – auf, welche durch zwei Zwischenbauten miteinander verbunden sind. In Gropius’ Worten handelt es sich bei den „drei teilen“, aus denen sich der Komplex zusammensetzt, um den „flügelbau der ‚technischen Lehranstalten‘“, die „laboratoriumswerkstätten und lehrräume des bauhauses“ und das „atelierhaus“. Verbunden sind die ersten beiden durch eine „auf vier pfeilern über die fahrstraße gespannte brücke“ und das Atelierhaus mit dem eigentlichen Bauhaus durch einen „eingeschossigen zwischenbau“ (Gropius, 1930, 14-15). Die Beschreibung, die für alle Geschosse die Nutzungen angibt, ist sehr nüchtern und frei von symbolischen Deutungen.

Auch bei Giedion findet sich zu Beginn des Kapitels eine strukturelle Beschreibung des Bauhausgebäudes, die jedoch durch den Bedeutungsgehalt, um dessen Vermittlung es Giedion zu tun ist, beeinflusst ist, was ihn zu einer Fehlwahrnehmung führt: Aus dem bei Gropius neutral als „zwischenbau“ bezeichneten Bautrakt zwischen Atelierhaus und Bauhaus wird bei Giedion, dem es um den schwebenden Charakter des Gebäudes geht, eine weitere Brücke. Er schreibt:

Der Hauptakzent des Komplexes liegt auf dem Bauhaus selbst mit seinen berühmten Glaswänden. Es enthält Werkstätten, Hörsäle und Ausstellungsräume, die zum Teil kombiniert werden können. Das Atelierhaus für Studenten, Prellerhaus genannt, umfaßt 28 Zimmer, die, auf sechs Stockwerke verteilt, in einem höheren Block zusammengefasst werden. [...] Brückenartig erfolgte die Verbindung mit dem Hauptbau, dem eigentlichen Bauhaus, durch einen einstöckigen, auf Pfeiler gestellten Querbau, der Kantine, Bühne und Aula enthielt und in das Vestibül des Hauptbaues mündete. [...] Eine Passerelle mit Verwaltungsräumen stellte die Verbindung mit der im rechten Winkel abgebogenen Fortbildungsschule her.“ (Giedion, 1992, 310; Hervorhebungen U.S.)

Abgesehen von der Fehldeutung des Aulagebäudes als Brücke geht Giedions Beschreibung über eine Auflistung der Bauelemente, wie sie auch Gropius gegeben hat, hinaus, wenn er fortfährt:

Dadurch entstand jener merkwürdige, in verschiedenen Höhenlagen sich durchdringende Komplex, der aus zwei sich überschneidenden L-förmigen Gruppen besteht. Durch Passagen und Pfeiler wurde dem Komplex die Schwere genommen (praktischer Grund: kurze, zeitsparende Verkehrswege). Die Glaswände des Bauhauses geben dieser Tendenz das Relief.“ (Giedion, 1992, 311)

Um die Komposition der Körper zu beschreiben, genügt in der Tat die Liste der Bauelemente nicht. Giedion gelingt hier jedoch keine klare geometrische Beschreibung, denn das Bauhausgebäude besteht keineswegs aus „zwei sich überschneidenden L-förmigen Gruppen“. Möglicherweise war die strukturelle Beschreibung an dieser Stelle auch nicht das Ziel, denn Giedion geht nahtlos zur symbolischen Deutung der  – unklar gebliebenen – Form über.

Dass die Gesamtform auch ohne Zuhilfenahme von unklaren Durchdringungen oder in der Bewegung innehaltenden Propellerflügeln beschrieben werden kann, zeigt Thilo Hilpert in seiner Formuntersuchung zum Bauhausgebäude aus dem Jahr 1999. Hilpert spricht schlicht von „drei L-förmigen Flügeln“, die additiv verbunden sind:

Das Gebäude besteht aus drei L-förmigen Flügeln, worin jeweils verschiedene Funktionen konzentriert sind – dem Flügel mit den ‚Laboratoriumswerkstätten‘, dem Atelierhaus mit Mensa und Bühne und der ‚Brücke‘, verbunden mit dem Trakt für die gewerbliche Berufsschule der Stadt. Diese ‚Glieder‘, wie Gropius sie nennt, erstrecken sich in drei Richtungen und fügen sich additiv zum Gebäudekomplex.“ (Hilpert, 1999, 15)

Hilpert untersucht den Gebäudekomplex auch nach seinen Proportionen und kommt zu dem Schluss, dass die Grundanlage den Maßverhältnissen des Goldenen Schnitts entspricht.[6] So liefert eine genaue strukturelle Betrachtung weitaus mehr zu Tage als schwebende Körper und ein semi-transparentes Glasrelief.[7]


3. Das Bauhausgebäude – how it is what it is

Wie zeigt sich nun das Gebäude, wenn man sich auf die von Gropius mitgedachte Perspektive des Benutzers einlässt und die theoretische Haltung suspendiert? Kurz gesagt: Es zeigt sich anders als erwartet. Am deutlichsten hat dies wohl Julius Posener ausgesprochen, der nach einem Besuch des weitgehend rekonstruierten Gebäudes in den 1990er Jahren schrieb:

Das Bauhaus ist nicht abzubilden. Man hat seit seiner Erbauung (1925-26) dieses Gebäude mehr abgebildet als die meisten anderen, sogar in dieser die Architekturfotografie liebenden Epoche. Wir alle haben es auswendig gekannt und anerkannt oder abgelehnt. Und dann kommt einer als uralter Mann endlich nach Dessau – und erblickt das Bauhaus zum ersten Male.“ (Posener, 1995, 171)
 

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Abbildung 1:
Lageplan Bauhausgebäude Dessau
  Beginnen wir mit einem Selbstversuch: ich besuche das Bauhausgebäude zum ersten Mal. Woher komme ich? Wie gehe ich darauf zu? In den 1920er Jahren lag der Bahnhof von Dessau an anderer Stelle. Davon ausgehend, dass damals die Anreise per Bahn üblicher war als mit dem Auto oder dem Flugzeug, sieht der Besucher, vom Bahnhof kommend, das Gebäude zunächst von Süden. (Abbildung 1)

Aus diesem Grund befindet sich an dieser Fassade in großen Lettern der Name der Institution. Die Bauhausecke, deren Einzelelemente so komponiert sind, dass bei Sonne sich die Schrift im Schatten verdoppelt, ist ein Nebenausgang des Werkstattflügels. Läge es nicht nahe, als Besucher auf diesen Ausgang zuzugehen, um das Gebäude zu betreten? Wohl kaum. Zwar ist der Eingang mit Vordach und Treppenstufen deutlich als solcher zu erkennen, doch ebenso deutlich sehe ich, dass er in ein Treppenhaus führt. Die opake Tür öffnet sich dem Besucher nicht, der Treppenblock lässt keinen Empfangsbereich vermuten.
 
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Abbildung 2:
Bauhausgebäude, Südansicht
  Was ich sehe, ist ein Gebäudekomplex – einfach Gebäude zu sagen, wäre verkürzt –, der sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt, aber keinerlei Zweifel aufkommen lässt, wohin ich mich wenden muss. (Abbildung 2) Vor mir liegt das Treppenhaus als Träger der Schrift, rechter Hand, angebunden durch einen Flachbau der Turm des Ateliergebäudes, geradezu, vor mir die Glasfassade des Werkstattgebäudes und, sich ein wenig weiter zur Straße vorschiebend, der Gebäudetrakt der Fachschule mit einer weißen Wand. Zwischen Werkstatt und Fachschule deutet sich bereits ein „Hohlraum“ an, eine räumliche Figur, die mir zeigt, wohin ich mich wenden muss: nicht der kleine Treppenturm mit Vordach an der Bauhausecke ist es, der den Eingang anzeigt, sondern vielmehr der asymmetrische Vorhof, der von dieser Stelle aus bereits zu ahnen ist. Wohl kaum einer der Besucher des Bauhauses dürfte sich deshalb in den Nebeneingang verirrt haben, trotz der großen Schrift.

Zwischen dem ersten „schriftlichen“ Auftreten des Bauhauses und dem „Vorhof“ erstreckt sich die Glasfassade des Werkstattflügels, die einen Einblick in das Leben „dahinter“ zulässt. Die Durchsichtigkeit nach innen hängt jedoch ganz von den Lichtverhältnissen ab, sie ist insbesondere nachts bei voller Beleuchtung eindrücklich. Tagsüber, wenn das Licht changiert, wechseln Einblicke mit den Spiegelungen des Lichts. Der fulminante Eindruck, den diese changierende Transparenz als neue Bauform gemacht hat, ist von ersten Besuchern beschrieben worden.
[8] Posener, offensichtlich ein Besucher bei Tag, diagnostiziert jedoch zutreffend: „Wenn man aber das berühmte Glashaus sieht, ist das erste, was auffällt, dies: wie wenig durchsichtig es wirkt. Das liegt ganz wesentlich daran, dass die durchgehenden ‚Glasflächen‘ mit einem durchgehenden engmaschigen Rahmen aus Stahl versehen sind.“ (Posener, 1995, 172) Ob mit oder ohne Einblick, den die Glasfassade zu Zeiten gewährt, der Weg in das Gebäude ist deutlich vorgegeben und ich gehe, mit neugierigen Seitenblicken an der Glasfassade entlang. Sobald ich die so häufig fotografierte Ecke des Werkstattflügels im Blick habe, sehe ich quer über den Vorhof bereits den Eingang zur Fachschule. Ich wende meine Schritte also nach rechts zu den Eingängen.
 
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Abbildung 3:
Nordwestecke des Werkstattbaus mit Blick auf den Eingang zu den "Technischen Lehranstalten"

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Abbildung 4:
Der "Vorhof" am Tag der Eröffnung

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Abbildung 5:
Haupteingang

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Abbildung 6:
Vestibül mit den Türen zur Aula

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Abbildung 7:
Der Verbindungsgang im Brückengebäude

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Abbildung 8:
Arbeitszimmer des Direktors

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Abbildung 9:
Bauhausgebäude, Webereiwerkstatt

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Abbildung 10:
Haupttreppenhaus
  Der Vorhof, den ich jetzt betrete, ist eine Art „Pseudo-Ehrenhof“, der dennoch diesen Namen verdient. (Abbildung 3) Im Gegensatz zu seinen berühmten Vorgängern an barocken Palais’ und Gebäuden in ihrer Nachfolge ist dieser Ehrenhof nicht dreiseitig geschlossen und er ist auch nicht symmetrisch. Vor mir befindet sich nicht der Haupteingang, sondern die Verbindungsbrücke, unter der die Straße hindurchführt und unter der ich hindurch sehen kann. Den weiteren Verlauf der Straße zur Kenntnis nehmend, sehe ich anschließend zur Brücke hinauf, eine unwillkürliche Reverenz an die Bauhausleitung und die Architekturabteilung, die dort ihren Sitz haben. Im Gegensatz zu den Bauhausschülern, deren Tun ich durch die Werkstattfassade hätte erahnen können, zeigt sich die Direktion jedoch nicht: ich sehe nur auf den Gang, der hier als Vorraum dient. Mein Verhalten wird zu einer Art visuellen Antichambrierens.

Rechts und links der Brücke sehe ich zwei Eingänge, unter der Brücke hindurch einen weiteren zu Mensa- und Ateliergebäude, der sich durch die vorgelagerte Freitreppe unmissverständlich als öffentlicher Eingang zu erkennen gibt. (Abbildung 4) Die räumliche Rahmung des Hofes lässt mich jedoch nicht daran zweifeln, dass sich hier die Haupteingänge befinden. Wären die beiden Seiten gleich, bliebe mir nur die Orientierung an der Beschriftung, die mir hier auch, wie ich es aufgrund der Lage des Werkstattflügels erwarte, rechts den Eingang zum Bauhaus anzeigt. Aber auch die architektonische Gestaltung hierarchisiert die beiden Eingänge. Formal sind diese gleich gestaltet: ein durchgehendes Treppenhausfenster mit kleinen Profilen reicht bis an ein leicht vorgezogenes Dachgesims heran. Ein Vordach auf vier Pfeilern – zwei schmaleren seitlichen und zwei nach vorne tretenden breiteren in der Mitte – und ein kleiner Sockel, der über drei Stufen erreichbar ist, bilden einen äußeren Vorraum. Stellung und Breite der Pfeiler betonen den mittleren Durchgang.
[9] Die Flügeltür in der Mitte ist klar zu sehen. Wie aber drückt sich dann die Hierarchie zwischen den Eingängen zum Bauhaus und zur Berufsfachschule aus? Da die Glasfassade des Werkstattgebäudes über den Sockel auskragt, wirkt der Haupteingang zum Bauhaus – der sich in der Flucht des Sockels befindet – zurückgesetzt. Es ist diese Wirkung des Rücksprungs, welches die Eingangselemente (Vordach, Stützen, Sockel) eindrücklicher macht als den Eingang zur Schule auf der gegenüberliegenden Seite. Dort liegt der helle Hauptbau auf dem dunklen Sockel auf, der Eingang befindet sich in der gleichen Ebene. Die Sockelgeschosse, so sei nebenbei bemerkt, treten durch ihren dunklen Anstrich optisch in den Hintergrund und werden zunächst kaum wahrgenommen.[10] (Abbildung 5)

Einmal im Gebäude, bieten sich mir zwei Möglichkeiten: ich kann die Treppe nach oben oder einen der Treppenläufe nach unten wählen. Die Wahl wird mir vorgegeben durch den mittigen Zugang, der mich direkt auf die Treppe nach oben leitet. Nach einem Halbgeschoss erreiche ich durch eine Flügeltür das Vestibül mit seinem großen Schaufenster mit Blick auf die Rückfassade des Werkstattflügels. Linkerhand sind die Eingänge zur Aula als wichtigste Zugänge klar erkennbar. Die Wendung zur Aula wird durch die Fußbodengestaltung und die Beleuchtungskörper noch unterstützt. Bei den Zugängen zum Werkstattflügel handelt es sich um Seitentüren, die rechts der Treppe und des großen Fensters liegen. Die unmittelbar an die Werkstätten grenzende Wand ist geschlossen. Gegenüber den Flügeltüren zur Aula sind die Zugänge zu den Arbeitsbereichen des Bauhauses zurückhaltend gestaltet, eine Verwechslung ausgeschlossen. Der offizielle Besucher wird in die Aula geführt. (Abbildung 6)

Im zweiten wie auch im dritten Stockwerk befindet sich links neben der Treppe der Zugang zur Verbindungsbrücke. Der Weg zum Bauhausdirektor führt über einen schmalen Gang, der durch seine Fenstergestaltung und die offenen Träger an der Decke das Tragverhalten der Konstruktion anzeigt und dadurch gleichzeitig den Gang gliedert.
[11] (Abbildung 7)

Nach diesem „Lehrpfad“ erreicht man das – trotz aller Abneigung gegen überkommene Repräsentationsgesten – mittig gelegene Direktorenzimmer, das in seiner Deckengestaltung den Platz des Direktors markiert. Die Decke über dem Arbeitsplatz ist erhöht und von innen erleuchtet: Der Direktor sitzt hier nicht auf einem Sockel, sondern unter einem modernen Licht-Baldachin. (Abbildung 8)

Den Eindruck der Werkstätten hat Julius Posener eindrücklich beschrieben.

Diese Räume werden von den konstruktiven Betonrahmen beherrscht, die in ihnen einander folgen. Die Rahmen sind so: in der Mitte des Raumes steht eine Stütze – der Raum ist sehr weit –, und die beiden Seitenstützen stehen vor den gläsernen Außenwänden. Um diese – und die Raumdecke – zu halten, muß der Rahmen oben eine Auskragung haben, die bis zur Außenwand reicht. Diese Auskragung wird nicht nur gezeigt, sie wird betont. Der Rahmen ist überhaupt das Element in diesen Räumen, nicht die Außenwand.“ (Posener, 1995, 172)

Der Haupteindruck, den diese Werkstättenräume hinterlassen, ist derjenige einer großen Raumtiefe. Tragkonstruktion und Glasfassade sind die statischen bzw. licht-technischen Elemente, welche die große Raumtiefe ermöglichen.[12] Der Blick nach außen ist demgegenüber zunächst sekundär. Allein in den Eckräumen – dem Ausstellungsraum und dem Lehrsaal für den Vorkurs – tritt die Fassade stärker in Erscheinung. (Abbildung 9)

Doch noch einmal zurück zur Bauhaustreppe. Die Treppe und ihr Vorraum sind so dominant, dass sie eine Fülle von Kommentaren auf sich gezogen haben. Karin Wilhelm deutet das Treppenhaus des Bauhauses wie auch der gegenüberliegenden Fachschule als „Herzkammern, die den Lebensfluß des Hauses sicherstellten“.
[13] Immer wiederkehrender Bezugspunkt ist Oskar Schlemmers Bild der Bauhaustreppe aus dem Jahr 1932, das zahlreiche Deutungen der Treppe als Bühnenarchitektur angeregt hat. Posener begründet die Bedeutung der Bauhaustreppe ausgesprochen schlicht:

Die Raumaufteilung ist im Grunde einfach, und man kommt immer wieder auf die Treppe, die Dielen, die Gänge zurück. Man versteht, warum Schlemmers Gruppenbild zugleich ein Bild dieser Treppe ist: jawohl, sie ist das Kernstück des Bauhauses.“ (Posener 1995, 173)

Die Treppe als Ort der Architekturinszenierung zu deuten, setzt einige Grundeigenschaften voraus, die selten erwähnt werden: aufgrund ihrer zentralen Lage und Funktion wurde die Treppe von vielen Leuten gleichzeitig genutzt. Dimensionierung und Gestaltung führen dazu, dass die Treppe nicht nur ein Mittel zum Zweck, d.h. die kürzeste Verbindung von A nach B, ist. Der Gesamteindruck hängt von Details der Gestaltung ab, insbesondere von der Entscheidung, alle horizontalen Flächen der Treppe, einschließlich der Sockelleisten, dunkel zu gestalten, alle vertikalen Elemente hell. Der dunkle Handlauf verbindet sich farblich mit den Abdeckplatten der Brüstung. Die Trittstufen sind dunkel, die Setzstufen hingegen bleiben weiß.[14] Als Effekt stellt sich eine Art körperlicher Zuordnung ein. Dunkel sind die Flächen und Elemente, die ich berühre, hell bleibt alles, woran ich vorbeigehe. Die Treppe ist als solche sofort verständlich und lässt mir die Möglichkeit, beim Hinaufgehen aus dem Fenster zu schauen, ohne zu stolpern. Erst dadurch kann sie zur „Bühne“ werden. Karin Wilhelm schildert eindrücklich, wie auf der Treppe die Architektur des Gebäudes selbst in Szene gesetzt wird.[15] (Abbildung 10)


Fazit

Es ist gerade die, mitunter etwas be-lehrende, oft aber selbstverständliche Art, in der sich das Gebäude dem Benutzer erklärt, die bei einem Besuch so stark ins Auge fällt. So schockierend das Gebäude zu seiner Zeit gewirkt haben mag, die Grundelemente der Raumgestaltung waren keineswegs alle innovativ, und dies zum Vorteil des Gebäudes. Allem Bedeuten zum Trotz und bei aller innovativen Symbolik bleibt es ein Gebäude, das sich gut betreten und durchlaufen lässt. Das Erlebnis der Uneindeutigkeit der asymmetrischen Komposition, der semitransparenten Fassade, der wechselnden Blickbezüge, das in vielen Interpretationen – meist gedeutet als innovativer „Sinn“ – im Vordergrund steht, basiert auf einer Art gebauter Ein-Führung für die Nutzer, die funktioniert, ohne dass darüber nachgedacht werden müsste. Dies ist vor allem deshalb so beeindruckend, weil es sich um einen Aspekt handelt, der in vielen Nachfolgeprojekten des „Neuen Bauens“ vollkommen verloren gegangen ist. Der gebauten Orientierungslosigkeit vieler bedeutender Gegenwartsarchitekturen wird das Bauhausgebäude noch lange Paroli bieten können.

Was bedeutet dies für die eingangs aufgestellte These, dass die symbolische Interpretation von Architektur oft das Wesentliche verdeckt? Zunächst ist festzustellen, dass die symbolischen Qualitäten und die Gebrauchseigenschaften eines Gebäudes nur selten deckungsgleich sind. Auch beim Bauhausgebäude in Dessau fallen die beiden Aspekte nicht immer zusammen. Für die Beurteilung von Architektur als „Gebrauchskunst“ lässt sich jedoch kaum von der Gebrauchsseite abstrahieren. Werden diese „Werte“ nicht in den Entwurfs- und Gestaltungsprozess einbezogen, wie Gropius dies ohne Zweifel getan hat, so entstehen Architekturobjekte, denen zwar ein medialer Auftritt sicher ist, die jedoch als Gebäude erhebliche Mängel besitzen, seien dies Bibliotheken, die zwar schön anzusehen, aber zum Arbeiten zu laut sind, oder ein Hauptbahnhof, in dem es selbst dem Ortskundigen nur mithilfe eines Schilderwaldes gelingt, sich zu orientieren.

Susan Sontag hatte am amerikanischen Kunst- und Kulturbetrieb kritisiert, dass das nach Bedeutung und Sinn suchende Interpretieren den Kunstwerken ihre Wirksamkeit und Lebendigkeit raube. Das Übersetzungswerk des Bedeutens, das ein Kunstwerk nicht mehr für sich selbst wirken lässt, sondern es „als etwas anderes“ liest, zerstört die Eigenheit des Kunstwerkes, die sich dem Betrachter nur in der direkten Auseinandersetzung entfaltet. Bei der „Gebrauchskunst“ Architektur erweist sich die Lebenstauglichkeit des Werkes ebenfalls in der direkten Auseinandersetzung. Diese ist aber nur in der direkten Begegnung erfahrbar, nicht in medialer Vermittlung. Dass Nutzungsqualitäten die Qualität von Architektur wesentlich mit bestimmen, gerät nur in den Blick, wenn die Deutung von „etwas als etwas“ den eigenen Tast- und Begehungsversuchen Platz macht.  Denn allein im Test vor Ort ist wirklich nachvollziehbar, ob ein Gebäude nur schönen Schein entfaltet oder ob es auch gut „funktioniert“. Es ist dieser emphatische Begriff von „Funktionieren“, der auch Gropius vorschwebte, als er über den räumlichen Ausdruck des Lebens schrieb.
[16] Hier ging es um „lebensfunktionen“, denen das Gebäude entsprechen sollte, also um nichts anderes als um die praktisch vollzogene Nutzung. Gropius schreibt in der Publikation über die Dessauer Bauhausbauten von 1930 zur Funktion:

den schöpferisch arbeitenden architekten interessiert es in erster linie, neue funktionen aufzudecken und sie technisch und gestalterisch zu bewältigen. entscheidend für die beurteilung eines bauwerkes bleibt die feststellung, ob der architekt und ingenieur mit einem geringsten aufwand an zeit und material ein instrument geschaffen hat, das funktioniert, d.h. das dem geforderten lebenszweck vollendet dient, wobei diesem lebenszweck sowohl seelische wie materielle forderungen zugrunde liegen können.“ (Gropius, 1930, 83)

Funktion und Wirkung gehören bei dem so verstandenen Dienst am Lebenszweck untrennbar zusammen, denn nur, wenn ein Gebäude und seine Teile auch ganz praktisch vermitteln, wozu sie gut sind, ist die Architektur gelungen.

Julius Posener war von dem viel abgebildeten Bauhaus in seiner Tatsächlichkeit überrascht, und zwar im Positiven. Dass dieses Gebäude, das zur Ikone der Moderne geworden ist, nicht nur spektakulär, sondern zugleich „beruhigend“ wirken kann, macht nach Posener dessen eigentliche Qualität aus. Es handelt sich um eine Qualität der Praxis, welche bei der Beurteilung von Architektur allzu oft hinter dem Symbolwert zurücksteht:

„[...] dass ein Gebäude, welches, vergessen wir das nicht, durchaus eigenwillige Architektur ist, dadurch, dass es sich selbst ständig erklärt, eine uns beruhigende Wirkung hat, das, meine ich, geht uns an; das ist Ziel einer jeden Architektur fürs Leben. Und dass der Sinn dafür zusehends geringer wird, macht die Begegnung mit dem Bauhaus so wichtig.“ (Posener, 1995, 173)

 




Literatur:

 

Behne Adolf (1926): Der moderne Zweckbau. Wien, Berlin: Drei Masken Verlag [Reprint: Berlin [u.a.]: Ullstein, 1964 (Bauwelt Fundamente 10)]

Behrendt, Walter Curt (1927): Der Sieg des neuen Baustils. Stuttgart: Wedekind.

Platz, Gustav Adolf (1927): Die Baukunst der neuesten Zeit. Berlin: Propyläen-Verlag

Giedion, Sigfried (1928): Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton. Leipzig: Klinkhardt & Biermann

Gropius, Walter (1930): Bauhausbauten Dessau. Fulda: Parzeller & Co. [Reprint: Mainz und Berlin: Florian Kupferberg, 1974]

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Droste, Magdalena (2006): Das Bauhaus. 1919-1933. Reform und Avantgarde. Köln: Taschen

Prigge, Walter (2006) (Hrsg.), Ikone der Moderne. Das Bauhausgebäude in Dessau. Berlin: jovis (edition bauhaus 24)



Abbildungen:

Alle Abbildungen stammen aus Gropius’ Bauhausbuch von 1930 (Seitenangabe in Klammern).

Abbildung 1: Lageplan Bauhausgebäude Dessau (19)
Abbildung 2: Bauhausgebäude Südansicht, Foto: Hertig, Bauhaus (37)
Abbildung 3: Der „Vorhof“ am Tag der Eröffnung, Foto: Fotothek, Berlin (29)
Abbildung 4: Nordwestecke des Werkstattbaues mit Eingang zu den „Technischen Lehranstalten“, Foto: Lucia Moholy (47)
Abbildung 5: Haupteingang, Foto: ohne Angabe (48)
Abbildung 6: Vestibül mit den Türen zur Aula, Foto: Consemüller, Bauhaus (64)
Abbildung 7: Der Verbindungsgang im Brückengebäude, Foto: Lucia Moholy (28)
Abbildung 8: Arbeitszimmer des Direktors (Ausschnitt), Foto: Consemüller, Bauhaus (67)
Abbildung 9: Bauhausgebäude Webereiwerkstatt, Foto: Consemüller, Bauhaus (68)
Abbildung 10: Haupttreppenhaus (Ausschnitt), Foto: Consemüller, Bauhaus (63)

 



Anmerkungen:

[1] Siehe Behne (1926), Platz (1927), Behrendt (1927), Giedion (1928), Hitchcock; Johnson (1932) und Pevsner (1937).

[2] Siehe Thöner, Wolfgang: „Lesarten“ In: Prigge (2006), S. 12-17 und Thöner, Wolfgang (1998): „Symbol einer Hoffnung oder eines Scheiterns? – Das Bauhausgebäude in der Literatur“ In: Stiftung Bauhaus Dessau (1998), S. 123-133.

[3] Die Beschreibung von Bauformen der Renaissance oder des Barock durch Gropius als flächig ist alles andere als zutreffend und ihrerseits eher dem Abbild dieser Architektur als ihr selbst abgeschaut. Gropius betont, dass bei einem repräsentativen Ensemble der Renaissance oder des Barock der Hauptzugang mittig liegt und der „sich nahende Beschauer“, der sich auf der Mittelachse auf die Anlage zu bewegt, die Zuordnungen der Baukörper schon von weitem erfassen kann. Was sich jedoch auf diesem Weg erheblich ändert – und von Gropius unterschlagen wird –, ist das Verhältnis der Baukörper zum Betrachter. Mit den sich ändernden Dimensionen verändert sich der gesamte räumliche Eindruck des Ensembles. Auch wenn aufgrund der symmetrischen Anordnung die Idee der Anlage für den Besucher bereits aus der Ferne erfassbar scheint, entsteht auf dem Weg ein sich verändernder räumlicher, und d.h. dreidimensionaler und keineswegs flächiger Eindruck.

[4] In seiner Untersuchung zur Ästhetik des Bauhausgebäudes zeigt Robin Rehm auf, in welcher Tradition die Idee der Bewegung als Form der Raumerfassung steht. Er nimmt dabei insbesondere auf August Schmarsow und Hermann Sörgel Bezug. Siehe Rehm, 2005, S.104 ff.

[5]der gesamte baukomplex besteht aus drei teilen:
1 der flügelbau der „technischen Lehranstalten“
(später berufsschule) enthält lehr- und verwaltungsräume, lehrerzimmer, bibliothek, fysiksaal, modellräume; voll ausgebautes sockelgeschoß, hochparterre und zwei obergeschosse. im ersten und zweiten obergeschoß führt eine auf vier pfeilern über die fahrstraße gespannte brücke, in der unten die bauhausverwaltung, oben die architekturabteilung untergebracht ist, zu dem bau der
2 laboratoriumswerkstätten und lehrräume des bauhauses
im sockelgeschoß die bühnenwerstatt, druckerei, färberei, bildhauerei, pack- und lagerräume, hausmannswohnung und heizkeller mit vorgelagertem kohlenbunker
im hochparterre die tischlerei und die ausstellungräume, großes vestibül und daran anschließend die aula mit der vorgelagerten überhöhten bühne.
im ersten obergeschoß die weberei, die räume für die grundlehre, ein großer vortragsraum und die verbindung von bau 1 zu bau 2 durch die brücke
im zweiten obergeschoß die wandmalereiwerkstatt, metallwerkstatt und zwei vortragssäle, die zu einem großen ausstellungssaal zusammengezogen werden können. Daran anschließend die zweite brückenetage mit den räumen für die architekturabteilung und das baubüro gropius
die aula im erdgeschoss dieses baues führt in einem eingeschossigen zwischenbau zum
3 atelierhaus, das die wohlfahrtseinrichtungen für die studierenden enthält, die bühne zwischen aula und speisesaal kann bei vorführung nach beiden seiten geöffnet werden, sodaß die zuschauer beiderseits sitzen können. bei festlichen gelegenheiten lassen sich sämtliche bühnenwände öffnen, sodaß die raumfolge speisesaal, bühne, aula zu einer großen festebene vereint werden kann.
an den speisesaal schließt sich die küche mit nebenräumen an. vor dem speisesaal liegt eine gräumige terrasse, an die ein großer sportspielplatz anschließt.
in den fünf obergeschossen des atelierhauses sind 28 wohnateliers für studierende des bauhauses untergebracht, auf jeder etage außerdem eine teeküche. alle vier geschosse des atelierhauses und das begehbare dach sind durch speiseaufzug mit der küche verbunden.
im sockelgeschoß des atelierhauses liegen bäder, gymnastikraum mit garderoben für sporttreibende und eine elektrische waschanstalt
.“ (W.Gropius, 1930, S. 14-15)

[6]Für die Komposition des asymmetrischen Grundrisses des Komplexes hat Gropius ein klassisches Proportionssystem benutzt, den Goldenen Schnitt, dessen Verwendung allenfalls von den Entwürfen Le Corbusiers bekannt ist. Aber Le Corbusier war kein Ausnahmenfall; selbst im kompositorischen Grundgerüst von Schlemmers ‚Bauhaustreppe‘ läßt sich der Goldene Schnitt nachweisen.
Die Gliederung des Bauhauskomplexes beruht auf der Kombination zweier identischer Rechtecke (in Proportion des Goldenen Schnitts, 1 : 1,618), die aus Quadraten abgeleitet sind. In das daraus resultierende Achsenkreuz hat Gropius die asymmetrische Struktur des Gebäudes mit dem Eingang des Bauhauses im Schnittpunkt der Achsen eingeschrieben
.“ (Hilpert, 1999, 19f.)

[7] Zur Diskussion des Begriffs der Transparenz und der Transparenz des Werkstattbaus in Dessau siehe Rowe, Colin; Slutzky, Robert (1968) und die Erwiderung von Harmen Thies in Thies (1989).

[8] Siehe beispielsweise den Bericht „Das neue Bauhaus“ von Nelly Schwalacher im Abendblatt der Frankfurter Zeitung vom 31.10.1927: „Ich komme im Morgengrauen in Dessau an. Über der Stadt liegt Nebel. Hier und dort dringen unsichere Lichtscheine durch die feuchte Luft. Aber von drüben zeiht ein strahlender Lichtkegel das Auge auf sich. Ein Riesenlichtkubus: das neue Gebäude des Bauhauses. Später, bei heller Sonne und blauem Himmel, wirkt das Gebäude noch immer als Konzentrationspunkt allen Lichtes, aller Helle. Glas, Glas und dort, wo Wände aufsteigen, strahlen sie ihre blendende weiße Farbe aus. Ich habe noch nie einen solchen Lichtreflektor gesehen. Und die Schwere der Wände hebt sich in diesen beiden Faktoren auf, an den hohen Glasmauern, die unverbrämt die leichten Eisenkonstruktionen des Gebäudes zeigen, und in der ausstrahlenden weißen Farbe [...]. Einen besonderen, fast unvergeßlichen Eindruck bietet das Riesengebäude bei Nacht, wenn wie am Tage der Einweihung sämtliche Räume beleuchtet waren und so einen Lichtwürfel bildeten, der durch und durch sichtbar an seinen Außenseiten durch die Eisenkonstruktionen quadriert und gefasst wurde.“ (zitiert nach Droste, 2006, 122)

[9] Diese Konstellation wird von Andreas Haus und anderen als klassizistische Geste interpretiert. Der Eingang besitzt entsprechend die Würde einer Tempelfront. Siehe Haus, Andreas: „Fotografische Aneignung“ In: Stiftung Bauhaus Dessau (1998), S. 34-38, insbes. 37.

[10] Der dunkle Sockel bildet, auch wenn er nur unbewusst wahrgenommen wird, ein Gegengewicht zum schwebenden Glasbau. Ich habe keinen Moment lang das Gefühl, das Gebäude stünde nicht auf der Erde. Der Eindruck des Schwebens wird durch die „erdverbundenen“ Sockel im Zaum gehalten. Christian Norberg-Schulz hat auf die tragende Wirkung des Sockels besonders hingewiesen. Siehe Norberg-Schulz, 1988.

[11] Siehe hierzu Poseners detailreiche Beschreibung in dem erwähnten Aufsatz: „Die Decke über dem Gang besteht aus schräg auskragenden Balken: die Auskragung soll betont werden. Diesen Teil der Konstruktion mag man logisch nennen: der Gang kragt aus, man soll das sehen. Daß aber das durchgehende Fenster des Ganges nicht ein durchgehendes Fenster ist, sondern aus zwei weniger breiten, aber tieferen Fenstern an den Seiten und einem breiten – und weniger tiefen – Mittelfenster besteht, und dass die Seitenfenster weiter außen liegen als das breite Mittelfenster, das sieht man wirklich erst, wenn man den Gang betritt; von außen ist das wenig sichtbar. Innen allerdings ist die Wirkung so stark, dass man in den Gang – oder die Gänge – immer wieder hineingeht. Gänge sind ja immer schwierig. Diese hier sind ganz gelungen, auf künstliche Art, wie ich zugebe. [...]“ (Posener, 1995, 172)

[12] Die wärmetechnischen Mängel der Glasfassade werden sowohl von Posener als auch von zahlreichen anderen Autoren thematisiert. Siehe hierzu beispielsweise Nerdinger, 1985, 74.

[13] Siehe Wilhelm, Karin: „Sehen – Gehen – Denken“ In: Stiftung Bauhaus Dessau (1998), S. 10-27. Wilhelm sieht die Bauhaustreppe typologisch in der Tradition des Barock: „Denn die Anlage dieser Treppenhäuser knüpfe bautypologisch an die Tradition der großen barocken Treppe an, den Ort, der die Soziologie der höfischen Gesellschaft wie kein anderer repräsentiert hat. Weit ausladend, zweihüftig und in der Form geradezu klassizistisch, wirkten die Bauhaustreppen in der Dominanz der Farben Weiß und Schwart vornehm und kühl.“ (23)

[14] Wie wichtig der Umgang mit Farbe, nicht nur in der Extremvariante schwarzen und weißen Terrazzos, für das Bauhaus war, zeigen eindrücklich die Farbvorschläge von Hinnerk Scheper. Siehe hierzu u.a. Schöbe, Lutz: „Schwarz/Weiß oder Farbe?“ In: Stiftung Bauhaus Dessau (1998), S. 43-65

[15] Inszeniert wird die Architektur, wie sie in der Bewegung, d.h. also im Blick des Einzelnen, der sich durch das Gebäude bewegt, erlebt wird: „Das Sehen ereignete sich im Gehen, und mit dem Herauf- oder Herunterschreiten entstanden beständig neue Blickwinkel. Die Augen kommunizierten mit wechselnden Gegenübern, und ebenso, wie man mit den Beinen sah, ging man mit den Augen – eine promenade architecturale, die den Vorkurs tagtäglich und ganz nebenbei ergänzte. Nach und nach erschloß man sich im Gehen verschiedene Aufmerksamkeitsräume, die die kommunikative Kraft der Sinne geradezu zelebrierten.“ (Wilhelm, 1998, 23)

[16] Entsprechend hat sich Gropius immer wieder gewehrt, als kruder Funktionalist missverstanden zu werden. Siehe hierzu die Dokumente im Sammelband zur Bauhaus-Debatte 1953 (Conrads, 1994).



 


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