Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Sabine Brinitzer
Kaiserslautern
  Über die Komplexität des Interpretierens von „Organischer Architektur“

 

    Die Interpretation „Organischer Architektur“ stellt sich insgesamt komplex dar, da diese spezifische Art des Bauens in ihrer unterschiedlichen und vielgestaltigen Ausprägung, das heißt in ihrer Form, Konstruktion und Materialität in Bezug zur Funktion, vor allem von einer jeweils individuellen Relation zur Natur bestimmt ist.

Deshalb ist bei der Interpretation organischer Architektur zu berücksichtigen:

1.      die in den Schriften der jeweiligen Architekten bereits enthaltene Interpretation der Natur zur Legitimation und Definition ihrer „organischen“ Architektur,

2.      das realisierte Werk, das von seinem Architekten als daraus resultierende, spezifisch „organische“ Lösung der Bauaufgabe interpretiert wird und

3.      die sich daraus ergebende Aufgabe der Interpretation als kritische Revision, indem die individuelle Wahrnehmung der Natur als Vorbild architektonischer Konzeption, die praktische Umsetzung naturanaloger Konstruktions-, Gestaltungs- oder Funktionsweisen und die durch Codes tatsächlich vorgegebene Interpretation in Relation zur Natur zu überprüfen ist.[1] Um dies zu verdeutlichen, soll jeweils eines der bekanntesten Bauwerke von Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Hans Scharoun und Alvar Aalto als Beispiele „organischer Architektur“ unter dem Aspekt ihrer Interpretation vorgestellt und kommentiert werden.

Dazu soll bei dem bekannten Kuhstall des Gutshofes Garkau, der 1924 von Hugo Häring geplant worden ist, begonnen werden. Zunächst seien einige wenige Aussagen von ihm wiedergegeben, in denen er die Relation zwischen der Natur und seiner Arbeitsweise definierte. Er schrieb 1925:

In der natur ist die gestalt das ergebnis einer ordnung vieler einzelnder dinge ... in hinsicht auf eine lebensentfaltung und leistungserfüllung sowohl des einzelnen als auch des ganzen. (...) Wollen wir also formfindung, nicht zwangsform, so befinden wir uns im einklang mit der natur“.[2]

Aus der Anschauung natürlicher Systeme interpretierte er die Form als Endprodukt, das heißt als Konsequenz innerer, lebendiger Funktionsabläufe und forderte deshalb im Gegensatz zur bisherigen, geometrisch vorbestimmten Architektur ein „Bauen“, das nicht von einer vorgefaßten Form ausgeht, sondern sie – im Sinne eines organischen Funktionalismus und in Analogie zur Natur – aus der Funktion heraus entstehen lässt.[3] Dass er damit auch das Nachspüren der „Wesenheit“ eines Bauwerkes verband, die letztlich zur „individualität des gestalteten“ führe[4], geht aus seiner Erklärung hervor:

Individuieren heißt, nach dem gesetz des eigenen wesens die gestalt bauen, nicht nach dem gesetz gegebener formen, also von innen her, nicht von außen her gestalten“.[5]

Im Zusammenhang mit dem von ihm angestrebten, analog zur Natur interpretierten „Bauen“ sei auch auf seine Differenzierung zwischen „Organwerk“ und „Gestaltwerk“ hingewiesen, indem er sich erklärend dazu auf den menschlichen Körper berief, denn er legte dar:

„(Das) organwerk des menschen ist immer dasselbe, es ist das objekt des anatomen. Das gestaltwerk hingegen ist überaus verschieden und nicht zweimal dasselbe. Im gestaltwerk erscheint erst die wesenheit des menschen“.[6]

Somit bedeutete für Häring hinsichtlich des „Bauens“ das „organwerk“ nur das „technische werk“, das zum Erhalt und Aufbau des „gestaltwerkes“ führe. Denn das „gestaltziel allen bauens“ sei, „ein organ des wohnens, des lebens, des arbeitens zu sein“. Letztlich wies er jedoch darauf hin, dass das „organhafte bauen ... nichts mit der nachahmung von organwerken der geschöpflichen welt zu tun“ habe, das heißt nicht auf eine Mimese der Oberfläche abziele. Denn „die entscheidende forderung“ sei, „daß die gestalt der dinge nicht mehr von außen her bestimmt wird, daß sie in der wesenheit des objekts gesucht werden muß“.

Um nun auf die Interpretation des Kuhstalles einzugehen, sollen zunächst Härings eigene Erläuterungen vorangestellt werden. Er führte dazu aus:

Als geeignetste form für die aufstallung von 42 stück großvieh wurde eine birnenförmige anlage ermittelt. Das rauhfutter wird von oben auf den futtertisch herabgestoßen, der also sogleich futtertenne ist. Die verteilung des futters ist dadurch sehr vereinfacht.“

Bevor weitere Erklärungen von ihm zitiert werden, sei bereits darauf hingewiesen, dass er den Grundriss des Kuhstalles als „birnenförmig“ beschreibt und damit im Sinne einer naturgewachsenen Form interpretiert, obwohl die tatsächliche Form geometrisch konstruiert worden ist. Der Kuhstall besitzt keine freie organische und auch keine wirklich birnenförmige Gestalt. Wie es aber gerade zu dieser speziellen Form kam, erklärte er erst viel später in einem Interview von 1952, in dem er darauf hinwies, dass, ausgehend von der einfachsten Form der Fütterung – indem man einen Heuhaufen in die Mitte wirft – die natürlichste Form ein Kreis gewesen wäre, den man jedoch nicht zu groß hätte machen können, so dass der birnenförmige Grundriss entstanden sei.[7] Auch die angrenzenden Bereiche des Jungviehstalles, des Rübenkellers und des Häckseltrichters sind zwar von unterschiedlichen, aber ebenfalls geometrischen Grundrißformen bestimmt. Während der Grundriss des Kuhstalles eher als eine Parabel zu lesen ist, deren Äste zur Verjüngung des Raumes zusammengeführt worden sind, erhielt der Rübenkeller eine Bügeleisenform und wurde der Jungviehstall als Halbkreis ausgebildet. Deshalb sind es nicht die einzelnen Formen, die zu biologistischen Metaphern anregen, sondern zum einen die Kenntnis des „organischen“ Konzeptes und zum anderen die unterschiedlichen nach außen tretenden Raumformen, die dem ganzen Bau den Eindruck von „Lebendigkeit“ und „Gewachsensein“ verleihen. Dass dem ganzen Kuhstallgebäude ein funktionales Konzept zugrunde liegt, das sowohl die unmittelbar einfachste Versorgung der Tiere als auch ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zum Inhalt hatte, geht aus Härings weiterer nachfolgenden Erklärung hervor:

Zugleich ist die ausmistung des stalles in einem zug ohne umkehr zu schaffen. Es ist ein weiterer vorzug dieser anlage, daß die tiere sich nicht direkt gegenüberstehen, sich also nicht anschnaufen können, was bei seuchefällen die gefahr der übertragung verringert. Die besichtigung der tiere .... ist in einem rundgang möglich und nicht nur wie üblich von hinten, sondern auch vom kopf. Der zuchtbulle steht ganz frei in einer losboxe“.

Will man nun die Form unter dem Aspekt der Funktion interpretieren, wie es die Theorie und das Konzept Härings vorgeben, findet der Rundgang und damit der durch Bewegung gekennzeichnete, innere Funktionsablauf seinen Ausdruck bzw. seine gestalterische Umsetzung in jener großen Kurve des Bauwerkes, die vom Jungviehstall ausgeht, den runden Teil des Kuhstalles umschließt und bis zum Rübenkeller reicht. Gleichzeitig wird durch ihre ununterbrochene Konturlinie im Grundriss eine organische Verbindung dieser Bereiche anschaulich gemacht. Blundell Jones hatte bereits kommentiert, dass mit einem linearen System funktional das Gleiche zu erreichen gewesen wäre, jedoch hätte in diesem Fall die Anlage keinen überzeugenden Abschluss gefunden; sie wäre ein abstraktes System gewesen, so dass das Kuhstallgebäude seine Individualität und Vollständigkeit, seine organische Ganzheit verloren hätte.[8] Deshalb ist der Kuhstall von Gut Garkau ein Beispiel dafür, dass Häring nicht den formal abstrakten und damit variabel nutzbaren Entwurf anstrebte, sondern die konkrete Gestalt, die er aus dem unmittelbar in Form übertragenen, inneren Funktionsablauf generierte. Zusätzlich war durch die sich verengende Parabelform des Kuhstalles als Endpunkt ein Stall für den Zuchtbullen entstanden, der dadurch gegenüber der Herde eine isolierte und übergeordnete Position erhielt. Dadurch wird auch gleichzeitig seine Bedeutung als Garant für den Weiterbestand der Tiere symbolisiert.[9] Blundell Jones merkte dazu an, dass man sogar versucht sei,

einen Hauch Freudscher Symbolik in den Gegensatz zwischen dem runden und dem spitzen Ende hineinzulesen, die dem weiblichen beziehungsweise dem männlichen Element entsprechen.“[10]

So kann konstatiert werden, dass auch geometrisch konstruierte Formen in der Kenntnis des ihnen zugrundeliegenden „organisch-funktionalistischen“ Entwurfskonzeptes sowie aufgrund ihrer gegenseitigen Zuordnung – womit sie auch gleichzeitig jenen Code besitzen, der die Botschaft des „Organischen“ enthält – einerseits als individueller Ausdruck der spezifischen Funktion und andererseits mit biologistischen Metaphern zu interpretieren sind.

Anders als Hugo Häring, der ein „organhaftes Bauen“ auf der Grundlage der Funktion vertrat, entwickelte Erich Mendelsohn eine „organische Architektur“, die durch fließende, rhythmische und dynamische Formen gekennzeichnet ist und sich als äußere Gestalt bzw. als Hülle manifestiert. Deshalb konzentriert sich ihre Interpretation auf die analoge und metaphorische Relation zur Natur. Im Folgenden soll dazu als prägnantes Beispiel der Einsteinturm in Potsdam aus dem Jahr 1921 herangezogen werden. Die Naturverbundenheit Mendelsohns, die als Impetus seiner architektonischen Formen – auch des Einsteinturmes – geltend gemacht werden kann und sich schon früh in seiner Begeisterung für das Meer zeigte, erwies sich bereits 1910 in einem Brief an seine spätere Frau – die sich mehr zu den Bergen hingezogen fühlte – indem er schrieb:

Ich nehme an, daß Sie noch nie allein bei ihm (dem Meer, S.B.) waren. Denn nur so will es gehört werden, nur so läßt es stille Sinne ein wenig von dem ahnen, was als Urgestaltungskräfte, als geheim webende Mächte in ihm singt und rauscht. (...) Nur in der Bewegung liegt endloser Reiz, nicht aber im Starrsinn der Berge.“[11]

Aus diesen Äußerungen geht nicht nur Mendelsohns Interpretation der Natur hervor, sondern auch, dass er in der Anschauung des Meeres, dem natürlich Lebendigen sein eigenes Vitalgefühl fand und damit jene von Worringer beschriebene psychische Voraussetzung mitbrachte, die dem organischen Kunstwollen zuneigte.[12] Doch auch in den Arrangements von Blumen, den Muschelhörnern oder wirbellosen Tieren entdeckte er „Architektur“ und empfing seine Inspirationen. So erstrebte er die plastische und organische Form bereits damals für die Architektur. 1925 führte er als Bekenntnis seiner Architekturauffassung aus:

Wesentlich für alle in der Baukunst angewandten Gesetzmäßigkeiten ist, daß sie sich zu einem Organismus vereinigen und steigern. Alle Bedingungen: Mauer und Wand, Raum und Fläche, Kontur und Linie, können noch so gut befolgt oder vermieden werden, sie sind keine Rückversicherung für das Gelingen eines Bauwerkes, wenn sie nicht von schöpferischer Hand zum Organismus vereinigt werden. Und Organismus, das ist das selbstverständliche Ineinandergreifen der Einzelglieder, der Raumvorgänge“.

Daraus geht hervor, dass er für ein Bauwerk einen Organismus nach dem Vorbild der lebendigen Natur forderte, der aus vielen Einzelgliedern besteht, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Eine wesentliche Komponente eines Organismus bildete jedoch für ihn die Elastizität, die er – auf die Architektur übertragen – in der Materialität aus Eisen und Beton zum Ausdruck zu bringen suchte.

„ (...) das Prinzip der Elastizität“, so erklärte er 1948, ist „von der Natur diktiert ...Auf seiner Basis funktioniert die Natur in allen ihren Organismen; in ihren materiellen, pflanzlichen und tierischen Reichen; in Mensch und Pflanze. Dies ist die strukturelle Bedeutung von ‚organischer Architektur’.“[13]

Somit plädierte er – nach dem ästhetischen Vorbild der Natur – für die durch den Eisenbeton herstellbare elastische bzw. organische Form in der Architektur.

Obwohl der Einsteinturm bekanntlich nicht – wie ursprünglich geplant – aus Beton, sondern aus Ziegelsteinen gebaut worden ist, wurden an seiner Außenwand mit Hilfe von Ziegelrabitz jene plastisch-organischen Formen hergestellt, die ihm den Charakter einer modellierten Skulptur verleihen. Mendelsohn verzichtete somit nicht auf den angestrebten „elastischen“ Ausdruck, der diesem Bauwerk seine von der inneren Funktion gelöste Hülle aus lebendigen und naturähnlichen Formen verleiht. Denn – als Laboratorium für die praktische Beweisführung von Einsteins Relativitätstheorie errichtet – besteht er konstruktiv aus einem gemauerten Schaft, dessen oberer Kranz als Ringanker aus Beton ausgeführt wurde. Darauf sitzt die Kuppel, in der sich der Coelostat befindet. Innerhalb des Turmschaftes führen Treppenaufgänge an der Innenwand zu den optischen Geräten hinauf und umschließen dabei die nach unten sich verjüngende Röhre, die von einer hölzernen Fachwerkkonstruktion umfasst ist. Gegenüber dieser Vertikalstruktur besitzt der Turm einen horizontal ausgerichteten Sockel- und Unterbau. Hier befindet sich auf der Eingangsebene ein Arbeitsraum und darüber eine Schlafkammer sowie – im unterirdischen Bereich – ein Labor. Dabei ist dieser Bau, über den erkennbaren tektonischen Aufbau hinaus, von organischen bzw. biomorphen Formen und geschmeidigen Oberflächenverläufen bestimmt, die vor allem an den abgerundeten Turmkanten, den höhlenartig ausgebildeten Fenstern und des Einganges festgestellt werden können und bereits mit unterschiedlichen Metaphern interpretiert worden sind.[14] Die Verbindung von Turm und Höhle, die bereits Wolfgang Pehnt hierzu festgestellt hatte,[15] offenbart sich unmittelbar an der Eingangsseite, wo ein „ausgegrabenes Loch“ einerseits in eine mysteriöse Höhle zu führen scheint, während der dahinter aufsteigende Turm einen Aufstieg gen Himmel suggeriert. Dabei liegen solche Eindrücke vom wahren Zweck und der inneren Organisation dieses Bauwerkes gar nicht so weit entfernt, findet doch tatsächlich durch das Herableiten der Sonnenstrahlen in das Labor eine Aktion zwischen der Himmelszone und dem unterirdischen Bereich statt.[16] Andererseits erinnern die Formen des Einsteinturmes auch an Sandhügel und Tiere aus dem maritimen Bereich. Denn der Eingang weckt beispielsweise Assoziationen mit einem geöffneten Fischmaul, mit dem der Turm durch die Imagination einer starken, herausragenden Rückenflosse korrespondiert. Auch die Fenster des Turmes mit ihren nach hinten gerichteten, nischenartigen Ausformungen lassen an den großen Blickwinkel von Fischaugen denken, so dass insgesamt am Einsteinturm die von Charles Jencks gerühmten „angedeuteten“ Metaphern festzustellen sind. Zahlreiche visuelle Codes nehmen Bedeutungen aus dem Bereich der Natur an, und so ist es letztlich die Vieldeutigkeit, die auch die starke Ausdruckskraft des Einsteinturmes bestimmt.[17] Wie unterschiedlich und subjektiv die Empfindungen sind, die beim Anblick des Einsteinturmes hervorgerufen worden sind, wird deutlich, wenn man einige Äußerungen dazu einander gegenüberstellt. So interpretierte Hendrik Theodorus Wijdeveld 1921 den Einsteinturm in einem Zusammenhang von Funktion und Form:

Er steht mit einer Gespanntheit im Winde und dreht den Kopf nach oben, als wollte er die Sonne selbst auffordern, ihre Strahlen herunter zu werfen in die tiefsten Tiefen seiner Erdenkammer ... Er steht und er geht, er ruht und er bewegt sich. Er ist starr und bebt doch voll innerer Gespanntheit.“[18]

Bruno Zevi dagegen beschrieb ihn viel später, 1983, hinsichtlich seiner Masse sowie seiner Suggestion von Bewegung und Gewachsensein mit den Worten:

Hier finden wir das Gegenstück des Kubismus, zur ‚vierten Dimension’, der die Dichte der Materie ablehnt. Beim Einsteinturm ist der Faktor ‚Zeit’ beim Werden des Gegenstandes mit eingeschlossen; er tritt wie ein Erdstoß auf und erobert den Raum im Sturm.“[19]

1998 merkte Wolfgang Pehnt mit dem Blick auf die vertikal und horizontal bestimmte Form über diesen Turm an:

Sprungbereit, eine Sphinx mit vorgeschobenen Tatzen, (...). Machtvoll wirkt sie in der Seitenansicht, fast zierlich, raubkatzenhaft, im Blick von der Höhe herunter auf die Eingangsseite.“[20]

Für Heinrich Klotz erinnerte der Einsteinturm 1989 dagegen ästhetisch sowie unter dem Eindruck der Bewegung „an die weißen Aufbauten eines stromlinienförmigen Ozeandampfers.“[21] Somit wurde der Einsteinturm metaphorisch hauptsächlich unter Heranziehung außerarchitektonischer Objekte interpretiert. Andererseits wurde auch immer wieder versucht, ihn unter Einbeziehung seiner Funktion und in Relation zu Einsteins Relativitätstheorie zu interpretieren. Unter diesem Aspekt schrieb Kathleen James 1998:

Während Freundlich und seine Assistenten versuchten, Einsteins Behauptung zu belegen, daß die Gravitation das Farbspektrum des Lichts verschiebt, unternahm es Mendelsohn, Einsteins grundlegendes Axiom, daß Masse und Energie austauschbar seien, architektonisch auszudrücken.“[22]

und erklärte:

Das Bauwerk scheint beinahe in der Lage, querfeldein in die Landschaft hinauszuschreiten, und zugleich ist es, als ob seine solide Masse von einem Strom unsichtbarer Kräfte zurückgehalten würde, die seine Substanz in virulente Energie verwandeln. Die einladende Kurvatur des Eingangsportals, ihr konkaves Echo am rückwärtigen Fuß des Turmes, die schräg nach unten weisenden Überdachungen der gereihten Fenster: dies alles trägt sehr stark zu diesem Effekt bei.“[23]

Dennoch stellte sie fest:

Mit Ausnahme der Kuppel, deren Funktion als Observatorium leicht erkennbar ist, gibt es nichts an dem eigenwillig geformten Monolithen, der sich organisch aus einer rasenbedeckten Plattform erhebt, was auf seinen wissenschaftlichen Zweck verweist.“[24]

Mendelsohn selbst führte 1923 über den Einsteinturm aus:

Es muß ... sicher zugegeben werden, daß er ein klarer architektonischer Organismus ist. Ganz abgesehen davon, welche Gründe er gehabt hat, gleichzeitig kein reiner Zweckorganismus zu sein. Aber man kann ihm, scheint mir, nicht einen Teil fortnehmen, ohne das Ganze zu zerstören, weder an der Masse, an der Bewegung, noch an seinem logischen Ablauf.“[25]

Ein Architekt, dessen „organische Architektur“ durch eine Aufgliederung und damit durch einen organischen Dekonstruktivismus gekennzeichnet ist, war Hans Scharoun. So soll auch hier an einem seiner prominentesten Bauwerke, der Philharmonie in Berlin, zum einen deutlich gemacht werden, welche Relation zur Natur seinem Konzept zugrunde liegt und zum anderen welche unterschiedlichen Deutungen diesem Bauwerk – sowohl vom Architekten als auch von seinen Kritikern – durch Interpretationen zugeordnet worden sind. Zuvor sei kurz die Entwicklung Scharouns zur „organischen“ Architektur dargestellt: Er hatte sich schon als Schüler für Architektur interessiert und bis zu seinem Studium Entwürfe unterschiedlicher Baugattungen angefertigt, die eine Vorliebe für organische sowie für kristalline Formen zu erkennen gaben. Auch die stilistische Behandlung der einzelnen Bauaufgaben war sehr unterschiedlich, doch insgesamt waren seine Entwürfe von der Verbindung einzelner Teile zu einem organischen Ganzen gekennzeichnet – ein Merkmal seiner Architektur, das sie trotz ihrer Vielgestaltigkeit bis zuletzt beibehalten hat. Nachdem er 1915 aus dem Studium zum Militärdienst einberufen worden war, dort mit fachspezifischen Aufgaben betraut wurde und nach dem Krieg als Architekt zu arbeiten begann, hatte 1920 seine Bekanntschaft mit Bruno Taut und sein Mitwirken in der „Gläsernen Kette“ einen besonderen Einfluss auf sein weiteres Architekturschaffen. Zahlreiche Zeichnungen und Aquarelle aus dieser Zeit zeigen organisch und kristallin geformte Architekturvisionen, die den Themen Volkshaus, Theaterbau und Hallenbau gewidmet sind. Obwohl die Gestalt dieser Entwürfe bereits Assoziationen aus dem Bereich der vegetabilen oder zoologischen Natur evozieren, waren es vor allem die menschliche Gemeinschaft, das menschliche Verhalten und die menschlichen Bedürfnisse, die seine Architektur- und Raumkonzeptionen bestimmten. Eine Aussage über die Form eines Bauwerkes im Hinblick auf seine „Gestaltfindung“ – wie sie auch von Häring vertreten wurde – und noch in Bezug auf die Berliner Philharmonie relevant bleiben sollte, formulierte Scharoun 1925, indem er darlegte, daß „eine typisch neue Grundlage baulicher Organisation die Bewältigung und Führung von fließenden und hier und dort zur Ruhe zu bringenden Menschenmassen“ ist, aus der sich „die Formung von Bahnhöfen, Sportplätzen, Messen, Volksbildungs- und Erholungsstätten“ ergebe.

Und so führte er auch 1963 über das Konzept des Konzertsaales der Philharmonie aus:

Es ist gewiß kein Zufall, daß Menschen sich heute wie zu allen Zeiten zu einem Kreis zusammenschließen, wenn irgendwo improvisiert Musik erklingt. Dieser ganz natürliche Vorgang, der von der psychologischen wie von der musikalischen Seite her jedem verständlich ist, müßte sich auch auf einen Konzertsaal verlegen lassen – das war die entscheidende Überlegung.“[26]

Scharoun als Architekt schilderte somit den Prozess der Gestaltfindung, das heißt er nahm ein natürliches menschliches Verhalten und die sich daraus ergebende bildnerische Form zum Vorbild seines Konzertsaalentwurfs. Der Naturbezug – wenn man ihn als solchen interpretieren will – bestand somit in der ästhetischen Wahrnehmung unwillkürlicher Positionierung von Menschen oder Menschenmassen in einem bestimmten Zusammenhang und ihre Übertragung auf ein räumliches Konzept. Der Konzertsaal der Philharmonie bildet im Grundriß jedoch keinen Kreis, sondern ein unregelmäßiges Oktogon, das heißt der Kreis wurde in verschiedene geradlinige Abschnitte zerlegt, so dass nur das Prinzip der Anordnung um einen Mittelpunkt beibehalten worden ist. Scharoun erklärte dazu:

Das Orchester mit dem Dirigenten wird ... räumlich und optisch zum Mittelpunkt; denn es befindet sich zwar nicht in der mathematischen Mitte des Raumes, wohl aber ist es von allen Seiten von den Reihen der Zuhörer umringt. Es stehen sich nicht sozusagen ‚Produzent’ und ‚Konsument’ gegenüber – die Gemeinschaft der Zuhörer ist lebendig aufgegliedert und in verschiedenen Ebenen um das Orchester gruppiert.“[27]

Daraus geht hervor, dass eine Aufgliederung der Zuhörermassen und damit auch eine Verlebendigung des Innenraumes angestrebt worden ist. Während Blundell Jones davon ausgeht, dass diesem Sitzreihenkonzept eine soziale Komponente innewohnt, indem eine Trennung zwischen guten und schlechten Plätzen vermieden wird,[28] wies Eckehard Janofske auf die Form der menschlichen Gruppierungen als Ornamentik hin, wie sie auch bereits in Scharouns Aquarellen zu finden war.[29] Daraus geht hervor, dass hier einerseits eine auf den Inhalt und die Funktion bezogene und andererseits eine auf die ästhetische Anschauung sich gründende Interpretation vorgenommen worden ist. Doch auch unter einem psychischen Aspekt kann die Konzertsaalgestaltung gedeutet werden, indem der physischen Gruppierung der Zuschauer auf verschiedene, höhere Ebenen ein psychischer Zustand des Schwebens und der Erhabenheit innewohnt. Obwohl Scharouns Sitzreihenkomposition des Konzertsaales das organische Prinzip der Aufgliederung einer Ganzheit in verschiedene Teile inhärent ist, benutzte er keine organisch geschwungenen Formen, sondern huldigte den scharfkantigen Brechungen des Kristalls, den er – Peter Behrens und Bruno Taut folgend – als Kultursymbol und Sinnbild des Gemeinschaftsgefühls mystifizierte. Will man die dynamisch in den Raum vorstoßenden Sitzreihenblöcke im Kontext der Musik interpretieren, könnte damit auf die rhythmischen Bewegungen der ausfahrenden Bögen der Streichinstrumente und auf den „ausbrechenden“ Klang der Töne angespielt worden sein.[30] Scharoun selbst interpretierte den Konzertsaal jedoch in einem metaphorischen Bezug zur Natur, indem er erklärte:

Die Gestaltung folgt ... dem Bild einer Landschaft. Der Saal ist wie ein Tal gedacht, auf dessen Sohle sich das Orchester befindet, umringt von den aufsteigenden ‚Weinbergen’. Die Decke entgegnet dieser ‚Landschaft’ wie eine ‚Himmelschaft’. Vom Formalen her wirkt sie wie ein Zelt.“[31]

Durch die unregelmäßigen Formen sowohl der Einzelelemente wie auch des ganzen Raumes evoziert der Konzertsaal tatsächlich eine Assoziation mit Gebilden aus dem Bereich der Natur. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die begrenzenden Raumwände zwar in ihrer Richtung dem polygonalen Grundriß entsprechen, aber nicht parallel oder spiegelbildlich aufeinander bezogen sind, so daß der Raum – ähnlich einer Höhle – in seiner Begrenzung kaum zu erfassen ist. Denn Scharouns Ziel war, ihn durch seinen Inhalt, seine Atmosphäre erleben zu lassen. So offeriert der Konzertsaal der Philharmonie – wie dies auch schon am Einsteinturm von Mendelsohn festzustellen war – eine Menge an unterschiedlichen Interpretationen, indem durch bestimmte Formen als Codes die Phantasie angeregt und damit eine intensive Kommunikation mit dem Betrachter herbeigeführt wird.

Als letztes Beispiel „organischer Architektur“ im Hinblick auf ihre, dem jeweils speziellen Bauwerk zugeschriebene, unterschiedliche Bedeutung, soll auf das Hochhaus der Siedlung „Neue Vahr“ bei Bremen aus dem Jahr 1958 eingegangen werden, das von Alvar Aalto geplant worden ist. Dass er die Architektur in Analogie zur Natur betrachtete, hatte seinen Ursprung in seinem starken Bezug zu seinem Heimatland Finnland, den Seen und Wäldern und zum Karelischen Haus, das für ihn aufgrund der Holzbauweise, der Integration in die Landschaft und der individuellen, den menschlichen Bedürfnissen entsprechenden, erweiterbaren räumlichen Organisation insgesamt ein Abbild der Einheit von Mensch und Natur und damit ein Vorbild darstellte. Er verglich es mit einer biologischen Zellbildung, die zunächst aus einer einzigen Zelle besteht, aus der sich je nach Bedarf weitere Zellen entwickeln. Dies bedeutet, daß er sich an den ästhetischen und funktionalen Organismen der lebendigen Natur orientierte, die er metaphorisch auf die Architektur übertrug. Denn er bezeichnete die „dem naturgemäßen organischen Leben ähnliche Variierung und das Wachstum als die tiefste Eigenschaft der Architektur[32] und interpretierte damit die Architektur organizistisch in Relation zur Natur. Während sich die von ihm geforderte „Variierung“ beispielsweise in der Vielfalt der Formen und in der Flexibilität der Bauausführung, das heißt in den verschiedenen Wohnungsgrundrissen eines Wohnhauses manifestierte, zeigte sich das „Wachstum“ im Sinne einer Formerweiterung beispielsweise durch in die Landschaft hineinführende Bautrakte sowie in der Anfügung organisch geschwungener oder rhythmisierter Bauelemente an ein rechtwinkliges Gefüge. Dass er seine Architekturkonzeptionen – in einer anderen Art von Naturbezug – in der Hauptsache auf den Menschen mit allen seinen Bedürfnissen ausrichtete, geht aus seiner Erläuterung hervor:

Da Architektur ... alle Gebiete menschlichen Lebens umfaßt, muß wirklich funktionelle Architektur vornehmlich vom menschlichen Standpunkt aus funktionell sein. Betrachten wir die Vorgänge im menschlichen Leben näher, so können wir erkennen, daß die Technik nur als Hilfsmittel, nie aber als klar abgegrenzte Erscheinung auftritt. Rein technischer Funktionalismus kann keine eigentliche Architektur hervorbringen.“[33]

Dass er die Determinierung der Architektur durch die Technik ablehnte und das menschliche Leben, das heißt alle Lebensbedürfnisse zum Ausgangspunkt architektonischer Gestaltung nahm, wird auch in seinem weiteren Bekenntnis über die Architektur deutlich, das lautete:

Ihre Basis sollte das menschliche Leben sein. Der Mensch bewegt sich und lebt darin und kommt täglich seinen Tätigkeiten nach. Man kann also sagen, die Basis der Architektur liege gewissermaßen in einem ‚biodynamischen’ Prozeß. Um diesen Prozeß herum muß die Architektur gebaut werden, als Schale sozusagen, aber eine Schale mit Interieurs und mit allen Dingen, die dazu gehören. Aus diesem wird verständlich, daß es irgendwie unmenschlich ist, die Form zuerst zu schaffen, um hinterher die ‚Biodynamik’ darin unterzubringen.“[34]

Aalto lehnte damit – wie Häring und Scharoun – die vorgefasste Form ab und plädierte für eine Gestaltfindung aus der vom Menschen bestimmten lebendigen, inneren Funktion. Diese machte er jedoch im Gegensatz zu Häring nicht unbedingt an den Bewegungsabläufen fest, sondern – wie dies am Hochhaus „Neue Vahr“ zur Geltung kommen sollte – an den psychischen Bedürfnissen des Menschen beispielweise nach Geborgenheit, Intimität, Sonne oder Naturnähe. So erklärte er als Skeptiker gegenüber dem Hochhausbau:

„(...) Das Ideal wäre, wenn man ein Hochhaus bauen könnte, in dem jede Wohnung dieselben physischen Qualitäten hätte wie ein Einfamilienhaus.“[35]

Aaltos Hochhaus in der „Neuen Vahr“ war vor allem durch seine bis dahin ungewöhnliche geschwungene Front bekannt geworden. Es wurde mit „Flaggen im Wind oder geblähte(n) Segel(n)“ assoziiert und als „typisches Motiv für die Hansestadt[36] interpretiert. Und tatsächlich lässt der visuelle Code diese Metapher schon beim Anblick der überlieferten Entwurfsskizze entstehen, die auch noch auf die dreidimensionale Ausführung übertragbar ist. Charakteristisch an der Entwurfsskizze sind die an der Hauptfront im Grundriss sich wiederholenden Schwünge, die auf eine Inspiration aus dem lokalen und klimatischen Kontext schließen lassen und durch ihre Dynamik an einen unwillkürlichen Naturvorgang, wie zum Beispiel an das Vorbeistreifen eines heftigen Windes erinnern. Niemand weiß jedoch, ob wirklich solche Vorstellungen zu dieser Form führten. Deshalb ist es nahe liegend, die ideellen Schritte zur spezifischen Gestaltung dieses Hochhauses im historischen Kontext zu suchen, das heißt, den Impetus dieser Form aus dem Zusammenhang des bis dahin reichenden Gesamtwerkes von Aalto zu interpretieren. So beschreibt die „Grundform“, die zugleich die kürzere Rückfront darstellt, ein durch rechtwinklige Vor- und Rücksprünge aufgegliedertes Kreissegment und lässt unmittelbar den Gedanken an das damals zur selben Zeit von Aalto entworfene Kulturzentrum in Wolfsburg aufkommen, das eine ähnliche Aufgliederung des Baukörpers zeigt, so dass es sich hier um ein wiederkehrendes und für Aaltos Architektur kennzeichnendes Motiv handelt. Auch die von der Rückfront des Hochhauses sich fächerförmig ausbreitenden Wohngeschosse, die durch die geschwungene Hauptfront begrenzt sind, waren konzeptionell keine erstmalige Erfindung Aaltos und somit innerhalb seines Werkes nicht neu. Denn er hatte 1922 bereits in Tampere eine fächerförmige Chormuschel aus Holz konzipiert, in den 1930er Jahren eine fächerförmige Anordnung von Reihenhäusern geplant und Ende der 1940er Jahre das Auditorium der Universität von Otaniemi im Innenbereich fächerförmig gegliedert. Mit routinierter Strichführung wurde somit in der Ideenskizze zum Hochhaus die Auffächerung der Geschosse sowie die Trennung der Wohnungen aufgetragen. Noch weitaus geübter in der Darstellung erscheint jedoch die skizzierte Hauptfront, da Aalto bis dahin bereits über eine umfangreiche Erfahrung mit gewellten Wänden, zum Beispiel 1939 am Pavillon für die Weltausstellung in New York, 1955 am „Haus der Kultur“ in Helsinki oder auch 1956 an der Kirche in Seinäjoki verfügte. Somit handelt es sich beim Hochhaus „Neue Vahr“ um Formen aus Aaltos Repertoire, die er jedoch auf eine bis dahin noch nicht realisierte Weise kombinierte und auf den Hochhausbau übertrug. So könnte in der fächerförmigen Aneinanderreihung der einzelnen Wohnungen, wie er sie vorher für eine Reihenhaussiedlung angewandt hatte, tatsächlich ein Indiz dafür gesehen werden, dass er die Qualitäten eines Einfamilienhauses auf den Hochhausbau zu übertragen dachte. Durch die fächerförmige Aneinanderreihung der Wohnungen ergab sich jeweils ein sich trichterförmig erweiternder Wohnungsgrundriss, womit eine Öffnung zur Sonne und zur Aussicht zum Ausdruck gebracht werden sollte. Alle Wohnungen waren nach Süden orientiert und erhielten – neben einem großen Fenster – eine in die Fassade integrierte Loggia. Dadurch, dass die Loggien nicht nebeneinander angeordnet wurden, sind sie vom Nachbarn nicht einsehbar und werden Geräusche nicht übertragen. In der Regel wurden – im Sinne einer Variierung – an den Enden des Hochhauses jeweils eine Anderthalb- und Zweizimmer- Wohnung eingeplant, während sich in dem dazwischen liegenden Bereich sieben Einzimmerwohnungen befinden. Ursprünglich sollte dieses Wohnhochhaus über einen damals besonders luxuriösen Standard verfügen, wie Kindertagesstätte, Läden, eine Terrasse, ein Clublokal, eine allgemein benutzbare Loggia sowie auf jeder Etage einen Müllschlucker. Wie Dörthe Kuhlmann bereits anführte, verglich Robert Venturi dieses Hochhaus mit Le Corbusiers Unité d’Habitation, die hier lediglich zugunsten eines größeren Lichteinfalls und verbesserter Aussicht verzerrt worden sei. Dennoch sprach er diesen formalen Aspekten auch eine funktionale Bedeutung zu, indem er die fächerförmige Ausdehnung dieses Gebäudes mit einer Blume verglich, die sich zur Sonne öffnet.[37] Doch kurz nach der Fertigstellung dieses Hochhauses erblickte ein Kritiker gerade in der organisch geschwungenen Form die Bestätigung dafür, dass hier „... das ästhetische Motiv jegliche funktionelle Entscheidung überwog ...“ und bezeichnete sie als „peinlichen Fassadenformalismus.“ Er begründete dies mit dem Hinweis: „Denn hinter diesem graphisch reizvollen Grundrißbild verbergen sich Räume, die bar jeden Wohnwertes sind.“[38] Wie Dörthe Kuhlmann recherchierte, waren die Grundrissaufteilungen jedoch erst während der Planung vorgenommen worden und „entsprachen nicht Aaltos Grundkonzeption des offenen Wohnens.“ Denn ursprünglich „wollte Aalto die Wohnungen nicht durch Wände unterteilen, sondern Bad, Abstellraum und Küche als offene Kojen innerhalb des Wohnraumes gestalten.“[39] So hatte das Ziel einer einprägsamen, eleganten und symbolträchtigen Form die Gestalt des Wohnhochhauses in der „Neuen Vahr“ sicherlich ebenso bestimmt wie Aaltos Vorstellung von unterschiedlichen, privaten und der Sonne und Aussicht zugewandten Wohnmöglichkeiten im Hochhausbau. Denn sie waren maßgebend für die individuelle, organische Form, die ihren Kontext akzentuiert und gleichzeitig über ihn hinausweist. Dadurch wurde das Hochhaus zum Wahrzeichen der Siedlung „Neuen Vahr“ und zu einem frühen Beispiel organischer Hochhausarchitektur.[40]
 


 


Anmerkungen:

[1] Es soll zum einen darum gehen, die organischen Codes in der Formensprache zu entziffern und zum anderen, die Interpretation von Architektur als Metapher sowie als mehrdeutig codierte Botschaft im Hinblick auf die „organische Architektur“ zu analysieren. Siehe dazu: Claus Dreyer: Über das Interpretieren von Architektur. In: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 2. Jg. H. 2, November 1997.

[2] Hugo Häring: Wege zur Form. (1925) In: Jürgen Joedicke, Heinrich Lauterbach (Hrsg.): Hugo Häring. Schriften, Entwürfe, Bauten. Stuttgart, 1965. S. 13.

[3] Siehe Sabine Brinitzer: Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland. Frankfurt/M., 2006. S. 189.

[4] Vergl. Sabine Kremer: Hugo Häring (1882-1958). Wohnungsbau, Theorie und Praxis. Stuttgart, 1984. S. 80.

[5] Hugo Häring: Die Welt ist noch nicht ganz fertig. (1947) In: Jürgen Joedicke, Heinrich Lauterbach, a.a.O., S. 66.

[6] Hugo Häring: Vom Neuen Bauen (1952). In: Ebenda, S. 77.

[7] Hugo Häring in einem Interview. In: Baukunst und Werkform, H. 5, S. 11/12, zit. in Peter Blundell Jones: Prototyp eines organischen Funktionalsimus. Hugo Härings Gut Garkau. In: Archithese, H. 5, 1988, S. 32.

[8] Siehe Peter Blundell Jones, in: ebenda, S. 36, zit. in Sabine Brinitzer, a.a.O., S. 234.

[9] Siehe Peter Blundell Jones, ebenda und Sabine Brinitzer, ebenda, S. 235.

[10] Peter Blundell Jones, 1988.

[11] Erich Mendelsohn in einem Brief an seine spätere Frau Louise vom 16. August 1910 aus Allenstein. In: Oskar Beyer (Hrsg.): Erich Mendelsohn. Briefe eines Architekten. München, 1961. S. 13/14. Zit. in: Sabine Brinitzer, ebenda, S. 269.

[12] Siehe Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. München, 1981. S. 46-50 und in: Sabine Brinitzer, ebenda.

[13] Erich Mendelsohn: Mein eigener Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen Architektur. (1948) Zit. in: Ita Heinze-Greenberg, Regina Stephan: Erich Mendelsohn. Gedankenwelten. 2000, Ostfildern-Ruit. S. 77 und in: Sabine Brinitzer, a.a.O., S. 272/73.

[14] Siehe Sabine Brinitzer, ebenda, S. 303-307.

[15] Siehe Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus. Ostfildern-Ruit, 1998. S. 182.

[16] Siehe Sabine Brinitzer, a.a.O.

[17] Vergl. Charles Jencks: Die Sprache der Postmodernen Architektur. Stuttgart, 1980, 2. Aufl., S. 48.

[18] Hendrik Theodorus Wijdeveld an Erich Mendelsohn, 14.9.1921 Zit. in: Ebenda.

[19] Bruno Zevi: Erich Mendelsohn. Zürich, 1983. S. 42.

[20] Wolfgang Pehnt,a.a.O.

[21] Heinrich Klotz: Expressionismus und Relativitätstheorie, in: Ders.: Architektur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart, 1989. S. 42.

[22] Kathleen James: ‚Organisch’! Einstein, Finlay-Freundlich, Mendelsohn und der Einsteinturm. In: Regina Stephan: Erich Mendelsohn. Gebaute Welten. Ostfildern-Ruit, 1998. S. 38.

[23] Ebenda, S. 38/39.

[24] Ebenda.

[25] Erich Mendelsohn: Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion. In: Heinrich Klotz (Hrsg.): Erich Mendelsohn. Das Gesamtschaffen des Architekten. Braunschweig/Wiesbaden, 1988. S. 33.

[26] Hans Scharoun, Rede zur Eröffnung der Philharmonie, 15.10.1963. In: Deutsche Bauzeitung 1964, Nr. 4, S. 238.

[27] Ebenda.

[28] Siehe Peter Blundell Jones: Hans Scharoun. Eine Monographie. Stuttgart, 1980. S. 36.

[29] Siehe Eckehard Janofske: Architektur-Räume. Idee und Gestalt bei Hans Scharoun. Braunschweig/Wiesbaden, 1984. S. 92.

[30] Siehe Sabine Brinitzer, a.a.O., S. 399-400.

[31] Hans Scharoun. Der Architekt der Philharmonie. In: Philharmonie Berlin, o.J., zit. in: Peter Blundell Jones, a.a.O.

[32] Alvar Aalto: Die Einwirkung von Konstruktion und Material auf die moderne Architektur. Vortrag während der Nordischen Bautage in Oslo, 1938. In: Alvar Aalto. Synopsis. Basel, 1970. S. 29.

[33] Alvar Aalto: Für eine Humanisierung der Architektur. In: Ebenda. S. 14-16. Zit. in: Sabine Brinitzer, a.a.O., S. 446/447.

[34] Alvar Aalto: Die Beziehung zwischen Architektur, Malerei und Skulptur.(1969) In: Alvar Aalto. 1970, S. 42.

[35] Alvar Aalto: Das Gewissen des Architekten. (1957) In: Dietmar N. Schmidt (Hrsg.): Das Theater von Alvar Aalto in Essen. Essen, 1988. S. 67/68.

[36] Siehe Dörthe Kuhlmann (Hrsg.): Mensch und Natur. Alvar Aalto in Deutschland. Weimar, 1999. S. 41.

[37] Siehe Robert Venturi: Complexity and Contradiction. New York, 1966. S. 56 und S. 85.

[38] Zit. in: Dörthe Kuhlmann, a.a.O., nach Peters: Das Wohnhochhaus von Prof. Alvar Aalto in Bremen, in: Baumeister, 57.Jg., 1960, S. 39.

[39] Dörthe Kuhlmann, a.a.O., nach Hans Joachim Wallenhorst: Die Chronik der GEWOBA 1924 bis 1992. Bremen, 1993. S. 252 und S. 473.

[40] Siehe Sabine Brinitzer, a.a.O., S. 459-460 und S. 464-466.
 


 


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