Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Jörn Köppler
Berlin
  Interpretation und ästhetische Erfahrung,
diskutiert am Beispiel der Niederländischen Botschaft in Berlin von OMA / Rem Koolhaas

 

    Einleitung

„Ich bin auch nicht ewig oder unendlich, aber ich sehe sehr wohl, daß es in der Natur ein notwendiges, ewiges und unendliches Wesen gibt.“[1]

Versucht man zu definieren, was eine betrachtende Interpretation von Architektur sein kann bzw. sein soll, so ist es interessant zu beobachten, was diese, zumindest in der professionellen Welt des gegenwärtigen Architekturdiskurses, in kaum einem Fall ist. Weniges scheint heute abwegiger, als im Rahmen einer Gebäudeinterpretation nach dem Sinngehalt des Betrachteten zu fragen. Nach dem also, was jene existenzielle geistige Dimension des Menschen betrifft, welche Kant als menschliches Fragen nach Zusammenhang („Was kann ich wissen?“), Moralität („Was soll ich tun?“) und Glauben („Was darf ich hoffen?“) beschrieb,[2] was zusammengenommen nichts weniger als die Frage nach dem Menschen selbst bezeichnet. Studiert man zeitgenössische Architekturinterpretationen beispielsweise in Fachmagazinen oder auch Tages- und Wochenzeitungen, so wird man allerhand zum technischen Gehalt des diskutierten Objektes, zu dessen Funktionalität und entwurfshandwerklichen Qualität finden, aber wenig eben zu der Frage, inwiefern ein Mensch sich in seinem Sinnfragen durch den Sinngehalt des Gebauten reflektiert, d.h. aufgehoben und damit beheimatet fühlt. Dieses allerdings verwundert kaum, da Sinn selbst in der Moderne unter den Generalverdacht der Unmöglichkeit geraten ist. Was nicht nur heißt, dass Kants zitierte, so bezeichnete „kanonische Fragen der Vernunft“ als nicht mehr beantwortbar betrachtet werden, sondern dass zudem eine Beantwortung in der rationalitätsgläubigen Fassung der Moderne auch als nicht mehr notwendig angenommen wird. Dass allerdings auch die Fragen der Vernunft nach Sinn allein aus dem angenommenen Grunde der Unmöglichkeit der Beantwortung mitverschwinden aus dem Selbstbild des Menschen, blieb immer nur eine etwas pausbäckig vorgetragene Behauptung, die durch die Erfahrung nicht gedeckt wird. Die Fragen vor allem nach der Moralität und dem Glauben sind unausweichliche für unser Leben, wollen wir dieses nicht als amoralischen und vollends enttranszendentalisierten Funktionsablauf verstehen. Woher aber Moralität und Glauben nehmen, wenn nicht stehlen, wie beispielsweise aus der christlichen Religion? Denn deren moralische Grundlage der Nächstenliebe bildet unausgesprochen natürlich das Fundament einer jeden intakten gegenwärtigen europäischen Gesellschaft. Eine Grundlage, die man jedoch konsequenterweise nach rein rationaler Lesart der Aufklärung zusammen mit dem Glauben als unbegründbare abschaffen müsste. Und dass diese Unbegründbarkeit im Bereich des begrifflich Fassbaren tatsächlich besteht, das zeigte bereits Nietzsche in seiner Philosophie. Ebenso bei Nietzsche lässt sich jedoch auch der folgerichtig-rationale Gedanke einer amoralisch vorgestellten Welt studieren, dessen Verwirklichung im blutgetränkten 20. Jahrhundert gar nicht lange auf sich warten ließ. Womit sich schlussendlich die von Adorno kritisierte Irrationalität einer total verstandenen Rationalität zeigt, einer solchen also, die sich über ihre Grenzlinien zum Transzendentalen nicht mehr bewusst ist und diese zu überschreiten versucht.

So scheint zusammengefasst das erklärliche Fehlen der Reflexion der Sinndimension des Gebauten in gegenwärtigen Architekturinterpretationen im zeitgenössisch-modernen Weltbild begründet. Was nur heißt, dass der heutige Architekturdiskurs sich konform und seltsam brav angepasst zeigt zum gesellschaftlichen common sense, alle existenzielle, also geistige Dimensionalität des Lebens und Zusammenlebens zu tabuisieren. Woraus sich nun zwei Fragestellungen ergeben könnten, denen im Rahmen dieses Aufsatzes nachgegangen werden soll:

1. Was aber passiert nun, stellt man tatsächlich in einer interpretierenden Betrachtung von Architektur die Frage nach deren Sinngehalt? Würde sich vor allem in Bezug auf zeitgenössische Architektur zeigen, dass auch das tatsächlich Gebaute sich längst aus genannten Gründen von allen Sinngehalten verabschiedet hat? Das allerdings wäre ein schwerwiegenderes Problem, als die innerdiskursive Frage nach einer angemessenen Weise der Architekturinterpretation. Würde das doch bedeuten, dass der sich auch geistig begreifende Mensch im Doppelsinne des Wortes im heutigen Bauen nicht bedacht ist, er also in einer nur sinnfremden gebauten Gegenwart keine Heimat mehr fände. Oder, andersherum formuliert, sich der moderne Bewohner moderner Bauten schon um seinen Kopf kürzer machen müsste, um letztere zu bewohnen. Anhand einer beispielhaften, nach Sinninhalten fragenden Interpretation der Niederländischen Botschaft von OMA / Rem Koolhaas in Berlin soll gezeigt werden, dass jene negative Annahme der Sinnfreiheit des zeitgenössischen Bauens zutrifft. Zugleich soll damit dargestellt sein, dass sich daraus eine notwendige Perspektive für eine aktuelle Architekturinterpretation ergäbe, nämlich eine kritische, die jenseits von formalästhetischen Kategorien den Kreis der Verschwiegenheit über einen möglichen wie zugleich für den Menschen unablässigen Sinngehalt des heute Gebauten durchbräche.

2. Um jene erste Fragestellung jedoch überhaupt diskutieren zu können, wäre zuerst eine andere Frage zu beantworten: Wie fragt man überhaupt nach dem Sinngehalt von Architektur? Dieser zweiten Fragestellung dieses Aufsatzes soll im Folgenden also zuerst nachgegangen werden, wozu ein Exkurs in die ästhetische Theorie notwendig ist.


Die ästhetische Urteilskraft

In den (ach) so seltenen Momenten, da ich von der Innenwelt der Außenwelt denke: ‚Das muß ein Gesetz sein!’ (‚innen ist außen, und außen ist innen’), da schaut mich aus der Landschaft, den Häusern wie den Feldern, ein Gott an, im Sinn des: ‚Siehst du?’ – und einen Moment später ist er schon wieder ‚un-da’ (Blick von Muggia Vecchia hinüber zum Val Rosandra)[3]

Das Paradoxe an der scheinbaren Schwierigkeit, einen Sinngehalt von Architektur diskutieren zu können, ja den Sinngehalt eines ästhetischen Gegenstandes überhaupt reflektieren zu können, liegt darin, dass wir wiederum nach Kant gar nicht anders können, als in der ästhetischen Betrachtung von Gegenständen genau dieses zu tun. In der „Kritik der Urteilskraft“ deduziert Kant die ästhetische Urteilskraft des Subjektes als Vermögen, von einem einzelnen Gegenstand der ästhetischen Erfahrung ohne Begriff auf ein sinnhaft, d. h. ideenhaft gefügtes Ganzes schließen zu können.[4] „Ohne Begriff“ meint dabei, dass die ästhetische Urteilskraft weder wie die reine Verstandeserkenntnis auf Begriffe gegründet ist, noch dass sie wie die Vernunftreflexion auf Begriffe, in diesem Falle Ideen, abzielt. Beispielhaft formuliert könnte man sagen, dass die ästhetische Urteilskraft rein betrachtend auf ein Verhältnis der Dinge zueinander sieht und nicht auf deren physisch-gesetzmäßige Beschaffenheit, noch auf das Vorhandensein einer erfahrbaren Idee in den Dingen. Eine singende Feldlerche als Einzelnes in einer im späten Sonnenlicht stehenden Weide wird also weder im biologisch-naturwissenschaftlichen Sinne der Funktion ihres Gesanges angesehen, noch im transzendental-religiösen Sinne, dass ihr Gesang die verschlüsselte Botschaft eines oder mehrerer Götter enthielte. Bezogen auf dieses Beispiel ist es vielmehr der Moment des wahrnehmbaren harmonisch gefügten Zusammenhanges zwischen dem Einzelnen der Feldlerche und der Weide, in der sie sitzt, in welchem sie das Nest baute für ihre Jungen, – zwischen ihr und der Landschaft, in die Lerche und Weide gleichermaßen eingelassen sind, eine Landschaft mit Flusslauf, anderem Leben von Pflanzen und Tieren, der milden Luft, dem Sonnenlicht, den am Himmel langsam ziehenden Wolken unter einem durchsichtig blauen Firmament. Den Zusammenhang eines sinn- bzw. ideenhaft gefügten Ganzen, den die ästhetische Urteilskraft hierin erkennen mag, bezeichnet Kant nun als Wahrnehmung jener für die ästhetische Theorie so wichtigen „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“,[5] womit in etwa die Wahrnehmung einer gleichsamen „Schöpfungsidee ohne Grund“ gemeint ist. Was aber ist diese „Schöpfungsidee ohne Grund“? Wiederum in Bezug auf das genannte Beispiel wäre diese erfahrbar in der Präsenz des Lebens selbst, auf dessen Entfaltung im Gesehenen alle physische Wirklichkeit hin abgestimmt erscheint und welches das Physische in einem ewig scheinenden Kreislauf ideenhaft zu durchringen scheint, was Adorno auch als „Urgeschichte der Subjektivität“ bezeichnete, welche sich in der „Beseelung“ verwirkliche.[6] Ideenhaft und damit als angenommene Schöpfungsidee (und nicht als naturwissenschaftliches Gesetz[7]) wäre dieses Leben insofern zu bezeichnen, da es selbst-seiend die reine physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit zu überschreiten, d. h. zu transzendieren vermag. Was anschaulich daran werden mag, dass jedes Lebende unter anderem das Vermögen in sich trägt, das Kausalgesetz als eines der zentralen Gesetze dieser physisch-naturgesetzlichen Wirklichkeit zugunsten einer Idee zu durchbrechen: Von der Pflanze, welche die Idee zur Selbstbewegung in ihrem Wachstum in sich trägt, diese Wirkung also in ihrem Grund nicht von einer äußeren Ursache ausgelöst wird, wie das bei Wolken der Fall wäre,[8] bis zum Tier, welches aus reiner Freude über seine eigenen Bewegungen frei zu entscheiden mag, so beispielsweise die miteinander im Flug spielenden und durch die Luft sich drehenden Krähen. Und schließlich bis zum Menschen, der sich in der moralischen Handlung ganz frei von äußeren Ursachen zu machen vermag und die Gefahren der Rettung beispielsweise eines Menschen durch einen anderen zugunsten der moralischen Idee ignoriert und überschritten werden können.[9] Die Wahrnehmung einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ als Moment des möglichen Schlusses von einem einzelnen ästhetischen Gegenstand auf ein sinnhaft gefügtes Ganzes wird in Kants Gedankengang dabei als Erfahrung der Schönheit bezeichnet, was zugleich das Ephemere dieser Erfahrung bezeichnet. Denn die naturhafte Wirklichkeit zeigt sich natürlich nicht immer so, dass dieser gesuchte Schluss auf ein nach einer Idee gefügtes Ganzes der ästhetischen Urteilskraft möglich ist. Dem ephemeren Aufscheinen solcher Momente der Schönheit stellt Kant in diesem Sinne die ästhetische Erfahrung des Erhabenen entgegen, in welcher eben der Schluss auf jenes ideenhaft gefügte Ganze dadurch nicht möglich ist, indem in den im Moment des Erhabenen sichtbaren Beziehungen der Dinge und Lebewesen untereinander keine Ordnung, d.h. keine Idee und kein Ziel feststellbar ist. So ist im Moment beispielsweise einer Naturkatastrophe jener Schluss auf das Leben selbst als Sinnidee der naturhaften Wirklichkeit dadurch ad absurdum geführt, dass das eben noch von der Natur geschöpfte Leben im nächsten Moment ohne einen erkennbaren Grund, ohne eine Idee also, gleich von dieser wieder genommen wird. Allein eine ideenlose, rein naturgesetzliche Welt ohne jede Idee, allein eine mechanistische Natur wird für die ästhetische Urteilskraft im Erhabenen erfahrbar. Zurückgehend auf den Moment der Schönheit jedoch wird durch diese Sinnerfahrung der ästhetischen Urteilskraft für Kant nun die zentrale Fragestellung des Subjektes nach der Vereinbarkeit des „Freiheitsbegriffes“ des Menschen mit dem „Naturbegriff“ erst beurteilbar.[10] Dabei umfasst der „Freiheitsbegriff“ des Menschen das Feld der bereits zitierten kanonischen Fragen der Vernunft nach Zusammenhang, Moralität und Glauben. Zu diesen Fragen mag nun das Subjekt zwar Ideen haben, dass also ein mit einer Idee und Absicht geschöpfter Gesamtzusammenhang sei, dass Moralität sei und dass Hoffnung für das Glück bestehe, wenn ich das Gute verfolge. Das moderne Problem besteht nach Kant jedoch darin, dass diesen Ideen aufgrund der Konstitution unserer Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit nie Erfahrungen in der Wirklichkeit entsprechen können,[11] was plastisch darin werden mag, dass man weder eine Schöpfungsidee, noch die Moralität und auch nicht einen Gott als physische Tatsachen im nächsten Moment um die Ecke wird biegen sehen können. Womit diese Vernunftideen als empirisch nicht beweisbare zu reinen Annahmen werden, die genauso gut auch negativ formuliert wahr sein könnten: Das also keine Schöpfungsidee sei, keine Moralität und kein Gott. Wie jedoch auch bereits dargestellt, kann der Mensch auf die normativ belastbare Beantwortung dieser Fragen gar nicht verzichten, was am deutlichsten eben in der Frage nach der Moralität wird. Und aus diesem Dilemma heraus entwächst schließlich die Frage nach der Vereinbarkeit des „Freiheitsbegriffes“ mit dem „Naturbegriff“, mit der naturhaften Wirklichkeit selbst also, wie sie ist, da der Mensch nach der Objektivation der nur subjektiven Sinnideen der Vernunft sucht. Diese möchte der Mensch zwar gerne als positive für wahr halten können, er kann sich jedoch in der reinen, also unobjektivierten Vernunftreflexion darüber nicht sicher sein. Die Frage also der Vereinbarkeit nach Freiheits- und Naturbegriff eine solche nach Sinnwahrheit ist. Hier nun schließt sich der Kreis zu der ästhetischen Urteilskraft und der Erfahrung der Schönheit, da eben in dieser sich eine solche gesuchte Sinnwahrheit zeigt. Und zwar als eine nicht-subjektive der objektiv-naturhaften Wirklichkeit, die eben nicht direkt als Idee selbst wahrnehmbar wird (was nicht möglich ist), sondern nur als ästhetisch-begriffslose Wirkung und als Zusammenhang eines über das physisch-naturgesetzliche Transzendierenden, welches sich im Bild des Lebens selbst vermittelte. Zwar ist diese Wahrnehmung wie gesagt nur eine ephemere, sie aber reicht aus, um das Vorhandensein einer Sinnidee überhaupt zu zeigen. Warum auch das Gegenbild einer nicht-sinnhaft gefügten Natur besteht, darüber kann der Mensch gar keine weiteren Aussagen machen, was der Begriff der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ebenso aussagt, es also grundlos und ohne Möglichkeit der Erkenntnis bleibt, warum diese Zweckmäßigkeit der Sinnidee des Lebens so und nicht anders sich in der naturhaften Wirklichkeit zeigt. Die gesuchte Objektivation der Ideen zu Sinn des Subjektes anhand der ästhetischen Erfahrung der Sinnidee der naturhaften Wirklichkeit im Leben selbst wird durch Kants Argumentation in der Folge nun indirekt, über eine Kongruenz-Erfahrung denkbar. Der Mensch hält gewissermaßen seine subjektiven Ideen zu Sinn an die Sinnidee der naturhaften Wirklichkeit und mag so entweder eine Kongruenz zwischen beiden feststellen oder auch nicht. Sich als wahr also erweisen mag, welches sich als Sinnidee des Subjektes zusammendenken lässt mit dem naturhaft-objektiven Telos des Lebens in seiner individuellen, freien und harmonisch aufeinander bezogenen Entfaltung. Die Kongruenz also, die sich beispielsweise zwischen der inneren Sinnidee der Moralität und der äußeren des Lebens feststellen lässt aufgrund jenes der Moralität innewohnenden Prinzips der Achtung des Anderen um seiner Selbst willen, löst sich in der subjektiven Vorstellung einer Sinnidee von Amoralität sofort auf. Wäre dieser Amoralität doch eine Verletzung und nicht Beförderung und Schonung des Lebens immanent. So zeigt sich schließlich die klassische Verknüpfung der Erfahrung der Schönheit mit dem Guten bei Kant auf moderne Prämissen gegründet, d. h. auf Prämissen der – wohlgemerkt: ästhetischen – Erfahrung. Wodurch die ästhetische Erfahrung für den modernen Menschen zu einem Existenzial insofern wird, als dass im Moment der Schönheit der Mensch eine indirekt-erfahrbare Wahrheit der naturhaften Wirklichkeit und damit seiner Selbst erfahren kann, seinem unausweichlichen Bedürfnis nach Sinnwahrheit also entsprochen wird. Dass dabei jeder Einzelne ohne die „Leitung eines anderen“[12] und allein aus seinem gegebenen Vermögen eben der ästhetischen Urteilskraft heraus diese Sinn objektivierende Wahrheitserfahrung machen kann, kennzeichnet einen weiteren spezifisch modernen Zug an jener, war und ist doch eine solche Wahrheitserfahrung in religiös begründeten Weltbildern nur im theologisch, also begrifflich vermittelten Bild Gottes aufgehoben.

Wurde im Rahmen dieses Aufsatzes nun danach gefragt, wie man dem Sinngehalt von Architektur überhaupt interpretierend nachgehen und diesen reflektieren kann, so ist es auf der Grundlage des Gesagten von der bisher diskutierten ästhetischen Naturerfahrung zum ästhetischen Urteil von Architektur nur noch ein kleiner Schritt. Wenn wie dargestellt jede ästhetische Betrachtung im ästhetischen Urteil nach dem möglichen Schluss von einem Einzelgegenstand auf ein sinnhaft gefügtes Ganzes der naturhaften Wirklichkeit fragt, so muss dieses ästhetische Urteil zunächst eigentlich bei jedem vom Menschen hergestellten Gegenstand, wie zum Beispiel dem architektonischen Werk, zu einem negativen Urteil des Nicht-Zusammenhanges kommen. Dieses deshalb, da dieses Werk als subjektiv hergestelltes nie ein Objektiv selbst werden kann bzw. es als Gemachtes immer in Bezug auf das geschöpfte Ganze in seiner Objektivität fragwürdig bleiben müsste. Denn rein subjektiv ließ sich eben keine Aussage über die Wahrheit von Sinnideen treffen, diese wäre wie dargestellt allein in einem objektiv-naturhaften Sinnganzen anzutreffen. Womit auch die allein subjektiv-physische Herstellung eines in einen sinnhaften Gesamtzusammenhang eingehenden Werk unmöglich wird, nach dem aber im ästhetischen Urteil gerade gesucht ist. Sowenig der Mensch fraglos in den objektiven Naturzusammenhang eingehen mag, sowenig kann ein subjektiver Gedanke wie ein subjektives Werk allein aus sich heraus sagen was Sinn sei. Das jedoch trotz alledem ein architektonisches Werk einen ästhetisch erfahrbaren Sinngehalt besitzen kann, dieses wird möglich durch das auch in der Architektur bis in die Moderne hinein angewandte Kunst-Konzept der Mimesis, der erinnernden Nachahmung. Diese fand geschichtlich ihren Ausdruck in der symbolisch-ornamentalen Form des Gebauten, die in der Terminologie Karl Böttichers als Kunstform bezeichnet ist und welche die statisch-struktiv notwendige Kernform als Konstruktionsform umhüllt und damit in ihrem Bedeutungsgehalt erweitert.
[13] In dieser ornamentalen Form des Gebauten kann nun der symbolische Hinweis auf einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang ästhetisch gegeben werden. Wenn auch dieser symbolische Hinweis wiederum als Hergestellter in seiner Materialität nur subjektiv bleibt, so kann er doch deshalb für das ästhetische Urteil einen Zusammenhang mit einer nicht-subjektiven Sinnidee herstellen, indem dieser eben in seiner ornamentalen Formidee nicht subjektiv gemacht ist, sondern einer in der Erinnerung sinnhaft sich zeigenden naturhaften Formidee nachgeahmt ist. Gleich einem Gedicht, in dem Naturmomente der Schönheit durch Worte beschrieben und damit erinnernd festgehalten sind und die Sinnerfahrung der naturhaften Wirklichkeit in der Kunsterfahrung sich wiederholt, so wird dem architektonischen Werk wenn auch nicht wirkliche, also Sinn objektivierende Schönheit, so doch ein Schein von Sinn-Objektivation erinnernder Schönheit verliehen. Das Werk weist gewissermaßen ästhetisch von sich weg, hin auf solches, welches Sinn in sich trägt, was auch für die moderne ästhetische Erfahrung die schöne, d. h. jene Natur sein kann, in welcher sich die Entfaltung der Individualität und Freiheit des Lebens harmonisch aufeinander bezogen zeigte. Das dabei auch für religiös bestimmte Ornamentformen gerade das Lebendige selbst, also ornamental festgehaltene Formen des Lebens als Inbild für eine Sinnwahrheit der Wirklichkeit genommen wurden, kann hier nur am Rande angemerkt werden. Wichtig in diesem Zusammenhang ist allein die von einem so symbolisch erweiterten Bauwerk verräumlichte Möglichkeit für das Subjekt, anhand der ästhetischen Erfahrung dieses in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang zu stellen, der als erinnerter auch dann präsent bleibt, wenn die naturhafte Wirklichkeit um das Werk herum sich gar nicht in einem Moment von Schönheit zeigte. Womit also Sinn selbst sich im und mit dem Gebauten dauerhaft eingelassen zeigen würde in die Gesellschaft, dessen Erfahrung im Naturmoment der Schönheit noch eine nur individuelle und ephemere war. Anders formuliert könnte man sagen, dass der erwähnten Beheimatung des Geistigen des Menschen in einer so gedachten Architektur Rechnung getragen wird, indem die notwendige Objektivation seiner subjektiven Ideen zu Sinn anhand einer in der Moderne wie dargelegt nur ästhetisch erfahrbaren Sinnwahrheit der naturhaften Wirklichkeit dauerhaft möglich wird. Der Sinngehalt der Räume also, in denen der Mensch vorwiegend lebt, in jener Sinnwahrheit der harmonisch aufeinander bezogenen Entfaltung der Individualität und Freiheit des Lebens bestünde, auf dass in den Handlungen und Reflexionen der Menschen ebendiese Sinnwahrheit zur Maxime werde. Dabei bleibt anzumerken, dass neben dem Konzept der symbolischen Form auch andere Konzepte des erinnernden Sinnverweises in der Geschichte der Architektur zu beobachten sind. So wäre beispielsweise die explizite Ausrichtung der Räume eines Gebäudes auf einen den Sinnmoment der Schönheit durch Natur selbst dauerhaft werden lassenden Garten zu nennen, die sowohl in den Atrium-Peristyl-Häusern der Antike, als auch in den Entwürfen Schinkels zu betrachten wäre, worauf jedoch im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher eingegangen werden kann.[14] (Abbildungen 1 und 2)

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Abbildung 1:
Haus des Octavius Quartio in Pompeji, Peristylgarten mit Pergola

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Abbildung 2:
Karl Friedrich Schinkel:
Schloss Orianda, 1838,
Blick in den Gartenhof

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Abbildung 3:
Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff; Friedrich II:
Schloss Sanssouci Potsdam, 1747

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Abbildung 4:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ansicht Süd

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Abbildung 5:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Lageplan

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Abbildung 6:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Grundriss Regelgeschoss

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Abbildung 7:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Süd-Ost-Ecke des Gebäudes

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Abbildung 8:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Eingangshof mit dem aus der Westfassade herausgeschobenen, schwarzen Besprechungsraum

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Abbildung 9:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Auffahrt zum Eingangshof von der Klosterstraße

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Abbildung 10:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ostfassade mit herausgeschobenem „Trajekt“

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Abbildung 11:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“

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Abbildung 12:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Veranstaltungssaal im Süden

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Abbildung 13:
Karl Friedrich Schinkel:
Kasino in Klein-Glienicke, 1824,
Blick zur Havel aus der südlichen Kolonnade

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Abbildung 14:
Mies van der Rohe:
Farnsworth House, Plano, Illinois, 1945-1950, Treppen zum Terrassen-plateau und zur Eingangsloggia

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Abbildung 15:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des aus der Westfassade herausgeschobenen Besprechungsraumes

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Abbildung 16:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“, Blick auf den Berliner Fernsehturm

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Abbildung 17:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“

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Abbildung 18:
OMA / Rem Koolhaas:
Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ostfassade an der Klosterstraße

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Abbildung 19:
Peter Cook, Colin Fournier:
Kunsthaus Graz, 2003
  Erklären aber mag sich nun, warum überhaupt so zielsicher Bauwerke sowohl Laien als auch Experten berühren, welche entweder symbolisch oder durch die architektonische In-Werksetzung von Natur ihren Sinngehalt nicht allein subjektiv, aus sich heraus konstruierten, sondern diesen erinnernd und von sich wegweisend aus einer sich sinnhaft zeigenden naturhaften Wirklichkeit empfingen. Kann in solchen Bauwerken doch überhaupt nur das Geistige des Menschen selbst reflektierend und objektivierend aufgehoben sein. Was heißt, dass ein Moment von Sinnwahrheit sich in den geglückten Fällen in deren Räumen ästhetisch dauerhaft zeigt, welcher der existenziellen Frage des Menschen nach dem richtigen Leben und seiner Selbst eine Dimension der Beantwortung zeigen mag. Was die Schönheit bzw. den Schein von Schönheit beispielsweise eines Schlosses Sanssouci mit seinen Gartenterrassen in Potsdam jenseits von stil- und machtgeschichtlichen Fragen erklären mag: Ist dieses doch als ein ganz auf die Schönheit der naturhaften Wirklichkeit gerichtetes Werk wahrnehmbar, welche sich in den die Architektur bestimmenden Gärten dauerhaft in-Werk-gesetzt zeigt. (Abbildung 3) Womit ebenjene naturhafte Schönheit als Sinnmoment zum Sinngehalt auch des architektonischen Werkes werden kann, deren Einsicht und Erkenntnis wie gesehen gar nicht eine Frage der richtigen Interpretation ist, sondern nur einer der möglichst freien Anwendung des Vermögens zum ästhetischen Urteil durch den Betrachter. Zugleich zeichnet sich damit auch bereits ab, wo die Probleme eines möglichen Sinngehaltes zeitgenössischer Architektur zu vermuten wären, fragte man nach diesem in einer interpretierenden Betrachtung. Hat doch jenes auch als „Zweite Moderne“ bezeichnete Bauen in seinem nach der Postmoderne vollzogenen Rekurs auf das abstrakte Bauen der Klassischen Moderne nicht nur alle sinngeleitete Reflexion der symbolisch-ornamentalen Form beiseite gewischt,[15] sondern haben die Mainstream-Architekten dieser Moderne in ihrer selbst auferlegten, scheinbar weisen Enthaltung von allem Nachdenken über die Dimension des Geistigen des Menschen die Angleichung an das sinnfreie, nur Physisch-Materielle der vorherrschenden gesellschaftlichen Maxime betrieben, welche die Ökonomie ist.


Die Niederländische Botschaft Berlin

„SPIEGEL: Manche Leute behaupten, wenn Architekten in ihren eigenen Gebäuden leben müßten, sähen die Städte heute besser aus.
Koolhaas: Ich bitte Sie, das ist nun wirklich trivial.
SPIEGEL: Wie leben Sie denn?
Koolhaas: Das ist unwichtig. Es ist weniger eine Frage der Architektur als eine der Finanzen.
SPIEGEL: Sie drücken sich: Wie leben Sie?
Koolhaas: Na gut: Ich lebe in einem viktorianischen Apartmenthaus in London.
[16]

Mit dem von Rem Koolhaas im zitierten Interview zugegebenen, von ihm selbst gelebten Misstrauen gegen zeitgenössische Architektur ist eigentlich bereits vorweggenommen, wie die Antwort auf die andere gestellte Frage dieses Aufsatzes aussehen wird, was denn passiere, wenn man in der interpretierenden Betrachtung von Architektur in einem konkreten zeitgenössischen Fall, welcher hier die Niederländische Botschaft in Berlin von OMA/Rem Koolhaas aus dem Jahr 2004 sein soll, herauskäme, fragte man nach deren Sinngehalt. (Abbildungen 4, 5 und 6) Was hinsichtlich des bisher diskutierten also heißt, dass der Betrachter dieses Werkes die ästhetische Urteilskraft auf ebenjenes anwendete in ihrem Versuch des Schlusses des sich zeigenden ästhetischen Einzelgegenstandes auf ein sinnhaft gefügtes Ganzes. Wobei Letzteres wie gesehen nur als erfahrenes sinnhaftes Ganzes der naturhaften Wirklichkeit denkbar ist, da alle subjektiven Sinnvorstellungen, bleiben diese unobjektiviert an eben der naturhaften Wirklichkeit, sich gegeneinander nur aufheben und damit auflösen können. Womit explizit in diesem Zusammenhang nicht nach der Entstehungsgeschichte des Werkes, nach den abzubildenden Funktionsabläufen, nach entwurfhandwerklichen Qualitäten und auch nicht nach den Ideen und Konzepten des Architekten gefragt sein soll. Vielmehr soll allein die ästhetische Erscheinung des Gebäudes der Niederländischen Botschaft betrachtet sein, ist diese doch allein Gegenstand des ästhetisch interpretierenden Urteils. Wobei diese Erscheinung durch die ästhetisch wahrnehmbaren Kategorien der Konstruktion und Materialität des Gebauten sowie dessen Räumlichkeit in der Hauptsache formuliert wäre, die eben hinsichtlich ihres möglichen Bezuges zu einem objektiv-naturhaften Sinnganzen beurteilt sind. Der entscheidende Aspekt wird dabei sein, inwiefern diese Kategorien des Gebauten ihren allein subjektiven Charakter des Gemachten zu überschreiten vermögen (beispielsweise durch eine symbolische Form), war dieses wie dargestellt doch Voraussetzung dafür, dass ein architektonisches Werk überhaupt aufzugehen vermag in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang, welcher dann ästhetisch präsent auch zum Sinngehalt des Werkes werden mag. Was in der Folge allerdings zu sehen sein wird, ist, dass in der ästhetischen Erscheinung der Architektur der Niederländischen Botschaft dieser subjektive Charakter nicht nur nicht überschritten wird, sondern im Gegenteil dieser offensiv gesetzt wird als vermeintlicher, jedoch nur unmöglicher Sinngehalt des Werkes.

Beginnt man mit der Betrachtung der Kategorie der Konstruktion der Niederländischen Botschaft, so ist bezogen auf deren möglichen Bezug auf eine objektiv-naturhafte Sinnordnung zu sagen, dass die avancierte statische Konstruktionsform im Zusammenspiel mit dem Material Stahl bzw. Aluminium nicht nur diesen Bezug, sondern einen jeden auf die naturhafte Wirklichkeit ausschließt. Ist doch der Gegenstand der statischen Konstruktion im Fall der Niederländischen Botschaft, die naturhafte Schwerkraft so erfolgreich überwunden, dass die Formen der Konstruktion von dieser Schwerkraft ästhetisch gar nichts mehr wahrnehmen lassen. Vom Veranstaltungssaal im Süden, der sich als scheinbar von aller Schwerkraft enthobener, schwebender Kasten präsentiert, über den herausgeschobenen Glasbodengang auf der Ostseite, der bei der Begehung sich als architektonische Jahrmarktsattraktion offenbart („Ich stehe in der Luft!“), bis zum schwarzen Besprechungsraum im Hof der Anlage, der ohne Stützkonstruktion einige Meter aus der Fassade herausgeschoben ist, – all dieses ist nur als Gegenbild zum ästhetischen Bild eines Bogens beispielsweise zu verstehen, in dem die naturhafte Schwerkraft als Negativabdruck in der Form des Bogens präsent bleibt. (Abbildungen 7 und 8) Was aber heißt das nun bezogen auf das ästhetische Urteil? Nichts weniger, als dass allein schon der Ansatz des Versuches, die Konstruktion des Gebäudes in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang zu stellen, scheitert, da alles die Konstruktion betreffende Naturhafte bereits ästhetisch getilgt ist aus der Erscheinung der Konstruktion. Da nun natürlicherweise auch keine symbolischen Formen die Konstruktion aus dem Kreis des verbliebenen nur Subjektiven heben, ist das, was als ästhetische Summe von dieser Konstruktion bleibt, die nur subjektiv-technische Erscheinung derselben. Diese Erscheinungsform der Konstruktion könnte man auch als abstrakte bezeichnen, da sie auf den allein noch zur Her- und Aufstellung des Gebäudes notwendigen Kern reduziert, d.h. abstrahiert ist. Eine solche Erscheinung abstrakten Bauens, die man in der Begrifflichkeit Böttichers eben auch als die reine Kernform des Gebauten bezeichnen könnte, kann nun zum einen, durch ihre sich nur zeigende Gemachtheit, durch ihre Subjektivität also sowieso keinen objektiven Sinngehalt aussagen. Zum anderen schließt eine solche abstrakte Erscheinung durch ihren nur technischen Charakter sogar jeden Sinngehalt offensiv aus. Was bereits in der Diskussion der ästhetischen Urteilskraft erwähnt war, dass aufgrund unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisstruktur der Wirklichkeit wir keine Ideen bzw. Sinnideen je direkt in der Erfahrung anzutreffen vermögen, heißt hier, dass die immanente Sinnfreiheit des Technischen darin begründet ist, dass das Technische als rein naturgesetzlich-physische Form die Gesetze allein von der verstandeskategorialen Erkenntnis des Subjektes empfing, deren Modalität nach Kant jedoch a priori Ideen- und damit Sinnfremd ist. Aufgrund der Wichtigkeit für die ästhetische Beurteilung abstrakten Bauens soll dieser Punkt hier kurz vertieft werden:

Die von Kant postulierte subjektive Wendung im Denken der Moderne sagte aus, dass die Gesetze der physischen Wirklichkeit, die Naturgesetze also, in ihrer Form (nicht dem Grunde nach) nicht aus der Natur selbst, sondern aus uns selbst stammen. Unsere Erfahrung der Wirklichkeit ist demnach präformiert durch die sinnlichen Anschauungsformen Raum und Zeit sowie durch die auf diese angewandten kategorialen Begriffe des Verstandes, wie beispielsweise jene der bereits genannten Kausalität, der Einheit, der Realität usf. Nur deshalb können wir überhaupt eine beständige physische Gesetzesstruktur in der physischen Wirklichkeit der Natur erkennen, da sie a priori, also vor der Erfahrung in uns selbst angelegt und damit zugänglich der Erkenntnis sind. Betrachtet man nun diese Anschauungsformen und Verstandeskategorien genauer, so stellt man fest, dass die Gesetzmäßigkeiten, die aus ihnen heraus möglich sind, Sinnideen zu Zusammenhang, Moralität und Glauben ausschließen, womit jene also auch aus der Erfahrung ausgeschlossen sind. Anhand der Idee der Moralität war dieses auch bereits kurz erläutert, dass diese Idee der Verstandeskategorie der Kausalität (jede Wirkung hat eine Ursache et vice versa) nur widerspricht. Dürfte doch jenes Prinzip der Freiheit von physischen Ursachen in der moralische Idee nach dem Kausalgesetz gar nicht existieren, was im Beispiel der zugunsten der Moralität ignorierten physisch-äußeren Gefahren der Rettung eines in Not geratenen Menschen durch einen anderen deutlich wurde.
[17] Ist nun aber ein technischer Apparat als reine Anwendung der verstandeskategorialen Naturgesetze zu betrachten, so ist eben auch keine Überschreitung dieser verstandeskategorialen Naturgesetze innerhalb desselben möglich, was bedeutet, dass keine Sinnidee in diesem vorkommen kann. Eine nur ingeniöse Konstruktion eines Gebäudes aber ist nun gar nichts anderes als ein solcher technischer Gegenstand, da auch in ihm sich allein die physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit abbildet und nichts darüber Hinausgehendes in diesem erkennbar wird, wie das beispielsweise bei der architektonischen Konstruktion in symbolisch-ornamentaler Erweiterung noch der Fall war.

Und so wäre also auch die auf ihren naturgesetzlichen Kern abstrahierte Konstruktion
[18] der Niederländischen Botschaft in ihrer ästhetischen Erscheinung als sinnfremd zu bezeichnen. Was im Übrigen auch auf eine andere mögliche Lesart dieser abstrakten Konstruktion zuträfe, verstünde man nämlich die ästhetische Erscheinung dieser Konstruktion als selbst symbolische Form, als gewissermaßen modernes, also technisches Ornament. Denn auch hier gilt natürlich, dass der symbolische Verweis, der von dieser Konstruktion ausgeht, nur in jenes a priori Sinn ausschließende Reich des Verstandeskategorial-Technischen, in das also nur Physisch-Naturgesetzliche reicht. Was zusammen gesehen die Totalität der Abwesenheit von Sinn in der ästhetischen Gestalt der Konstruktion der Niederländischen Botschaft nur verstärkt, ist doch nicht allein kein Schluss von deren subjektiv-technischen Charakter auf eine objektiv-naturhafte Sinnordnung möglich, vielmehr scheint ein paradox-symbolisches „Und so soll es auch sein“ von der durchgängigen Anwendung des Prinzips des abstrakten Bauens auszugehen. (Abbildung 9)

Und auch die in die ästhetische Kategorie der Konstruktion eingehende Kategorie der Materialität lässt im ästhetischen Urteil den Schluss auf ein objektiv-naturhaftes Sinnganzes nicht zu, betrachtete man diese Materialität der Niederländischen Botschaft für sich genommen. Analog zur avancierten statischen Konstruktion, welche die naturhafte Schwerkraft aus der Form der Konstruktion ästhetisch verschwinden lässt, ist es der avancierte technische Herstellungsprozess der in der Niederländischen Botschaft in erster Linie verwendeten Materialien Aluminium, Glas, Sichtbeton, Polycarbonat usf.,
[19] der sowohl in der Außen- als auch der Innenwahrnehmung des Gebäudes jede Naturhaftigkeit in dieser ästhetischen Kategorie zum Verschwinden bringt. Nimmt man nur die Hauptmaterialen der Außen- und Innenfassaden, Aluminium und Glas, so ist an ihnen keiner der eigentlichen natürlichen Ausgangsstoffe mehr erkennbar. (Abbildungen 10 und 11) Sie sind demnach als absolut artifiziell zu bezeichnen. Weder das zur Aluminiumgewinnung benötigte, rötliche Mineral Bauxit, noch der zur Herstellung von Glas benötigte Quarzsand sind in den technisch verwandelten, also geschmolzenen, geschmiedeten, gewalzten usf. Baumaterialien noch erkennbar. Ganz im Gegensatz beispielsweise zum Ziegelstein oder Bauholz, in welchen noch der Ton bzw. der Baum ästhetisch ablesbar bleiben. Womit sich eben diesen letzteren Baumaterialien das bereits von Goethe und Semper[20] beschriebene Gleichnis des Stoffwechsels eingeschrieben zeigt, dass also der Mensch das Vermögen in sich trägt, die physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit zu transformieren, jedoch dieses Vermögen sich in Form jener hier diskutierten sinngeleiteten Balance zwischen menschlicher Idee und der Wirklichkeit der Natur verwirkliche und nicht eines das andere deformierend unterdrückt. Letzteres aber geschieht im Falle von Aluminium und Glas, was übersetzt für das ästhetische Urteil heißt, dass auch hier bereits die Vorbedingung des Schlusses auf bzw. die Einordnung des betrachteten Gebauten in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang nicht erfüllt ist, da sich in der Materialität nichts Naturhaftes überhaupt (und sei es ein nicht-sinnhaft gefügtes Naturhaftes) mehr zeigt. Vielmehr ist ästhetisch in der Materialität der Niederländischen Botschaft fast ausschließlich subjektiv Hergestelltes wahrnehmbar, welches aber, bleibt es ohne jeden objektiven Bezug, nur unter das Diktum der Sinnfremdheit fällt.

Schließlich und kaum verwunderlich zeigt auch die letzte der hier betrachteten ästhetischen Kategorien der Räumlichkeit der Niederländische Botschaft keine erkennbare Bezugnahme auf ein sinnhaft gefügtes, naturhaftes Ganzes. Sowohl in der Außenräumlichkeit als auch beim Durchschreiten des Gebäudes fällt keine besondere Perspektive, Einräumung oder auch nur In-Beziehungsetzung zur naturhaften Wirklichkeit wie beispielsweise dem Robinien- und Ahornhain auf der Südseite des Gebäudes auf. So ist der Blick aus dem Veranstaltungssaal im Süden auf diesen Hain ein gänzlich leerer, womit der Raum damit insgesamt allein von seiner diskutierten, abstrakten Sichtbeton-Aluminium/Glas-Polycarbonat-Ästhetik bestimmt ist, ohne jede Berührung dessen, welches sichtbar vor ihm liegt. (Abbildung 12) Wie dabei eine so die räumliche Ästhetik erweiternde Perspektive aussehen könnte, ließe sich beispielsweise an der bewussten räumlichen In-Werksetzung der Natur bei Schinkels Kasino in Klein-Glienicke oder auch bei Mies van der Rohes Farnsworth House in Plano studieren. (Abbildungen 13 und 14) Der Abschluss gegen ein jedes naturhaftes Außen wird darüber hinaus geradezu paradigmatisch deutlich in der vollständigen Klimatisierung des Gebäudes,
[21] ist die im Moment der Begehung von den vor dem Haus blühenden Robinien erfüllte Luft eingetauscht gegen die inzwischen globale, sich selbst genügende Atmosphäre der immergleichen Begegnung des Subjekts mit sich selbst, die eingehüllt ist in das „stahlharte Gehäuse“[22] des leise summenden technischen Apparates. Eine Atmosphäre, welche den aus der Westfassade herausgeschobenen Besprechungsraum völlig auszufüllen und in seiner architektonischen Form zu bestimmen scheint. (Abbildung 15) Wie wenig die ästhetische Kategorie der Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft einen Schluss im ästhetischen Urteil auf ein sinnhaftes Ganzes der naturhaften Wirklichkeit zulässt und diese damit als nur sinnfremde wahrnehmbar bleibt, ist schließlich gar nicht besser zu verdeutlichen als durch die Tatsache, dass die einzig erkennbare In-Beziehungsetzung der räumlichen Gestalt des Gebäudes auf das wiederum nur subjektiv Gemachte hinweist: den Berliner Fernsehturm. (Abbildung 16) Was noch anzumerken bliebe im Zusammenhang der Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft, ist, dass auch die von Corbusier stammende Idee einer „promenade architecturale“, die von Koolhaas mit dem das Gebäude durchziehenden und durchschneidenden Weg, dem so genannten „Trajekt“ (niederländisch für Weg) aufgegriffen wird, – dass auch dieses das ästhetische Urteil des Sinnfremden der Architektur der Niederländischen Botschaft nicht zu korrigieren vermag. Erhebt dieses „Trajekt“ zwar ersichtlich eine Art von architektonischem Kunstanspruch, der über das rein ingenieurshafte des Gebauten hinausweisen soll und dieses von den meisten Kritikern auch als ein solcher positiv gewürdigt wird, so ist und bleibt ebenjener Anspruch in Bezug auf den im ästhetischen Urteil gesuchten Sinnzusammenhang, in den dieser Weg gestellt sein könnte, irrelevant. Durch die diskutierte ästhetische Abstraktheit der Konstruktion des Weges (fehlende Wahrnehmbarkeit der Schwerkraft), dessen Materialität (Aluminiumplatten auf dem Fußboden, an den Wänden und unter der Decke) und dessen Räumlichkeit (Klimaabschluss sowie die fehlende, bewusst in-Werk-gesetzte Perspektive auf ein naturhaftes Außen) bleibt dieser eben nur subjektiv-technisch, also sinnfremd in seinem ästhetischen Ausdruck. (Abbildung 17) In übertragenem Sinne könnte man sagen, dass auch eine in goldenen Lettern handwerklich kunstvoll, jedoch abstrakt gefasste mathematische Formel immer eine solche und damit eine Sinn-Ausschließende bleibt. Trotz des sinnlichen Affektes, den dieses Bild auf den Betrachter ausüben mag, ist, wenn dieser sinnliche Affekt nicht weitergeführt wird in eben die ästhetische Sinnreflexion, dieser Affekt für den Betrachter in der Konsequenz bedeutungslos. Man mag noch so sinnlich angeregt das „Trajekt“ auf- und abschreiten, fragt man nach dem Sinngehalt des Ganzen dieser Bewegung, so bleibt doch nur diese, die physische Selbst-Bewegung übrig, die gar nichts über eine Idee von Sinn aussagen kann, da sie noch nicht einmal eine solche darstellt.

Fasst man also die Ergebnisse der Betrachtung der ästhetischen Kategorien der Konstruktion, Materialität und Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft aus Perspektive des nach einem Sinngehalt fragenden ästhetischen Urteiles zusammen, so ist eine offensiv sich mitteilende Sinnfremdheit der abstrakten Architektur der Botschaft feststellbar. Eine Sinnfremdheit, welche durch den in allen ästhetische Kategorien manifesten, nur subjektiv-technischen Charakter des Gebauten begründet ist, der verhindert, dass dieses Werk in irgendeiner Weise in einen objektiv-sinnhaften Sinnzusammenhang aufzugehen vermag, indem auf einen solchen im ästhetischen Urteil geschlossen werden kann, (Abbildung 18) wodurch in Konsequenz dessen die Niederländische Botschaft in Berlin von OMA / Rem Koolhaas zu einem kreisförmig im Subjektiven sich drehenden, tatsächlich bedeutungslosen Gebäude wird, dessen Qualitäten allein in solchen Interpretationen sich erschließen mögen, die von vorneherein alle Fragen nach dem Sinngehalt von Architektur ausklammern.


Schluss

Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden, die allein selbstständiges Wohlgefallen bei sich führen, so ist das letztere ihr endliches Schicksal. Sie dienen alsdann nur zur Zerstreuung, deren man immer mehr bedürftig wird, als man sich ihrer bedient, um die Unzufriedenheit des Gemüths mit sich selbst dadurch zu vertreiben, dass man sich immer noch unnützlicher und mit sich selbst unzufriedener macht.“[23]

Dass man die Niederländische Botschaft in Berlin durchaus als pars pro toto für das zeitgenössische Bauen nehmen kann, wäre damit zu begründen, dass in ihr das mit der Zweiten Moderne wieder eingeführte abstrakte Bauen mit dessen wie gesehen a priori sinnfremden, subjektiv-technischen Ausdruck geradezu modellhaft verwirklicht ist. Dabei zeigte sich jener Ausdruck gar nicht an bestimmte Formen des Architektonischen gebunden, er begründet sich vielmehr in einer fehlenden Bereitschaft, die ästhetischen Kategorien der Konstruktion und Materialität sowie der Räumlichkeit des Gebauten zu öffnen für einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang. Insofern der hier denkbare Einwand nicht greift, dass es auch eine gegenwärtige Bewegung neo-organischen Bauens, die Blob-Architektur gäbe, welche durch ihre scheinbar natürlichen Formen dem Problem der Sinnfremdheit entgehe. Denn diese Architektur scheint Natur sein zu wollen, anstatt dass sie, als unverkennbares Kunstwerk des Menschen sich eben nur auf die naturhafte Wirklichkeit bezogen zeigt bzw. auf diese hinweist.[24] Natur jedoch kann kein Werk des Menschen je im Sinne seiner Objektivität sein noch werden, womit das neo-organische Bauen so gesehen nur eine besonders übersteigerte Version des subjektiv-ästhetischen Ausdrucks in der zeitgenössischen Architektur darstellt. Zudem wäre es auch nicht irgendeine Natur, sondern allein die schöne, sich sinnhaft gefügt zeigende Natur, auf die im Werk verwiesen sein müsste, sollte ein Sinnschluss im ästhetischen Urteil des Werkes möglich sein. In concreto aber scheint es vor allem die nur physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit und eben nicht jene ideenhaft belebte zu sein, die in den Blob-Architekturen zitiert wird: Sei es in der Gesamtform, die im Beispiel des neuen Grazer Kunsthauses sich als eine Art Tropfenform präsentiert, sei es im technischen Ausdruck der nur abstrakten, durch Symbolformen unerweiterten Konstruktion, was ebenfalls am Grazer Beispiel zu betrachten wäre. (Abbildung 19) Eines sich so in der Summe zeigendes rundes maschinelles Objekt jedoch ist in seiner Sinnfremdheit einem orthogonalen ganz gleich und wäre schließlich auch als eine Modalität abstrakten Bauens zu bezeichnen.

Und eben diese Sinnfremdheit ist es nun, welche nicht allein in der Niederländischen Botschaft, sondern welche in allen jenen zeitgenössischen Bauten, die in ihrem ästhetischen Ausdruck dem Prinzip abstrakten Bauens folgen, alle geistige Dimension des Lebens und damit auch alle Menschen, die solche Bauten bewohnen sollen, ausschließt. Im Sinne der kantischen Begrifflichkeit zeigt sich der denkbare Freiheitsbegriff des Menschen in der ästhetischen Betrachtung von unter dem Diktum des subjektiv-technischen Ausdrucks errichteten Gebäuden als nicht kongruent mit deren verräumlichten Wirklichkeitsbegriff. Alle unausweichlichen Sinnfragen des Menschen nach Zusammenhang, Moralität und Glauben werden so ausgerechnet in der vom Menschen gestalteten architektonischen Wirklichkeit nicht mehr objektiviert, womit sie sich im Gleichgültigen aufheben. Allein das Gegenbild einer sinnfreien Welt objektiviert sich ästhetisch in zeitgenössisch-abstrakter Architektur. Und dieses mit aller dem Bauen eigenen Macht, Wirklichkeit zu definieren und der eigentlichen Unmöglichkeit zum Trotz, in einer solchen Welt als ein auch geistig sich begreifender Mensch überhaupt leben zu können. Weil aber in der Moderne die Objektivation von subjektiven Ideen zu Sinn des Subjektes allein ästhetisch – also auch architektonisch – überhaupt noch möglich wäre, ist damit einer der wichtigsten Wege, Sinn einzulassen in die Gesellschaft in das Gegenbild der Verwirklichung von Nicht-Sinn durch die abstrakte Ästhetik der Gegenwartsarchitektur gekippt. Was insgesamt allerdings nur als eine Verhöhnung der Menschen und der Gesellschaft durch die Architekten erscheint, die Architekten also gar nicht an das glauben, d. h. leben, was sie selbst errichten. Der von Rem Koolhaas nur ungern zugegebene, eigene Wohnort mag hier stellvertretend sein für diese These. Aber die Architekten dürften auch gar nicht an das von ihnen sinnfremd errichtete Bauen glauben, hieße das doch in der gesellschaftlichen Konsequenz – wenn also alle wie die Architekten bauen denken würden –, dass dieses auf jene bereits erwähnte, nur noch funktionalisiert amoralische Gesellschaftsordnung hinauslaufen würde. In einer solchen aber werden der Architekt und die Architektur wie jeder Kulturausdruck nur noch als Objekte der Liquidation zu begreifen sein, welche im entmoralisierten wie enttranszendentalisierten Raum und dem darin stattfindenden Kampf aller gegen alle keinen Platz mehr haben.

Was jedoch bleibt angesichts dieser pessimistischen Aussicht?
Zum einen, dass die Architektur wie überhaupt nichts menschlich Gemachtes je wird verhindern können, dass es auch in den schwärzesten Zeiten dem Menschen immer möglich bleibt, eine ästhetische Sinn-Objektivation im Moment der Schönheit der naturhaften Wirklichkeit zu erfahren. Ein im Konzentrationslager Buchenwald gesehenes Aquarell der Weimarer Landschaft vom Ettersberg aus gesehen, welches ein Inhaftierter in zarten Strichen malte und unter diesem Bild sein eigener Kommentar zu lesen war, dass allein die Landschaft vor dem Lagerzaun, ihre Jahreszeiten und Stimmungen, ihre Schönheit ihm die Gewissheit gaben, dass in dieser menschlichen Hölle alles Menschliche, jeder Sinn zwar zerstört sei, die vor ihm liegende Wahrheit der Natur jedoch, ihr Sinn sich als unzerstörbar zeigte. Dieses mag die existenzielle Notwendigkeit der Erfahrung von Sinnwahrheit in und durch die Natur veranschaulichen, die als Idee der liebevoll aufeinander bezogenen Entfaltung der Freiheit und Individualität des Lebens selbst ästhetisch erfahrbar ist. Was bedeutet, dass auch der existenzielle Punkt, von dem aus eine sinnbestimmte Architektur ihren Ausgang für die Gegenwart haben könnte, uns immer präsent bleibt. Wir müssen ihn nur sehen bzw. ihn ästhetisch erfahren wollen.

Zum anderen wird vor dem Hintergrund des Gesagten wie bereits angeführt die Notwendigkeit einer kritischen, also einer nach Sinngehalten fragenden Architektur-Interpretation deutlich. Und dieses sowohl auf Seiten der Nicht-Architekten, als auch auf Seite der Architekten. Kann doch nur so überhaupt ein Gespräch darüber entstehen, wie wir nicht allein das Bauen, sondern unser aller Leben überhaupt begreifen wollen angesichts einer sich mehr und mehr fehlleitenden Moderne. Und da eine nach Sinn fragende Interpretation des Gebauten wie gesehen nicht mehr bedeutet, als sich seines Vermögens zum ästhetischen Urteil zu besinnen bzw. rückzubesinnen, mag auch hier die Einfachheit der Umsetzung dieser Notwendigkeit eine Hoffnung für eine Sinn verräumlichende und reflektierende, also wirklich moderne Architektur sein. Skeptisch allerdings stimmt die Kraft, mit der sehenden oder nicht-sehenden Auges eine Weltgesellschaft sich formiert, die nicht mehr in der Reflexion, sondern in der von allen Reflexionen freien Produktion ihr Heil sucht –

Vielleicht geht es letztlich nur noch darum, wer zuerst mit wem fertig wird, die Natur mit der Menschheit oder die Menschheit mit der Natur. Und beides ist eine Katastrophe für die Menschheit.[25]


 


Literatur:  

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. 1969. – In: Ders.: Ders. Titel. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1980 

Bötticher, Karl: Die Tektonik der Hellenen. 2 Bände: I: Einleitung und Dorika; II: Der hellenische Tempel in seiner Raumanlage für Zwecke des Kultes. Potsdam: Riegel, 1844-49. – Teilabdruck des ersten Bandes in: Oechslin, Werner: Stilhülse und Kern: Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architkektur. Zürich: gta-Verlag, 1994

Brinkmann, Ulrich: Kulisse, Objektiv und Projektor: Königlich Niederländische Botschaft in Berlin. – In: Bauwelt, 47, 2003, S. 12ff.

Goethe, Johann Wolfgang: Baukunst. 1795. – In: Ders.: Goethes Werke: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Band 12. München: Beck, 1998. – Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Trunz, Erich; Schrimpf, Hans Joachim

Handke, Peter: Gestern unterwegs: Aufzeichnungen November 1987 – Juli 1990. Salzburg u. a.: Jung und Jung, 2005

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1783. – In: Bahr, Ehrhard (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam, 1996

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1787 (2. Auflage). – In: Ders.; Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s Gesammelte Schriften (=Akademieausgabe). Band 3. Berlin: Georg Reimer, 1904; im Text zitiert als „KdrV“.

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1793 (2. Auflage). – In: Ders.; Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s Gesammelte Schriften (=Akademieausgabe). Band 5. Berlin: Georg Reimer, 1908; im Text zitiert als „KdU“.

Köppler, Jörn: Der Sinngehalt des Architektonischen: Modernes Bauen und die ästhetischen Erfahrungen des Erhabenen und der Schönheit. Dissertation: Graz, 2007

Koolhaas, Rem: SPIEGEL-Interview. – In: Der Spiegel, 13, Hamburg 2006

Müller, Heiner: „Jetzt sind eher die infernalischen Aspekte bei Benjamin wichtig.“: Heiner Müller im Gespräch mit Michael Opitz und Erdmut Wizisla. 1991. – In: Opitz, Michael; Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese her: Texte zu Walter Benjamin. Leipzig: Reclam, 1992

Pascal, Blaise: Pensées sur la Religion et sur quelques autres sujets. – Dt. Übersetzung in: Ders.: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Leipzig: Reclam, 1987

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Aesthetik: Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. 2 Bände. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860-1863. – Unveränderter Nachdruck: Ders.: Ders. Titel. 2 Bände. Mittenwald: Mäander, 1977

Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 1905. – In: Die protestantische Ethik. Band 1. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus Mohn, 1981

 


Bildnachweise: 

Abbildung 1: Giuntoli, Stefano: Kunst und Geschichte von Pompeji. Florenz: Bonechi, 2002

Abbildung 2: Schinkel, Karl Friedrich: Architektur, Malerei, Kunstgewerbe. Berlin: Staatliche Schlösser und Gärten, 1981 – Ausstellungskatalog, Hrsg. v. Börsch-Supan, Helmut; Grisebach, Lucius

Abbildung 3: Badstübner, Ernst: Brandenburg. Ostfildern: DuMont, 2007

Abbildungen 4, 7 bis12, 15 bis18: Website der Niederländischen Botschaft: http://bln.niederlandeweb.de/de/content/Berlin/Neubau/Fotos/start_html

Abbildungen 5 und 6: Bauwelt, 47, 2003

Abbildung 13: Domus Dossier, 3, 1995

Abbildung 14: Lambert, Phyllis: Mies in America. Montréal: Canadian Centre for Architecture u. a., 2001

Abbildung 19: Wettbewerbe Aktuell, 11, 2003



 


Anmerkungen:

[1] Pascal 1987, S. 94 (Nr. 135).

[2] Kant 1904 (KdrV), S. 522.

[3] Handke 2005, S.197.

[4] Siehe hierzu Kant 1908 (KdU), S. 179f.

[5] Siehe hierzu a.a.O., S. 219f.

[6] Adorno 1980, S. 172.

[7] Siehe zur Struktur der physisch-naturgesetzlichen Wirklichkeit auch den Exkurs zur subjektiven Wendung des Denkens der Moderne im folgenden Abschnitt „Die Niederländische Botschaft“.

[8] Also eine Beförderung des Wachstums bei Pflanzen durch äußere Ursachen wie Licht, Wasser usf. zwar stattfindet, diese aber nicht den Anlass desselben bilden. Dieser Anlass liegt in der Pflanze selbst, womit Ursache und Wirkung in der Pflanze im Sinne des Wachstums zusammenfallen, was im strengen Sinne des Kausalgesetzes gar nicht möglich sein kann. Was sich auch durch die Tatsache des Vorhandenseins eines genetischen Codes nicht ändert, da dieser zwar das Programm, nicht aber den Anlass des Sich-Selbstsetzenden des Lebens (gesetzt durch eben die Idee des Lebens der naturhaften Wirklichkeit) bildet.

[9] Beispielsweise indem ein Ertrinkender in der stürmischen See von einem anderen Menschen zu retten versucht wird, ganz unabhängig davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit des eigenen Ertrinkens dabei ist. Die physische Ursache also des Sturmes, der Wellen usf. keinen Einfluss auf die wirkende Handlung des Menschen hat, der zur Rettung des Anderen in diese See springt.

[10] Siehe Kant 1908 (KdU), S. 174-177.

[11] Siehe hierzu ebenso den Exkurs zur subjektiven Wendung des Denkens der Moderne im folgenden Abschnitt „Die Niederländische Botschaft“.

[12] Kant 1996, S. 9.

[13] Bötticher 1994, S. 181f.

[14] Siehe hierzu Köppler 2007.

[15] Und so scheinen auch die aktuellen ornamentaler Bemühungen in allererster Linie einer optische Strukturierung des nur abstrakt gedachten Baukörpers zu dienen, was eben keine Reflexion einer symbolisch zum Ausdruck zu bringenden „Idealität“ (Bötticher 1994, S. 182) darstellt, sondern eine einfache formalästhetische Überlegung.

[16] Koolhaas 2006.

[17] Auch die Debatte über die von Neurowissenschaftlern bestrittene Existenz eines freien Willens ändert daran nichts. Denn selbst wenn es eine unbewusste Präferenz für eine Handlungsentscheidung gibt, so bleibt doch immer noch die bewusste Reflexion dieser Präferenz unter Zugrundelegung der moralischen Idee, was man Gewissen nennt, welche es in neurobiologischer Lesart gar nicht geben dürfte. Analog zur Widersprüchlichkeit der Sinnidee der Moralität mit der Verstandeskategorie der Kausalität ließe sich auch die Unvereinbarkeit der Sinnideen des Zusammenhanges und des Glaubens mit den die Erfahrung konstituierenden Anschauungsformen und Verstandeskategorien zeigen, die beide als Fragen nach dem Überzeitlichen und immer Existierenden außerhalb der Anschauungsformen Raum und Zeit liegen.

[18] Wenn diese Konstruktion wie dargestellt auch das maßgebliche Naturgesetz der Schwerkraft ästhetisch zum Verschwinden bringt, ist sie natürlich doch auf dieses hin gerechnet und ausgeführt. So wie ein Computer nicht mehr die Gesetze seines Funktionierens zeigt und er trotzdem als technischer Apparat zu definieren ist, so bleibt also auch die avancierte Konstruktion der Niederländischen Botschaft eine nur technische.

[19] Allein die Furnierholzplatten und der Travertinboden, die z. T. in den Versammlungsräumen zur Anwendung kommen, bilden hier die Ausnahme. In der Summe jedoch sind die im Text genannten Materialen ästhetisch bestimmend für die Innen- und Außenwahrnehmung des Gebäudes.

[20] Siehe hierzu Goethe 1998, S. 35ff. sowie Semper 1860, I, S. 231f.

[21] Einzig die ca. 15 cm breiten Belüftungsflügel in den Büros, die zwischen den nicht-öffenbaren Fensterprofilen angeordnet sind, geben Zugang zum Freien. Diese aber scheinen dauerhaft verriegelt zu sein (was bei der Besichtigung der Fall war), wohl damit die Klimaanlage des Gebäudes dadurch nicht gestört wird.

[22] Nach Max Weber, u. a. in Weber 1981, S. 188.

[23] Kant 1908 (KdU), S. 326.

[24] Was Letzteres wie dargestellt beispielsweise durch jene die Konstruktion erweiternde Symbolformen denkbar ist, welche eben nicht zur Form der Konstruktion selbst werden und damit zu einer naturalistischen Chimäre, sondern die Konstruktion sichtbar als Werk des Menschen in deren Form belassen und diese nur in ihrem Sinngehalt bezeichnen.

[25] Müller 1992, S. 361f.



 


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