Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4
Abbildung 5
Abbildung 6
Abbildung 7
Abbildung 8
Abbildung 9
Abbildung 10
Abbildung 11
Abbildung 12
Abbildung 13
Abbildung 14
Abbildung 15
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Was
sich vor uns verschließt, zieht uns zugleich an. Die versiegelte Hülle,
die einen kostbaren Inhalt nur erahnen lässt, lockt uns mehr als das offen
Dargebotene. Diese gegensätzlichen Impulse, die bereits den Eintritt ins
Haus verführerisch machen, sind charakteristisch für das, was Adolf Loos
die „Introduktion“ nennt.
„Mit Hilfe der Introduktion erscheinen die Preise im Luxusrestaurant
schließlich billig. Das Vestibül muß so sein, daß Menschen, die die Preise
nicht bezahlen können, sich nicht hinein trauen. Der Gast, der sich entschlossen
hat, dort ein Beefsteak um 3 bis 4 Schilling zu essen, macht auf – die
Türe wird vor ihm aufgerissen – (das Beefsteak kostet 4 Schilling). Er
sieht den Portier, Damen in großer Toilette (das Beefsteak kostet 5 Schilling),
der Hut der Schirm, wird ihm abgenommen (6 Schilling). Endlich betritt
er das Lokal, hört Musik, sieht Kellner, alles ist vornehm. Er denkt sich:
Das Beefsteak kostet 8 Schilling. Er setzt sich. Die Speisekarte wird
ihm gereicht. Ängstlich sucht er nach dem Beefsteak. Es kostet nur 2 Schilling
50 Groschen. Wie billig! Er atmet auf.“[1]
Bei
der Villa Müller setzt die Introduktion schon vor der Haustür ein, zu
der man ein paar Stufen hinuntersteigen muss und die daher eigentümlich
weit unten an der Villa angebracht erscheint. (Abbildung 1) Das Haus mit
seinen großen geschlossenen Außenwandflächen und den im Verhältnis dazu
kleinen Öffnungen zeigt sich in der ganzen äußeren Erscheinung hermetisch
und abweisend, es will offenbar nichts von sich und seinen Bewohnern preisgeben.
„Das Haus sei nach außen verschwiegen, im Inneren offenbare es seinen
ganzen Reichtum.“[2],
verlangt Adolf Loos. Als Einziges zeigt sich die überdachte Eingangsnische,
ganz mit gelbem Travertin ausgekleidet und mit einer Sitzbank, einladend
und von einer gewissen Durchlässigkeit (gemäß der assoziativen Wirkung
des im Gegensatz zu den glatten Putzflächen porigen Materials). Hier scheint
das Innere etwas aufzuklaffen.
Der Kontrast zum spröden Äußeren ist frappierend, wenn man schließlich
das Haus betritt. Die in die Eingangsnische ausgestülpte Travertinverkleidung
war nur der Auftakt zu einem Reichtum an Farben, Materialwirkungen und
räumlicher Dramatik, der sich nun entfaltet. „Im Inneren des Hauses
schwelgt der Kulturmensch in Samt und Seide.“[3]
Smaragdgrün glasierte Opakglas-Platten begleiten zu Anfang den Weg durch
das Vestibül tiefgründig schimmernd. Unten ins Haus eingetreten gleitet
der Ankömmling zunächst durch diesen niedrigen Gang, wie durch eine wässrige
Passage (Abbildung 2).
Der dann folgende Vorraum ist einheitlich mit einer quadratisch kassettierten
Holzvertäfelung gefasst, die mit ihrer matt glänzenden, weißen Lackierung
wie eine Schatulle erscheint, in der die Bewegung vorläufig zur Ruhe kommt.
Nach einem axialen a – b – a – Schema auf zwei gegenüberliegenden Wandseiten
streng geordnet erscheint er vorwiegend auf sich selbst bezogen (Abbildung
3).
Hier zeigt sich bereits der typische Afforderungs-Doppelcharakter, der
für das Bewegungserlebnis im Haus Müller charakteristisch ist: Indem die
Flurpassage sich geradlinig in den bereits sichtbaren Treppenstufen fortsetzt,
zeigt sie den weiteren Wegverlauf an und fordert zum streifenden Vorbeigleiten
auf. Die statische Ordnung des Vorraums dagegen veranlasst den ankommenden
Gast aus der Bewegungsbahn heraus zu treten, um in der doppelt zelebrierten
Mittelachse die Garderobe zu finden oder sich auf der Sitzbank zum kurzen
Verweilen nieder zu lassen. Wäre das Blau der Decke etwas heller, würde
sich Raum nach oben weiten, etwa als Vorankündigung für die weitere Höhenentwicklung
des Hauses.
Um von hier aus weiterzukommen, muss man sich nun durch eine enger werdende
gewundene Passage über die sieben Stufen einer um 90 Grad gewendelten
Stiege aus den Vorraum-Niederungen hinaufschrauben. Dort erreicht man
das Niveau des Salons. Die Dramatik dieses Übertritts ist auffällig. Wie
wenn man in einen Schrank steigt, wird man durch die Vertäfelung der „Schatulle“
aufgenommen, ohne zu sehen, wohin es geht (Abbildungen 4 und 5). Nur indirekt
durch die glänzende Lackschicht reflektiertes Licht lockt geheimnisvoll.
Während des Hinauf- und Hindurchwindens geschieht die Verwandlung. Oben
wird das Ergebnis präsentiert: Der Ankömmling kommt dort zunächst in einer
nur etwa zwei Meter hohen Nische zu stehen wie die Figur in einer Skulpturennische;
vor ihm, noch durch eine weitere Raumschicht getrennt, der doppelt so
hohe Salon, der die ganze Gebäudebreite einnimmt und sich durch die Fenstertüren
auf das Landschaftspanorama des Moldautales hin öffnet. Die Größe dieses
Raumes und die Ausdehnung in die Ferne weiten sich durch den Kontrast
zum Etui-Maßstab der Nische für den Eintretenden nur umso mehr.
Er ist der Macht des großen Raumes jedoch nicht unmittelbar ausgeliefert,
denn noch steht er außerhalb des Salons, zögert noch, sieht hinein, wird
gesehen und weiß sich gesehen, wie er da gerahmt in der Nische steht.
Wie allenthalben im Haus Müller tangiert sein Weg zunächst nur den Raum.
Auch mit dem nächsten Schritt betritt der Ankommende den Salon noch nicht,
hat jetzt aber schon die volle Raumhöhe über sich, reichlich Luft, um
sich – von unten aus den niedrigen Vorräumen kommend – nun ganz aufzurichten
(Abbildung 6).
Diese Stelle ist das Gelenk und der Schlüssel für das Raumerlebnis im
„öffentlichen“ Teil des Hauses. Hier liegt die dramatische Klimax in der
Sequenz der Bewegungsetappen, hier ist die delikateste Position für das
Sehen und das Gesehen-Werden, und gleichzeitig berührt das Öffentliche,
wie sich zeigen wird, hier am engsten sich mit dem Intimsten (Abbildung
7).
Ob die Bewegung sich jetzt nach rechts oder nach links wendet, sie scheint
jeweils in eine andere Welt zu führen. Es ist so, als würde sich in der
Rechtswendung der Raum öffnen, groß und weit werden, in der Linkswendung
sich dagegen introvertiert zurückziehen und verdichten. Der Aufstieg aus
der Vorraumzone hat mit einer Linkswendung auf der Stiege begonnen. Wer
nun dieser Drehrichtung weiter folgt, setzt den Aufstieg fort zum Zimmer
der Dame, ohne in den riesigen Salon einzutreten. Ihn nur streifend führt
die weitere Linksdrehung stattdessen weiter ins Innere und in immer engeren
Windungen in die Intimität des Boudoirs. Dagegen bietet sich einer nach
rechts ausgreifenden Geste von hier aus der ganze Bereich des Gemeinschaftslebens,
Salon, Terrasse, Speisezimmer sehr offen dar. Über die Stufen hinauf,
zur Plattform des Speisezimmers, öffnet sich der Raum noch weiter. Es
ist die Route, auf der – in umgekehrter Richtung – auch die Bewohner aus
den oberen Gemächern den Wohnbereich betreten, mit dem freien Überblick
über die offen vor ihnen liegende Raumlandschaft.
Die Wendungen nach rechts und nach links sind zugleich Windungen. Durch
die Schraubbewegung über die teilweise gewendelten Stiegen windet sich
der Benutzer entweder zwischen engen Begrenzungen hindurch und bohrt sich
ins Innere hinein, so prägt auch die Art der Annäherung den Charakter
des Aufenthalts im Damenzimmer. Oder aber er windet sich heraus, befreit
sich im Aufstieg aus der Masse. Treppenläufe mit wenigen Stufen wechseln
sich so mit Podesten ab, dass das Treppensteigen nicht zur Last wird.
Vielmehr kommt eine rhythmische Bewegung zustande, die mit ihren ständigen
Richtungs-, Steigungs- und Blickwechseln sogar etwas Spielerisch-tänzerisches
bekommt.
Zurück zu der Nische, aus der heraus der Gast seinen Auftritt hat. Nach
rechts dehnt sich der Salon mit seiner Längsachse von elf Metern zwischen
den zwei axial gegliederten Stirnwänden aus. Tritt man in sein weites
Inneres, ist man umschlossen von dem stabilen, symmetrischen Raumgerüst
aus Pilastern und Balken und der umlaufenden Schwelle des im Parkett eingelegten
Mahagonistreifens (Abbildung 8). Hier herrscht eine erhabene, klassische
Ordnung die den Eindruck eines zeitgenössischen Besuchers verständlich
macht, dass „dessen donnernde Ruhe uns einen Augenblick zu Boden wirft.“[4]
Durch die subtile Stofflichkeit jedoch wird der Raum in Vibration versetzt.
„Grün-geäderter Marmor mit „rötlich-blauen und gelben Einsprenkelungen“[5]
überzieht Wände und Pfeiler. Zusammen mit den Textilien in unterschiedlichen
Farben und Mustern erscheint er wie die durchgewebte Bekleidung des Raumes.
Die Stoffe mit ihren Texturen und Farben, ihren in Blick und Berührung
erlebten Sinnenreizen und Anmutungen, sind für Adolf Loos das Mittel,
einem Raum seine unverwechselbare Stimmung zu verleihen[6].
„Die Materie muss wieder vergöttlicht werden. Die Stoffe sind geradezu
mysteriöse Substanzen. Wir müssen tief und ehrfürchtig staunen, dass etwas
Ähnliches überhaupt geschaffen wurde.“[7]
So schafft auch die dunkle Tiefenstruktur des auf Hochglanz polierten
Mahagoniholzes der kassettierten Decke und der Möbel im Speisezimmer zusammen
mit den Spiegelungseffekten eine eigenartig hintergründige Raumwirkung
(Abbildung 9); wobei der Raum im Gegensatz zu den fein differenzierten
Texturen und Farben des hellen, weiten Salons streng und kompakt erscheint.
Als Resonanzkörper mit dunklem Nachklang hängt er unter der Decke, in
der er sich durch die Reflektion in der polierten Oberfläche doch noch
einmal weitet.
Ganz anders die Welt der Innerlichkeit im Kleinen, die der Besucher erreicht,
wenn er sich von der Ankunftsnische aus nach links wendet (Abbildung 10).
Vom Vorraum kommend, über die gewendelte Stiege und die niedrige Nische,
folgt der Weg nach dem knappen Versatz Richtung Salon in fortgesetzter
Linksdrehung einer weiteren gewendelten Treppe und verschwindet wieder
in einem engen Raumspalt. Dort öffnet sich die Tür zum Zimmer der Dame.
Im Inneren führen drei Stufen nochmals nach links, und eine letzte Linkswendung
bringt die Bewegung unmittelbar danach in der Sitznische zu ihrem Ende.
Die Anordnung der Polster verlangt, dass man sich zum Niederlassen noch
ein weiteres Mal dreht, um sich im Sitzen schließlich wieder zur Raummitte
zu wenden. Auf dem Weg hierher werden die Wegabschnitte zuletzt immer
kürzer und enger, liegen immer höher und immer weiter im Inneren. Der
Weg schraubt sich als Spirale eingedreht nach innen-oben, bis in der Sitznische
mit nur 1,90 m Raumhöhe der höchste und innerste Punkt erreicht ist. Die
Sitznische selbst ist ein Raum im Raum, ein kleines Gehäuse, das an den
drei Wänden und selbst an der Decke mit Zitronenholz ausgekleidet ist
und sich selbst wieder im Inneren eines Zimmers befindet.
Der immer weiter ins Innere vordringenden Bewegung folgend wird es vom
Besucher, der am „Leben bei Tage“ teilhat, als die Stelle größter Innerlichkeit
im Haus erfahren, intimer noch als die Schlafzimmer im Obergeschoss, denn
diese sind seiner Wahrnehmung gänzlich entzogen und gehören dem „Leben
bei Nacht“[8]
an.
Das ganze Vorspiel von durchlaufenen Wegetappen, Raumschichten und Steigungen,
von hinausgezögerter Ankunft und Hinhalten in farbig und materialreich
ausgestatteten Raumzonen steigert die Bedeutung des am Ende erreichten
Ziels. So werden durch die Introduktion vom Eingang über das Vestibül
den Vorraum und das Zwischenpodest die Ankunft im Salon und im Speisezimmer
vorbereitet. Das innerste Ziel aber, das intime Zentrum und Herz des Hauses,
ist das Boudoir, das Zimmer der Dame. Mehr Schichten sind zu durchdringen,
mehr Windungen zu durchlaufen, um dorthin zu gelangen.
Es wurde auf die Parallele zur Kleidung hingewiesen[9],
wie sie etwa Robert Musil bei den Menschen früherer Zeiten schildert:
„Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen,
Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die
fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer
zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in
seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und
fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeichnete Verfahren,
das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Geschöpfe Bälge sträuben
oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck
die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur Torheit zu
steigern.“[10]
In
das Boudoir der Dame vorzudringen, verlangt von den Freundinnen oder dem
Besucher die Überwindung eines windungsreichen Weges mit Steigungen und
Hindernissen, bevor das Schatzkästchen in wertvollem Zitronenholzfurnier
und mit feinem Cretonne bezogenen Polstern mit Rosenmuster erreicht ist
(Abbildung 11). In der Sofanische sitzend wird schließlich den Sinnen
geboten, was kein Bild wiedergeben kann. Für Loos ist wichtig, dass die
Menschen in seinen
„Zimmern den Stoff um sich fühlen, dass er auf sie wirke,
dass sie von dem geschlossenen Raum wissen, dass sie den Stoff, das Holz
fühlen, dass sie es mit ihrem Gesicht und Tastsinn, überhaupt sinnlich
wahrnehmen, dass sie sich bequem setzen dürfen und den Stuhl auf einer
großen Fläche ihres peripheren Körpertastsinns fühlen und sagen: Hier
sitzt es sich vollkommen.“[11]
Nun
liegt aber über dem Sofa eine Fensteröffnung, die in ihrer Lage zwei wesentliche
Raumbezüge herstellt: Erstens ist sie vom Salon her sehr gut sichtbar,
und man kann von ihr aus in den Salon (und über ihn hinweg durch die Fenster
in die Landschaft) sehen. Zweitens liegt sie genau über der Nische, aus
welcher der Besucher auftaucht, wenn er von Vorraum und Vestibül heraufgestiegen
ist (Abbildung 12).
Wie im Ausguck, erhoben über der Szenerie des geselligen Lebens im Salon,
hat die Dame ihren Platz (Abbildung 13). Wenn sie dort oben (mit ihren
Freundinnen) in der Sofanische sitzt, nimmt man sie vom Salon aus allenfalls
als Schatten wahr – dafür ist der Blickwinkel zu ungünstig, das kleine
Fenster zu stark vergittert und verhängt – man ahnt ihre Gegenwart nur.
Was deutlich gezeigt wird, ist das Gehäuse innerhalb des Hauses, dessen
Wände man auf verschiedenen Seiten von außen sieht, präsentiert als Herzkammer
für den ganzen räumlichen Organismus (Abbildung 14). Das Innere bleibt
zwar den Blicken der Gesellschaft weitgehend entzogen, aber durch die
Art der Zurschaustellung seines Behälters mit der sparsamen Öffnung wird
eine Art Schlüssellocheffekt erreicht, den man mit dem voyeuristischen
Blick assoziieren mag: Die nur erahnte, verhüllte und verborgene Frau
als Objekt der Begierde[12].
Sieht man sie dagegen als die Herrin des Hauses, die Privatheit und Respektabilität
des Hauses garantiert[13],
dann mag das Zimmer der Dame eher als Ort des Überblicks in strategischer
Position empfunden werden, zugleich in dieser Funktion aber auch wieder
zur Schau gestellt. Welchen Blickwinkel man auch einnimmt, ein Ausschnitt
des häuslichen Lebens wird wie in einer Szene vorgeführt. Ob Ort der Intimität
oder der Kontrolle, das gesellige Leben im Salon wird immer von dieser
Stelle her beherrscht und in Spannung gehalten, ihm kann sich keiner der
Anwesenden entziehen.
Die Positionierung der Sitznische im Boudoir exakt über der Nische, in
welcher der Besucher ankommt, fügt dem Erlebnis eine weitere Dimension
hinzu: Wer nicht das erste Mal hier steht, weiß dass er sich dort genau
unter dem Sitz befindet, auf dem die Dame des Hauses mit ihren Freundinnen
tuschelt. Die Dame (mit ihren Freundinnen) weiß, dass der Ankömmling,
dies wissend, genau unter ihrem Sitz steht[14],
die Salongesellschaft sieht mit einem Blick den Ankömmling unter der Sitznische
der Dame stehen. Das Fremde und das Intimste werden auf emblematische
Weise räumlich zusammen gebracht und wahrgenommen (Abbildung 15).
Das Boudoir ist kein Serail (auch wenn die Position des Haramlik im islamischen
Haus in der gleichen Beziehung zur Wohnhalle steht[15]
und das Gitterornament an die islamische Mashrabijah erinnern mag), natürlich
nimmt die Dame des Hauses an der Gesellschaft im Salon teil. Das Boudoir
aber ist immer präsent als der zentrale Ort an dem sie sich entzieht,
selbst wenn sie gar nicht dort ist. Es ist der wahrnehmbare Intimitätspol,
an dem die Vertrautheit des Wohnens verankert ist.
Das zentrale Erlebnis im Haus Müller ist das Wohnen. Auch der Gast erlebt
das Wohnen als „Bleibe“, indem er sich bereits bei der Ankunft im Spannungsfeld
zwischen dem Intimitätspol, der sich deutlich zeigt, und dem anderen das
sich entzieht, selbst vorfindet.
Etwas Ähnliches spricht Emmanuel Levinas an, wenn er Vertrautheit und
Intimität im Wohnen nicht von der unmittelbaren Konfrontation mit der
Gegenwart des Anderen erwartet,
„die Gegenwart des Anderen muß sich vielmehr, gleichzeitig
mit dieser Gegenwart, in seinem Rückzug und in seiner Abwesenheit offenbaren.
Diese Gleichzeitigkeit ist nicht eine abstrakte Konstruktion der Dialektik,
sondern das eigentliche Wesen der Diskretion. Und der andere, dessen Anwesenheit
auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist, von der aus sich der gastfreundliche
Empfang schlechthin, der das Feld der Intimität beschreibt, vollzieht,
ist die Frau. Die Frau ist die Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit
des Hauses und für das Wohnen.“[16]
Anmerkungen:
[1]
Kulka, Heinrich (Hg.), Adolf Loos. Das Werk des Architekten.
Wien1931, S. 36f
[2]
Loos, Adolf, Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hg. von Franz
Glück. Bd. 1, Wien München 1962, S. 339
[3]
Ebd., Bd. 2, Wien München 1962, S. 118
[4]
So Robert Scheu in einem Artikel für das Prager Tagblatt 1931,
zitiert nach Rukschio/Schachel, S. 611
[6]
Vgl. Loos, Adolf, Das Prinzip der Bekleidung. In: Ders., Sämtliche
Schriften, a. a. O., S. 105f
[7]
Loos, Adolf, Die potemkin’sche Stadt. Verschollene Schriften 1897-1933.
Wien 1997, S. 209
[8]
Unter dem Titel „Wohnen lernen!“ propagiert Adolf Loos die Trennung
in einen öffentlichen und einen privaten Wohnbereich. „Der Mensch
im Eigenheim wohnt in zwei Stockwerken. Er trennt sein Leben scharf
in zwei Teile. In das Leben bei Tage und in das Leben bei Nacht“.
Loos, Adolf, Sämtliche Schriften a. a. O., S. 383f. Der beschriebene
Zugang ist der „öffentliche“ Weg zum Zimmer der Dame, den die Besucher
gehen und der es mit dem Salon verbindet. Über einen zweiten Zugang
kann die Dame – für den Besucher unsichtbar – von „innen“ auftauchen,
aus dem Bereich des „Lebens bei Nacht“ im Obergeschoss.
[9]
Den Hinweis entnehmen wir der Arbeit von Leslie van Duzer und Kent
Kleinman, Villa Müller. A
Work of Adolf Loos.
New York 1994, S. 45
[10]
Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften (1930) 11.
Auflage, Reinbek
2000, S. 279 „Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau
zu stellen, würde selbst einem Menschen, der wenig Vorurteile hatte
und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert
wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht
wegen der Nacktheit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte
Liebesmittel der Bekleidung.“
[11]
Loos, Adolf, Die potemkin’sche Stadt, a. a. O., S. 211
[12]
Vgl. Colomina, Beatriz, The Split Wall: Domestic Voyeurism.
In Dies. (Hg.), Sexuality and Space. New York 1992, S. 73-128
[13]
Laura Mulvey, zitiert nach Colomina, a. a. O., S. 82
[14]
Diese Beobachtung verdanke ich Arno Lederer.
[15]
Vgl. Kühn, Christian, Das Schöne, das Wahre und das Richtige –
Adolf Loos und das Haus Müller in Prag. Braunschweig 1989, S.
37ff
[16]
Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die
Exteriorität (1980). Freiburg München 1993, S. 222
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