Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Heidi Helmhold
Köln
  De-Territorialisierung
Die Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln aus der Sicht ihrer Nutzerinnen und Nutzer

 

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Abbildung 1:
Modell Fakultät Schumann

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Abbildung 2:
Fakultätsbau Schumann

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Abbildung 3:
Kacheln

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Abbildung 4:
Aula

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Abbildung 5:
Foyer (1)

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Abbildung 6:
Foyer (2)

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Abbildung 7:
Zinkeimer

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Abbildung 8:
Wassereimer

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Abbildung 9:
Wasserspuren

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Abbildung 10:
Schaukästen

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Abbildung 11:
Kabelrollen

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Abbildung 12:
Gardine

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Abbildung 13:
Einschusslöcher

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Abbildung 14:
Ziegel

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Abbildung 15:
Kacheln

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Abbildung 16:
Wandtafel

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Abbildung 17:
Mies van der Rohe

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Abbildung 18:
Ferrari

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Abbildung 19:
Archiv (1)

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Abbildung 20:
Archiv (2)

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Abbildung 21:
Archiv (3)

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Abbildung 22:
Archiv (4)

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Abbildung 23:
Archiv (5)

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Abbildung 24:
Archiv (6)

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Abbildung 25:
Archiv (7)

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Abbildung 26:
Fakultät und Gegenraum (1)

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Abbildung 27:
Fakultät und Gegenraum (2)

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Abbildung 28:
Fakultät und Gegenraum (3)

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Abbildung 29:
Fakultät und Gegenraum (4)

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Abbildung 30:
Fakultät und Gegenraum (1)

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Abbildung 31:
Fakultät und Gegenraum (2)

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Abbildung 32:
Fakultät und Gegenraum (3)

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Abbildung 33:
Holztüre, Nigeria

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Abbildung 34:
Gouro-Maske

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Abbildung 35:
Bodenteppich

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Abbildung 36:
Zeichnung, Studierende (1)

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Abbildung 37:
Zeichnung, Studierende (2)

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Abbildung 38:
Zeichnung, Studierende (3)
 
 

„Ähnlich wie in einem Club, der unerwünschte Mitglieder aktiv ausschließt, weiht das schicke Wohnviertel jeden einzelnen seiner Bewohner symbolisch, indem es ihnen erlaubt, an der Gesamtheit des akkumulierten Kapitals aller Bewohner Anteil zu haben. ... Die räumliche Versammlung einer in ihrer Besitzlosigkeit homogenen Bevölkerung hat auch die Wirkung, den Zustand der Enteignung zu verdoppeln, insbesondere in kulturellen Angelegenheiten und Praktiken. Die auf der Ebene der ... Bildungseinrichtung ... ausgeübten Zwänge erzeugen jedoch eine Sogwirkung nach unten und lassen nur einen einzigen, jedoch meistens vom Mangel an Ressourcen verstellen Ausweg: Flucht!“[1]



Architektur ist kein Bild

Im Modell ist Architektur eine abstrahierte räumliche Intervention; darin ist sie bildhaft und unterliegt als diese ästhetischen Diskursen. Mit Baubeginn wird sie zu einem Floating System von materialen Schichtungen, die eine gemeinte Anordnung von Räumen erzeugen. Mit der Fertigstellung aller Bauabschnitte ist sie für einen kurzen Moment wieder bildhaft und wird damit auf die Ebene einer künstlerischen Werkrezeption gehoben: Der Architekt und seine Kritiker bilden für die Länge einer Rezension einen interpretatorischen Ausnahmezustand, in den Länder- und Stadtverwaltungen wie Vorstandsebenen viel Gelder investieren, um Anschluss an Image-Building qua Stararchitektur zu gewinnen:
 

„Die BMW-Welt in München von COOP Himmelblau, das Mercedes Museum in Stuttgart von UN Studio, die Prada Flagship-Stores von Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron sind architektonische „Bild“-Entwürfe, die in der Realität zwar auch einen Marken-Erlebnisraum schaffen, die aber zuvorderst als Bilder mit Imagequalität, mit Brand-Charakter entworfen wurden.“[2]


Das Werk eines jeden Architekten geht jedoch als Baukörper in die Körperintelligenz seiner Nutzer über – die Rede dieser Rezensionen qua Alltagshandeln bleibt rhetorisch stumm. Die Architektur von Räumen kann angeschaut, reflektiert und beurteilt werden. Architekturphotographen inszenieren eben dieses Bildhafte von Architektur.
[3] Die Räumlichkeit von Architektur hingegen ist an den komplexen Prozess von Raum, Mensch und Dingen gebunden. Nutzerinnen und Nutzer interpretieren Architektur durch überlagernde Handlungsfelder. Entscheidend für diesen Prozess ist, dass er keine visuelle Distanz zum architektonischen Körper aufbaut, sondern diesen im Gegenteil einverleibt, inkorporiert.

Ein Beispiel für diese Dichotomie von Visualisierung und Inkorporalisierung ist das Bundeskanzleramt von Axel Schultes, dessen Architektur als eine Rede von Demokratie im 21. Jahrhundert gehandelt wird
[4]. Im territorialen Feld Büro eines Bundeskanzlers Schröder oder einer Bundeskanzlerin Merkel hingegen ist diese Rede von Demokratie durch den Architekten schon eine jeweilige Rede von Demokratie durch die Nutzerinnen und Nutzer. Die architektonische Blickführung aus dem Bürofenster (Bild) mag für beide Amtsträger gleich sein, ihre jeweilige materielle Repräsentationskultur (Handlung) hingegen wird es nicht sein.

An diesem Beispiel kann deutlich werden, wie kurz der Moment ist, in dem ein Architekt in relativer Hoheit die Interpretation seiner Architektur als Bild formen kann. War der Kanzler Schröder noch nahezu bild- und körperkongruent mit dem architektonischen Entwurf Axel Schultes – und darin gewissermaßen der Bauherr – war die Kanzlerin Merkel schon die umnutzende Nachmieterin. Die Halbwertzeit einer Architektur als Bild ist kurz. Im Unterschied zum Kunstwerk als Alleinstellungsmerkmal verfügt diese nicht über den Sonderraum eines White Cube, oder, mit Brian O’Doherty gesprochen: Architektur ist im Gegensatz zum Bild kein Realitätsfragment
[5], das ihr Distanz und Körperferne einer rein visuellen Rezeption zusichern würde. Architektur wird sehr bald zum materiellen Gebrauchsgegenstand, der mit seinen Nutzern in eine affektive Beziehung tritt, worin architektonische Kognition und Körpersinn als embodied mind eine eigene emotionale und körperliche Intelligenz ausbilden[6].  Behält der Architekt hingegen bis in den Arm seiner Nutzer die Hoheit über seine Architektur – dann wirkt diese entweder als Instrument eines herrschaftskulturellen Diskurses, wie Foucault dies am Beispiel des Gefängnisses gezeigt hat. Oder es verharrt in Leblosigkeit und Musealität, wie im Beispiel des Wiener Palais Stonborough, das Ludwig Wittgenstein in der letzten Bauphase als Architekt für seine Schwester markant gestaltete. Wittgenstein untersagte in der Wohnnutzung den Gebrauch von Gardinen und Teppichen, weil er diese als ästhetisch verunklärende Dekorationsmittel empfand, die Ungenauigkeit in die Raumsprache gebracht hätten. Wenn Margarethe Stonborough schlafen ging, wurden im Boden versenkte Metallkurtinen vor den Fenstern hochgefahren.[7] Wittgenstein selbst wertete die abstrakte Distanziertheit, die edle Kargheit[8] des von ihm entworfenen Hauses rückblickend so:

In aller Kunst ist ein wildes Tier: gezähmt ... Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur, etc.) Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit.“[9]



Revisited: Hans Schumachers Fakultätsbau (1955-1966)


Die von Hans Schumacher in zwei Bauphasen gebaute ehemalige Pädagogische Akademie (1955-1966) in Köln-Lindenthal (heutige Humanwissenschaftliche Fakultät) (Abbildung 1) war in seinem ästhetischen Programm der Form- und Materialsprache eines Neuen Bauens verpflichtet, wie Hans Schuhmacher dies in 1920er Jahren zusammen mit anderen Architekten wie Ernst Nolte, Wilhelm Wucherpfennig und Theodor E. Merrill unter dem Einfluss von Bauhaus und amerikanischer Architektur artikuliert hatte. Nach dem nationalsozialistischen Codex des heimatverbundenen Bauens, das sich u. a. in Satteldächern, Fensterkreuzen, Schlagläden, Werkstein und Holz zum Ausdruck brachte
[10], wandte sich Hans Schumacher in den 1955er Jahren dem nordrheinwestfälischen Schul- und Hochschulbau zu, der ihn zu einem zeitgenössischen Experten im Bereich des Schulbaus machte. Er verbaute im Gebäudekomplex der Pädagogischen Akademie ein Raumprogramm der 1920er Jahre, das eine Durchlichtung der Gebäude bei gleichzeitiger klarer und zweckmäßiger Formgestaltung vorsah. Hohe Glasfenster rhythmisieren die Außenfassaden (Abbildung 2), materialintensive Wände aus offenem Ziegel, Spaltklinker und farbigen Keramikfliesen (Abbildung 3) korrespondieren im Entrée und in den Gangkreuzungen, bodenwärts verglaste Quergänge verbinden die Gebäudeteile und Funktionstrakte wie Treppenhaus, Hörsaal und Bürotrakte sind im Baukorpus sichtbar gemacht. Eine in der Interpretation durch Hans Schuhmacher vorgetragene lichte und klar proportionierte Architektur, die es auch an prominenten Architekturzitaten nicht fehlen lässt, wie beispielsweise das Faltwerk der Aula in Ableitung des UNESCO-Gebäudes (Zehrfuss/Breuer/Nervi) in Paris von 1953-1958 (Abbildung 4). Die Architekturkritiken waren zahlreich und überwiegend positiv[11]:
 

„Obwohl sachlich und von der Funktion her entwickelt, ist das Erscheinungsbild der Architektur dennoch nie kühl oder monoton, im Gegenteil: durch die überaus reiche Verwendung von Glas, den Einsatz von Farbe und verschiedenartigen gestalterischen Details wird eine Wirkung von Heiterkeit und Leichtigkeit hervorgerufen.“[12]



Balkan als imaginäre Karthographie des Othering


Als ich 2001 an die Kölner Universität kam, bin ich schon nach kurzer Zeit von der Verwaltung darauf hingewiesen worden, dass meine Fakultät, die heutige Humanwissenschaftliche Fakultät, jenseits des Hauptcampus, im so genannten Balkan liegen würde. Man hat mich wohl früh auf eine Inclusion-Exclusion-Beziehung aufmerksam machen wollen, die  zwischen der Wissenschaftskultur im Hauptgebäude und der Wissenschaftskultur im Gebäude meiner Fakultät bestand. Vor Wirksamwerden des Bolognaprozesses waren hier Diplom- und Lehramtsstudiengänge untergebracht – allesamt keine wissenschaftlichen Disziplinen, deren gesellschaftliche Relevanz vor den PISA-Studien sonderlich in Erscheinung getreten wäre.
[13] Wie überhaupt Erziehungswissenschaftliche Fakultäten in der bundesdeutschen Wissenslandschaft nicht im Ruf stehen, die akademische Elite einer Universität zu versammeln. Sie sind qua asymmetrischer Mittelverteilung systematisch weit davon entfernt, Anschluss an wissenstechnische Professionalisierung und architektonische Modernität zu erhalten. Die damalige Erziehungswissenschaftliche, heute Humanwissenschaftliche Fakultät liegt 15 Gehminuten vom Hauptgebäude entfernt. Und eben diese geometrische Distanz reichte aus, sie – vom Standpunkt des Hauptgebäudes - als das Andere der Universität Köln zu bezeichnen. Das Naming für dieses Andere war Balkan.

Worin bildet sich die zugeschriebene Anomalie, der zugeschriebene Balkan dieser Fakultät ab? Welches sind, mit Foucault gefragt, Oberflächen ihres Auftauchens, welches die Balkanarten?
[14] Betritt man die Fakultät durch den Haupteingang (Abbildungen 5 und 6), steht man zwischen Stellwänden, Postkästen, Colaautomaten, Büchertischen und Pflanzenkübeln. Die Fensterwände haben blinde Scheiben, bei Regen werden in Treppenhäusern und Seminarräumen Eimer und Zinkwannen (Abbildung 7) aufgestellt. An den Decken und Wänden zeichnen sich Wasserflecken und Wasserspuren (Abbildungen 8 und 9) ab. Auf den Gängen steht überaltertes Mobiliar mit überkommenen didaktischen Medien (Abbildung 10). Auf Schränken Kartons, für die niemand zuständig ist, offene Kabelschächte in den Büros (Abbildung 11), undienlich gewordene Gardinen (Abbildung 12), defekte und schief hängende Sonnenjalousien. An den Kachelwänden der Seiteneingänge ziehen sich Lochspuren empor – offensichtlich Montagespuren, aber in der Anmutung von Einschusslöchern (Abbildung 13).

Ein Kollege bezeichnet diese Anmutung als „armselig, kalt, dürftig und lieblos“; als etwas „ex-sozialistisch-verstaubt-ärmlich“ Osteuropäisches; Assoziationen zu einem Balkan können sich mit dieser Aussage also auch in der Nutzerperspektive einstellen.

Was ist damit bezeichnet? Der 1912 geschaffene Erste Balkanbund war zunächst eine Metapher für ein fortdauerndes politisch und wirtschaftlich instabiles System – die Aufteilung des osmanischen Reiches wurde zum Bild von kriegerischen blutigen Territorialkämpfen, in die Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Albanien in der Hauptsache verwickelt waren. Diese Zustände wurden von Europa aus eingeklammert. Der Balkan war nicht Teil des europäischen Selbstverständnisses – er war ein Zwischenland ohne Tauglichkeit zum politischen Partner. Dazwischen nicht nur im geographischen, sondern im metaphorischen Sinne: Fürst Metternich war es, der den Balkan als ‚das Andere’ in der Sentenz prägte: Jenseits des Rennwegs beginnt der Balkan. Der Rennweg liegt im 3. Wiener Bezirk und führte wenige 100 Meter an der Reichskanzlei vorbei als Verbindungsstraße nach Bratislava. Der Balkan war für Metternich die Metapher für alles was sich ihm als Politiker seiner Kontrolle entzog: Chaos, Schmutz, Explosivität. Der Balkan steht hier auch als eine koloniale Chiffre für das Chaotische, Fremdkulturelle, Nichtbeherrschbare. Ihn in dieser Weise zu beschreiben ist Teil der Kolonialen Kondition, deren soziale und kulturelle Landkarte der Ersten Welt – das sind die entwickelten Industriestaaten – die unterentwickelte agrikulturelle Zweite und Dritte Welt kolonial hinterblenden. Entscheidend dabei: Der Balkan liegt  immer hinter  den Grenzen eines Betrachterstandpunktes, jenseits der eigenen innerkulturellen Narration. Slavoj Zizek kennzeichnet diese Grenze:
 

„Der Balkan ist also immer der Andere, er liegt irgendwo anders. ... Für die Slowenen (Slavoi Zizek ist Slowene) beginnt er in Kroatien, für manche Deutsche ist es Österreich aufgrund seiner historischen Verbindungen zum Balkan, für manche Norddeutsche ist er auch Bayern mit seiner katholisch bäuerlichen Dimension ... manch arrogante Franzosen assoziieren mit Deutschland eine östliche balkanische Wildheit. Den Extremfall repräsentieren einige konservative, gegen die Europäische Union gewandte Engländer, für die das ganze Kontinentaleuropa ... heute als eine Art balkan-türkisches Großreich funktioniert. ... Diese rätselhafte mehrfache Verschiebung der Grenze zeigt deutlich, dass wir es im Falle des Balkans nicht bloß mit einer faktischen Geographie zu tun haben, sondern mit einer imaginären Kartographie, die auf wirkliche Landschaften schattenhafte, oftmals uneingestandene, ideologische Antagonismen projiziert. [15]


Die imaginäre Karthographie Balkan ist das Ergebnis eines Zuschreibungs- und, in der Folge, auch eines Selbstbeschreibungsprozesses der Fakultät. Der in den Jahren 1955-1966 konzipierte Bau der Pädagogischen Akademie war beispielsweise im Grade seiner architektonischen Modernität dem Hauptgebäude der Universität weit überlegen. In den 1930er Jahren entstanden, ist das Hauptgebäude ein monumentaler Querriegel mit  akkumulierter Fensterreihung und niedrigen, bunkerartigen Eingangstüren in der Architektursprache von Gleichschaltung. Diese ästhetische Chiffre hat das Hauptgebäude bis in die heutige Zeit. Mit der Eingliederung der Pädagogischen Hochschule in die Universität zu Köln am 01.04.1980 verschärften die klassischen Wissenschaftsfakultäten ihre Distinktionsgesten: Pädagogik war aus ihrer Sicht nicht wissenschaftsfähig –  Pädagogik passte nicht in den Rationalitätstypus einer wissenschaftlichen Moderne.
[16] Der Gebäudekörper war durch die chronische Unterausstattung porös geworden und führte zu einer zunehmenden Naturalisierung des Raumdispositivs, sprich: Es regnet durch das Dach, es schimmelt an den Wänden, Gänge und Seminarräume vermüllen. Sanierungsanträge wurden im Laufe der Jahrzehnte nicht bearbeitet, defekte Geräte nicht repariert oder erneuert. Selbst eine nicht mehr abzuwendende Elektrosanierung in 2006 wurde vonseiten der – kostengünstigen – Firma so ungenügend ausgeführt, dass im Frühjahr 2008 die Hörsäle vorübergehend geschlossen werden mussten, weil Lampen von den Decken zu fallen drohten. Der Ort von Wissenschaft löste sich auf und führt zum Verlust einer Fakultätsidentität unter den lehrenden Professorinnen und Professoren bzw. lässt diese unter Studierenden und neu berufenen Kolleginnen und Kollegen gar nicht mehr entstehen. Die Performativität des wissenschaftskulturellen Alltagshandelns arbeitete zunehmend an einer disparaten Räumlichkeit; beliebige Schichten von Funktions- und Repräsentationsbereichen werden ineinander und übereinander geschoben. Mit dem Verlust des Ortes korrespondiert der Verlust von Zeitlichkeit in der Architektur. Die Zuschreibung einer Modernität von Architektur wurde zu einer Zuschreibung von Anderer Architektur, dem Balkan eben: Chaotisch, schmutzig, heruntergekommen, unorganisiert, verkramt, unstrukturiert und zukunftslos.[17] Heute, im Jahre 2008, besteht auf dem Campus der Humanwissenschaftlichen Fakultät ein Renovierungsstau von 45 Millionen Euro.

Entscheidend bei dieser Balkanisierung ist, dass der Verlust an Modernität nicht Teil des historischen Gedächtnisses dieser Fakultät wurde – die Architektur als Inkunabel von Modernität der 1950er Jahre[18] – sondern, dass diese bauhistorische Nobilitierung, die sie hätte sein können, unter einem Sediment von Verwahrlosung und funktionaler Missachtung eliminiert worden ist. Die heutigen NutzerInnen wissen nicht von ihr und können es wohl auch kaum noch wissen, weil Ihnen schon im Eingangsbereich blinde Fensterscheiben, verstaubte Beniamini Ficus, überdimensionierte Abfalleimer, Plakate, Getränkeautomaten, Postkästen und Stellwände entgegenstehen. Die von Hans Schumacher konzipierten Ziegelwände (Abbildung 14), die gelbe Keramikwand (Abbildung 15), die das Licht der gegenüberliegenden großen Fensterzonen reflektieren und die helle, leichte Treppenhauskonstruktion sind von einer Schicht flottierender Funktionszonen überblendet, die olfaktorisch vom Essensgeruchsgemenge einer Cafeteria unterlegt sind.


Materielle Kultur und Spacing:  Kolleginnen und Kollegen

Im Rahmen einer künstlerischen Feldforschung habe ich 2001 Kolleginnen und Kollegen der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät in ihren Büros aufgesucht und in den Medien Gespräch, Raum und Materielle Kultur die jeweiligen Strategien und Statements zum Umgang mit der Fakultät in der Zuschreibung Balkan erfragt. Ich besuchte 42 Kolleginnen und Kollegen und habe die Ergebnisse in sechs Nutzertypologien zusammengefasst. Diese Typologien weisen den Medien der Materiellen Kultur insofern eine prominente Rolle zu, als gerade sie es sind, die Architektur als Räumlichkeit handelbar, lebbar, mitteilungsfähig und aus der Sicht des Nutzers interpretierbar machen. Dass heißt auch: Interpretation von Architektur durch NutzerInnen ist konstruktiv an Medien einer Materiellen Kultur gebunden. Sie fungieren als Interface von Selbstmitteilung, von sozialer Codierung und kollektiver Selbstdarstellung. Eine Architektur in Nutzung agiert in und durch die codierten Oberflächen ihrer materiellen Kultur, weil diese im Grade ihrer Mobilität den Prozess einer sozialen Verortung abbilden kann.
 

One problem that stands out is the question of materiality ... Social structure and architectural structure are presented as one-off givens. ... snapshots are by nature static, while similarly the architectural structure is subject to a similar stasis resulting from a preoccupation with form and the static nature of representation. ... this ongoing process between human agents both the individual and institutional and material go unnoticed along with the critical dynamics of power forged within these process and the social relationships thereby enabled.“[19]
 

Das Erzeugen von Räumlichkeit ist dabei an eine prozessuale Beziehung von Mensch und Dingen im Raum gebunden. Dieser Prozess ist nur teilweise als eine Reaktion auf den gegebenen architektonischen Raum zu verstehen. Er ist selbst eine proaktive[20] Generierung von Raum - Räumlichkeit im Sinne räumlicher Strukturen wie Martina Löw dies im Begriff des Spacings und der Syntheseleistung als Raumkonstitutionen beschreibt.[21] Im Alltagshandeln, wozu das räumliche Setting eines Büros gehört, sind es sowohl das Positionieren von sozialen Gütern und Menschen, das Spacing wie aber auch deren Syntheseleistungen, die Bezüge zum Umfeld, zur Geschichte oder Biographie entstehen lassen. Die dabei entstehende Räumlichkeit ist eine Komplexität von Funktion, Emotionalität und Repräsentation, die als Ganzes wahrgenommen eine spezifische Form des Gesellschaftlichen darstellt. Löw spricht hier mit Anthony Giddens von räumlichen Strukturen, die als Regeln und Ressourcen[22] zu fassen sind. Das heißt, dass mit ihnen nicht nur soziale Beziehungen ausgehandelt oder codifiziert, sondern gleichzeitig auch mittels materialer Medien Machtdiskurse entschieden und vorgetragen werden.

Die jeweilige Bürokultur, das Setting eines Büros, lese ich mit Clifford Geerts als Dichte Beschreibung, die Kultur als ein komplexes, zum Teil widersprüchliches ,dichtes’ System von Strukturen versteht, die nicht aus einem großen verbindlichen Referenzrahmen gedeutet werden können. Wohl gibt es Kohärenzen in jeder Beschreibung von Kultur, aber es sind gerade die Inkohärenzen, die die Realität von Kultur – hier als Mitteilungsform Büro dynamisieren. So warnt Clifford Geerts davor, die „Erforschung von Kultur von ihrem eigentlichen Gegenstand, der informellen Logik des tatsächlichen Lebens, abzuschneiden.“
[23]

Insofern ergeben sich die Lesungen der Büroräume als Interpretation eigentlich erst an den Bruchstellen und Unvereinbarkeiten zur Fakultät als wissenschaftskulturellem Referenzrahmen:


Typus 1: Die konservierte Moderne

Rationalität und Elaboriertheit – die ambivalente Chiffre der Moderne prägt die Räumlichkeit eines Kollegen der Mathematik. Er war zum Zeitpunkt der Befragung einer der dienstältesten Kollegen an der Fakultät und ist inzwischen pensioniert. Das Mobiliar des Büros entstammt der Erstausstattung aus den 1960er Jahren und ist in keinem Detail verändert worden, d.h. eine Neuausstattung ist zu keinem Zeitpunkt in Anspruch genommen worden. Es bedient die klare funktionale Sprache der Moderne; der Raum ist sparsam möbliert und in klar voneinander getrennten Funktionszonen bespielt: Schreibtisch, Besuchertisch und eine Designerliege aus den 1950er Jahren, die kurz vor der Befragung aufgrund von Alter zusammengebrochen war. Materielle Kultur, am Beispiel einer Wandtafel, repräsentiert den Rationalitätstypus (Abbildung 16): Hier können Formeln notiert und gelöscht werden. Einschreibung und Auslöschung sind als tabula rasa, die purifizierte Oberfläche der Moderne
[24], für dieses Büro konstitutiv. Garant für diese perpetuierende Purifikation ist auch der gummibelitzte Scheibenwischer, mit dem die Tafel streifenfrei gewischt werden kann und der immer griffbereit neben der Tafel lagert. Ein Gerät, das im Laufe der Jahre als Grundausstattung für alle Kollegen dieses Institutes übernommen wurde.  Ein Plakat von Mies van der Rohe (Abbildung 17) ikonisiert diese Rationalitätsgeste des Raumes. Ein zweites Plakat daneben (Abbildung 18) zeigt die elaborierte Gegenthese: Der Rote Ferrari aus dem Jahre 1953. Dieses Büro ist ohne Zweifel ein Büro der ästhetischen Moderne, es transportiert in seiner Strukturiertheit und Klarheit die potentielle Ästhetik des Schumacherschen Baues und mag gerade darin heute eine Re-Interpretation und Re-Affirmation des 1950er-Jahre Baues sein.


Typus 2: Die imaginierte Moderne – Die Schmetterlingssessel

Ein zum Zeitpunkt der Befragung schon pensionierter Kollege erinnert sich an die etwa zeitgleich gebaute Pädagogische Hochschule in Wuppertal, deren Eingangsbereich mit roten Schmetterlingssesseln ausgestattet war. Ich konnte diesen Hinweis nicht verifizieren, verwende ihn jedoch als Gegenimagination zum Balkan:
Im Eingangsbereich der Fakultät stehen keine Stellwände, keine überdimensionalen Abfalleimer, keine Abstellobjekte, die gelben Kachelwände sind noch intensiv gelb und auf ihnen kleben keine Flyer. Die kühle Materialsprache, der klare Raumeindruck wird konterkariert von roten, an den Seiten ausladenden Schmetterlingssesseln. In der Ästhetik der Moderne wäre dies auch heute, in der Nachmoderne, ein Ausdruck von pointierter Selbstdarstellung, die diese Fakultät zu einem Ort machen könnte. Ein Ort, an dem Eskapismus und Fluchtbewegungen nicht nur zum Stillstand kommen, sondern auch Potentiale wissenschaftskultureller Generierung freilegen könnte. Es müssten keine Schmetterlingssessel sein. Es genügt, den Eingangsbereich in seine anfängliche Leere zurückzubauen. Hierzu ist mit den Studierenden der Fakultät ein Konzept erarbeitet worden (siehe: http://www.heidi-helmhold.de/74-0-laufende-projekte.html), das im Juli und September 2009 zur Umsetzung kommen wird. Für die Länge einiger Wochen werden Postkästen, Infotafeln und Infotische, Benjaminus Ficus, Cola-Automaten und Kopierer aus dem Foyer entfernt. Mit dem Instrument der Seh-Unterbrechung wird die architektonische Anfangssituation wieder hergestellt, die als verfremdete Situation räumlich neu erschlossen werden muss. Gleichzeitig werden die Objektnutzungen in soziale Handlungsfelder übersetzt – statt der Briefkästen gibt es Briefträger, Cola-Automat wird Milchbar, ein Ausrufer ersetzt die Infotafel – dies alles in der Intention, die stumme Beziehung zwischen Nutzer und Objekt in affektive Interaktion zu übersetzen.


Typus 3: Das Büro als Archiv (Abbildungen 19-25)

Ein Kollege aus der Kunst beschreibt die Fakultät in ihrem Hang zum Chaotischen. Der Ort der Lehre bildet in Selbstreferentialität die Situation des späteren beruflichen Umfeldes der dort Studierenden ab: den schulischen Alltag. Die Bedingungen für Biographieentwicklung der Studierenden wie die von Schülern laufe nicht in gesetzter planbarer Ordnung – das Chaos will geleistet sein. Das Chaos als das Andere der Vernunft. Die Angst vor einer Balkanisierung ist auch die Angst vor dem nicht Kontrollierbaren und vor dem Nicht-Beherrschbaren des Lebens schlechthin.
 

„Ein zukünftiger Lehrer“, so der Kollege, „muss das begreifen, ein zukünftiger Kunstlehrer umso mehr. Diese Fakultät beherbergt keinen akademischen Kunstbetrieb, in dem auf einen Professor etwa 7 Studierende kommen, die ihren Professor dann etwa ein bis zweimal im Semester zu sehen bekommen. Diese Fakultät bereitet die Studierenden auf Kinder vor, die sich für MTV, Sex und Freundschaften interessieren – die Legitimation für ein solches Klientel muss täglich neu geschaffen werden.“[25]


Sein Büro ist Archiv vieler Materialien als Fenster von Weltsicht. Hier macht er in langen Gesprächen Werkanalysen und Studierendenbetreuung. Dingkulturell ist sein Büro auch Sediment seines eigenen Lebens und diese Sedimentierungen sind zur Besichtigung freigegeben. Sein Leben als Hochschullehrer hat sich hier abgesetzt und setzte sich zum Zeitpunkt der Befragung täglich neu ab. Büro als Biographiearbeit. Kultur im Sinne der persönlichen Spurensuche, die Biographie als Arsenal. Einer der wichtigsten Ausstellungsmacher der letzten dreißig Jahre, Harald Szeemann, hat 1963 den Begriff der Individuellen Mythologie geprägt. Als Redakteur der documenta 5 radikalisiert er 1972 in Kassel die Fusion von Kunst und Leben. In diesem Sinne will der Kollege sein Büro als eine interpretative Schnittmenge von biographischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Biographie verstehen, die nicht nur er, sondern auch diese Fakultät generiert hat. Architektur und Biographie kreuzen sich hier. Und eben darin ist dieses Büro auch Teil der Beschimpfungsmasse der Zuschreibung Balkan. Der Kollege ist inzwischen pensioniert und hat in einer studentischen Projektarbeit die Sedimente seines Büro-Archivs abtragen lassen. Dies als Geste von räumlicher Purifikationsgeste an den Nachfolger. Zum Zeitpunkt der Befragung war es nicht selten an die Initiative der neuberufenen Professoren gebunden, sich von den Sedimentierungen des Vorgängers zu befreien. Eine Kollegin musste den ihr zugewiesenen Raum von einer 30 Jahre alten Nutzungsschicht freiräumen, bevor sie ihn auch nur betreten konnte. Ihr Vorgänger hatte hier im Laufe seiner Dienstzeit eine Haldeninstallation angelegt, die aus Studierendenarbeiten, Liebhaberstücken, Schriftsätzen und weiter nicht zu definierenden Objekten bestand. Man konnte zwei Schritte in diesen Raum hineingehen – die Organisation seiner Räumung nahm mehrere Wochen in Anspruch. Nach der Räumung war es der beißende Geruch, der diesen Raum zunächst weiterhin unbewohnbar machte. Mit dieser Erfahrung bestätigt diese Kollegin die Zuschreibung von Balkan: Ein unzugänglicher Ort, versifft und heruntergekommen. Insgesamt empfindet sie es als eine Zumutung, an einen solchen Ort als Professorin berufen worden zu sein.


Typus 4: Fakultät und Gegenraum (Abbildungen 26-29)

Den neu berufenen Kolleginnen und Kollegen steht im Rahmen der Berufungsverhandlungen ein Etat für Neuausstattung des Büros zur Verfügung. Die Abteilung Zentraler Einkauf nannte dafür die Parameter (Stand 2001): Verlegen von Teppichböden, graue Gardinen als Seitenschals und weiße Stores, seltener auch Lamellenvorhänge, der Trend zum gardinenlosen Büro war zum Zeitpunkt der Befragung anhaltend. Die Ausstattung an Büromöbeln sah 2001 folgende Standards von Möbelausstattung vor:
 

Arbeitstischkombinationen in Winkelverkettung mit verschiedenen Eckelementen, Rechteckplatten und ‚Besprechungsansätzen’, alternativ Arbeitstischkombinationen mit verschiedenen Rechteckplatten in Linearverkettung, Besprechungstisch/Konferenztisch/ Konferenztischanlage. Alternativ ein modular aufgebautes Tischsystem mit passenden RollContainern, Arbeitstisch für Bildschirmtätigkeit mit Schreibarbeiten als Einzelplatzlösung mit verschiedenen, ergonomisch sinnvollen Freiformplattenversionen. Dazu Schrankwände in Korpusbauweise mit einem durchgängigen und einheitlichen Rastermaß“.[26]


Die Abteilung Einkauf testet etwa alle 10 Jahre ihr Sortiment in den Büros der Mitarbeiter selbst aus. Strapazierfähigkeit und Belastbarkeit sind oberste Kriterien, die es auch verhindern, das Ikea-Büro-Möbel-Programm in die Universitätsbüros einziehen zu lassen.  Die neuberufenen Kolleginnen und Kollegen können zwischen den oben vorgestellten Elementen wählen. Und ihnen obliegt die Auswahl der Oberflächen: Die der Stuhlbezüge – grau, schwarz, blau und rot – und die der Möbel – Holzoptik, weiß und grau. Der Trend 2001 war helle Optik. Eiche und Nussbaum waren als Hang zum Gediegenen allerdings in der Palette der Anbieter zukünftig wieder vorhanden. Eine Signatur von Balkan kann in den neueingerichteten Büros nicht ausgemacht werden. Ganz im Gegenteil sind es homogenisierte Entwürfe (Abbildungen 26-29) von gegenkulturellen  Arbeitsräumen, die im Mobiliar nur in Details wie Oberflächen, Farben oder Formen variieren. Entscheidend ist hier die Übereinkunft in die Ähnlichkeit der Andersheit – es ist wichtig, eine andere Räumlichkeit als die des Fakultätsbalkans zu bewirtschaften und hierin fungiert das Neue als Ressource für Immunität gegen Balkanisierung.


Typus 5: Refugium (Abbildungen 30-32)

In drei der besuchten Büros fanden sich Modelle so genannter Ruheliegen und ein Sofa. Letzteres agiert als ästhetische Antithese zum eigenen Stilempfinden, ein Erbe aus glanzvollen Wirtschaftswunderzeiten der Schwiegereltern. Im Privatbereich des Kollegen würde es keine Aufstellung finden. Das Sofa dient als Arbeitsplatz – in entspannter Haltung ein Buch lesen - als Ort für eine Ruhepause wird das Sofa ebenfalls genutzt. Alle drei Liegemöglichkeiten gehören männlichen Bürokollegen und wurden zögerlich als im Einsatz befindlich gekennzeichnet. Ein vierter Kollege beschrieb den Verlust einer so genannten H-4-Liege
[27] im ‚Knoll-International-Design’ aus der Erstausstattung der Fakultät: Sie diente ihm lange Jahre für einen kurzen rekreativen Mittagsschlaf und ist beim Besuch eines Kollegen in dem Moment  zusammengebrochen, als dieser auf der viele Jahre dienlichen Liege Platz genommen hatte.

Stefanie Stegmann zitiert in ihrer kulturwissenschaftlichen Studie zur Institution Universität Über das Outfit von Wissenschaft aus einer Studie von Friese und Wagner, dass das Sofa keinen Ort im Kontext von Hochschule und Universität habe, da es nicht mit Produktivität verknüpft werden könne, denn
 

„... unvorstellbar ist eine Forschungseinrichtung, in deren Räume die Wissenschaftler sich in tiefen Fauteuils rauchend und trinkend müßig ausstrecken, in die Leere oder in ein Buch starren und dabei Musik hören.[28]


Die Effizienzsteigerung eines solchen Arbeitsmittels ist, so Stefanie Stegmann in dieser Studie, noch nicht erkannt worden. Sie selbst aber hat in ihrer Untersuchung an der Universität Oldenburg bezüglich des Einsatzes von Ruhemöbeln in den Büros festgestellt, dass Frauen diese Möbel zwar aufstellen, aus Gründen der Unschicklichkeit aber nicht zum Rekreationsschlaf nutzen. Die männlichen Kollegen hingegen hätten damit keine Probleme.


Typus 6 – Der Ort der Ferne (Arbeitsstellen)

Ein Kollege der Soziologie hat seinen Arbeitsschwerpunkt in der Entwicklungsländerforschung. Er hat einige Jahre an amerikanischen Universitäten verbracht und zwei Jahre für die UN in Rom gearbeitet. Zum Zeitpunkt der Befragung hat er außerhalb des Fakultätsgebäudes Büros in einer eigenen Arbeitsstelle. Der Typus Arbeitsstelle wurde in 1970er Jahren für größere Forschungsprojekte geschaffen, für die innerhalb des Fakultätsgebäudes keine Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Arbeitsstellen zur Inkunabel einer exterritorialisierten besseren, weil wissenschaftsintensiveren Fakultät.

Der Eingang zum Trakt dieser Arbeitsstelle ist mit einer holzgeschnitzten Türe aus Nigeria markiert (Abbildung 33). Die Schnitzereien in den Kassetten schildern Handwerke, wie sie im informellen Sektor in Nigeria vertreten sind. Besetzen die Arbeitsstellen der Fakultät ohnehin den anderen balkanfernen Ort, so fungiert diese Türe zusätzlich als Screen für die Forschungsgebiete dieses Arbeitsstelleninhabers: Der Informelle Sektor ist ein Arbeitsschwerpunktes des Kollegen. Wie diese Türe so sind alle Medien der Materiellen Kultur in diesem Büro als Repräsentation von Ferne und Andersheit codiert – mehrere Masken, zum Beispiel eine Gouro-Maske (Abbildung 34) aus Elfenbeinküste und ein roter marokkanischer Webteppich auf dem Boden (Abbildung 35) von einer Reise aus den 1960er Jahren. Der Kollege verfügt wie alle Arbeitsstellenbesitzer über ein Büro im Fakultätsgebäude, das jedoch lediglich für Sprechstunden oder administrativ genutzt wird – ihre forschungskulturelle Verortung findet ausgelagert statt.


Materielle Kultur und Spacing – Die Studierenden

Seit dem WS 2007/2008 befragen Studierende am Institut für Kunst und Kunsttheorie in einem Lehr-Lernforschungsprojekt die Raumsituation der Fakultät. So werden bspw. im laufenden Sommersemester 2008 in Projektgruppen konkrete situative und räumliche Situationen erhoben. Schon in Anmutungsschilderungen auf seminaristischen Diskussionsforen wird deutlich, dass das Handlungsfeld Studieren an dieser Fakultät an eine zwanghafte Raumzuordnung geknüpft ist. Die sich überlagernden, unstrukturierten Funktionsfelder, die Anmutung des Alten und Renovierungsbedürftigen (Wassereimer in den Seminarräumen und Fluren nach Regengüssen) lässt Studierende ihre Fakultät als einen Ort interpretieren, mit dem sie nichts zu tun haben wollen. Ein Ort, der zur Wissensaufnahme aufgesucht wird, um ihn schnellstmöglich wieder verlassen zu können. Eine Passagensituation, die nicht nur keine Identifikation aufkommen lässt, sondern in noch stärkerem Maße mit Eskapismus beantwortet wird als bei den Lehrenden. In Hörsälen, deren Stuhlreihen nur von zwei Seiten zugänglich sind, werden beispielsweise vorzugsweise die äußeren Ränder besetzt. Alle Studierenden, die später oder zu spät kommen, müssen an den Sitzenden vorbei in das Stuhlbankmittelfeld. Diese Plätze gelten unter den Studierenden als die ‚Loser’-Plätze, weil ein Gehen vor Ende der Veranstaltung praktisch ausgeschlossen ist. Das betrifft auch das Ablegen von Winterkleidung oder Taschen, da die DIN-A-4 tiefen Tischbänder lediglich in 60 cm Handlungsbreite bespielt werden können, daneben beginnt schon das Hohheitsgebiet des Nachbarn.
[29] Der Fußraum ist so eng, dass die Kollision mit Metallstangen notorisch ist und darüber hinaus die engen Maße der Sitze dem heutigen Distanzierungsbedürfnis seiner Nutzer nicht mehr entsprechen, ein Aneinanderstoßen mit den Armen des Nachbarn wird als unangenehm empfunden. Die Hörsäle sind dunkel, dies konkret als technische Unterleuchtung, aber auch als emotionale Mitteilung an die Nutzer. Die Decken sind darüber hinaus mit Netzen abgehängt, weil die Gefahr besteht, dass Lampen aus ihrer Halterung fallen könnten. Die akustische Situation ist dramatisch schlecht, da die Lehrenden mit unausgesteuerten Mikrofonanlagen arbeiten, die wahlweise zu leise sind oder Zerrtöne produzieren. Zudem können die Klimaanlagen die übervollen Hörsäle nicht belüften und die Luftqualität ist aufgrund dessen teilweise so schlecht, dass sich nach kurzer Zeit Müdigkeit und Raumhitze einstellt.

Diese kumulierten Nutzungsdefizite definieren den universitären Raum als Behälterraum
[30], in den Studierende bildwörtlich hineingepresst werden. Im Rahmen der Lehr-Lernforschungsseminare sind Studierende aufgefordert worden, ihre Raumanmutung zeichnerisch umzusetzen[31] (Abbildungen 36-38) und diese Zeichnungen führen ebendiese Rede von Enge, Dunkelheit, Behälterräumlichkeit. Die Nutzungsdefizite lassen für die Studierenden eine Raumanmutung  zwischen Missstand und Notstand entstehen. Räumliche und gesellschaftliche Strukturen sind hier insofern identisch, als in die Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer nicht oder nur zögerlich investiert wird. Schon als Studierende gehören sie zu einer Art ghettoisierter Klientel. Dabei ist dies kein Notstand, der in einen Wiederaufbau führen würde, wie ihn die Universität in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg erlebte. Die Missstände damals mögen aufs Ganze gesehen viel größer gewesen sein, aber sie waren von der Intention eines kollektiven Aufbaus und damit von Zukunft hinterblendet. Im Falle der Humanwissenschaftlichen Fakultät gibt es keine Aufbaustimmung, sondern in neuester Zuschreibung die Gewissheit, kollektiv zum bildungstechnischen Ausschuss zu gehören – die Exzellenz findet schon immer woanders statt.

Die Interpretation des Schumacher-Baues, der in den 1950/1960er Jahren in der Signatur von Moderne angetreten war, wird von der Signatur von Marginalisierung überlagert, die zweierlei bewirkt: Die historische Moderne kann nicht mehr in Erscheinen treten, nicht mehr gelesen und nicht mehr prozessual umgeformt werden. Und eine Corporate Identity kann sich nicht aufbauen, weil qua Verfall keine Zukunft vermittelt wird. Dies ist im Fall der heutigen Humanwissenschaftlichen Fakultät umso bedauerlicher, weil die Unaufgeregtheit ihrer Fassadengestaltung, die Licht- und Materialintensität ihrer Innengliederung und die unaufdringliche Dynamik des Raumprogrammes eine deswegen wohltuende Ästhetik vermitteln könnten, gerade weil sie keinem nachmodernen Egozentrismus frönt, der den Nutzer am choreographischen Gängelband eines architektonischen Entwerfersubjektes tanzen ließe.


Die Fakultät und ihr Potential an Realität

Die Humanwissenschaftliche Fakultät ist als Bau ein Beispiel von Qualitätsmoderne. Sie dokumentiert, 1955 begonnen, als Campus wie in seinen Raumnutzungsangeboten das Gegenteil dessen, was die ideologische erratische Bauweise des Nationalsozialismus als pädagogische Architektur intendierte und flächendeckend zwangsverordnet hatte. Dieser Bau ist in seiner Offenheit, seiner Materialsensibilität, seinen verglasten Innenhöfen und deren Angebot an Rückzug wie in seiner Öffnung zur Naturumgebung eine Inkunabel von Modernität, die es vielleicht noch zu entdecken gilt. Die aber in dieser Form ein Statement ist und auch Aussage darüber gemacht hat, was sie nicht sein will: Indoktrinierung von Wissen und Wissenschaftskultur einer NS-Zeit, deren Bauvorschriften Hans Schumacher wie viele seiner Architektenkollegen bis 1945 künstlerisch deprimiert hatte. Ein Bau, der ohne Zweifel der Sanierung bedarf und der diese Sanierung möglicherweise erhalten wird unter dem gegenwärtigen Dekanat, das hier in die Offensive gegangen. Eine professionalisierte Berufungspolitik bringt zunehmend Kollegen und Kolleginnen an diese Fakultät, die zunehmend den Balkan überschreiben mit der Kartographie ihrer eigenen, anderen Wissenschaftskultur. In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass wir gegenwärtig einen Rekonstruktionsboom historischer Architektur erleben – Rekonstruktion von historisierenden Kulissen in Innenstädten und Nachbau von Stadtschlössern (Braunschweig, Berlin) als „Sehnsucht nach Geschichte und hilflose Geborgenheitsversprechen“
[32] – ist dieser Bau eine Realität. Eine Realität von Ort und Zeit und gelebter Baubiographie. Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt hat am 11. Juli 2008 in seinem Vortrag vor der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam den physischen Körper einer Architektur angemahnt:
 

„Reale, am Ort erhaltene Zeugnisse der Geschichte dagegen vermitteln eine Erfahrung, die man existenziell nennen darf. Diese Steine ... haben mehr gesehen als unsere eigenen Augen. Sie konfrontieren uns mit dem, was älter ist als wir selbst. Sie geben uns ein Gefühl von Dauer, das keine neu erfundene Geschichtskulisse liefern kann. ... Diesen Trost spenden sie nur so lange, wie ihre authentische Substanz nicht durch die grassierende Faksimilekultur entwertet worden ist.“[33]


Insofern hätte diese Fakultät ihre Inkorporalisierung durch ihre Nutzerinnen und Nutzer vielleicht erst noch vor sich.



 


Anmerkungen:

[1] Pierre Bourdieu (1997), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, in: Franz Schultheis, Louis Pinto, édition discours, Band 9, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, S. 166.

[2] Werner Lippert (2007), Die Beschreibung von Bildern ersetzt die Beschreibung von Architektur, in: NRW-Forum, Kultur und Wirtschaft Düsseldorf, Hg, (2007), Spectacular City. Architektur/Fotographie, o. S.

[3] wie überhaupt die photographische Repräsentation der architektonischen Moderne deren Beschreibungsnomenklatur wesentlich geprägt hat. Siehe dazu Lippert a. a. O.

[4] Dies im Sinne eines Formenkanons wie „offene Eingangsbereiche, transparente Fassaden, kreisförmige Anordnung der Sitzreihen“, der nicht mehr auf Repräsentation von politischer Einheit zielt. (Peter G. Richter, Katrin Goller (2008), Raumsymbolik, in: Peter G. Richter, Architekturpsychologie, Lengerich, Berlin u. a.: Pabst Science Publishers, S. 163)

[5] Wolfgang Kemp, Hg (1996), In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Berlin: Merve, S. 39.

[6] Heidi Helmhold (2008), Entgrenzte Räume: Embodied Mind. Heterotopien zum universitären Lehr-Lernraum, Köln: Seminardokumentation,
als PDF unter: www.heidi-helmhold.de, S. 14.

[7] Bernhard Leitner (1989), Das Haus in Bewegung, in: Wittgenstein. Biographie.Philosophie.Praxis. in: Wiener Secession, Hg, (1989), Ausstellungskatalog der Wiener Secession, 13. September - 29. Oktober 1989, Wien, S. 166-198, 172.

[8] Otto Kapfinger (1989), Kein Haus der Moderne. Entstehung und Geschichte des Palais Stonborough, in: Wiener Secession, Hg, a. a. O. S. 215-236, 231.

[9] Ludwig Wittgenstein (1984), Vermischte Bemerkungen, in: L. Wittgenstein, Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 8, S. 503, zitiert nach Kapfinger, a. a. O. S. 231.

[10] Susanne Willen (1996), Der Kölner Architekt Hans Schuhmacher. Sein Lebenswerk bis 1945, in: Günther Bindung Hg, (1996), 57. Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Institutes der Universität zu Köln, Köln: Schriftenreihe des Kunsthistorischen Institutes der Universität zu Köln, S. 160-161.

[11] ebda, S. 336-337.

[12] ebda, S. 263.

[13]Dieser Zustand ist der Endpunkt einer seit Jahrzehnten geführten, im Grunde bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgenden Auseinandersetzung. Die Grundlinie des Konfliktes zwischen Universität und ‚niederer’ LehrerInnenausbildung bzw. deren Institutionen ist der Dualismus von gymnasialer (Elite-)Ausbildung und (elementarer) Volksschullehrerausbildung.“ Dieter Asselhoven, (1988), Fakultät 2. Klasse, Zur Geschichte der Lehrerausbildung, in: Wolfgang Blaschke u. a. Hg, (1988), Nachhilfe zur Erinnerung. 600 Jahre Universität zu Köln, Köln: Pahl-Rugenstein, S. 159-171,159.

[14] Michel Foucault (1969; 1986), Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.: stw, S. 62.

[15] Slavoj Zizek, (1999), Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin: Verlag Volk und Welt, S. 7-8.

[16]Die traditionelle Trennung von LAB (Lehrerausbildung, erg. HH) wurde durch die PH-Integration zwar beseitigt, der alte Dualismus lebt aber weiter – und im Grunde genommen in einer verschärften Fassung: ... Dies geschieht durch die Aufgabe und den Verlust einer wissenschaftlich orientierten Pädagogik, die als Analyse von subjektiven und kollektiven Prozessen der Aneignung und des Umgangs mit Kultur definiert werden muß“ Asselhoven (1988), S. 168

[17] Während einer Amtszeit als Prodekanin beschimpfte mich ein Kollege von der WiSo-Fakultät mit dem Hinweis, ich sollte doch in meiner Fakultät erst einmal putzen. Das Andere der Humanwissenschaftlichen Fakultät wurde in dieser Rede zum Synonym für die schmutzige Fakultät.

[18] die immerhin in den 1980er Jahren in ihren älteren Trakten unter Denkmalschutz gestellt worden ist von der ehemaligen Kölner Stadtkonservatorin Hiltrud Krier.

[19] Victor Buchli (2006), Architecture and Modernism, in: Christopher Tilley u. a. (2006), Handbook of Material Culture, London, Thousands Oaks, New Dehli: SAGE Publications, S. 254-255.

[20] siehe die architekturpsychologischen Verhaltensperspektiven nach Peter G. Richter, Hg, (2008), Architekturpsychologie. Eine Einführung. Lengerich, Berlin u. a.: Pabst Science Publisher, S. 22.

[21] Martina Löw (2001), Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: stw, S. 158-159.

[22] ebda, S. 167.

[23] Clifford Geerts, (1999), Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt: Suhrkamp, S. 25.

[24] Le Corbusier und der „Look of Cleanliness“, s. Mark Wigley (1995), White Walls, Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture, Cambridge, Massachusetts, London: The MIT Press 1995, S. 5.

[25] aus dem Interviewmaterial der Verfasserin.

[26] aus den ‚Allgemeinen Produktanforderungen’, Zentraler Einkauf Universität zu Köln, Stand 2001.

[27] H4 bezeichnet eine Besoldungsgruppe alter Ordnung.

[28] Stefanie Stegmann (2005), 'got the look!' – Wissenschaft und ihr Outfit. Eine kulturwissenschaftliche Studie über Effekte von Habitus, Fachkultur und Geschlecht, Münster u. a. : Lit Verlag, S. 122.

[29] siehe zur Crowdingforschung: Stefan Schönborn & Frank Schumann, in: Peter G. Richter (2008), S. 261-292, Kap. ‚Dichte und Enge’.

[30] Martina Löw, (2001), S. 112-113.

[31] Aus dem Recherchematerial der Studentinnen Merle Weber und Katharina Rosauer, WS 2007/2008.

[32] Wolfgang Pehnt (2008), Die Stunde der Wiedergänger, Zum Streit um Stadtschlösser, Lindenoper, Museumsinsel und „New Urbanism“: Wolfgang Pehnt über die Sehnsucht nach Geschichte in Architektur und Städtebau, Süddeutsche Zeitung vom 14. Juli 2008.

[33] a. a. O.

 


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